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10   Der reduzierte Mensch

Heß    Manager

  Hermann Göring  

164-186

Hermann Görings Vater war ein Mann von einiger Wichtigkeit. 1885 wurde er Resident-Minister für Südwest-Afrika, damals deutsche Kolonie. Einige Jahre später kam er als Konsul nach Haiti. Als seine Frau mit ihrem vierten Kind schwanger wurde, reiste sie zurück nach Deutschland, um es dort zur Welt zu bringen. Der Junge, Hermann Göring, wurde am 12. Januar 1893 geboren. Schon ein paar Wochen nach der Niederkunft reiste die Mutter zurück zu ihrem Gatten. Das Kind Hermann blieb zurück, es wurde Gräfin von Fuerth, einer Freundin der Familie, überlassen. Hermann sah seine Mutter erst wieder, als er drei Jahre alt war. Dieses Zusammentreffen war seine erste Erinnerung: Die Mutter beugte sich zu ihrem Sohn herunter, und dieser schlug ihr mit beiden Fäusten ins Gesicht.(213)

Aus Untersuchungen wie zum Beispiel der von Heinicke und Westheimer (1965) ist bekannt, daß frühe Trennungen von der Mutter für Kinder eine tiefe Verletzung bedeuten und daß diese — mit Recht — sehr aggressiv auf ihr Wiederauftauchen reagieren. Trennung ruft inneren Terror und das Erlebnis schwerer Minderwertigkeitsgefühle hervor, denn das Kleinkind empfindet ein solches Trauma als tiefe Verletzung seines werdenden Ichs. Ein Kind plaziert den Grund für sein Verlassenwerden in sich selbst. Für ein Kind bedeutet Verlassenwerden, daß mit ihm selbst etwas nicht stimmt, denn sonst würde die Mutter es ja nicht verlassen. Monika Nienstedt und Armin Westermann haben solche traumatischen Erlebnisse eingehend und sehr bewegend in ihrem Buch <Pflegekinder: Psychologische Beiträge zur Sozialisation von Kindern in Ersatzfamilien> (1999) beschrieben.

In Afrika hatte sich Görings Vater mit Dr. Ritter von Epenstein angefreundet, einem reichen jüdischen Apostaten. Als Hermann Göring acht Jahre alt war und sein Vater mit einer relativ kleinen Pension in den Ruhestand ging, kaufte von Epenstein in der Nähe von Nürnberg eine ansehnliche Burg, die er den Görings als Domizil anbot. Frau Göring, die wesentlich jünger als ihr Mann war und eine Liebesbeziehung mit von Epenstein hatte, akzeptierte das Angebot. So zog die Familie nach Burg Veldenstein. Der Vater hatte ein bescheidenes Schlafzimmer im Erdgeschoß, das Betreten der oberen Räume war ihm untersagt, da diese seiner Frau und ihrem Geliebten vorbehalten waren. Hin und wieder besuchten die Görings von Epenstein auch auf seinem Schloß in Österreich. Der Vater wurde dann in einem kleinen Haus abseits des Schlosses einquartiert, während die Mutter zu von Epenstein zog. Es ist nicht verwunderlich, daß diese Ereignisse tiefe Spuren in dem kleinen Hermann hinterließen. Das Bild, das Gilbert von dem Kind zeichnet,214) ist das eines rastlosen Jungen, den militärische Uniformen und kriegerische Taten faszinierten und der rücksichtslos, verwegen und herausfordernd brutal war.

 wikipedia  Hermann_Epenstein  *1850 in Berlin bis 1934    wikipedia  Apostasie     wikipedia  Hermann_Göring *1893 in Rosenheim bis 1946 

Historiker erkennen nur selten die Bedeutung solcher Kindheitsentwicklungen.

So schreibt Joachim Fest über Göring: «Seine Herkunft aus gutem Hause ... machte ihn frei von den Minderwertigkeitsgefühlen einer verstörten Kleinbürgerlichkeit ... »215 Wenn man ein «gutes Haus» mit emotionaler Wärme gleichsetzt, kann nicht verstanden werden, daß ein Kind seine Kränkungen und terrorisierenden Erlebnisse, die es zutiefst mit sich selbst in Zweifel bringen, durch grandiose Anmaßungen kompensiert, die überhaupt nichts mit einem guten Selbstwert zu tun haben.

Daraus folgt eine völlig verzerrte Sicht auf die Ursachen von Görings Verhalten, dessen Pathologie so gar nicht gesehen werden kann. Es ist eine durch klinische und menschliche Erfahrungen gestützte Tatsache, daß die Ablehnung eines Kindes durch die Mutter einen Schmerz hervorruft, den das Kind nur durch Abkapseln, Von-sich-Weisen oder Verneinen bewältigen kann. Das aber bedeutet, daß es abgeschnitten von seinem Schmerz lebt und ihn unentwegt außerhalb seiner selbst suchen muß. 

Genau in dieser Situation befanden sich Hitler, die Mörder von Broadmoor und alle anderen Identitätslosen, die ich geschildert habe. Schmerz beginnt im Leben dieser Menschen eine entscheidende Rolle zu spielen, indem sie von der Notwendigkeit bestimmt sind, den verlorenen Schmerz wiederzufinden. Das bedeutet leider auch, daß sie anderen immer wieder Schmerz zufügen, um auf diese Weise, jenseits der eigenen erlittenen Erlebnisse, Rache zu üben gegen das Opfer, das sie einst selbst waren. Deshalb muß dem anderen Schmerz zugefügt werden, den man selbst erlitt, aber nicht erleiden durfte und konnte, so wie die Patientin, die ich beschrieben habe. Schmerz war Schwäche und machte die Mutter wütend. Schmerz hieß, anderen unterlegen zu sein, und mußte deshalb von sich gewiesen werden.

 wikipedia  Joachim_Fest  *1926 in Berlin bis 2006     Broadmoor: wikipedia  Robert_John_Maudsley *1953 in Liverpool 

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Ich möchte diesen Prozeß, in dem Rache gegen das Menschliche zu einem permanenten Drang wird, an einem Beispiel aus meiner Praxis verdeutlichen. 

Der Patient, ein 46jähriger Geschäftsmann, berichtete von einer neuen Beziehung, die er mit einer sehr attraktiven Frau eingegangen war: «Ich hatte eine riesige Wut in mir an diesem Wochenende, lauter Haß. Andere wollen mich nur unterdrücken, und ich muß mich anpassen. Wie kamen wir eigentlich das letzte Mal dazu, darüber zu sprechen, daß ich etwas Schmerzhaftes erlebt habe? O ja! Meine Eltern ...! Ich kann es nicht fassen, daß sie mich auslachten ...»

Dann: «Meine Freundin und ich wanderten den ganzen Samstag. Wir waren danach beide müde, ich wollte Liebe machen, aber sie war müde. Sie schmuste dann aber doch mit mir und kam mir entgegen. Da zog ich mich zurück. Ich verweigerte mich.» Ich fragte: «Sie meinen, Sie lehnten sie ab?» Er: «So habe ich es nicht erlebt. Als sie Lust bekam, zog ich mich zurück. Ich hatte das Gefühl: Du kannst nicht, wenn sie kann. Ich unterwerfe mich, verkaufe mich.» Ich: «Sie meinen, Sie unterwerfen sich, wenn Sie auf Ihre Freundin reagieren?» Er: «Ich habe eine Wut in mir, wenn sie reagiert.» Ich frage nach: «Sie meinen, Sie rächten sich, als Ihre Freundin auf Sie zukam?» Er: «Ja, es ist pervers. Es geht für mich um Leben und Tod. Ich habe Angst, sie zu verlieren. Gleichzeitig fühle ich, daß ich unmöglich bin.» Ich: «Die Frau reagierte auf Sie, mir scheint, Sie negieren, daß Sie das Gefühl haben, sich zum Sklaven zu machen, wenn Sie darauf reagieren.» Er: «Ja, das ist verrückt. Ich erreichte ja, was ich wollte.» Ich: «Es kommt mir vor wie eine alte Rache, die jetzt in der Gegenwart in Ihnen aufsteigt.» Er: «Wogegen?» Ich: «Vielleicht eine alte, tiefe Kränkung.» Er: «Ich fühle mich vernachlässigt.»

