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2 Wie alles anfängt
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Ob Völkermorde, Folter oder die alltägliche Erniedrigung von Kindern durch ihre Eltern — eines haben all diese Beispiele für Gewalt und Haß gemeinsam: das Gefühl der Abscheu vor dem anderen, dem «Fremden». Die Täter stufen sich selbst als «Menschen» ein, doch das Gegenüber verdient diese Bezeichnung nicht. Der andere wird zum Unmenschen degradiert. Es ist, als würde man sich durch diesen Vorgang selber reinigen. Indem man andere abtut und sie peinigt, befreit man sich vom Verdacht des Beschmutztseins.
Das Reinsein oder Beschmutztsein wird so zum Merkmal, das den Menschen vom Nicht-Menschen unterscheidet. Dabei verlagert sich die Wahrnehmung auf eine abstrakte Ebene. Der andere wird nicht mehr in seiner individuellen Menschlichkeit gesehen. Er ist nur noch Bestandteil einer Gruppe. Seine konkreten Gefühle, Einstellungen und Verhaltensweisen verschwinden aus dem Blickfeld, statt dessen wird seine Persönlichkeit auf eine einzige Eigenschaft reduziert: die Zugehörigkeit zur Gruppe. Diese Abstrahierung macht ein empathisches Erleben des anderen unmöglich.
Empathie ist eine grundsätzliche Fähigkeit aller Lebewesen.
Sie ist die Schranke zur Unmenschlichkeit und der Kern unseres Menschseins, also auch Kern dessen, was unser Eigenes ist. Wenn aber dieses Eigene verachtet und als nicht zu uns gehörig abgespalten werden muß, kann sich auch die Empathie nicht frei entwickeln. Unsere Fähigkeiten, mit anderen mitzufühlen, verkümmern. Der Prozeß, durch den das Eigene zum Fremden wird, verhindert also, daß Menschen sich menschlich begegnen — mit Anteilnahme, Einfühlungsvermögen und gegenseitigem Verstehen. Und so wird die Abstraktion zur Basis unserer Beziehungen.
Die Anfänge dieser Entfremdung liegen in der Kindheit.
Das wird nirgendwo deutlicher als in einem Satz, den Hitler 1934 bei einer Rede vor der NS-Frauenschaft formulierte: «Jedes Kind ist eine Schlacht.»5) Damit drückte er in erschreckend klarer Weise aus, was in westlichen Kulturen auch heute noch oft als unumstößliche Wahrheit angesehen wird: daß es eine natürliche Feindschaft zwischen Säugling und Eltern gibt. Im Kampf der sogenannten Sozialisation muß das Kind dazu gebracht werden, sich dem Willen der Eltern zu unterwerfen, und daran gehindert werden, seinen eigenen Bedürfnissen und Genüssen nachzugehen. Der Konflikt ist unvermeidlich, und er muß zum Wohle des Kindes durch die Beharrlichkeit der Eltern gelöst werden.
Chamberlains kritische Darstellung der offiziellen Erziehungsmethode des Dritten Reiches in «Adolf Hitler: Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind» veranschaulicht deren pathologische Effekte. Leider beschreibt sie damit aber auch eine Ideologie, die — wenn auch in verhüllter Form — typisch für alle sogenannten großen Zivilisationen ist. Diese besagt: Die Natur der Beziehung zwischen Kindern und Eltern ist die eines Machtkampfes, in dem verhindert werden soll, daß sich der «unreife» Wille des Kindes durchsetzt. Verschleiert wird dabei aber, daß es nicht um ein «Zivilisieren», sondern um die Festschreibung von Herrschaft geht. Die so geartete Sozialisation des Kindes soll dafür Sorge tragen, daß die Motivation zum Gehorsam gegenüber den Mächtigen tief in der menschlichen Seele verankert wird. Das geht aber nur, indem man die Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle, die dem Kind eigen sind, zum Schweigen bringt.
Selbst Freud war noch in dieser Ideologie gefangen. Trotz all seiner revolutionären Ideen, mit denen er die Kindheit ins Zentrum unseres Denkens rückte, hielt er an der Vorstellung vom «unvermeidlichen» Kampf zwischen Eltern und Kind fest. Er war der Meinung, jedes Kind sei von universalen Trieben beherrscht und habe nichts anderes im Sinn, als rücksichtslos seine Lüste zu befriedigen. Der Kultur schrieb er die Hauptaufgabe zu, diesen Trieben Einhalt zu gebieten, bevor andere dadurch zu Schaden kämen. Natürlich lassen sich die Ansichten Hitlers und Freuds nicht in einen Topf werfen. Beide haben jedoch eines gemeinsam: die Einstellung, daß das Kind, das seinen ureigenen Bestrebungen überlassen wird, eine Gefahr für die Gemeinschaft bedeutet.
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Chamberlains Buch ist ein wichtiger Beitrag über den Versuch der Nazidiktatoren, sich in ihrem Herrschaftsanspruch zu verewigen. Dieser Aspekt, der ja bis in unsere Zeit hineinwirkt, ist als geschichtlicher Vorgang verleugnet worden.
