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Vorwort 

Pfingsten 1982

 

9-12

In meinem ersten Buch habe ich versucht, die Welt darzustellen, wie sie ist, nicht wie sie den herrschenden Vorstellungen zufolge sein sollte. In diesem Buch versuche ich darüber hinaus das Wesen des Menschen in seiner Umwelt zu ergründen — ebenfalls so wie es ist, nicht wie es viele gern hätten. Mit dem Ergebnis werden weder die vorbehaltlosen Verteidiger bestehender Verhältnisse noch die zahlreichen Weltver­besserer zufrieden sein.

Zunächst geht es um eine Fortschreibung der »Schreckensbilanz unserer Politik«. Hoffentlich gibt es noch viele Fortsetzungen, denn solange wir noch »fortschreiben« können, leben wir noch. Aber ich bin nicht der Buch­halter dieser Zeit — davon gibt es genug. Meine Absicht geht dahin, die Zeit zu deuten — und den Menschen, wie er sich in seiner langen Geschichte und der kurzen Gegenwart darstellt.

Somit wird sich dieses Buch wieder mit vielen Aspekten unseres Daseins befassen, es kann kein Fachbuch sein. Die bisherige Aufsplitterung in Fachgebiete war zwangsläufig und zunächst auch folgerichtig. Um Fehler zu vermeiden, beschränkte sich jeder Wissenschaftler auf seinen Fachbereich; da ging er kein Risiko ein, und alles schien fest fundiert. Inzwischen hat sich ein anderes Risiko als das gefährlichere herausgestellt: Die Fachaussagen ergeben kein Gesamtbild mehr, ja sie geben sogar völlig wider­sprüchliche Ratschläge an die weiter, die sie benötigen, die Politiker und die lebenden Menschen. 

Die dringendste Forderung unserer Zeit lautet daher, einen Gesamtaufriß zu versuchen. Wenn darin ein Teil­bereich nicht ganz stimmt, dann ist der Schaden geringer, als wenn die Teile unverwendbare Bruch­stücke bleiben. Nachdem die Welt bis in die Atome und der Mensch bis in die einzelnen Gehirn­funktionen zergliedert vor uns liegt, ist nichts nötiger als die Synthese. Eine Synthese, die übrigens jeder einzelne Mensch tagtäglich für sich finden muß, sonst könnte er nicht leben.

Somit wird dies eine Darstellung aller Fragen, die gegenwärtig die Welt bewegen, so wie sie sich jedem Bürger und besonders dem Politiker stellen. Da sich Politiker und andere Verantwortliche nie mehr das Fachwissen vieler Gebiete aneignen können, verzichten viele ganz auf tieferes Wissen und planschen höchst erfolgreich in seichten Gewässern, wo sie kaum untergehen können.

Ihr ständiger Verweis auf die Fachleute, auf deren Rat sie sich schließlich verlassen müßten, galt sogar als freimütiger Beweis für ihre Ehrlichkeit und Objektivität. Erst neuerdings traut man dem Rat der Experten nicht mehr so recht.

Verwunderlich ist auch, in welchem Ausmaß immer noch die Schlachten der Vergangenheit geschlagen werden. Die gegenwärtige Epoche ist ziemlich phantasielos, so auch in der Politik. Die Gefahr kommt selten aus der Richtung, in die man ständig starrt. Die Geschichte wiederholt sich zwar, jedoch nicht in primitiver Weise. Darum hält auch eine ideologische Maginot-Linie im Ernstfall so wenig wie die seinerzeitige aus Beton.

Maginot-Linie:  franz.: 'Ostwall', Verteidigungsmauer Frankreichs - Im 2. WK dann von Hitler erobert und zum "Westwall" erklärt.

Nachdem die Erde in die Hand der Menschen gefallen ist, tappen diese wie Blinde in ihrer selbst­geschaff­enen Geographie herum, und sie finden sich auch in ihrer Geschichte nicht mehr zurecht, obwohl sie in allen historischen Steinbrüchen nach Verwertbarem schürfen. Erneute Diktaturen drohen gewiß allerorten, sicher eintreffen wird aber nur die Diktatur der Knappheit. Und die ergibt sich geradewegs aus der brutalen Diktatur des Menschen über die Erde.