Hier kam das ganz natürliche, wenn auch der jetzigen Situation nicht angemessene Gefühl eines sehr kleinen Kindes zutage, das nicht geliebt wurde. «Ich muß Frauen verführen, um mir Nähe zu sichern. Ich will beweisen, daß ich ein guter Mann bin», sagte er. 

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«Ja, und dann?» wollte ich wissen. Er: «Es ist wie ein Eigentor. Ich wollte mich beweisen, sie kriegt Lust, und ich ziehe mich zurück, weil ich mein Ziel nicht erreicht habe.» Ich: «Aber Sie sagten doch, daß Sie Ihr Ziel erreichten?» Er: «Ich verstehe, was Sie sagen, aber ich fühle es nicht so.» Ich: «Was passierte in Ihnen?» Er: «Die Bestätigung. Ich kriege nur Liebe, wenn ich etwas tue, wenn ich mich wahnsinnig anstrenge, mich aufopfere, sonst gehe ich leer aus. Ich mache bei solch einem Theater nicht mehr mit.»

Wir sehen hier eine völlige Umkehr im Erleben der Motivation des anderen. Sie wird als negativ empfunden, obwohl sie doch positiv war. Die Frau kam ihm entgegen, und dies muß umgekehrt werden. «Ich soll immer auf Knien um Zuneigung betteln. Wenn sich mir jemand zuwendet, dann ist das eine Gnade. Man läßt mich hängen.» An dieser Stelle schluchzte der Patient laut auf. «<Was ist schon dabei, wenn der Kleine weint.> So reden die Eltern. <Wir machen die Tür einfach zu und hören ihn nicht mehr.»> — «Ja», sagte ich, «das war Ihre Kränkung.» Diese transformierte er hier aber in Selbstmitleid. Dadurch vermied er den wahren Schmerz seiner ursprünglichen Kränkung durch die Eltern, als diese ihn «aus Liebe» schreien ließen. «Wo ist der Zusammenhang?» fragte er irritiert. Ich: «Sie konnten es Ihren Eltern nie recht machen, gerade, wenn Sie es versuchten. Alles war eine Heuchelei.» Er: «Ich fühle mich wie der ungläubige Thomas, ich glaube es einfach nicht.» Nach einer Pause: «Sie meinen, daß ich Lisa ablehne, wenn sie es ehrlich meint?»

Die Frage ist, ob er die Erkenntnis zulassen kann, daß er von seinen Eltern wirklich tief gekränkt wurde, oder ob er weiter beweisen muß, daß die Zuneigung, die ihm heute zuteil wird, Heuchelei ist, daß wirkliche Nähe nicht möglich ist und er mit seinem täglichen Rachefeldzug gegen Zuwendung weitermachen kann. Indem er die Quelle seines Schmerzes nicht zuläßt, weil dieser Schmerz überwältigend war, hält er an dem Glauben fest, daß die Liebe seiner Eltern echt und keine Lüge war. Dadurch fühlt er sich berechtigt, gegen wirkliche Liebe, die ihm entgegengebracht wird, seine Rache auszuagieren.

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An diesem Punkt bietet das Verhalten meines Patienten Einsicht in das, was auch Göring bewegte. Auch dieser wurde von seiner Mutter tief gekränkt, als sie ihn verließ. Auch Göring erlebte bei seiner Mutter die Heuchelei einer liebenden Pose, die er dann mit Faustschlägen quittierte. Aber den Schmerz konnte er nicht zulassen, genauso wenig wie mein Patient. So war ihm die Forderung nach Menschlichkeit immer «ein Dorn im Auge», wie es Gilbert ausdrückte.216 Nach seiner Sichtweise waren alle Menschen nur durch Macht und Machtbedürfnisse motiviert. Friedfertigkeit und Respekt galten ihm als heuchlerische Maskerade, hinter der sich Krieg und Mordgelüste verbargen. Für ihn waren dies die einzigen Anzeichen von Größe. Nur so konnte er, wie mein Patient, die wirklichen Schmerzen, die er erlitten hatte, auf Dauer fernhalten.

In Hermann Görings Kinderspielen ging es ständig um Krieg. Er führte seine Spielkameraden in Kämpfe gegen imaginäre Feinde. Wenn irgend jemand Zweifel an seiner Führerrolle hatte, «haute er ihre Köpfe zusammen, um sie wissen zu lassen, wer der Boß war».218 Er schien aufregende Situationen zu genießen, und es fehlte ihm das Gefühl für Gefahren. Vor dem Nürnberger Gerichtspsychologen Gilbert brüstete er sich: «Schon mit 12 oder 14 hatte ich keine Angst vor dem Tode.» Als er einmal in den österreichischen Alpen war, ging eine Lawine ab. Die anderen suchten in Panik Deckung, er jedoch stand da und bewunderte das furchterregende Spektakel der auf ihn niederprasselnden Schnee-, Eis- und Gesteinsbrocken.

Als er sich einmal mit anderen Jungen in einem Ruderboot unkontrolliert einem Wasserfall am Ende eines Sees näherte, waren alle in großem Aufruhr. Er sagte nur: «Hört auf zu faseln! Wenn wir rübergehen, sterben wir, da ist nichts, was wir tun können, also was soll die Aufregung?» Er glaubte, schreibt Gilbert, daß ihm nichts passieren könne. Sein Phantasieleben schützte ihn vor der Angst, die eine gefahrvolle Realität normalerweise auslöst. In seinen Phantasien übte er, ein furchtloser Held zu sein, der jede Gefahr verachtete.

Zugleich zeigte er seinen Schwestern gegenüber aggressive, sadistische Verhaltensweisen. Weder Vater noch Mutter bekamen ihn unter Kontrolle, so wurde er zur Schule nach Fürth geschickt. Als Vergeltung für die Zurückweisungen, die er durch Eltern, Lehrer und andere erfuhr, spielte er einen Monat lang krank. Seine aggressiven, sadistischen Ausbrüche führten zu einem Kreislauf aus Ablehnung, Vergeltung und immer mehr Aggression. Schließlich schickte ihn sein Vater auf eine militärische Schule in Karlsruhe. Das schien ihn zu beruhigen. 

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Seine Mutter sagte einmal: «Hermann wird entweder ein großer Mann oder ein großer Krimineller werden.»218 Diese Einstellung ist typisch für Mütter von Kindern mit einer solchen Entwicklung. Sie bewundern ihren Jungen, lassen im Grunde alles zu, genauso wie Ase, Peer Gynts Mutter in Ibsens Bühnenschauspiel. Diese Bewunderung bewirkt, daß der Sohn von geschichtlicher «Größe» und nicht durch Menschlichkeit bewegt wird. Bezeichnenderweise zeigte sich Göring gehorsam gegenüber den militärischen Lehrern. Er war jedoch verächtlich, pöbelhaft und gewalttätig, wenn die Lehrer Zivilisten waren.

Als Jugendlicher schien er unempfindlich für körperliche Gefahren. Als zügelloser Leutnant im Ersten Weltkrieg war er voller Heldendrang, und er vollbrachte einige verwegene Taten. Kurz danach erlitt er jedoch einen rheumatischen Anfall, der ihn vor einer Rückkehr in die Schützengräben bewahrte. Er wurde Pilot und zog sich eine schwere Hüftverletzung zu. Nach seiner Genesung machte er sich als Jagdflieger einen Namen und erhielt vom Kaiser den Orden Pour le Merite.