Das von der Naziärztin Dr. J. Haarer veröffentlichte Buch «Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind» (1941) wurde im Dritten Reich zu Hunderttausenden von der NSDAP an junge Eltern überreicht. Auch beim «Übergang zur Demokratie» sah man keinen Grund, es vom Markt zu nehmen. Das Buch wurde noch nach 1945 eine ganze Weile herausgegeben. Haarer liefert darin die ideologische Grundlage für eine Erziehung, in der das Eigene des Kindes zum Fremden gemacht wird.
Ich möchte die wesentlichen Aussagen deshalb kurz zusammenfassen:
Babys und Kleinkinder sind nach Haarer tendenziell unersättlich. Sie können nie genug kriegen von verwöhnender Beachtung, ständig wollen sie herumgeschleppt werden, was den Erwachsenen natürlich lästig ist. «Babys schreien aus Veranlagung, zornig und lang anhaltend, zum Zeitvertreib oder um etwas zu erzwingen. Babys und Kleinkinder wollen sich nicht fügen, wollen nicht so, wie die <Großen> wollen, sie erproben diese, widersetzen sich und tyrannisieren. Von Natur aus sind sie unrein, unsauber, schmuddelig, schmieren herum mit allem, was sich bietet.» 6)
Die Eigenschaften, die Eltern ihren Kindern am häufigsten zuschreiben, sind Unsauberkeit, Unreinheit, Gier, Unstetsein, Zerstörungswut. Kinder sind, auch Freud sah es so, unersättlich in ihrem Trieb, stets darauf erpicht, dem Lustprinzip zu folgen. Es sollte uns hellhörig machen, daß es genau dieselben Eigenschaften sind, die dem gehaßten Fremden — ob Jude, Zigeuner, Chinese, Katholik, Kroate, Serbe, Tschetschene, Kommunist oder wer auch sonst — immer wieder unterstellt werden.
Der Fremde ist immer derjenige, dessen Unsauberkeit, Unreinheit usw. uns zersetzen könnte. Hitler sah in den Juden das Fremdgut, das «sein» Volk zersetze. Gleichermaßen betrachtete er die Bekämpfung der Syphilis als eine der wichtigsten Lebensaufgaben der Nation. Die Sterilisation davon betroffener «Erbkranker» schien ihm folglich als «unbarmherzige Absonderung unheilbar Erkrankter» absolut notwendig.7 In seiner Phantasie sah er Gehirne, Körper und Völker gleichermaßen verfaulen und sich zersetzen.
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Der innere Feind, der mit dem Fremden identisch ist, ist jener Anteil im Kind, der verwirkt wurde, weil Mutter oder Vater oder beide ihn verwarfen, weil sie das Kind Ablehnung und Strafe erleben ließen, wenn es auf seiner eigenen und wahren Sicht bestand. Ich sage «wahr», weil die frühesten Wahrnehmungen eines Kindes auf seinen empathisch erlebten Perzeptionen beruhen und deshalb nur wahr sein können. Ich werde später zeigen, daß auch Hitler diese Ablehnung seiner eigenen Lebendigkeit erfahren haben muß und daß er diesen inneren Teil als fremd abgestoßen hat, um eine Verbindung mit seinen Eltern aufrechtzuerhalten.
Haarer gibt uns eine Vorstellung über das Wie dieses Vorgangs: Das Kind wird als selbstherrliches Wesen dargestellt, als eine Herausforderung, die die Mutter vor eine schwierige Aufgabe stellt, die diese in angemessener Weise zu erfüllen hat. «Das schreiende und widerstrebende Kind muß tun, was die Mutter für nötig hält, und wird, falls es sich weiterhin ungezogen aufführt, gewissermaßen <kaltgestellt>, in einen Raum «verbracht), wo es allein sein kann, und so lange nicht beachtet, bis es sein Verhalten ändert.»8
All das geschieht natürlich zum Wohle des Kindes und wird als Akt der Liebe dargestellt. Der Kampf, den die Mutter gegen das Kind führt, spiegelt jedoch den Willen der Väter wider, den manche Mütter übernehmen, weil sie sich dem männlichen Mythos der Stärke und Überlegenheit ergeben haben. Auf diese Weise wird das Fremde in den Vätern dem eigenen Kind weitergegeben. Der Haß auf das Eigene bringt Kinder hervor, die sich nur noch als aufrecht gehend erleben können, wenn sie diesen Haß nach außen wenden können. Indem das Eigene als fremd von sich gewiesen wird, wird es zum Auslöser der Notwendigkeit, Feinde zu finden, um die so erlangte Persönlichkeitsstruktur aufrechtzuerhalten.
Die Folgen dieses Prozesses sind verheerend: Man verleugnet nicht nur, daß man selbst zum Opfer gemacht wurde. Man kann auch die Ursachen des eigenen Opferseins nicht mehr erkennen. Statt dessen muß der Prozeß weitergegeben werden, indem man andere zum Opfer macht. Dies geschieht so lange, wie das eigene Opfer nicht erkannt werden darf. Es muß verleugnet werden, weil sonst der alte Terror, der allem zugrunde lag, wieder aufsteigen würde. Kein Kind, auch nicht das in uns bedrohte, kann sich diesem Terror widersetzen.
