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  Teil 2    Die Natur und ihr Widersacher  

2.1  Die Ökologie ist die Grundlage unserer Welt

Die Erde auch, der Göttlichen höchste, die
nimmer vergeht und nimmer ermüdet, schöpfet
er aus.  Sophokles  wikipedia  Sophokles 

  Was heißt Ökologie?  

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In den letzten Jahren ist häufig die Frage diskutiert worden, was wichtiger sei, die Ökonomie oder die Ökologie? Stolz wurde danach als Ergebnis verkündet: Ökonomie und Ökologie ergänzten einander, sie brauchten in keinem Gegensatz zueinander zu stehen oder beide seien gleich wichtig. Dabei ging man von den heute herrschenden, ökonomisch-bestimmten Vorstellungen aus.

Die zur Zeit verbreitete Vorstellung von Ökologie ist weitgehend diffus und sehr oft unzutreffend. Franz Vonessen sagt sogar über die Ökologie, daß sie teils auf dem Boden der Mißstände stehe, die sie bekämpfen wolle; denn sie kümmere sich nur um die Folgen, nicht um die Ursachen. Sie rüttele nicht an den Mißständen und decke sie nicht auf. »Doch eine Ökologie, die ihren Namen verdient, kann nicht naiv, nicht nur Biologie sein.«49 Vonessen fährt dann fort: Eine nur biologisch orientierte Ökologie....

»bringt keine Hilfe, und wenn sie es noch so gut meint. Sieht denn keiner die Tatsachen? Ein Drache vernichtet das Land. Sauber­männer gehen hinter ihm her und räumen den Kot fort und glauben, damit sei es getan. Sie glauben, auf diese Weise <mit dem Untier leben> zu können ... Eine Zeit, die blind ist für die Herkunft ihrer Probleme, die nichts von den Ursachen wissen will, sondern sich mit Eigensinn nur auf gewisse, naheliegende Symptome versteift und an ihnen herumdoktert — diese Zeit ist offenbar vom heftigsten Willen zu ihrer eigenen Zerstörung ergriffen.«(50)

Das ist die heutige Lage. Sie ist gekennzeichnet von einer verworrenen Vorstellung dessen, was man so <Ökologie> nennt. Mit anderen Worten — wir müssen einen tieferen Ansatz finden.

Unsere Erde, der Planet, auf dem wir leben, ist ein verschwindend kleiner Punkt im Weltall. Die Erdkugel hat einen Durchmesser von nur 12.713 km von Pol zu Pol. Doch die Erde hat einen Vorzug: sie ermöglicht Leben. Von den Sternen, die bisher erforscht werden konnten, wissen wir, daß es dort kein Leben geben kann. Da wir mit Lichtjahren rechnen, müßte der menschliche Flugkörper erst einmal die Reise­geschwindig­keit des Lichts (300.000 km pro Sekunde) erreichen, nur dann könnte er zu dem nächst­gelegenen Stern außerhalb des Sonnensystems, Proxima Centauri, in 4,3 Jahren gelangen. Die bisherigen Raum­schiffe würden 80.000 Jahre benötigen.

Eine Entdeckung der letzten Jahrzehnte lautet, daß unsere Erde selbst ein Raumschiff von begrenztem Umfang ist; aber ein Raumschiff ohne Heimatbasis, die zum Auftanken angeflogen werden könnte. Unsere Erde hat jedoch immer noch den Vorzug, sich selbst versorgen zu können. Und dies, weil hier natürliches Wachstum herrscht. Sie trägt lebendige Wesen, sogar so viele, daß wir nie genau wissen werden, wie viele Tier- und Pflanzenarten auf der Erde zu finden sind, man schätzt, daß es fünf bis zehn Millionen verschiedener Arten gibt. Darunter befinden sich Millionen Mikroorganismen, die für das bloße Auge unsichtbar sind. Ohne diese wichtigen Mikroorganismen gäbe es alle die anderen Lebewesen nicht.

Damit sind wir bei den Zusammenhängen alles Lebendigen auf diesem Planeten und bei der Wissenschaft, die diese untersucht, der Ökologie. Als der Biologe Ernst Haeckel 1866 diesen Begriff schuf, bezeichnete er die Ökologie als eine Unterdisziplin der Biologie. Als solche lag sie nahezu in einem Dornröschenschlaf, aus dem sie erst 100 Jahre später — infolge der Diskussion über die zerstörte Umwelt — erweckt wurde. Jetzt wurde die Lebens­notwendigkeit der Zusammen­hänge so schnell erkannt, daß sich die Ökologie in kurzer Frist zu einer übergeordneten Disziplin entwickelt hat.

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Da »Oikos« auf griechisch »das Haus« bedeutet, befaßt sich die Ökologie mit dieser unserer Wohnstatt, der ganzen Erde. In der Antike hieß die Erde »Oikumene«, »die Bewohnte«. Somit umfaßt die Ökologie heute die Bereiche der Biologie, Geographie, Geologie, Zoologie, Botanik, Land- und Forstwirtschaft, Meereskunde, Klimatologie, Erdgeschichte, Medizin, Psychologie, aber auch die Grundlagen, welche von der Chemie, der Physik und der Mathematik geliefert werden. Und schließlich gehört auch die Ökonomie dazu und natürlich die Politik.51 Die Ökologie ist heute die umfassende Lehre vom irdischen Leben.

Darum definiere ich Ökologie als die Lehre von den miteinander verbundenen Gesetzmäßig­keiten der gesamten Natur oder der lebendigen Welt.