Angstlosigkeit, heldenhaftes Gebaren und psychosomatische Reaktionen (Rheuma) existierten nebeneinander. Herrmann Dahlmann, ehemaliger General der Luftwaffe, äußerte im Gespräch mit Heinrich Fraenkel,219) daß er größte Zweifel sowohl an Görings fliegerischem Können als auch an seiner Fähigkeit als Offizier habe. Er kannte Göring bereits seit 1914 und behauptete, daß Göring den Orden durch Beziehungen bekommen und weder vorher noch nachher die erforderlichen fünfundzwanzig feindlichen Flugzeuge abgeschossen habe. Als Göring das Geschwader von Richthofen übernahm, habe er auch große Schwierigkeiten gehabt, die Disziplin aufrechtzuerhalten. Er sei aufgrund seiner Arroganz nicht sehr beliebt bei seinen Männern gewesen.220 

 en.wikipedia  Hermann_Dahlmann  *1892 bis 1978 

Es blieben die Helden- und Größenphantasien, die sein Leben bewegten. Sie waren die kompensierende Stärke für einen angeschlagenen Selbstwert, den niemand erkennen wollte. Macht und Gewalt wurden so zur Motivation für alle seine Handlungen. Gleichzeitig wurde die Lüge Bestandteil seines Charakters, da er sie brauchte, um die heldenhaften Phantasien aufrechtzuerhalten. Diese waren so intensiv, daß er einmal, als er als Achtjähriger von der Burg Veldenstein ins Tal schaute, eine sich nähernde Lokomotive in die Vorstellung einer völlig unwirklichen Szenerie verwandelte:

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Er sah römische Triumphwagen mit behelmten und gefiederten Kriegern das Gelände erstürmen, während Menschenmassen ihnen zujubelten. «Es war so real», erzählte er Gilbert. «Ich dachte, es war alles so wie in den Geschichten darüber. Ich weiß nicht, wie lange diese Vision andauerte. Ich lief zu meiner Mutter, um ihr und meiner Schwester davon zu erzählen. Die lachten nur. Ich ging ein paarmal dahin zurück, aber diese spezifische Vision kam nie zurück.»221

Sein Vater, Ururenkel eines Beraters von Friedrich dem Großen und ein strenger Preuße, war unter Bismarck Kavallerie-Offizier gewesen. Hermanns Identifikationen waren gespalten. Einerseits identifizierte er sich mit der strengen Rolle des autoritären Vaters, andererseits liebte er die Pracht und den mittelalterlichen Glanz der Schlösser von Ritter von Epenstein, dessen Geliebte die Mutter war und auf dessen Burgen die Familie lebte. Epenstein verkörperte für ihn Macht und Reichtum, während der Vater in den wirklichen Machtverhältnissen zu einer Null verkommen war.222 Gleichzeitig mußte der Sohn den Schmerz über die wahre Situation des Vaters, dessen würdelose Unterwerfung sowie den Liebesverrat der Mutter an ihm und dem Vater verleugnen.

Besonders auffallend in den Protokollen von Görings Rohrschachtests, denen alle Angeklagten im Nürnberger Prozeß unterzogen wurden, war seine extreme Unfähigkeit, in Hinblick auf menschliche Beziehungen auf Gefühle einzugehen. Ihm fehlte die Sensitivität für menschliches Entgegenkommen; Wärme und Mütterlichkeit konnte er weder geben noch annehmen. In bezug auf seine Sexualität zeigte er eine schwache männliche Identifikation. Autorität wurde von ihm als lächerlich erlebt, als unzuverlässig und sadistisch. Seine Antworten auf Nachfragen zu seinen Reaktionen auf die Rohrschachbilder ließen auf tiefe Verletzungen hinter seinem herablassenden und verachtenden Verhalten schließen. Autoritätsfiguren wurden dann zu Ärzten. Von Epenstein war Arzt. Die Testergebnisse deuteten auf die schwere Kränkung hin, die Göring erlitten hatte, aber nie zugeben konnte. Sie ließen außerdem erkennen, daß er sich in der verwirrenden Situation seiner Kindheit zerrissen und zerschnitten gefühlt hatte.223

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Der Rohrschachtest offenbarte nicht nur Aggressivität, sondern auch eine schwere Depression, die er durch Gewalt zu überbrücken versuchte. Dies gelang ihm auch. Seine Verachtung für Gefahr und seine Neigung, sich dauernd gefährlichen Situationen auszusetzen, läßt sich also auch als inhärente suizidale Tendenz deuten. Für Menschen, die in ihrer intimsten zwischenmenschlichen Erfahrung, der Beziehung zu Mutter und Vater, Verletzungen erlebt haben, ist es charakteristisch, daß sie dem Schmerz ausweichen, indem sie Gewalt und Gefahr suchen. Angst wird verdrängt. Ich berichtete zum Beispiel bereits von einem Patienten, der kurz vor dem Ertrinken war, aber keine Angst verspürte. Diese Tendenz charakterisierte Görings waghalsiges Verhalten sein ganzes Leben hindurch und summierte sich zu einer Nicht-Achtung des Lebens selbst.

Seine furchtlose Haltung existierte parallel zu seiner sklavischen Unterwerfung, mit der er Autoritätsfiguren wie Hitler zu beschwichtigen versuchte. Hier war er wie der Vater und nicht wie Epenstein.

«Nicht ich lebe, sondern Hitler lebt in mir... Wer nur irgend die Verhältnisse bei uns kennt, weiß, daß jeder von uns genauso viel Macht besitzt, als der Führer ihm zu geben wünscht. Und nur mit dem Führer und hinter ihm stehend ist man tatsächlich mächtig und hält die starken Machtmittel des Staates in der Hand. Aber gegen seinen Willen, ja auch nur ohne seinen Wunsch, wäre man im gleichen Augenblick vollständig machtlos. Ein Wort des Führers, und jeder stürzt, den er beseitigt zu sehen wünscht. Sein Ansehen, seine Autorität ist grenzenlos ... »224

In diesen Worten klingt die panische Angst vor dem Machthabenden an. Zu Hjalmar Schacht sagte Göring über sein Verhältnis zu Hitler: «Jedesmal, wenn ich ihm gegenüberstehe, fällt mir das Herz in die Hosen.» Nach Ausein­andersetzungen im Führerhauptquartier, bei denen er sich Hitler stets völlig unterwarf, brauchte Göring oft Stunden, um sich zu beruhigen. «Dieses Verhältnis», sagte er, «ist für mich geradezu seelische Prostitution gewesen.»225

Dieser Mann, der in seinen Prahlereien schier grenzenlos war, hatte sich Hitlers Posenspiel sofort völlig unterworfen, als er ihn 1922 zum ersten Mal reden hörte. Das ist typisch für Menschen, deren Identität auf Identifikation mit autoritären Figuren basiert. Einerseits verachten sie alles Menschliche, andererseits unterwerfen sie sich der Pose von Macht und Entschlossenheit, in Görings Fall dem Vater und gleichzeitig dem Geliebten der Mutter.

Ohne diese Unterwerfung können solche Menschen nicht existieren.

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Sie füllt die grundsätzliche Leere eines Inneren ohne eigene Identität aus. Ihre einzige Alternative zur Unterwerfung ist, sich ständig sich in Gefahren zu begeben, die gewalttätig und/oder selbstmörderisch sind. Es war Hitlers Pose, die zum Mittelpunkt in Görings Leben wurde. Wie ich bereits ausgeführt habe, werden solche Menschen darauf geprägt, sich die Pose des idealisierten Unterdrückers als echte Stärke zu eigen zu machen, um sich so auf eine halluzinatorische Weise selbst stark fühlen zu können. Macht und Stärke werden dabei als gleichbedeutend erlebt. Das Ergebnis ist eine freiwillige Knechtschaft, die Weiterführung einer Umkehr der eigenen Unterdrückung und zugleich die Verleugnung der eigenen Verletzung und des eigenen Schmerzes.