Als Kinder waren wir ausgeliefert und hilflos. Unser Überleben hing von einer Übereinstimmung mit den Eltern ab. Der innere Terror des Opferseins ist deshalb zutiefst existentiell. So kommt es, daß uns die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, von gesellschaftlichen Positionen oder sozialen Rollen in den Grundfesten unserer Persönlichkeit erschüttern kann.
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Wenn unser Selbstwert vorwiegend auf Erfolg, Status und materiellem Gewinn beruht, muß ein möglicher Verlust solcher äußeren Errungenschaften, aber auch die Bedrohung durch mehr Freiheit (darauf werde ich später zurückkommen) als existenzgefährdend erlebt werden, weil dadurch der alte Terror der Ohnmacht, des Ausgeliefertseins und der Scham wieder aufersteht. Ich glaube, daß hier der wirkliche Grund dafür zu suchen ist, daß in Zeiten wirtschaftlicher und/oder moralischer Instabilität der Fremdenhaß zunimmt. Die innere Not und der Druck, dem alten Terror zu entkommen, werden so groß, daß man sie nur noch mit verstärkter Energie abwehren kann. Dies geschieht, indem das Eigene, das ja Auslöser des inneren Terrors ist, in äußeren Fremden gesucht und bekämpft wird. Dabei findet man das Eigene natürlich am ehesten bei Menschen, die einem ähnlich sind.
Jetzt verstehen wir die schreckliche Wahrheit, die Klaus Barbie mit dem Satz ausdrückte: «Als ich Jean Moulin vernahm, hatte ich das Gefühl, daß er ich selber war.»
Die Entstehung des Fremden und dessen Externalisation stehen in direktem Bezug zum Intimsten des Menschen, zu seiner Identität. Entscheidend ist die Frage: Was bleibt für deren Entwicklung, wenn all das, was dem Menschen eigen ist und ihn als Individuum ausmacht, verworfen und zum Fremden gemacht wird? Dann reduziert sich Identität auf die Anpassung an äußere Umstände, welche das seelische Überleben des Kindes sichert: Es tut alles, um den Erwartungen von Mutter und Vater gerecht zu werden. Kern dieses Prozesses ist die Identifizierung mit den Eltern. Das Eigene des Kindes wird durch das Fremde der Eltern ersetzt.
Eine Identität, die sich auf diese Weise entwickelt, orientiert sich nicht an eigenen inneren Prozessen, sondern am Willen einer Autorität. Das hat natürlich weitreichende Konsequenzen für das Individuum, aber auch für die Gesellschaft. Die Anthropologin Liisa H. Malkki berichtet in ihrem hochinteressanten und gleichzeitig sehr traurigen Buch «Purity and Exile»9) über den Werdegang zweier Hutu-Gruppen, die 1972 aus Burundi nach Tansania geflüchtet waren, um dem Genozid durch die Tutsi zu entkommen.
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Die eine Gruppe wurde in einem Camp (Mishamo Refugee Settlement) untergebracht, in dem das Leben streng durch Vorschriften reglementiert war und das sich geographisch etwas abseits im Westen Tansanias befand. Die anderen Flüchtlinge siedelten sich in der Stadt Kigoma am Tanganjikasee an, wo sie zusammen mit den übrigen Bewohnern lebten. Malkki verglich diese beiden Gruppen 1985-1986 in Hinblick auf ihre Vorstellungen von Heimat und Exil sowie auf die Bedeutung, die die Flüchtlinge ihrer nationalen Identität und Geschichte zuschrieben. Obwohl beide Hutu-Gruppen aus ein und demselben Stamm kamen, waren die Unterschiede eklatant: Bei den Bewohnern des Camps zeigte sich, daß sie «mit einer andauernden und leidenschaftlichen Konstruktion und Rekonstruktion ihrer <Geschichte> als <Volk> beschäftigt» waren (S. 3). Ihr zentrales Anliegen schien darin zu bestehen, zu beweisen, daß sie anders als die Tutsi waren (tatsächlich unterscheiden sich Angehörige des Tutsi-Stammes weder in ihrer Anatomie noch in der Sprache oder den Gebärden von den Hutu). Ihr Inneres, können wir sagen, vom «Fremden» befreit, haßte die jetzt ausgestoßenen Teile ihres Selbst. Mit dieser Abgrenzung behaupteten sie ihre nationale und heldenhafte Identität. Sie schufen damit sozusagen einen Ort der «categorical purity» (kategorischen Reinheit).