Die Verknüpfungen der lebendigen Welt sind von verwirrender Vielfalt, wobei sich alles in einem ständigen Fluß befindet. Da ist zunächst der alles beherrschende Kreislauf des Werdens und Vergehens, also des Lebens und Sterbens. Doch im Rahmen dieser übergeordneten Gesetzmäßigkeit wirken unzählige Kreisläufe. Der Schweizer Ökonom Bruno Fritsch schreibt: »Die Biosphäre ist durch eine beinahe unendliche Zahl von Kreisläufen und Fließgleichgewichten gekennzeichnet. Sie haben sich im Laufe der Jahrmillionen bis zur heutigen Differenziertheit und relativen Stabilität entwickelt. Folgende Eigenschaften charakterisieren dieses komplexe System: es ist erstens hochorganisiert, ferner ist es... in geologischen Zeiträumen gewachsen, und schließlich hat es die autogene Tendenz zur Wiederherstellung des eigenen Gleich­gewichts­zustandes innerhalb bestimmter Grenzen.«52

Der amerikanische Ökonom Kenneth Boulding sagt aus: »Das wichtigste Axiom eines Ökosystems besagt, daß alles von allem abhängt, und das Grundtheorem lautet, daß ein ökologisches Gleich­gewicht möglich ist, wenn alles von allem anderen abhängt. Genauer gesagt, in einem geschlossenen Ökosystem oder Lebensraum gibt es für jede Art einen Gleich­gewichts­bestand, der von den Gleich­gewichts­beständen aller anderen Arten, einschließlich der nichtbiologischen Bestände und Ansammlungen, wie z.B. Mineralien, Chemikalien und ähnlichem, mehr oder weniger abhängig ist.«53

Beinahe alle chemischen Elemente sind an den Kreisläufen der Natur beteiligt; im besonderen Sauerstoff, Phosphor und Kali.

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Voraussetzung für alles ist der große Kreislauf der Energie, die wir von der Sonne beziehen. Denn sie schafft die nötige Mindest­wärme und setzt so das Wasser durch Verdunsten und die Luft in Bewegung. Damit entsteht, was wir Klima nennen, woraus sich schon die unterschiedlichen Lebensbedingungen auf der Oberfläche dieses Planeten erklären.

Eine etwa vier Milliarden Jahre dauernde Evolution des Lebens auf dieser Erde setzte die vielen weiteren Kreisläufe in Gang. Die Pflanzen verarbeiten Wasser und verwandeln es zusammen mit dem Kohlendioxyd aus der Luft durch Photosynthese in organische Masse, wobei Sauerstoff in die Luft zurückgegeben wird. Die Verwesung der Pflanzen führt zu einem nährstoff­reichen Boden, der den Mikroorganismen zur Nahrung dient, die den Pflanzen die anorganischen Bestandteile aufschließen. Die Pflanzen dienen dann wiederum den Tieren zur Nahrung.

Die Evolution sorgte dafür, daß das Leben in immer erneuter Gestalt auftrat, von denen jede einzelne ihren Platz im vielfältigen Verbund bezog und damit auch lebenswichtig für andere Arten wurde. Die gegenseitigen Abhängigkeiten lassen sich, wenn auch nur annähernd, bildlich wiedergeben: am besten, wenn wir uns das entwickelte Ökosystem der Erde in einer Pyramide vorstellen:

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Die Pyramide hat einen hierarchischen Aufbau. Die höheren Stufen ruhen auf den niederen, die sind voll­ständig von deren Existenz und Funktion abhängig — auch dann, wenn sie die niederen Glieder beherrschen, bleiben sie von ihnen abhängig. In den Gewässern der Erdkugel gibt es eine eigenständige Pyramide vielfältiger Arten, wobei unter den höchsten bereits ein Säugetier, der Wal, zu finden ist.54

Die Ökosysteme auf dem Festland setzen Wasser, Luft und Boden in ausreichender Menge voraus. Die unteren Lebensformen übertreffen jeweils an Zahl die höheren um das Vielfache; sie erzeugen in der Regel einen großen Überschuß, da sie sich selbst erhalten und zugleich darüber stehenden zur Nahrung dienen müssen.

Der Mensch an der Spitze benötigt für seine Existenz, die vorbereitende Tätigkeit aller Zwischen­stufen, er ist also von den niedersten Organismen ebenso abhängig wie von den höchsten Arten.

Daneben braucht er aber auch das Wasser und die Luft unmittelbar, sowie den Boden zur Bestellung, der auch als Lebensraum dient — und ebenso benötigt er auch die Mikroorganismen im eigenen Körper. Der Ausfall auch nur einer Stufe entzieht dem Menschen die Möglichkeit des Welterlebens. Daraus ergibt sich der Schluß, daß die höher ausgebildeten Formen des Lebens abhängiger und damit auch gefährdeter sind als die niederen. Wasser, Luft und Boden, Pflanzen und Tiere in einer effektiven, verwertbaren Zusammensetzung und Stabilität sind die Voraussetzungen für das Leben aller höheren Arten.

Der französische Politiker und Wissenschaftler Maurice Blin folgert in seinem Buch, »Die veruntreute Erde«: »Aus diesem Grunde kann der Begriff <Fortschritt> nur mit Vorbehalt auf die Evolution des Lebens angewendet werden, so daß er beinahe seinen Sinn verliert. Damit ein Lebensbereich sich über den ändern erheben kann, muß erst einmal dieser auf seiner eigenen Stufe Bestand haben und dann jenen stützen. ... Das am höchsten entwickelte Lebewesen, der Mensch, kann nur leben, weil neben ihm die ältesten, aber auch effizientesten Lebensformen weiter bestehen, weil die weniger entwickelte Pflanzenwelt Leistungen vollbringt, die den höher entwickelten Säugetieren versagt sind.