Hitler hatte Göring und seine Familie verhaften lassen, und es drohte ihnen der Tod. Als sich Hitler dann selbst das Leben nahm, war Göring der Verzweiflung nahe. Wie seine Frau berichtete, sagte er: «Nun werde ich ihm nie sagen können, daß ich ihm bis zum Ende treu geblieben bin!»226 So sehr Göring Hitler auch ergeben war, seine Rachsucht gegen alles Menschliche kannte keine Grenzen. Im Schießerlaß nach der «Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat» vom 28. Februar 1933 befahl er Polizei, SA, SS und Stahlhelm, rücksichtslos von der Waffe Gebrauch zu machen: «Jede Kugel, die jetzt aus dem Laufe einer Polizeipistole geht, ist meine Kugel. Wenn man das Mord nennt, dann habe ich gemordet, das alles habe ich befohlen, ich decke das, ich trage die Verantwortung dafür und habe mich nicht zu scheuen.» — «Meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendwelche juristischen Bedenken. Meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendeine Bürokratie. Hier habe ich keine Gerechtigkeit zu üben, hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten, weiter nichts!» Und am 11. März 1933: «Lieber schieße ich ein paarmal zu kurz oder zu weit, aber ich schieße wenigstens.»227

Als Göring sich zur Zeit des Judenpogroms im November 1938 die Versicherungssummen der jüdischen Geschäfte aneignete, sagte er zu Heydrich, es wäre besser gewesen, zweihundert Juden umzubringen, als so viele wertvolle Sachgüter zu zerstören.228 Hinter seiner grenzenlosen Rage stand die Unfähigkeit, den eigenen Schmerz auszuhalten. Damit meine ich vor allem seelischen Schmerz.

 wikipedia  Rorschachtest

Miale und Selzer berichten, daß Göring beim Rohrschachtest Emotionen nicht einfach unterdrückte, er eliminierte sie regelrecht, wies sie von sich und schnitt dadurch ab, was sie verursacht hatte.

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So ging er auch mit Schmerz um: Er negierte ihn. Als Ersatz für diese echten Empfindungen entwickelte er ein kunstvolles Gerüst aus Statusgefühlen. Diese traten an die Stelle der Individualität eines eigenständigen Selbst.229 Göring ist das typische Beispiel für einen Menschen ohne Inneres, weil dieses Innere zu schmerzhaft war und durch Autoritätspersonen verachtet und abgelehnt worden war.

Interessanterweise wollte Göring nach der Urteilsverkündung in Nürnberg von dem Gerichtspsychologen Gilbert wissen, was der Rohrschachtest über seinen Charakter aussage. Gilbert antwortete ihm: «Offen gesagt, Sie haben gezeigt, daß Sie trotz Ihres aktiven, aggressiven Charakters nicht den Mut zu wirklicher Verantwortung haben. Bei diesem Klecks-Test (Rohrschach) haben Sie sich selber mit einer kleinen Geste verraten.» Göring starrte ihn irritiert an. «Erinnern Sie sich an die Karte mit dem roten Fleck? ... (viele) zögern bei dieser Karte und sagen, es sei Blut drauf. Sie zögerten auch, Sie nannten es aber nicht Blut. Sie versuchten, es mit den Fingern wegzuschnippen, als glaubten Sie, daß Sie Blut mit einer kleinen Bewegung wegwischen könnten. Dasselbe haben Sie während des gesamten Prozesses gemacht. Sie haben den Kopfhörer im Gerichtssaal abgenommen, wenn die Beweise für Ihre Schuld unerträglich wurden. Und genauso machten Sie es auch im Krieg, indem Sie die Greueltaten mit Drogen aus Ihrem Bewußtsein zu verbannen suchten. Sie hatten nicht den Mut, ihnen ins Auge zu sehen. Darin besteht Ihre Schuld. Ich bin Speers Ansicht: Sie sind ein moralischer Feigling!»230

In seiner Drogenabhängigkeit zeigte sich, daß er seelischen Schmerz nicht verdauen konnte. Er hatte am Tag des Hitlerputsches im November 1923 nach seiner Verwundung mit der Einnahme von Drogen begonnen. Schon im Sommer 1924 war er morphinsüchtig. Zu dieser Zeit war er in Schweden. Dort wurde er in die Irrenanstalt Lanbro in die Station für Gewalttätige eingeliefert. 1925 konstatierte sein schwedischer Arzt, «daß er ein schwacher Charakter sei, ein Mann, der gern prahlte, um so seinen tief verwurzelten Mangel an sittlichem Mut zu bemänteln». Er wurde als Hysteriker diagnostiziert, unbeständig in seinen Persönlichkeitswerten, empfindsam und dennoch dickhäutig, ein gewalttätiger Mensch, der von Ängsten beherrscht werde.

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Die Schlußfolgerung des Berichtes: «Wie bei vielen Menschen, die Taten von größtem körperlichen Mut ausführen können und dabei oft nur von Verzweiflung getrieben werden, fehlte ihm auch eine höhere Art des Mutes in seiner ganzen Lebensführung.»231 Gilbert schreibt, es sei deutlich, daß Göring seit der Kindheit ein verstärktes Bedürfnis nach körperlicher Stimulation und eine Unfähigkeit, Bestrafung und Frustration zu tolerieren, zeigte.232 Sein Leben lang suchte er Zuflucht in Drogen und anderen Mitteln, um Angst auslösenden Situationen zu entkommen. Der amerikanische Gefängniskommandant von Mondorf sagte über den Häftling Göring: «Als er ankam, war er eine alberne Sau mit zwei Koffern voller Paracodeine-Pillen. Ich dachte, er sei ein Pharma-Vertreter. Aber wir entwöhnten ihn von seinen Drogen und machten einen Mann aus ihm.»233

Übrigens führte Görings Bedürfnis nach Identifikation mit dem Aggressor bereits vor Hitlers Selbstmord zu einer Identifikation mit den Amerikanern, die sich als neue Sieger abzeichneten. An Hitlers letztem Geburtstag befanden sich alle im engen Bunkerraum. Göring stand am Tisch gegenüber von Hitler. Speer beschrieb die Situation:

«Er, der auf äußeren Schein stets großen Wert legte, hatte seine Uniformierung in den letzten Tagen bemerkenswert verändert. Der silbergraue Stoff seiner Uniform war zu unserer Überraschung durch das braungraue Tuch der amerikanischen Uniform ersetzt worden. Gleichzeitig waren seine bis dahin fünf Zentimeter breiten, goldgeflochtenen Achselstücke durch einfache Stoffachselstücke ersetzt, auf die schlicht sein Rangabzeichen, der goldene Reichsmarschall-Adler, geheftet war ... Wie ein amerikanischer General ... »234

Offenbar war Göring das völlig unbewußt. Auch Hitler schien seine Veränderung nicht zu bemerken. Der schwedische Psychiater hatte ihn zutreffend als Menschen ohne Inneres beschrieben. Das ist das Kennzeichen aller Menschen, die ihren Schmerz, ihr eigenes Leid, als fremd von sich weisen mußten.

 

Wenn ein Mensch, wie bereits beschrieben, den Zugang zu seinem Schmerz verloren hat, sucht er diesen weiter, indem er gewalttätig wird. «... die Verneinung des Schmerzes führt zu Mordimpulsen, zu Gewalttätigkeit ...», schrieb mir Mechtilde Kütemeyer, Chefärztin für Psychosomatische Medizin am St. Agathe-Krankenhaus in Köln, in einer persönlichen Mitteilung. 

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Wenn Menschen dagegen noch nicht völlig mit ihrem Unterdrücker identifiziert sind, richten sie ihre Gewalttätigkeit gegen sich selbst, gegen die eigene Person. Kütemeyer: «Sie schneiden sich, verbrühen sich, erzeugen Unfälle mit Frakturen und anderen Verletzungen ... um einen letzten Zipfel von Leben zu spüren.» Es scheint, als ob durch die Verneinung des Schmerzes das Grundgefühl des Lebendigseins verloren geht.