Ein ganz anderes Identitätsgefühl entwickelten die Hutu, die integriert in der Stadt lebten. Sie sahen sich einfach als Flüchtlinge, die sich um Assimilation mit ihren Nachbarn bemühten. Statt heldenhafter nationaler Identitäten entwickelten sie einen gewissen weltoffenen Kosmopolitanismus. Interessant an dieser Studie ist: Beide Gruppen hatten dieselbe Ausgangssituation, die von einem Opfererlebnis bestimmt war. Der weitere Verlauf der Identitätsentwicklung verlief jedoch völlig unterschiedlich. Die Camp-Bewohner kultivierten das Opfererlebnis zum zentralen Anliegen. Es bildete den Kern ihres Identitätsgefühls. Für die anderen Flüchtlinge blieb das innere Opfersein untätig, schlummerte. Wie es scheint, hat das Zementieren des Opferseins auch mit den gesellschaftlichen Strukturen zu tun, von denen eine Gruppe umgeben ist. Strenge Regeln und Gehorsamspflicht fördern das Opfersein. Die Auflösung alter gesellschaftlicher Strukturen führt bei Menschen, deren Identität sich durch äußere Kriterien wie Rolle, Status oder Arbeit definiert, also nicht automatisch zum Aufsteigen des alten Opfergefühls.
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Wenn die Umstände es erlauben, können die Betroffenen auch andere Identitäten entwickeln, indem sie sich an die neuen Sozialstrukturen anpassen, wie die Flüchtlinge in Kigoma.
Malkki vertritt die Auffassung, daß das Verhalten der in der Stadt angesiedelten Flüchtlinge einem Umsturz des Identifikationsprozesses gleichkommt. Ich bin nicht dieser Meinung. Das würde nämlich voraussetzen, daß es sich um Prozesse innerer Identitätsfindung gehandelt hätte. Ich glaube, daß die Reaktionen, die sie beobachtete, etwas ganz anderes bedeuten: daß nämlich das, was wir gemeinhin als nationale Identität begreifen, eigentlich auf das Gegenteil, und zwar auf die Nicht-Existenz von wahrer Identität, hinweist. Wenn eine Identität durch inneres Opfersein bestimmt ist, können wir beide entgegengesetzten Entwicklungen beobachten. Sie sind das Resultat einer Sozialisation, die wahre Identität nie zuließ.
Wenn wir heute von «Identität» sprechen, meinen wir «wahre» Identität. Aber das bedeutet nur, daß uns das Wort blendet, wodurch wir nicht zwischen «wahrer» Identität und ihrem Schein unterscheiden. Vielmehr beziehen wir uns häufig auf ein Übergangsstadium eines Sozialisationsverlaufs, in dem das Eigene entfremdet wird. In diesem Sinne verwendet wohl auch Victor Turner den Begriff «Übergangsphänomen» in seiner Analyse ritueller Verläufe in verschiedenen Kulturen. Diese Form von Identität, die sich oft national und völkisch definiert, hat keine innere Festigkeit. Wenn Identitäten vom Fremdsein bestimmt sind, «... sind sie weder ein Ding noch ein anderes ... weder hier noch da; oder vielleicht nirgends (im Sinne einer erkennbaren kulturellen Topographie), und sind ... dazwischen und unter allen erkennbaren, fixierbaren Punkten in der <space-time topology> kultureller Klassifikation».10
Die von Malkki beschriebenen Flüchtlinge, die in der Stadt Kigoma lebten, hatten die Freiheit, etwas für sich zu tun. Die Angehörigen der Camp-Gruppe dagegen wurden wie Kinder behandelt. Man unterwarf sie einem strengen Regel- und Ordnungssystem. Diese Situation muß an alte Opfergefühle gerührt haben (verstärkt durch die mörderischen Erlebnisse des Genozids). So entstand um so mehr die Notwendigkeit, das innere Fremde nach außen zu projizieren. Im Kampf um die nationale «Reinheit» der Hutu wurden die anderen zu unsauberen Fremden, die man ihrer Individualität, Integrität und Würde beraubte. Auf diese Weise werden die Camp-Flüchtlinge weitergeben, was ihnen angetan wurde.
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Flüchtlinge spiegeln diese Vorgänge am deutlichsten wider. Das erkannte wohl auch unbewußt Hannah Arendt, als sie davon sprach, daß «die abstrakte Nacktheit des nur Menschseins» für die Flüchtlinge des Zweiten Weltkrieges die «größte Gefahr darstellte».11 «Alle Flüchtlinge werden mit dem Verlust ihrer Kultur, ihrer Identität und ihrer Gewohnheiten konfrontiert.»12 Hinter solchen Aussagen verbirgt sich die Vorstellung, daß Menschen, die ihrer Kultur entrissen werden und dann «nackt» dastehen, nichts Inneres haben, auf das sie sich stützen können.
Das sollte uns Grund genug sein, unsere Konzeption der Identität zu überdenken.
Wenn Identität eine grundlegende Konstellation von immanenten Persönlichkeitsmerkmalen ist, dann deuten diese Beobachtungen darauf hin, daß viele Menschen keine solche Identität besitzen. Die Nazi-Mentalität war darauf versessen, Menschen ihre Identität zu nehmen. Das KZ-Grauen hatte nicht einfach die körperliche Vernichtung im Sinn. Übergeordnetes Ziel war vielmehr, die menschliche Würde, die Persona, zu zerstören. Es waren Menschen ohne eigene wirkliche Identität, die anderen das nehmen mußten, was sie selbst nicht besaßen. Aus Rache töteten sie das eigene Fremde, das sie selbst zu einer eigenen wirklichen Identität hätte führen können.