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Wenn die letzteren einmalige und völlig neue Fähigkeiten zu entwickeln vermochten, so nur, weil im Laufe von mehr als drei Milliarden Jahren die früheren mit den späteren Lebensformen zusammenblieben. Das Leben hat auf seine Weise die Arbeits­teilung eingeführt und gleichzeitig als absolutes Gesetz die Interdependenz seiner Bereiche eingerichtet.«55

Damit ist bewiesen, daß die Ökologie nicht nur der Ökonomie vorausgeht, sondern daß sie die fortwährende unverzichtbare Grundlage für alles Leben und somit für das Leben des Menschen bleibt. Nur unter der Bedingung, daß der Mensch erst einmal selbst leben kann, ist er überhaupt imstande, den Überbau der Ökonomie auf dieser Erde aufzutürmen.

 

   Was leistet das Ökosystem der Erde?  

 

Wir wollen zunächst knapp überschlagen, was das Ökosystem der Erde auch ohne den Menschen leistet. Die ständig zur Erde gestrahlte Sonnenenergie beträgt ca. 100 Billionen Kilowatt. Davon erreichen 44 Billionen die Erd­oberfläche. Aus nur 0,04 % der eingestrahlten Energie, das sind 17,6 Milliarden KW, erzeugen die Pflanzen rund 141 Milliarden Tonnen organischer Masse im Jahr. Diese Masse teilte sich im Jahre 1972 nach Berechnung der Welternährungsorganisation wie folgt auf:56

 

in Mio. t

davon genutzt 
in Mio. t

Wald

55.000 

380 

Meer  

42.000 

70 

Grasland   

28.000 

500 

Ackerland   

11.000 

1720 

Gärten und Obst

—   

1000 

Wüste   

5000 

Insgesamt 

141.000 

3670

 

Die gesamte Naturproduktion beträgt also 141 Mrd. Tonnen, wovon gegen 4 Mrd. Tonnen vorwiegend für die Nahrungs­produktion genutzt werden, also nahezu 1 Tonne je Erdbewohner. Das Ackerland erbringt den Löwenanteil. Heute ist das zwar keine bloße Naturproduktion mehr; denn die industriell betriebene Land­wirt­schaft hat den Ertrag des Ackerlandes gesteigert. Dennoch können wir den vom Menschen beigesteuerten Anteil an der gesamten Naturproduktion vernachlässigen.

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Wie viele Milliarden Tonnen setzt nun der industrielle Mensch mit seinen eigenen Mitteln in Bewegung? Er erzeugte in demselben Jahr 1972 ca. 60 Billionen Kilowattstunden Energie. Diese Energie wurde 1972 aus folgenden Stoffen erzeugt:57

Öl            46 % 
Kohle       28 %  
Gas          19 % 
Wasserkraft     6 %    

Die Primärbrennstoffe für diese Energieerzeugung hat allein das Ökosystem dieser Erde in vielen Jahr­millionen erzeugt. Die 1972 in Energie umgewandelten fossilen Brennstoffe sind zwar nicht im Jahre 1972 gewachsen, sondern vor einigen 100 Millionen Jahren in einem damals intakten und vom Menschen ungenutzten Ökosystem. Es handelt sich letzten Endes um nichts anderes als um gespeicherte Sonnenenergie. Die Wasserkraft ist ein Ergebnis der laufenden Sonneneinstrahlung. Wenn wir die rund sechs Milliarden Tonnen fossiler Brennstoffe zu der obigen Naturproduktion des Jahres 1972 hinzuzählen, dann nehmen sich die restlichen Massenbewegungen des Menschen höchst bescheiden aus: Es wurden 1972 noch fast eine Milliarde Tonnen Eisen und etwa eine Milliarde Tonnen diverser anderer Mineralien verarbeitet. 

Das geschah jedoch in Prozessen, die ohne die Energie aus fossilen Brennstoffen gar nicht möglich gewesen wären. Mit der aus dem Erdvorrat geholten Energie gelang die Industria­lisierung ganzer Kontinente, entstand der weltweite Verkehr und die erwähnte Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion. Darüber hinaus reichten diese Kräfte noch aus, um einige Milliarden Tonnen Sand, Kies und Steine zu verarbeiten, Abraum­halden entstehen zu lassen und ganze Landschaften zu ruinieren.

Man kann nun diese Vorgänge auch unter dem ökonomischen Gesichtspunkt eines gigantischen Arbeits­beschaff­ungs- und Versorgungs­programms für Milliarden Menschen sehen, die auf Grund der neuen Möglich­keiten geboren wurden und am Leben erhalten werden konnten.

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Hiermit hat der Mensch — erstmalig in der Naturgeschichte der Erde — für sich eine besondere Situation geschaffen. Er steht jetzt nicht nur an der Spitze der Pyramide; er hat die meisten seiner Feinde beseitigt, welche die Zahl der Menschen früher stets in Grenzen gehalten haben; er hat die Seuchen fast vollständig besiegt, die einst periodisch die Völker heimsuchten. Daraufhin konnte er sich ungehemmt vermehren und die Regel der Natur brechen, wodurch an der Spitze der Pyramide die Zahl der Exemplare einer Art am kleinsten sein muß. Allein bis zum Jahre 2000 werden bereits zusätzlich zwei Milliarden Menschen auf diese Erde kommen — und das sind genausoviel wie um 1930 insgesamt auf der Erde lebten. Nach Berechnungen der Vereinten Nationen werden dann 6,35 Milliarden Menschen die Erde bevölkern.