In seinem Buch «Selbstverletzendes Verhalten» (1999) beschreibt Ulrich Sachsse ähnliches. Bei seiner Arbeit mit betroffenen Patienten kam er zu dem Schluß, daß Menschen, die kein Bewußtsein für ihren Schmerz haben, diesen in der Selbstverletzung suchen. Das Paradoxe dabei ist, daß man, wenn man sich selber verletzt, den Schmerz auf diese Weise zu erleben sucht; indem aber anderen Schmerz zugefügt wird, muß man ihn nicht mehr als seinen eigenen spüren! Dieser eigene Schmerz jedoch ist der wahre Schmerz, der nicht mehr gespürt wird, indem er weitergegeben wird. Zum Täter zu werden bedeutet dann, die Dissoziation in Gang zu halten. Deshalb muß ständig Schmerz gesucht und erzeugt werden, um dem eigenen zu entkommen. Für das Kind Göring war es unmöglich, den eigenen Schmerz über seine lieblose Situation und den Verrat von Vater und Mutter zu tolerieren. Zugleich führte seine Identifikation mit den Unterdrückenden zu einer völligen Umkehr der Gefühlslage, in welcher der Aggressor idealisiert anstatt gehaßt wurde. In einer solchen Situation wird der Haß auf das Eigene völlig auf andere Opfer projiziert. Deshalb die rabiate Gewalttätigkeit solcher Menschen.

 

  Rudolf Heß   

 wikipedia  Rudolf_Heß  *1894 in Alexandria bis 1987

Rudolf Heß war 1941 nach England geflogen, um die Briten auf eigene Faust dazu zu bewegen, Deutschland für seine Lebensraumpolitik innerhalb Europas freie Hand zu lassen. Er wollte ihnen dafür seitens Deutschland den unversehrten Bestand des britischen Weltreiches garantieren. Natürlich wurde er nach seiner Landung in Haft genommen.235 Zu dieser Eskapade hatte ihn veranlaßt, daß Professor Haushofer, der Geopolitiker, davon geträumt hatte, daß Heß über den Ozean fliegen werde.236 Während seiner Gefangenschaft bis 1946 wurde er von einem Team von Psychiatern und Psychologen untersucht.237

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Rudolf Heß wurde 1896 in Alexandria in Ägypten geboren. Sein Vater, ein Großkaufmann, war sehr streng und jagte seinen Kindern Angst ein. Rudolf, sein Bruder und die beiden Schwestern wagten nur, ausgelassen zu spielen, wenn der Vater aus dem Haus war. Während seiner Gefangenschaft sprach er davon, sich nur einmal als Kind gegen seinen Vater aufgelehnt zu haben. Sonst war er immer ein braver Junge, der die Wünsche seines Vaters gehorsam befolgte.

Mit zwölf Jahren kam er auf ein Internat des Evangelischen Paedagogicums in Godesberg am Rhein. Dort verbrachte er drei Jahre. Seine Lehrer schilderten ihn als sehr patriotisch. Nach der Schule hätte er gern Naturwissenschaften und Mathematik studiert, doch sein Vater wollte, daß er Kaufmann wurde. So schickte man ihn mit fünfzehn auf die Ecole Superieure de Commerce nach Neuchätel in der Schweiz. Ein Jahr später, 1912, ging er nach Hamburg, um seine Lehre als Handelskaufmann zu beginnen. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, meldete er sich mit großer Begeisterung zum Militärdienst. Er war froh, von seiner kommerziellen Arbeit wegzukommen. Er diente im Bayerischen Infanterieregiment und wurde zweimal verwundet. Danach wurde er zum Leutnant ernannt und 1918 zur Luftwaffe versetzt.

Nach Ende des Krieges trat Heß in München einer nationalistischen und antisemitischen Gruppe bei und beteiligte sich an politischen Straßenkämpfen. Dabei wurde er 1919 erneut verwundet. Er hatte auch ein Studium an der Universität München aufgenommen und kam so unter den Einfluß von Karl Haushofer, Professer für Geopolitik. Das englische Psychiater-Team hob in der Analyse seiner Persönlichkeitsentwicklung hervor, daß Heß stets einen Vater-Ersatz suchte, Männer, mit denen er sich identifizierte, um von ihnen beeinflußt zu werden. Bereits sein Geschichtslehrer in Godesberg erfüllte diese Rolle, später waren es Haushofer und schließlich Hitler.

Das englische Team brachte dieses Bedürfnis nach Identifizierung mit einer großen inneren Leere in Zusammenhang. Seine tiefe Abhängigkeit und Passivität kompensierte er, indem er wie ein Asket zu leben versuchte, sich außerordentliche Aufgaben der Selbstkontrolle auferlegte, sich durch Überforderung stark und männlich gab und absolut intolerant gegenüber Schwäche war. Er zeigte eine krankhafte Angst, daß man ihn als moralisch schlecht und minderwertig empfinden könnte. Dies drückte sich auch in seinem Verhältnis zu seinem Körper aus. Einen nächtlichen Samenerguß, den er im Spital in Maindiff hatte, schrieb er sofort einem Ei zu, das er am Tag zuvor gegessen hatte. Er schwor sich daraufhin, niemals mehr ein Ei zu essen.238

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1920 begegnete er Hitler. Dies führte zu einer «nahezu magischen» Bindung, wie es Heß' Frau ausdrückte.239 Sie beschreibt, daß er nach der Veranstaltung, auf der Hitler gesprochen hatte, wie «entrückt» wirkte. <«Der Mann, der Mann>, stieß er aus ... Er war wie ausgewechselt, lebendig, strahlend, nicht mehr düster, nicht vergrämt.»240 Er hatte den Teil von sich gefunden, den er ausgestoßen hatte, weil er ihn mit seinem Vater nicht sein durfte. Durch die Identifikation mit einer idealisierten Figur konnte er ihn sich zu eigen machen und leben.

Was für ein Bild hatte Heß von einer solchen Figur? In einem Aufsatz kurz nach dieser ersten Begegnung mit Hitler beschrieb er, wie sie beschaffen sein sollte:

«Tiefes Wissen auf allen Gebieten ... Der Glaube an die Reinheit der eigenen Sache und an den endlichen Sieg, eine unbändige Willenskraft geben ihm die Macht der hinreißenden Rede, die die Massen ihm zujubeln läßt ... Das Volk lechzt nach einem wirklichen Führer, frei von allem Parteigefeilsche, nach einem reinen Führer mit innerer Wahrhaftigkeit... Bei jeder Gelegenheit beweist der Führer seinen Mut. Das gibt der organisierten Macht blindvertrauende Ergebenheit; durch sie erringt er die Diktatur. Wenn die Not es gebietet, scheut er auch nicht davor zurück, Blut zu vergießen ... Er hat einzig und allein vor Augen, sein Ziel zu erreichen, stampft er auch dabei über seine nächsten Freunde hinweg ... So haben wir das Bild des Diktators ... erbarmungslos hart und wieder weich in der Liebe zu seinem Volk ... mit stählerner Faust, in samtenem Handschuh, fähig, zuletzt sich selbst zu besiegen.»241

Diese Sätze spiegeln die schreckliche Wahrheit eines Ich ohne eigenes Selbst wider, eines Menschen, der keine eigene Identität entwickeln konnte und deshalb jemanden sucht, dem er sich bedingungslos unterwerfen kann. Es ist der idealisierte Vater, nach dem er sich sehnt. Indem er sich diesem ergibt, kann er den wirklichen Vater von sich stoßen. Bestehen bleibt jedoch die Prägung auf eine Fiktion, auf ein Ideal, das die Eltern von sich selbst entwarfen, das aber nichts mit ihrer Wirklichkeit zu tun hatte. 