Paul Celan erkannte die Verzweiflung derer, die diesem Vorhaben ausgeliefert waren: «Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm, / niemand bespricht unsern Staub. / ... / Ein Nichts / waren wir, sind wir, werden / wir bleiben ... die / Niemandsrose.»13) Menschen wie er konnten weder erniedrigt noch in ihrer inneren Substanz ausgelöscht werden, er blieb eine Rose für immer. Und der surrealistische französische Dichter Robert Desnos schrieb im Konzentrationslager: «Ich lebte stolz, doch oft gejagt ... unter den maskierten Sklaven ... und war doch frei ... Was, Menschen, habt mit diesen Schätzen ihr getan? ... Nur keine Angst, denn ich bin tot... nichts, was euch bedroht» (aus dem Französischen von Ralph Dutli).
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Es besteht kein Zweifel, daß zahlreiche Menschen keine innerlich gefestigte Identität haben. Schon vor vielen Jahren wiesen Studien über sensorische Deprivation nach, daß Personen, die man aus ihrem gesellschaftlichen und kulturellen Kontext gelöst hatte, psychotisch wurden.14 Man erkannte jedoch nicht, daß dieser Vorgang vom Grad einer inneren Kohärenz abhängig war. Admiral Byrds autobiographischer Bericht über seine monatelange Isolation in der Polarregion zeigt, daß eine innere Lebendigkeit von äußerer Sinnes-Stimulation unabhängig macht.15 Die Ärztin Evelyne Bone war sieben Jahre lang in Isolationshaft in einem ungarischen Gefängnis. Ihre reiche innere Erlebnis- und Gedankenwelt hielt sie jedoch aufrecht.16 Einem Menschen, dem sein Inneres zum Fremden geworden ist, bleibt diese Möglichkeit verwehrt. Das ist wohl auch der Grund, warum in den Deprivations-Studien so viele Probanden psychotisch zusammenbrachen.
Menschen, die eine innere Kohärenz entwickeln konnten und daraus ihr Identitätsgefühl beziehen, verlieren auch unter extremen Frustrations- und Deprivationsbedingungen nicht ihr Vertrauen und ihren Glauben an sich selbst. Die für unsere Kultur typische Identität, die auf einer Identifikation mit Angst einflößenden Autoritäten beruht, ist dagegen ständig von Auflösung bedroht. Solche Menschen können ihr Selbst nur durch die Schaffung von Feindbildern konsolidieren, wie die Hutus im Camp. Oder sie assimilieren sich in die umgebenden Strukturen, wie es die Hutu-Flüchtinge in Kigoma taten. Letzteres gilt auch für die begeisterten Hitlerbewunderer, die sich nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches sofort den neuen demokratischen Gepflogenheiten der Sieger anpaßten.
In beiden von Malkki beschriebenen Fällen haben wir es nicht mit Selbstbestimmung, sondern mit den Folgen einer inneren Entfremdung zu tun, die Menschen an eine unerkannte Sklaverei bindet. Es gibt jedoch auch eine Identität, die unabhängig von der Umwelt existiert und deren Basis jene Vorgänge sind, die uns durch Entfremdung entzogen wurden. Zahlreiche Menschen, die in diesem Jahrhundert schrecklichen Erfahrungen in den Vernichtungslagern ausgesetzt waren, legen Zeugnis für eine solche eigene Identität ab. Auch jene amerikanischen Soldaten, die sich im Vietnamkrieg nicht an den Greueltaten, der Gewalt und der Folter beteiligten, stehen für diese Tatsache ein. Ich werde später noch einmal ausführlich auf das Thema zurückkommen. An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, daß das Fremde in uns die Folge einer Kultur ist, die Kinder in ihrem Lebendigsein nicht wahrnehmen kann und darf. Diese Strukturen sind sowohl Quelle der Gewalt als auch Ursache für die Entstehung von Identitätsdefiziten.
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Es fällt schwer, sich in diesem System selbst zu erkennen, da unsere Wahrnehmung von einem Denkmuster bestimmt ist, das selbst Ausdruck der Sichtweise einer fremdbestimmten Identität ist.
Ein Beispiel dafür gibt Jan Philipp Reemtsma mit seinem tief bewegenden Buch <Im Keller> (1997). Es ist der von Schmerz und Leid durchdrungene Bericht seiner Verschleppung, ein Dokument der Hilflosigkeit und Erniedrigung, die jedes Menschsein negiert. Sein eigenes Erleben brachte Reemtsma jedoch dazu zu glauben, daß ein Mensch keinen inneren Kern besitzt. «Wer vollständig ohnmächtig ist, ist bei lebendigem Leibe nicht mehr <da>», schreibt er (S. 195). Und: «Das Mißverständnis besteht darin, in der Seele des Menschen etwas wie einen Kern anzunehmen, den man <Ich> nennt.»