Zu Beginn der Vermehrung vor etwa 200 Jahren ernannte der Mensch sich selbst zum Subjekt der Weltgeschichte und entwickelte ökonomische Theorien, die alles Lebendige wie die tote Materie den Kriterien der augenblicklichen Nützlichkeit für ihn unterwarfen. Die derzeitige Ökonomie kennt nur einen einzigen Ausgangspunkt: das Gehirn des Menschen. Daraus ergab sich eine Entwicklung, die der Soziologe Alfred Weber »technische Eigenevolution« nennt. 

»Diese so völlig einzigartig fundierte Eigenevolution der modernen Technik muß man stets im Auge haben, will man sich über die Einfluß­möglichkeiten auf die nicht natürliche, sondern durchaus artifiziell, letztlich technokratisch fundierte Daseinsgestaltung klarwerden, in der wir heute, in Wahrheit von der organischen Natur weit abgehoben, leben. Indem wir uns den eigenevolutiven, eben technokratischen Gestaltungs- und Fortbildungs­gesetzen unseres heutigen künstlichen Daseinsgehäuses unterwarfen, sind wir fast mehr noch an sie gebunden, als der Kapitän an das Arbeiten der Maschine seines Schiffes.«58

Es liegt an der Ökonomie, daß sie als sehr begrenzte Wissenschaft definiert werden muß. Sie hat sich nur um die Gattung Mensch gekümmert und die übrigen Lebewesen zu Objekten seiner Wirtschaft degradiert, und sie hat sich nie um die natur­gesetzlichen Grundlagen dieser Welt bemüht, sondern nur um die Systematik der Verwertung des gerade Vorhandenen. Sie war überdies »blind« gegen das, was wir heute als gesellschaftliche Kosten bezeichnen. So ist die Ökonomie nun — schon nach 200 Jahren — in die totale Sackgasse geraten.

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Die Natur konnte dagegen Milliarden Jahre bestehen, weil sie den schwereren, aber sichereren Weg gegangen ist. Blin:

»Das Leben setzte auf die seltenen Elemente und verschmähte jene, die sich ihm in großer Zahl darboten. Es mißachtete die Quantität, um dem Gesetz der Qualität zu gehorchen, wobei die Natur nach dem Prinzip des Recycling, d.h. der Wiederaufbereitung von Stoffen, vorgeht. ... Wenn mit dem allgemeinen Ausdruck <Ökonomie> die Gesamtheit der Aktivitäten bezeichnet wird, durch die ein Organismus die für seinen Fortbestand unabdingbaren Elemente aus der Umwelt bezieht, so kann gesagt werden, daß das Leben von seinen einfachsten Formen an die totale Unterordnung der Ökonomie unter einen übergreifenden Endzweck darstellt.«59

Im Gegensatz zu den Kreisläufen der Natur arbeitet die industrielle Technik der Neuzeit linear. Das führt zu einer früher nie gekannten Verschwendung der Ressourcen. Die Ökonomie kümmerte sich in den letzten zwei Jahrhunderten nicht um die Bestände der Erde, die sie verarbeitete, und auch nicht um den Abfall, der am anderen Ende übrigblieb. Boulding nennt das »Durchflußwirtschaft«: »Wir bauen Erze ab und gewinnen Mineralöl und verarbeiten diese Rohstoffe weiter zu Waren.

Als Nebenprodukte erstellen wir negative Outputs an Schmutzstoffen, d.h. unerwünschte Produkte mensch­licher Aktivität mit negativem Wert. Wir lagern diese <Ungüter> in Umweltbereichen ab, die in der Lage sind, Rückstände aufzunehmen. Man könnte diese Bereiche fast als umgekehrte Bergwerke bezeichnen. Dieser Einbahnverkehr im Wirtschafts­system kann zweifellos nicht in aller Ewigkeit aufrecht­erhalten werden«, sagt Boulding. Irgendwann einmal in der Geschichte der Menschheit wird aus den Bergwerken nichts mehr herauszuholen sein, und die verschmutzbaren Umweltbereiche werden mit Rückständen derart angereichert sein, daß sie nichts mehr aufnehmen können.«60 Boulding meint, daß diese Situation schon in hundert Jahren eintreten kann.

Der Anfang und das Ende des Materialflusses und des Energieflusses interessierte die Ökonomie bisher nicht. Die Definition der heute herrschenden Ökonomie könnte vereinfacht lauten:

Ökonomie ist die Lehre von der Organisation menschlichen Produzierens und Konsumierens.