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Die daraus resultierende freiwillige Knechtschaft hat zwei Funktionen in einem: Sie ist eine Flucht vor der Verantwortung für sich selbst, und sie ist Rache am idealisierten Unterdrücker, wobei diesem — Vater, Mutter oder beiden — eine Absage erteilt wird. Dies geschieht in verschleierter Weise, nämlich mit dem Argument, einer Autorität die Treue zu halten. Ein solcher Mensch ist völlig gefangen und völlig beherrscht von dem Diktat des Gehorsams, der ihm auferlegt wurde. Heß konnte dieses völlige Sich-einem-anderen-Ergeben auch ganz klar formulieren: «Einer bleibt von aller Kritik ausgeschlossen, das ist der Führer. Das kommt daher, daß jeder fühlt und weiß: Er hat immer recht, und er wird immer recht haben. In der kritiklosen Treue, in der Hingabe an den Führer, die nach dem Warum im Einzelfalle nicht fragt, in der stillschweigenden Ausführung seiner Befehle liegt unser aller Nationalismus verankert. Wir glauben daran, daß der Führer einer höheren Berufung zur Gestaltung deutschen Schicksals folgt. An diesem Glauben gibt es keine Kritik.«242

Dies ist ein Mensch, der kein Inneres hat, der auf der Suche nach etwas Mächtigem ist, um seine innere Leere zu füllen, der nicht wirklich weiß, was Gefühle von Liebe und Entgegenkommen bedeuten. Im Gegenteil: Er wertet diese Gefühle als Schwäche ab, haßt und zerstört sie. Oft sagt man von einem solchen Menschen, daß er doch so lieb zu seiner Frau, seinem Sohn, seiner Sekretärin sei. Das liegt daran, daß wir nicht merken, daß diese Verhaltensweisen nicht auf einer Empathie für andere beruhen, sondern nur ein Rollenspiel sind, in dem sich der Betreffende «korrekt» verhält.

Da solche Menschen sich den Anschein des Menschlichen geben, können sie so entwaffnend sein und andere übergehen. Denn sie selbst erkennen in sich nicht das Tödliche, das sie mit dem idealisierten Bild eines Über-Menschen verbindet und das gegen das Lebendige gerichtet ist. Sie hassen die Liebe, die ihnen verweigert wurde, und wollen alles, was sie an ihre eigene Not und ihre eigenen Bedürfnisse nach Wärme erinnert, vernichten. Deshalb überhöhen sie die stilisierte «kritiklose Treue» zu dem, der sie zerstören wird. Sie suchen eine Figur, die mit «unbändiger Willenskraft» bereit ist, Blut — auch ihr eigenes — zu vergießen.

Hitler, der die Pose dieser Stärke und Willenskraft bestens beherrschte und den selbstzerstörerischen Träumen jeglichen Folterers perfekt entsprach (Hitler sprach immer von der «Liebe zu meinem Volk»), gab ihnen die «Erlösung» für das Nicht-Sein, das sie ja suchten. Hierin liegt die Tragödie von Heß und dem deutschen Volk sowie auch deren Opfer. Im Namen der Liebe wurde das Leben zerstört.

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Der Verlauf von Heß' Werdegang ist wahrscheinlich hinreichend bekannt. Ich möchte noch seine Gedächtnisverluste während der Gefangenschaft in England und während des Nürnberger Prozesses erwähnen, denn sie sind Zeugnis seiner Probleme, vor dem Hintergrund seiner Idealisierungen mit der Wirklichkeit klarzukommen. Er selbst sagte während des Prozesses zu Gilbert, daß er vom Nachdenken über das, was vor sich geht, so müde sei, daß er schlafen müsse.243 Das führte wohl auch zu seiner Amnesie. Gilbert beobachtete auch hier einen interessanten Zusammenhang. Je ausgeprägter seine Amnesie war, um so weniger wurde er von Gedanken über vergiftetes Essen verfolgt. Die psychologische Diagnose der Autoren: 

«Die paranoiden Züge seiner Persönlichkeit traten klar zutage in seiner Egozentrik, die auf einem tiefen Unsicherheitsgefühl beruhte, der Furcht, verletzt oder angegriffen zu werden. Dahinter steckte wohl die äußerste Unsicherheit dieses Patienten und sein Konflikt über seinen eigenen Wert und seine Akzeptanz durch die Gesellschaft. Er hat offenbar kein großes Vertrauen in die Güte anderer Menschen, und während er sich einerseits in sein Selbst zurückzieht, sucht er doch ständig außerhalb seiner selbst nach einer idealisierten Person, die er lieben und der er vertrauen kann, um seine innere Einsamkeit zu mildern.» 

Die Autoren gehen hier von einer «Liebe» aus, die nichts mit herkömmlicher Liebe zu tun hat, sondern mit dem Gefühl, das Söhne in autoritären Familien entwickeln, wenn die Strenge und Härte des Vaters in Liebe umgedeutet wird.244

«In diesem Fall war die idealisierte Person natürlich Hitler. Innerhalb der beschränkten Lebensbedingungen seiner Gefangenschaft traten jedoch auch andere Gestalten auf. Einen nach dem anderen fand er mit Mängeln behaftet, und er identifizierte sie dann mit den bösen Mächten, die gegen ihn arbeiteten. Seltsamerweise spielten der tapfere Duke of Hamilton und der ritterliche König von England als idealisierte Objekte seiner Verehrung fast die gleiche Rolle wie Hitler. Vielleicht hatte Heß auch große Angst, daß das für ihn so wichtige Ideal in die Brüche gehen könnte, wenn er den realen Hitler als skrupellos und destruktiv erkannte ... »245

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Dieses Festhalten am Rollenspiel des Idealisierten entspricht der Stärke der kindlichen Prägung im Prozeß der Idealisierung des Aggressors. Es erklärt nicht nur Hitlers Erfolg — er verkörperte den männlichen Mythos von Kraft und Willen perfekt —, es macht auch das Pathologische deutlich, das diesem Vorgang inhärent ist. Einmal auf diesen Weg festgelegt und des Eigenen beraubt, bleibt der Betroffene an Image und Rollenspielen «hängen», wodurch die Wirklichkeit wahrer Gefühle beiseite geschoben wird. Albert Speer zum Beispiel hatte sich am 22. April 1945 in Berlin von Hitler verabschiedet und in Hamburg eine Rede auf Schallplatte aufgezeichnet, in der er zum Widerstand gegen Hitlers Zerstörungsbefehl aufrief. Trotzdem fühlte er sich veranlaßt, Hitler noch einmal aufzusuchen, wohl wissend, daß dieser ihn verhaften und ermorden lassen könnte. In seinem Buch «Erinnerungen» schreibt er, Hitler habe ihn wie ein Magnet angezogen (S. 479). Er behauptet, er wollte richtig Abschied nehmen. Wie soll man das verstehen, wo ihm doch die Ermordung drohte?

Ich glaube, daß Speer hier beschreibt, welche Macht die Identifikation mit dem Aggressor auf einen Menschen ausübt, der nichts Eigenes hat. Die innere Leere, von der ich immer wieder spreche, ist etwas sehr Reales. Um sie auszufüllen, bleibt dem Betroffenen nur die Identifikation mit dem Aggressor. Das einzige Gegenmittel besteht in dem Mut, die durch das eigene frühe Opfersein verursachten Schmerzen und Depressionen auf sich zukommen zu lassen. Dazu braucht ein Mensch viel Kraft, die er vielleicht nur dadurch bekommen kann, daß er es wagt, einem anderen Menschen, der ihm zur Seite steht, seinen Schmerz anzuvertrauen. Dieser Andere muß lieben können, das heißt, er sollte nicht eingreifen, sondern dem anderen Begleiter in der Not sein. Denn darum geht es: die eigene Not wieder spüren zu können mit und durch einen anderen mit Herz. Diese Not erlebten auch die Mörder von Broadmoor, als sie anfingen, den Schmerz ihrer Opfer nachzuempfinden. Doch wie viele sind zu diesem Prozeß in der Lage? 