Man glaubt,
«man stößt auf ihn, wenn man nur konsequent genug in sich geht, und er ist es auch, der durch den ganzen Lebenslauf hindurch derselbe bleibt ... Und warum bleibt er derselbe? Weil es dieses Ich gibt. In Extremsituationen steht dieses Ich auf dem Prüfstand. Werden Körper und Geist geschunden, erleidet es auch Blessuren, aber am Ende hat es durchgestanden, und alle können sagen: Er ist trotzdem der alte geblieben! An die Vorstellung von einem solchen Ich mag auch die vom <Aushalten> gebunden sein. Ausgehalten hat man <das>, was immer es sei, wenn der Kern der Person unverwundet blieb. Man kommt aus dem Keller wie David Niven als englischer Offizier aus dem japanischen Käfig: als der, der man war. Applaus» (S.197). wikipedia David_Niven
Reemtsmas Suche nach dem zuverlässigen Ich erfolgt unter einem Blickwinkel, der das Innere negiert. Deshalb kann er auch nicht erkennen, daß es ein Ich gibt, das auf einer inneren Kohärenz basiert. Ein solches Ich hat nichts mit den Vordergründigkeiten zu tun, die David Niven vorführen würde: männlicher Stolz und preußisch aufrechte Körperhaltung, die dem Feind Unverletzlichkeit demonstriert (wobei wir natürlich nicht wissen, ob der Privatmann Niven auch eine solche Haltung vertritt). Es speist sich vielmehr aus der Fähigkeit, empathisch wahrzunehmen und eine Würde zu bewahren, die nicht auf der Verleugnung, sondern auf der bewußten Perzeption von eigenem Leid und eigenem Schmerz aufbaut.
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Ein solches Ich wird man in keiner Welt finden, die mit innerem Erleben nichts zu tun haben will und deren Vorstellung von Identität sich an Leistungs- und Machtkriterien orientiert. Reemtsma schreibt weiter:
«Die abendländische Philosophie ist ... von diesem Problem umgetrieben. Immer wieder wird nach dem inneren Kern gefragt ... Wenn ich ... die Gefühle im Keller dagegen setze, muß ich gestehen ..., (daß sie) schlicht nicht da (waren)... Es sind Mechanismen einer Persönlichkeitsstruktur (am Wirken), die in der europäischen Gewohnheit aufgewachsen ist, sich als Individuum aufzufassen, sich mit <ich> anzureden, und die in existentielle Schwierigkeiten gerät, wenn sie aus den dazu nötigen sozialen Räumen entfernt wird» (S.197-199).
Reemtsma ist enttäuscht, daß auf das «Ich» im Ernstfall kein Verlaß ist. Er differenziert dabei jedoch nicht zwischen einem Selbst, das auf inneren Vorgängen beruht, und einer Identität, die vom Inneren abgetrennt ist, weil sie zum Fremden gemacht wurde. Das verleitet ihn zu dem Trugschluß, daß es einen inneren Kern nicht gibt. Er ist damit in der gängigen Semantik unserer Kultur gefangen. Deshalb übersieht er, daß es genau dieser Kern ist, dessen Existenz er bezweifelt, der ihn überhaupt suchen läßt. Das suchende Ich hielt den inneren Kontakt zu seiner Frau und seinem Sohn aufrecht und bemühte sich um ein Überleben in seiner verzweifelten Lage. Das «wahre» Ich verbirgt sich im Vorgang des Suchens, es hat nichts mit dem theoretischen Konstrukt eines Ichs gemein, das sich auf pure Äußerlichkeiten kapriziert.
Es ist das Suchen, das Menschen unterscheidet. Ein von innerem Fremdsein bestimmtes Selbst sucht nur nach äußeren Feinden, um das, was es in sich selbst ablehnen muß, jenseits seines Selbst zu orten und eventuell zu bekämpfen. Ein Selbst, das auf inneren Identitätsbezügen ruht, benötigt keine Feindbilder, um sich aufrechtzuerhalten.
Das Problem einer «falschen» Identität entsteht erst durch eine Entwicklung, die das Eigene zum Fremden macht, die auf Gehorsam setzt (direkt durch Zwang oder durch Belohnung). Ein Mensch, dessen Sozialisation davon geprägt war, daß er sein Selbst aufgeben mußte, wird nach anderen psychologischen Regeln leben als ein Mensch, der in seiner Kindheit angenommen wurde und sich frei entfalten durfte.