52


Die natürliche und die künstliche Pyramide

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Der Ökonomie geht es um die Organisation, um die Abläufe; sie fragt nicht, woher diese Substanzen kommen, und auch nicht, wohin sie gehen. Sie kalkuliert nur mit Preisen und hofft, daß die Preisent­wicklung auch den Nachschub garantiert, was sich aber am Ende als großer Irrtum erweisen wird.61

Indem der Mensch in eigener Vollmacht zu denken und zu erfinden begann, türmte er eine neue Pyramide auf — aber keine solide Pyramide mit breiter Basis und sich verjüngender Spitze, sondern eine auf die Spitze gestellte Pyramide. Je mehr Schichten und je mehr Menschen auf die künstliche Pyramide geladen werden, um so größer wird die Last, die auf der ökologischen Basis wie auf den menschlichen Trägern ruht. Es leuchtet ein, daß dieser auf einem einzigen Punkt ruhende wahnwitzige Überbau einen waghalsigen Balanceakt erfordert, der nicht lange durchgehalten werden kann. Entscheidender ist, daß die untere Basis laufend geschwächt wird, da sie mit jeder Schicht, die man auf der oberen Pyramide hinzufügt, stärker ausgeplündert und mit Umweltschäden belastet werden muß; denn die untere Pyramide ist die einzige Vorrats­kammer für die obere.

 

   Die Ökonomie vernichtet die eigene Basis    

 

Die Auswirkungen auf das Ökosystem Erde lassen sich grob in folgende Komplexe gliedern:

1. Der fruchtbare Boden, der pro Kopf der Menschheit zur Verfügung steht, verringert sich von Jahr zu Jahr. Der Direktor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen, der Ägypter Mostapha Tolba, erklärte 1978: »Was immer wir auch tun und trotz aller Familienplanungsprogramme werden wir im Jahre 2000 etwa sechs bis sieben Milliarden Menschen auf der Erde haben ... Aufgrund des Bevölkerungswachstums, der Verstädterung, der Industrialisierung werden zur Jahrtausendwende trotz aller Programme zur Bodennutzung jedem von uns — sofern er noch lebt — nur noch 0,16 ha zur Verfügung stehen — 0,31 ha heute.

Wenn mir jemand sagt, daß die 0,16 ha von morgen ebensoviel hergeben wie die 0,31 ha von heute, dann habe ich als Wissenschaftler meine Zweifel. Wir müssen also unseren Lebensstil ändern, unseren Konsum auf das wirklich Notwendige reduzieren, um die Ressourcen auch auf die weiteren Jahre zu verteilen. Insbesondere müssen wir den Boden richtig nutzen und dürfen ihn nicht durch unvernünftiges Vorgehen zerstören.«62

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Der verfügbare Boden pro Kopf schrumpft nicht nur dadurch, daß die Zahl der Menschen wächst, er verringert sich außerdem durch die weitere Betonierung des Bodens im Rahmen dessen, was die Welt »wirtschaftliches Wachstum« nennt. Zusätzliche Industriebetriebe, Verwaltungsgebäude, Straßen und Flugplätze benötigen Flächen. Sie versiegeln fruchtbares Land, da die Menschen in der Regel dort wohnen, wo gutes Klima, Wasser und fruchtbare Böden vorhanden sind. Darum ersetzt die in Grenzen mögliche agrarische Nutzung neuer Flächen im wesentlichen nur die verlorengegangenen, während die Flächen mit der Kopfzahl wachsen müßten. Im Bericht »Global 2000« kommt man zu etwas abweichenden Zahlen, die aber an der Kalamität nichts ändern. Dort geht man davon aus, daß 1975 noch 0,38 ha pro Kopf zur Verfugung standen und daß es im Jahre 2000 noch 0,25 ha sein werden. Dem liegt eine großzügigere Schätzung der nutzbaren Gesamtfläche zugrunde, und wahrscheinlich sind auch die Flächen, die durch die weitere Industrialisierung verlorengehen werden, nicht genügend berücksichtigt.63

2. Die weniger entwickelten Völker nehmen an der Zerstörungsaktion auf ihre Weise teil. Sie vernichten den Pflanzen­bestand durch Übernutzung des Landes und Kahlschlag beziehungsweise Brandrodung der Wälder. Das Holz ist dort vielfach die einzige erreichbare Energiequelle. Nach dem Bericht wird bis zum Jahre 2000 der Wald in Südamerika, Afrika, Asien und Ozeanien um 40% abnehmen, 1166 Millionen Kubikmeter Holz wurden im Jahre 1977 verbrannt, während der gesamte Einschlag weltweit 2538 Millionen Kubikmeter betrug.

Die Wälder sind in mehrfacher Hinsicht für das Ökosystem der Erde lebensnotwendig. Sie sorgen für ein ausgeglichenes Klima. Noch wichtiger sind sie wohl für den Wasserhaushalt, weil sie das Wasser speichern und damit Trockenzeiten überbrücken. Die Wälder besorgen schließlich die Sauerstoff­produktion in der Größenordnung von 107 Milliarden Tonnen im Jahr.64

Bis zum Jahre 2000 werden infolge der Verbrennungsvorgänge 400 Milliarden Tonnen Sauerstoff verbraucht und 550 Milliarden Tonnen Kohlendioxyd erzeugt werden. Dadurch wird sich der Kohlen­dioxyd­gehalt der Atmosphäre um 10% erhöhen. Dazu kommen die Kohlendioxyde aus der Verbrennung von Kohle und Erdöl.

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Insgesamt hat sich der CO2-Gehalt der Luft in den letzten 100 Jahren schon um 15% erhöht, und im Jahre 2000 wird er fast 33% höher sein als in vorindustrieller Zeit. Bei anhaltender Tendenz der Verbrennung kann er 2050 bereits doppelt so hoch sein.65)

Der Wald ist auch ein Speicher von Nährstoffen. Ist der Wald fort, sind auch die Nährstoffe der Erosion ausgesetzt, die Humusschicht wird vom Wasser hinweggespült und vom Wind fortgeblasen. Da zur Zeit jährlich ca. 300.000 qkm Wald beseitigt werden, rechnet man mit einer Halbierung der Wälder bis zum Jahr 2000, so daß diese Flächen zum großen Teil der Erosion anheimfallen werden. Im Umweltbericht des Jahres 1977 der Vereinten Nationen ist nachzulesen, daß durch Bodenerosion jährlich 2,5 Milliarden Kubikmeter Mutterboden verlorengehen werden. Und 200.000 bis 300.000 Hektar Kulturland fallen jährlich durch verfehlte Bewässerungsmaßnahmen aus; sie versalzen oder versumpfen.