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In seinem Buch «Die Gabe des Schmerzes» (1997) beschreibt Andrew Miller das Leben eines Chirurgen, der keinen Schmerz spürt, kein menschliches Entgegenkommen kennt. Dies ist die Folge des unmöglich zu ertragenden Schmerzes einer Ablehnung, die bereits mit seiner Zeugung begann. Als er durch das Erleben einer Liebe zu seinem ursprünglichen, verstoßenen Schmerz zurückgeführt wird, läßt Miller den Leser spüren, wie schrecklich dieses Zurückgehen zu dem ist, was uns Leben gibt:

«Und er findet ein Wort für das Brennen. Ein Wort, das von den Lippen springt, noch während es gesprochen wird; das gesprochen wird, als zische man es zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: Schmerz. Es führt gerade Luft genug mit sich, um eine Kerzenflamme zum Flackern zu bringen, nicht aber, um sie auszulöschen, jedenfalls nicht gleich, nicht, sofern die Flamme nicht schwach und die Kerze noch nicht ganz heruntergebrannt ist» (S. 304).

Die Leere, die aus der Verleugnung des Schmerzes aufsteigt, ist eine furchtbare Wirklichkeit, die schwer zu erkennen ist. Wir lassen sie nicht aufkommen aus Angst, dem alten Terror wieder zu begegnen. Ein Skinhead, der einen ihm völlig unbekannten, harmlosen Menschen grausam zu Tode getrampelt hatte, sagte 1999 in einem Gespräch mit Professor Dr. Christian Eggers, Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik für Kinder und Jugendliche in Essen: «Ärger, Frust, Schmerz, Trauer, die dringen nicht in mein Inneres vor ... Einfach verdrängen, das ist am besten, oder aber in eisigen Haß umwandeln.»

Es ist unser Dilemma, wenn wir nicht glauben, daß eine solche Leere tatsächlich existiert, weil wir nicht in der Lage sind zu erkennen, daß es Menschen ohne Identität wirklich gibt. Wir können nur etwas für sie und für uns tun, wenn wir akzeptieren, daß solche Fehlentwicklungen vorkommen und daß sie sogar ausgesprochen häufig sind. Die heute so stark verbreitete Fixierung auf Image und Rollenspiel als Wirklichkeit ist im Grunde ein Indiz dafür, wie viele Menschen ohne eigene Identität es gibt und daß unsere Kultur deren Existenz fördert.

Dieses Zusammenspiel zwischen Nicht-Identität und der damit einhergehenden Notwendigkeit, in der Imagepflege die Erlösung von der eigenen Unzulänglichkeit zu suchen (die ja Ergebnis der Nicht-Identität ist), machte Hitler möglich. Das erkannte auch Freud in seiner Schrift «Massenpsychologie und Ich-Analyse» aus dem Jahr 1921. Dabei muß man im Auge behalten, daß die Ich-Eigenschaften, von denen Freud spricht, dem männlichen Mythos von Kraft und Willensstärke entsprechen und gerade die Nicht-Ich-Fixierungen auf elterliches Image und Rollenspiel sind, auf die solche Menschen geprägt sind. 

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«Die Wahl des Führers wird durch dieses Verhältnis sehr erleichtert. Er braucht oft nur die typischen Eigenschaften dieser Individuen in besonders scharfer und reiner Ausprägung zu besitzen und den Eindruck größerer Kraft und libidinöser Freiheit zu machen, so kommt ihm das Bedürfnis nach einem starken Oberhaupt entgegen und bekleidet ihn mit der Übermacht, auf die er sonst vielleicht keinen Anspruch hätte.»246 Genau dasselbe tun wir in allen Lebensbereichen noch immer, und es wird von unserer Kultur gefördert, so daß der Schein den Platz des wirklichen Seins einnimmt.

 

  Manager  

 

Daniel Goeudevert, ehemaliges Mitglied des Konzernvorstandes von VW, schreibt in seinem Buch «Wie ein Vogel im Aquarium»: 

«Der Mächtige weiß oft genug nichts von der schweren Goldkrone, die er trägt, und die Beziehungen zu seinen Lakaien scheinen ungetrübt — solange er auf dem Thron sitzt. Er bekommt alles, was er will. Er umgibt sich mit einer Entourage nach seinem Geschmack und empfängt Menschen aus aller Welt, die den Kontakt zu ihm suchen. Im Glauben, daß das alles mit seiner eigenen Person zu tun habe, entfernt er sich weiter und weiter von der Realität des menschlichen Lebens. Sein Schatten wird übergroß, bis dahinter alles verschwindet: die Wirklichkeit, die anderen und auch er selbst — bis er im wahrsten Sinne des Wortes ein Schatten seiner selbst wird.»247 

Das trifft natürlich nur die eine Seite des Problems. Ein Mensch, der — genauso wie Hitler — ein Image lebt, interpretiert seine Vergötterung als Bestätigung für sein projiziertes Image, und er glaubt selbst, sie sei die Wirklichkeit seiner imaginierten Identität. Der ganze Prozeß wird jedoch in Gang gesetzt, weil beide, die Mächtigen und die Untertanen, an das Rollenspiel glauben. Es ist genauso, wie es bereits C. Wright Mills beschrieben hat — solche Menschen können ihre Position nur erreichen und halten, indem sie sich in die Pose der «tatkräftigen Persönlichkeit» werfen. «Man gibt sich charmant, lächelt oft, zeigt sich als guter Zuhörer, unterhält sich über die Interessen des andern und bringt ihn dazu, sich wichtig zu fühlen. Und all dies wird mit großer Aufrichtigkeit getan.»248 Persönliche Beziehungen werden so zur Werbung, alles nur um des Erfolges willen. 

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«Man muß dauernd andere — und auch sich selbst — davon überzeugen, daß man das Gegenteil dessen ist, was man wirklich ist.» Deshalb schlußfolgert Goeudevert ganz richtig, wenn er sagt: «Das Problem des ausscheidenden Managers ist deshalb weniger ein Imageverlust als vielmehr ein Identitätsverlust.»249 Er scheint jedoch nicht erkannt zu haben, daß diesem «Identitätsverlust» bereits die Verwechslung von Image mit einer wirklichen Identität zugrunde liegt. Eine wirkliche Identität würde durch Statusverluste nicht verlorengehen. Das Problem besteht ja darin, daß wir uns jenen äußeren Bildern anpassen, von denen wir glauben, daß sie den Idealen des Aggressors entsprechen, mit dem wir uns identifiziert haben. Wenn uns diese Anpassung gelingt, halten wir uns für «normal und gesund». Deshalb fürchten wir uns auch vor dem, was wir wirklich sind und in uns haben — das Fremde, das wir zurückweisen mußten. Henry Miller faßte diesen Umstand einmal so zusammen: «Wir sind so <gesund>, daß, würden wir uns selbst auf der Straße begegnen, wir uns nicht erkennen würden, weil uns ein Selbst gegenübersteht, das uns Angst macht.»250

Goeudevert belegt eine Entwicklungsart im Leben der Manager, die zu Größenphantasien und Überschreitungen der Grenzen anderer führt. Solches Verhalten wiederum verdeckt Aktivitäten jenseits der Legalität wie im Fall des Vorstandsvorsitzenden der Bremer Vulkan AG, der Ende 1995 für seine kriminellen Manipulationen verhaftet wurde. Goeudevert schreibt: «Das Leben des Managers ist total fremdbestimmt — es zwingt geradezu zur Aufgabe eines eignen Ich ... Und wohin», fragt er, «wollen wir (mit unserer Eile) gelangen? ... Wir laufen auf höchsten Touren und Gefahr, vor lauter Beschleunigung das Tempo mit dem Ziel zu verwechseln.»251 

Wir brauchen uns hier nur an Hitlers Äußerung zu erinnern, daß er schnell an die Macht kommen müsse, um schnell einen Krieg durch Eroberungen anzuzetteln: «Ich muß in Kürze an die Macht kommen ... Ich muß! Ich muß!»252 Am 5. November 1937 erklärte er in einer geheimen Rede (Niederschrift vom 10.11.1937 von Oberst Friedrich Hoß-bach, Hitlers Adjutant), daß die «deutsche Frage» nur mit Gewalt gelöst werden könne. Es blieben nur die Fragen «wann» und «wie».253 Das heißt: so schnell wie möglich.