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Wer sein Eigenes zugunsten einer Identifikation mit lieblosen Eltern (und damit sind auch verwöhnende Eltern gemeint, worauf ich später noch zurückkomme) verwerfen mußte, wird oft zeitlebens von einem unbewußten inneren Terror angetrieben, den Unterdrücker zu idealisieren und die Liebe für das Eigene in Haß zu verwandeln. So kann ein authentisches Inneres nicht zustande kommen. Auch der eigene Schmerz und die eigenen Verletzungen können nicht als berechtigte Reaktion auf das akzeptiert werden, was einem angetan wurde. Die Angst und die Hilflosigkeit, die man erlebte, werden zum Fremden, da man sie unter dem Druck der elterlichen Ablehnung als beschämende Unzulänglichkeit von sich weisen mußte. Das Kind ist gezwungen, seine Gefühle zu verleugnen, nur so kann es eine lebensnotwendige Übereinstimmung mit dem Unterdrückenden aufrechterhalten. So wird nicht nur das Innere zum Fremden, der auf andere projiziert wird. Auch der erduldete Schmerz, den man sich nicht zugestehen darf, muß externalisiert werden, um an der Bindung an den Unterdrücker festhalten zu können. Das führt dazu, daß wir den Schmerz im anderen nicht nur suchen. Er wird auch provoziert, um seiner auf diese Weise habhaft zu werden.
Solche Menschen hatten nie die Möglichkeit, ein Urvertrauen als festen Bestandteil ihrer Persönlichkeit zu entwickeln. Statt dessen übernehmen sie eine «falsche Identität», die sie auch weiterhin dazu veranlaßt, repressive Autoritäten zu idealisieren und Rettung ausgerechnet von denen zu erhoffen, die eigentlich ihre Peiniger sind.
Unter solchen Umständen kann sich kein Inneres entwickeln, das uns vor der «abstrakten Nacktheit» des Menschseins bewahren könnte, vo'n der Arendt sprach. Die Nacktheit kommt zustande, wenn die Entfaltung einer wahren Identität verhindert wurde. Sie ist dagegen Bestandteil einer falschen Identität, die auf Leistungen beruht und auseinanderfällt, wenn der gesellschaftliche Kontext diese Leistungen unmöglich macht.
Ein Überleben in den Todeslagern und im Gulag war jedoch nur möglich mit einer Identität, die auf inneren Vorgängen basierte. Das zeigte auch die Studie von T. Des Pres mit Überlebenden.17) Wenn Identität nur das Ergebnis «äußerer Kriterien» wäre, wie Reemtsma glaubt (S. 203), dann müßten wir der Nazi-Philosophie recht geben. (Der Filmproduzent Hans Guide sprach einmal davon, daß das griechische Drama den Versuch darstelle, die Konstruktion einer solchen inneren Identität zu dokumentieren.)18
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Des Pres schreibt: «Ohne Vergangenheit haben wir nichts, auf dem wir stehen können, haben keinen Kontext, von dem aus wir die Energien für eine moralische Version unseres Seins organisieren können.» Das aber setzt das Erleben einer wahrhaftigen Vergangenheit voraus, die ein von sich entfremdetes Selbst gar nicht entwickeln kann. Und: «Durch seine Schreie behauptet der Mensch sein Recht, seine Vergangenheit mitzuteilen, Hilfe zu verlangen und Widerstand zu leisten.» Diejenigen, die ihren Schmerz verleugnen müssen, können jedoch nur über den vermeintlichen Schmerz schreien, der ihnen angeblich von den «Fremden» angetan wird. Hier liegt die Ursache für den beeindruckenden Erfolg Hitlers, dem es gelang, seinen eigenen Verfolgungswahn als tatsächliches Erlebnis auf die gesamte deutsche Nation zu übertragen. Millionen Menschen machten sich seine pathologischen Projektionen als reale Verletzung zu eigen, weil sie das wirkliche Opfersein in ihrer individuellen Geschichte nicht wahrhaben konnten. Die Gefahr ist nicht gebannt. Dieser psychologische Mechanismus funktioniert auch heute noch, wenn Politiker es verstehen, die tiefsitzende Bereitschaft, sich als Opfer zu fühlen, für ihre eigenen Machtzwecke ausnutzen. Menschen bleiben so lange für einen Hitler empfänglich, wie sie nicht über ihren wahren Schmerz schreien können.
«Zu schweigen», schrieb Nadeshda Mandelstam (1970), «ist das wahre Verbrechen gegen die Menschheit.» Menschen müssen ihren Schmerz verschweigen, weil er den alten Terror wieder zum Leben erwecken würde. Das Tragische daran ist, daß auf diese Weise Identitätsstrukturen weitergegeben werden, die zustande kamen, weil ein Kind in der Ödnis totaler emotionaler Einsamkeit aufwuchs, weil sein Schreien nie gehört wurde und kein menschliches Echo fand. Wer die Grausamkeit einer solchen Gefühllosigkeit erfahren hat, ist kaum mehr dazu in der Lage, in menschlichen Beziehungen eine Verbundenheit, einen Sinn, ein Zuhause zu erleben.