Das gesamte Festland unseres Planeten ist heute bereits zu 43 % von Wüsten oder wüstenähnlichen Flächen bedeckt, vor 100 Jahren waren es erst 37,4 %.

 

3. Die großflächige Vernichtung natürlicher Lebensräume und die Umweltverderbnis wird dazu führen, daß zur Jahr­tausendwende 15-20 % aller lebenden Arten ausgerottet sein werden. Zwischen 500.000 und 2.000.000 Arten, so der Bericht an den USA-Präsidenten, werden dann verloren sein, über die Hälfte solche, die in tropischen Wäldern leben. Damit geht ein unschätzbar wertvolles genetisches Potential zugrunde. Ein vielfältiges Potential, das auch für die Züchtung neuer Nutzpflanzen besondere Wichtigkeit haben könnte. Heute liefern uns noch nicht einmal zwei Dutzend Pflanzen- und Tierarten 80% der Weltnahrung. Die Gefahr, daß diese wenigen hochgezüchteten Arten von Krankheiten betroffen werden, ist sehr groß. Für die Züchtung neuer und widerstandsfähigerer Arten wird dann keine genetische Substanz wildlebender Variationen mehr zur Verfügung stehen.66

Auch der chemische Eingriff der Menschen in die Natur löscht viele Arten aus. Gerade weil die Monokulturen immer anfälliger gegen Schädlinge werden, bekämpft man diese mit Pestiziden; da jene dadurch resistenter werden, sind immer größere Mengen alter oder neuer chemischer Mittel erforderlich. Wieviel nützliche Organismen dabei mitvernichtet werden, läßt sich überhaupt nicht feststellen.

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Man wird es in vielen Jahren an den Folgen merken — wenn es wahrscheinlich zu spät ist. Beachtung schenkt man heute diesem Absterben nur, wenn sichtbare und dem Menschen unmittelbar nützliche Lebewesen betroffen werden wie die Bienen. Sterben aber die Bienen am Gift, dann sterben dort mit Sicherheit tausende anderer Arten mit. (Neuere Untersuchungen beweisen bereits, daß der reichliche Einsatz von Chemikalien die Ernteerträge senkt statt steigert.)

4. Die Chemikalien, welche die Natur weder selbst erzeugen noch verwerten kann, werden heute zu Millionen Tonnen in die natürlichen Kreisläufe geradezu hineingepumpt: über die Äcker, in die Tiere, in die Gewässer und über die Luft verteilt, nicht nur von der Landwirtschaft, auch durch die Industrie, die Haushalte und den Verkehr und durch die Rezepte der Ärzte.

Der Agrarwissenschaftler Michael Lohmann kam zu dem Ergebnis: »Auf der Erde hat sich in den Jahrmilliarden ihres Bestehens und vor allem in den Jahrhundertmillionen, seit es organische Prozesse gibt, ein hohes Maß an Ordnung der Stoffe ergeben.... Die statische Ordnung der Stoffe ist gekennzeichnet durch die langfristige Immobilisierung solcher Stoffe, die für die organischen Prozesse unnötig oder gefährlich sind. Dazu gehören unter anderem die sogenannten Bodenschätze (Erze, Salze und auch organische Reststoffe wie Erdöl, Erdgas usw.). Die dynamische Ordnung der Stoffe ist gekennzeichnet durch die Teilnahme nur weniger Massenstoffe und vieler Spurenstoffe... Dieses strukturelle und funktionelle Ordnungsgefüge der irdischen Materie ist durch die Industrietätigkeit des Menschen in kürzester Zeit durcheinandergebracht worden — vor allem durch die enorme Mobilisierung der in der Erdrinde lokal konzentrierten Stoffe, die für die organischen Kreisläufe unnötig oder schädlich sind.«67) 

Die Schädigung reicht bis hinauf in die Ozonschicht unserer Lufthülle — durch Fluor- und Chlorver­bindungen sowie Stickstoffe.68) In neuester Zeit ist die Strahlenbelastung durch die Nukleartechnik hinzugekommen. Der Bericht Global 2000 stellt fest: »Bisher hat keine Nation ein Modellprogramm für die zufriedenstellende Lagerung radioaktiver Abfälle entwickelt, und die Menge dieser Abfälle steigt rasch an. Während der Lebensdauer der Kernkraftwerke, die bis zum Jahre 2000 wahrscheinlich errichtet werden, fallen voraussichtlich mehrere hunderttausend Tonnen hoch radioaktiver, verbrauchter Brennelemente an.«69) 

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5. Eine weitere Gefahr liegt in der zusätzlichen Erwärmung der Erde durch die technische Energie­erzeugung. Alle vom Menschen umgewandelte Energie — sei es durch Verbrennung oder atomare Prozesse — endet letztlich als Wärme. Bei einer Vervierfachung der Energieerzeugung, wie sie in den üblichen Wachstumszielen bis 2020 angestrebt wird, würde die Erderwärmung dann bereits in ein kritisches Stadium treten.