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Eine Untersuchung, die Michael Maccoby mit amerikanischen Managern durchführte, macht den nach außen verlagerten Sinn der Identität dieser Männer deutlich.254 Maccoby, selbst dem Erfolg und der Größe verfallen, stuft deren auf Imagespiele ausgerichtetes Sein allerdings als gesundheitlich «normal» ein. Das zeigt, daß auch ein Psychologe und Psychoanalytiker trotz Psychologiestudium, wenn von Erfolg und Größe benebelt, der Nicht-Identität erlegen sein kann. «Es war eine total männliche Gesellschaft», schreibt Maccoby über ein Sommercamp bei San Francisco, wo sich regelmäßig US-Kabinettsmitglieder, Firmenchefs, Senatoren, Generäle, Universitätspräsidenten und Schauspieler zum gemeinsamen Erholungsprogramm trafen. «(Sogar die Mahlzeiten wurden von Männern serviert) und die jugendliche Machoqualität wurde dadurch betont, daß man ermutigt wurde, gegen den nächsten Redwood-Baum zu urinieren.

Jedes Jahr wurde ein Schauspiel inszeniert, in dem Männer die Rollen von Frauen übernahmen. Das Theaterstück, das ich sah, war voller frauenfeindlicher Seitenhiebe und einem Humor, der die Entfremdung der Darsteller von ihrem Heim und ihrer Familie ausdrückte. Ein Beispiel: In dem Stück ruft der Präsident der bereinigten Konsolidiertem seinen Sohn zu sich, der als Vizepräsident einer PR-Firma versagt hat. Der Vater sagt ihm, daß er nichts tauge: <Ich bin froh, daß deine Mutter nicht mehr am Leben ist und deshalb dein Versagen nicht miterleben muß.> Darauf der Sohn: <Aber Vater, sie lebt doch noch, ich habe sie heute morgen gesehene <Ach ja>, sagt der Vater. <Nun, man kann nicht von mir erwarten, daß ich bei jeder kleinen Sache weiß, was vor sich geht.> Lautes Lachen.»255

Trotzdem schreibt Maccoby: «Die Manager, die wir untersuchten, sind nicht Opfer dieses Systems, sondern seine Nutznießer, sie sind die meist bewunderten innerhalb der besten Organisationen und Vorbild für kleinere Firmen. Indem wir die effektivsten und kreativsten Manager befragten, konnten wir die optimale menschliche Entwicklung entdecken, die diese Systeme erlauben ... wir studierten gesunde Menschen»(!). 

Maccoby erkennt nicht, daß die machohafte Idealisierung von Erfolg und die damit verbundene Verachtung des Weiblichen einer Nicht-Identität entspricht, wie sie auch für die Hitlerzeit typisch war. Wie sehr der Geltungsdrang dieser Manager den Minderwertigkeitsgefühlen von Hitler und seinem Gefolge gleichkommt, machen die Interviews deutlich, die Maccoby allerdings als Beweis für die «Stärke» dieser Leute vorlegt. 

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So beschrieb sich der Vizepräsident einer Gesellschaft mit den Worten: «Ich habe ein starkes Bedürfnis, erfolgreich zu sein. Und ich habe ein sehr starkes Bedürfnis, von ANDERN akzeptiert zu werden. Ich empfinde Unsicherheit und Selbstzweifel darüber, wie kompetent ich bin. Ich möchte das Spiel nur spielen, wenn ich gewinnen und mir Respekt verschaffen kann. Wenn nicht, gibt es keinen Grund, das Spiel zu spielen. Man spielt lieber Spiele, die man gewinnen kann ... Gewinnen bedeutet, den Respekt Ebenbürtiger zu bekommen.» 

Als Kind hatte dieser Mann Alpträume, in denen er von Brücken fiel, gejagt und von Versagen und Konkurrenz verfolgt wurde. In letzter Zeit träumte er öfter von einem wirbelnden Kreisel. Er wollte wissen, was das bedeutet, und man sagte ihm, er fühle sich wohl wie ein Kreisel, der dauernd in Bewegung sein muß; daß er fürchte umzufallen, wenn er sich entspannt und aufhört, sich zu drehen. Er stimmte dem zu und sagte: «Ich kann noch nicht mal Ferien nehmen.» Dieser Mann war stolz darauf, unter Streß «cool» zu bleiben. Für ihn zählte das Image, seine Wirkung auf andere, und nicht das, was er wirklich war.256

Maccoby berichtet auch von einer Sekretärin, die in einer dieser riesigen Organisationen arbeitete. Sie sah ihre Aufgabe darin, «solche Männer zu verwöhnen, ihnen ihr Leben einfacher zu machen». In dieser künstlichen Identität glaubte sie zudem, keine wirklichen Gefühle haben zu dürfen und für die Stimmung im Büro verantwortlich zu sein. «Als meine Verlobung auseinanderbrach, nahm ich mir einen Tag frei, denn ich wollte nicht, daß andere deprimiert wurden, weil ich nicht lächeln konnte.» Sie meinte außerdem, sie habe «einen großen emotionalen Einfluß auf die Menschen hier, da sie mir wichtig sind»

Darin drückt sich ein doppelter Selbstbetrug aus. Sie machte sich nicht nur vor, daß sie aus «Rücksicht» keine eigenen Gefühle haben und zeigen durfte, sie glaubte auch noch, daß ein Interesse an anderen Menschen der Grund dafür sei. In Wahrheit geht es um die Illusion von Macht, die auch von ihrem Chef unterstützt wurde. Dieser sagte ihr zum Beispiel, daß es ganz an ihr liege, die anderen im Büro glücklich oder unglücklich zu machen. Indem er ihr das Gefühl gab, Macht zu haben, konnte er sie manipulieren und gefügig machen. In einem solchen Gruppenklima, das von Rollen- und Imagespielen geprägt ist, besteht immer ein Druck, mitzumachen. 

Wer nicht mitmacht, wird zum Verräter am gemeinsamen «Sein» abgestempelt. Dieser Vorgang des Mitmachens unterscheidet sich im Grunde nicht von der so hoch gepriesenen «Kameradschaft» der Nazis in der SA, SS und der Armee. Es ist ein andauerndes Werben für sich selbst, indem man beweist, daß man den Normen der Gruppe entspricht, nicht andersdenkend ist. Das gibt «Sicherheit».

In der modernen Managerwelt geht es zwar nicht um primitiven Mord. Der Mord an der Seele, der hier begangen wird, ist jedoch derselbe wie in der Nazizeit. Das meint Carl Amery, wenn er Hitler als Vorläufer unserer Zeit beschreibt. Er will davor warnen, daß der heutige Idealmensch dem idealisierten Unmenschlichen entspricht, wo nur Erfolg und Anpassung zählen und sich der «Börsianer oder Medien-Yuppie... an die Stoßstange seines Porsche Boxster den Sticker "Eure Armut kotzt mich an!" klebt.»257

 wikipedia  Porsche_Boxster 

Der Ehrgeiz dieser Menschen ist der gleiche wie der von Speer, Göring, Frank oder Schneider/Schwerte. Doch Hitler war nicht der eigentliche Vorläufer. Er trieb Imagepflege und den männlichen Mythos von Stärke und Entschlossenheit nur auf einen neuen Gipfel. Das Abgetrennte, Tödliche scheint vielmehr Beweggrund aller «großen» Zivilisationen zu sein.

Hans Jakob von Grimmelshausen beschreibt es schon in «Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch», erschienen im Jahr 1668. Menschen kaufen und verkaufen «nicht nur um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, sondern auch um des Gewinns willen, der sich einstellt, wenn der Wert der Ware durch menschliche Arbeit gesteigert wird.» Die Kunst ist es, sich dem Ehrgeiz zu ergeben und nicht zu merken, daß es schmerzt. Der ganze «Simplicissimus» ist wohl ein Versuch, durch Galgenhumor mit dem Tödlichen der Mitmenschen zurechtzukommen.

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