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Unter diesen Umständen kann ein Mensch sein eigenes Opfersein nicht mehr wahrnehmen. Er ist auch unfähig, seinen Schmerz als seinen eigenen zu erleben, weil er sich dessen schämt und sich dafür haßt. Vielmehr wird er den Schmerz, der ihm selbst fremd geworden ist, in einem anderen Menschen suchen. Er wird diesen Fremden dafür bestrafen oder foltern in dem Bestreben, sich selbst von dem beschämenden Schmerz zu befreien. Bei Menschen ohne Inneres kommt hier eine vom wahren Schmerz abgeleitete Verzerrung des Schmerzes ins Spiel: das Selbstmitleid. Das Selbstmitleid macht es dem Täter möglich, den «Fremden» für das eigene Verhalten verantwortlich zu machen. So braucht sich der Täter nicht schuldig zu fühlen, weder für sein Tun noch für das in ihm schlummernde Gefühl der Minderwertigkeit. Dieses ist es nämlich, das ihn dazu treibt, den andern als schwach abzuwerten. So wird ein Kreislauf in Gang gesetzt: Man bestraft den Fremden für das, wofür man einst selbst bestraft wurde.
Primo Levi schreibt in seinem Buch «Ist das ein Mensch» (1992): «Uns umgab das Meer vergangener und gegenwärtiger Leiden, und sein Spiegel ist Jahr um Jahr angestiegen, so daß wir beinahe ertrunken wären. Es war so sinnlos, die Augen zu verschließen oder sich abzuwenden, weil dieses Meer allgegenwärtig war, sich in allen Richtungen erstreckte bis zum Horizont... Die Gerechten unter uns, weder größer noch geringer an Zahl als in jeder anderen menschlichen Gemeinschaft, haben Gewissensqualen und Scham, kurz gesagt: Leiden für eine Schuld ertragen, dieTnicht sie, sondern andere verursacht hatten, in die sie sich aber dennoch verstrickt fühlten, weil ihnen bewußt war, daß das, was um sie herum vorging — sowohl in ihrem Beisein als auch in ihnen selbst — unwiderruflich war. Niemals mehr würde das abgewaschen werden können.» Es ist, wie Jean Amery, der auch von der Gestapo gefoltert wurde, schrieb (1966): «Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert... Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Die Schmach der Vernichtung läßt sich nicht austilgen. Das zum Teil schon mit dem ersten Schlag, in vollem Umfang aber schließlich in der Tortur eingestürzte Weltvertrauen wird nicht wiedergewonnen.»
Aber die innere Würde blieb, undramatisch, nicht im Einklang mit unseren Erwartungen von einem Heldentum oder einer Leistung. Das Verhalten von Überlebenden ist ähnlich wie das von sogenannten seelisch Kranken. Für beide ist eine Dualität charakteristisch: äußere Unterwerfung und inneres Festhalten an einer eigenen Vision. Der südafrikanische Schrifsteller Coetzee verstand dies sehr gut, als er diese Dualität von Ossip Mandelstams Widerstand gegen Stalin beschrieb (1996). Dieser Dichter, den Stalin in einem sowjetischen Gulag verhungern ließ, verherrlichte den Diktator in einem Gedicht — allerdings nur scheinbar, denn, so Coetzee, «er fabrizierte den Körper einer Ode, ohne sie wirklich zu bewohnen.»
Wir müssen davon ausgehen, daß jeder, der in unserer Kultur aufgewachsen ist, die Entfremdung des Eigenen zu einem gewissen Grad erlebt hat. Es kann deshalb uns allen passieren, daß wir einmal unser Inneres verraten oder beiseite drängen. So erging es auch Reemtsma. In der dritten Person von sich selbst sprechend, schreibt er (S. 178): «Einmal hatte er die Phantasie, der Entführer sollte ihn trösten, ihn berühren, die Hand auf seine Schulter legen.» Ich zitiere dazu Marcel Proust: «Wie haben wir den Mut, in einer Welt zu leben, in der die Liebe durch eine Lüge provoziert wird, die aus dem Bedürfnis besteht, unsere Leiden von denen mildern zu lassen, die uns zum Leiden brachten.»
Wir wurden zum Komplizen unserer Peiniger. Weil diese ihren Schmerz und ihr eigenes Opfersein nicht wahrhaben konnten, haben auch wir unser Leiden verleugnet. Erst wenn wir nachvollziehen können, wie uns die eigene Wahrnehmung fremd gemacht wurde, sind wir auf dem Weg zum eigenen Selbst.
Wole Soyinka beschreibt das Gegenmittel aus der Erfahrung seiner Folterhaft in Nigeria: «Der Gefangene sagt plötzlich zu sich selber, diese Kreatur kann mich nicht wirklich treffen. Sie kann mich nicht retten, deshalb kann sie mich auch nicht zerstören» (seelisch). «Diese Kreatur ist bedeutungslos, sie ist nicht real. Nur ich selber bin die Realität.» 19)
Nicht die Scham bewahrt uns vor der Phantasie, vom Täter gerettet zu werden, sondern ein Bewußtsein für unser Ausgeliefertsein an die eigenen Entwicklung. Nur so können wir erkennen, daß das, was uns von uns selbst entfremdet, die Auswirkungen eines tief verwurzelten Mechanismus sind, mit dem wir einst unser Überleben zu schützen glaubten: des Gehorsams.
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