Die beschriebene Gefahr der Verdoppelung des Kohlendioxids bis zum Jahre 2050 könnte allein schon eine Erhöhung der Temperatur um zwei bis drei Grad Celsius in mittleren Breitengraden zur Folge haben. An den Polen würde die Erhöhung drei- bis viermal größer sein und die Eiskappen beider Pole zum Schmelzen bringen. Die Erhöhung des Weltwasserspiegels würde dann einen großen Teil des bisherigen Festlandes unter Wasser setzen.70

 

   Der Mensch als Satan dieser Erde    

 

Die Erde ist ein bevorzugter Planet im Weltall, auf dem Leben möglich ist. Die rund 4 Milliarden Jahre währende Evolution der Lebewesen brachte am Schluß den Menschen hervor, der sich am Ende seiner Entwicklung wiederum eine eigene Welt konstruierte.

Die technisch-ökonomische Welt ist jedoch keine Fortsetzung der natürlichen Evolution, sondern eine radikale Umkehr der Entwicklung, die zunächst zur Störung der Naturvorgänge und schließlich zur Zerstörung des Ökosystems unserer Erde führt.

Der Mensch ist aus der großen Ordnung der Natur herausgefallen und hat eine Sonderstellung für sich erlangt. Ich sage ausdrücklich »herausgefallen«, denn diese Absonderung ist keineswegs nur positiv, sie schließt vielmehr zugleich die totale Bedrohung der eigenen Gattung mit ein, was wir erst in jüngster Zeit immer deutlicher sehen.71 Das Verhalten der Tiere blieb über unzählige Jahrtausende unverändert. Die Vögel bauen immer wieder die gleichen Nester und die Bienen ihre gleichförmigen Waben. Die Tiere kennen den Begriff des technischen Fortschritts nicht. Sollte tatsächlich einmal ein einzelnes Tier eine Erfindung machen (was wir nicht wissen), dann geht diese mit seinem Tod wieder verloren.

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Denn seine Nachkommen »wissen« nur das und können nur die Künste ausüben, die sie genetisch ererbt haben. Was sie allerdings im Wege der unendlich langsamen natürlichen Evolution an Eigenschaften durch Mutation und Selektion hinzuerwerben, vererben sie auch.

Der Mensch dagegen hat im Laufe seiner Kulturgeschichte einen zweiten Informationsstrang entwickelt. Er kann jede einzelne Entdeckung lehrend an die nächste Generation weitergeben. Damit gehen die Erfindungen nicht mehr verloren, im Gegenteil, sie addieren sich und schwellen an. Mit der Schrift wurde die vollständige Akkumulation möglich. Seitdem werden ganze Berge von Wissen von, Generation zu Generation vergrößert und weitergewälzt. Die Informationslawine ist so groß, so angewachsen, daß gewisse Wissenschaftler auf die verrückte Idee kamen, der Mensch besäße gar kein ererbtes Wissen, sondern nur das, was er jeweils nach der Geburt erlernt habe.

Ein Mensch braucht nun allerdings eine immer größere Spanne seines Lebens, um nur einen lächerlich geringen Bruchteil des angesammelten Wissens aufzunehmen. Um überhaupt noch mithalten zu können, spezialisiert er sich notgedrungen auf einen Ausschnitt des Ganzen, der bei zunehmender Gesamtmasse immer winziger wird. Insofern er in seinem Ausschnitt selbst etwas hinzufügt, liefert er seinen Beitrag zur Vergrößerung der Gesamtlawine.

Diese Lawine ist aber nicht nur eine theoretische (dafür brauchte man nur die Bibliotheken ständig zu vergrößern). Es ist auch eine Lawine der mit diesem Wissen hergestellten Gegenstände, es ist die Industrie — sagen wir einfach: es ist die Ökonomie mit all ihren verschiedenen Auswirkungen. An Stelle der statischen Ökonomie der Tiere — die sich ja auch versorgen, von denen manche sogar einen Wintervorrat anlegen — betreibt der Mensch nun eine expandierende Ökonomie.

Dieser Expansion sind theoretisch keine Grenzen gesetzt — und innerhalb der Theorien bewegen sich ja schließlich die Gedankengänge gerade der »fortgeschrittensten« avantgardistischen Gruppen der Menschheit. Was aber wie eh und je begrenzt bleibt, das ist einerseits der Raum unseres Planeten (wobei nur die organisch produzierenden Flächen zählen), und das ist andererseits die Erlebniswelt des einzelnen Menschen.

Die Expansion der vom Menschen erfundenen Ökonomie muß zwangsläufig die stabilisierte Harmonie der Natur sprengen; denn ein immer weiter anschwellender produzierter Überfluß von (keineswegs lebensnotwendigen) Gütern ist wie ein speiender Vulkan, der seine Lavaströme über das fruchtbare Land ausgießt und es weit darüber hinaus noch mit Asche bedeckt.

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Insofern ist die einzigartige Begabung eines einzigen Lebewesens, des Menschen, ein Sprengsatz innerhalb der gesamten natürlichen Welt. Daß dies keineswegs nur bildlich zu verstehen ist, wird jeder einräumen, wenn er an die gelagerte atomare Vernichtungskapazität von fast 20 Milliarden Tonnen TNT denkt, was pro Person der 4,5 Milliarden Erden­bewohner etwa vier Tonnen bedeutet.