Es gibt keinen Präzedenzfall für die Macht, die der Mensch in den letzten zweihundert Jahren über die Biosphäre erlangt hat. Unter diesen verwirrenden Umständen kann nur eine Voraussage mit Gewißheit gemacht werden: »Der Mensch, das Kind der Mutter Erde, würde das Verbrechen des Mutter­mordes nicht überleben.« Mit diesen Worten schloß Arnold Toynbee sein letztes großes Werk <Menschheit und Mutter Erde>. So hätte auch der Titel dieses Buches lauten können.

Es wird eine differenzierte Gedankenführung nötig sein, für die ich die Geduld des Lesers erbitte. Wäre mein erstes Buch nicht in so großer Breite aufgenommen worden, so hätte ich mich vielleicht nicht an dieses Unter­nehmen gewagt. Der Leser wird aller­dings viele Bestätigungen eigener Gedanken finden; er wird entdecken, daß er dieses und jenes auch schon gedacht, gefühlt oder vermutet hat. Was können wir Besseres erreichen, als uns gegenseitig zu bestärken.

10/11

Da ich die Ansicht Goethes teile, daß alles Gescheite auf dieser Welt schon einmal gedacht worden sei und man nur versuchen müsse, es noch einmal zu denken, werde ich mich ausgiebig auf die Weisheiten vergangener Zeiten berufen und auch neueste Erkenntnisse reichlich zitieren. Es stimmt hoffnungsvoll, daß bereits so viele Geister in die gleiche Richtung denken. Ich sehe meine Aufgabe darin, verstreute Einsichten zu einem tragfähigen Netz zu verknüpfen in einer Zeit, wo der Mensch den Boden unter den Füßen verloren hat.

Wenn über die Geschichte des 20. Jahrhunderts jemals geschrieben werden sollte, dann wird es als das Jahrhundert der enttäuschten Hoffnungen bezeichnet werden. Diese wurden durch drei Entdeckungen dezimiert, die seit dem II. Weltkrieg immer dunkler unser Bewußtsein überschatten:

Aus jedem einzelnen der drei Prozesse entsteht eine Endzeitdrohung — und wenn sie zusammen­wirken, dann wird die furchtbare Realität alles übertreffen, was sich früher die Völker in ihren apokalyp­tischen Visionen ausgemalt hatten.

Diese Drohungen entfalteten ihre Schrecknisse gerade zu der Zeit, da die utopischen Erwartungen auf eine problemlose Welt ihren Höhepunkt erreicht hatten. Die glückliche Endzeit erschien greifbar nahe, als der Frost der Ernüchterung hereinbrach. Vor allem die beiden industrialisierten Blöcke in West und Ost hatten sich ihrem Endziel nahe gesehen, was immer sie sich über­ein­stimmend oder gegensätzlich darunter vorstellen mochten. Die sozialistische Welt glaubte, kurz vor dem Kommunismus zu stehen — und so mancher amerikanische Präsident hatte mit dem Wort freedom from want, frei sein von jedem Mangel, der Welt das Menschenparadies versprochen.

Plötzlich wird nun der Grat schmaler, die Luft dünner, schwere Zeiten für den Atem der Hoffnung; doch die Sicht wird klarer. In unserer Ernüchterung werden wir erkennen: Auch vor dem Zeitalter der Euphorie haben die Völker gelebt, und sie waren nie ohne Hoffnung. Auf diese bescheidenere, aber immer beständige Hoffnung sind wir jetzt zurückgeworfen, wo sich das zweite Jahrtausend nach Christi Geburt seinem Ende zuneigt. 

Wir wollen erkunden, woraus Menschen stets ihr Brot gewannen und Hoffnung für ihr Dasein schöpften und worauf sie sich weiter verlassen können. Es gilt herauszufinden, wo die echten Werte des Daseins liegen, und zu erkennen, was eine gnädige Erde uns noch immer bereithält.

11-12

Pfingsten 1982, Herbert Gruhl 

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Herbert Gruhl   Das irdische Gleichgewicht  Ökologie unseres Daseins