Es wäre aber ein verhängnisvoller Irrtum anzunehmen, daß nur darin die Gefahr läge. Die »normale« Zerstörungskapazität der modernen Produktionsmaschinerien ist ebenso groß, der Unterschied besteht nur darin, daß sie langsamer, aber auch hartnäckiger vergrößert wird; denn die wirtschaftliche Expansion ist nach wie vor das erklärte Ziel aller Nationen, während der Atomkrieg immerhin niemandes Ziel ist.

So mag der Wissenschaftspublizist Theo Löbsack recht haben, wenn er in seinem Buch den Menschen als einen »Irrläufer der Evolution«* bezeichnet. Der Mensch ist eben ein aus der normalen Ordnung der Natur herausgefallenes Wesen, was schon in seiner Fähigkeit zum individuellen Selbstmord drastisch sichtbar wird. Die Mittel der neuesten Technik befähigen ihn heute zum kollektiven Selbstmord und eben auch zum Mord an der Natur, der ein kollektiver Muttermord ist — an unserer Mutter Erde. Am Ende seiner umfassenden welthistorischen Betrachtung »Menschheit und Mutter Erde« fragt der britische Historiker Arnold Toynbee: »Wird der Mensch die Mutter Erde ermorden oder erlösen?«72) 

Zur Zeit kann dem Menschen in den Augen mancher Tiere nur die Rolle des Satans auf dieser Erde zukommen. Der Biologe Friedrich Oehlkers ist es, der uns aus der Sicht der übrigen Organismen diesen Spiegel vorhält: »Für die Tier- und Pflanzenwelt ist der Mensch das schlechthin satanische Wesen; mit überlegenen, unheimlichen Mächten ausgestattet, geht er in allem seiner Willkür nach. Er pflanzt die Gewächse an, wo und wie er mag, und er vernichtet sie wieder nach seinem Gefallen.«73

Wir können nicht wissen, welche Rolle der Mensch aus der Sicht der eingepferchten Hühner spielt. Wenn diese gequälten Kreaturen auch nur den geringsten Schimmer einer Vorstellung ihres Peinigers haben sollten, dann kann es nur die eines überdimensionalen, allmächtigen Wesens sein, das nicht nur über ihr Leben und ihren Tod verfügt, sondern sie auch beliebig zu zehntausenden auf Jahre zur Bewegungs­losigkeit verdammt.

*  (d-2014:)  Seite 324: "Löbsack, Theo: Versuch und Irrtum - Der Mensch: Fehlschlag der Natur. Bertelsmann-Verlag, Gütersloh 1974" --- Vielleicht verwechselte Gruhl hier mit: Arthur Koestler: Der Mensch — Irrläufer der Evolution , 1978. (?)

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Ganz abgesehen von freilebendem Wild, das jederzeit die Tötung aus der Ferne fürchten muß. Der französische Dichter Romain Rolland schrieb schon vor 50 Jahren, daß künftige Generationen den Vandalismus verfluchen würden, mit dem wir in einem einzigen Jahrhundert Raubbau an der Tierwelt getrieben haben, zu deren Vervollkommnung die Natur 50 Millionen Jahre nötig hatte.

Doch der Mensch bereitet sich das Schicksal, ausgerottet zu werden, auch selbst. Es begann mit den Gasen, dann kamen weitere Chemikalien und Bakterien und schließlich die Atombomben und Neutronen­waffen. Bei letzteren wird ganz entschieden als Vorteil herausgestrichen, daß sie keine Sachen zerstören und auf Dauer verstrahlen, sondern daß sie nur Lebendiges töten; das sind aber nicht nur feindliche Soldaten und nicht nur die dort lebenden Menschen; es sind alle Lebewesen. Aber hat schon jemals einer in der jetzt fünfjährigen Diskussion danach gefragt, was den Tieren und Pflanzen durch die Explosion geschieht? Man hat nichts davon gehört!

Paradox ist es, wenn diese Entwicklung unter dem Aspekt einer Ausweitung der menschlichen Freiheit gesehen wird. Der Mensch hat sich mit seinem Tun keineswegs die Freiheit erobert; er geriet vielmehr aus der einfachen Abhängigkeit von der Natur, von deren Wasser, Luft und Nahrung er weiter abhängig ist, in eine zweite. Er geriet in die Abhängigkeit von der Technik, die mit den begrenzten, nicht nachwachsenden Ressourcen dieser Erde arbeitet, deren Beschaffung aber immer schwieriger wird.74) Weder die erste noch die zweite Abhängigkeit wird von den herrschenden ökonomischen Theorien langfristig berücksichtigt.

Darum taugt die derzeitige Ökonomie nur für die gerade lebenden Menschen, sie taugt nichts unter dem Gesichts­punkt der Erhaltung des Lebens auf dieser Erde, ja sie entzieht dem Menschen selbst die Möglichkeit des Überlebens auf dieser Erde.

Arnold Toynbee schreibt am Ende seines bereits erwähnten, letzten großen Werkes <Menschheit und Mutter Erde>: 

»Tatsächlich hatten alle Arten - der Mensch nicht ausgenommen - bisher von der Gnade der Biosphäre gelebt — erst die industrielle Revolution lieferte sie der Gnade des Menschen aus. Da der Mensch in der Biosphäre wurzelt und außerhalb ihrer nicht leben kann, war die Aneignung der Macht, sie zu vernichten, gleichbedeutend mit einer Bedrohung seines Überlebens durch ihn selber.«75

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 www.detopia.de    ^^^^     Literatur 

Herbert Gruhl   Das irdische Gleichgewicht  Ökologie unseres Daseins