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4.2 - Das Pendel des Lebens  (Gruhl-1982)

Übertriebene Farben gefährden das Sehen.  /  Überstiegene Töne töten das Hören.
Überspitzte Kost kostet den Geschmack.  /  Überreizte Erregung erregt Unnatürlichkeit.
Überhäufter Besitz, besitzt den Besitzenden. -Laotse-

159-186

Der sogenannte <moderne Mensch> hat sich von den Grundregeln des Lebens, die so alt sind wie die Menschheit, weit entfernt. Schlimmer noch, er scheint gar nichts mehr von dem zu wissen, was unseren Großeltern geläufig war und einigen Völkern noch heute ist.

Der moderne Mensch will alles genau wissen und das Wissen dann auch ökonomisch anwenden. Aber heute wird uns immer klarer: Es ist »unmöglich, exakt zu definieren, was für den Menschen nützlich ist«.267 Darunter leidet die Diskussion über die Probleme der menschlichen Gesellschaft und das Nachdenken des Einzelnen über seine eigenen. 

Sowohl in der materiellen wie in der psychischen Welt besteht größte Unsicherheit darüber, was für den Menschen wirklich gut ist. Kant vertrat entschieden die Ansicht, daß der Mensch »doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle« und daß er nicht »mit völliger Gewißheit zu bestimmen (vermöchte), was ihn wahrhaft glücklich machen werde, darum weil hierzu Allwissenheit erforderlich sein würde.«268

In den letzten Jahrhunderten glaubte man allerdings, untrügliche Maßstäbe gefunden zu haben. Endlich schien der Fortschritt der Menschheit meßbar zu sein, mit Zahlenkolonnen belegbar, die man dann als steigende Kurven zeichnen konnte. Die Anziehungs­kraft der statistischen Werte beruht darauf, daß sie für den Dümmsten verständlich sind. Die zivilisatorische Welt steht noch ganz im Banne des fanatischen Aberglaubens, daß das Heil der Menschen in immer dichterer Fülle fabrizierter Massengüter zu suchen sei. 

 

  Das Gesetz der abnehmenden Befriedigung  

Je mehr zusätzliche materielle Wohltaten der Mensch erlangt, um so geringer steigt der Genuß, den er davon hat. Ja es kommt schließlich der Punkt, an dem der Genuß ins Negative umschlägt und zum Verdruß wird.

Schon der Sozialphilosoph Jeremy Bentham (1748-1832) kam zu dem Ergebnis, daß die zweite Tasse Kaffee wie jede zweite Essensportion weniger Genuß bringt als die erste. Ab einer bestimmten Portion wird man dem Körper weitere nur mit Gewalt einflößen können, da er sich dagegen psychisch und physisch wehrt. Später hat der Ökonom Hermann Heinrich Gossen (1810-1858) seine Gesetze aufgestellt, wovon das erste lautet: »Die Größe eines und desselben Genusses nimmt, wenn wir mit der Bereitung des Genusses ununterbrochen fortfahren, fortwährend ab, bis zuletzt Sättigung eintritt.«296

Lewis Mumford meint, daß bereits zwischen dem achten und sechsten Jahrhundert vor Christi Geburt eine Reihe von Propheten und Philosophen die Entdeckung machten, daß die »hemmungslose Jagd nach unbegrenzten Mengen von Speise, Trank, sexueller Lust, Geld und Macht« schädliche Folgen hat.270 Die Religionen predigten seitdem Mäßigung, Einschränkung und Enthaltsamkeit. Es waren jedoch nicht in erster Linie die religiösen Auffassungen, welche die Menschen über weitere zweitausend Jahre in relativer Beschränkung hielten; es war einfach die Knappheit, die sie dazu zwang. Dort, wo sie beseitigt wurde, verstand es der Mensch selten, sich selbst zu beschränken und sich Grenzen zu setzen. Sein Streben geht ins Grenzenlose. »Dies ist's, was mit der Zeit das Leben der Menschen aufs hohe Meer trieb und die mächtigen Wogen des Krieges erregte«, dichtete schon Lukrez im alten Rom (gest. 55 v. Christi Geburt).

Erst im Laufe unseres Jahrhunderts, nachdem in den Industrieländern die Knappheit in Fülle umschlug, entdecken wir erneut, daß auch der Überfluß Probleme mit sich bringt. Probleme, auf die niemand vorbereitet war und denen die Völker nun, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, hilflos gegenüberstehen.

Das herrschende ökonomische System mit seiner Wachstumstheorie kennt kein Genug. Diese Theorie ist keine der Armen, sondern es ist die Theorie der reichen Personen wie der reichen Länder.

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Es kann auch nur an diejenigen, welche über viel Geld verfügen, noch mehr verkauft werden, nicht an diejenigen, die gar nicht kaufen können. Um die Armen ist es dieser Ökonomie noch nie gegangen. Sie dienen nur der moralischen Verbrämung; denn in ihrem Namen erklärt man nun das weitere »wirtschaftliche Wachstum« für absolut notwendig.271

In Wahrheit darf es für die Reichen kein Genug geben, sonst bricht das System zusammen. Somit darf dieses System im menschlichen Bereich auch keine Kosten/Nutzen-Rechnung dulden; denn die Rechnung könnte enthüllen, daß die Kosten (selbst für die Betroffenen) höher sind als alle Vorteile, die sie für ihr Leben daraus ziehen. Von der Wirtschaft wird die Grenznutzen­rechnung längst angestellt: Wirft ein Artikel keinen Gewinn ab, unterbleibt seine Produktion. Ob aber der Artikel vom Standpunkt des Menschen, der ihn kauft, überhaupt einen Sinn hat, das ist auch heute noch kein Thema. Daß alles um des Menschen willen geschehe, behauptet sowohl die Wirtschaft wie die Politik, aber eine Kosten/Nutzen-Bilanz, die den ganzen Menschen, also auch sein seelisches Wohlbefinden einbezieht, ist noch nie angestellt worden.272  

Statt diese in Angriff zu nehmen, wird der Konsument weiterhin der Werbung ausgeliefert, die immer neue unsinnige Wünsche wecken soll. Wenn die alten Wünsche befriedigt sind, müssen neue Erfindungen her und neue Begierden geweckt werden (das ist das Thema dieser Jahre); denn damit hofft man, das sogenannte »Wachstum« wieder auf Touren zu bringen. Erich Fromm erkannte das Prinzip: »Die Entwicklung dieses Wirtschafts­systems wurde nicht mehr durch die Frage: Was ist gut für den Menschen? bestimmt, sondern durch die Frage: Was ist gut für das Wachstum des Systems? Die Schärfe dieses Konflikts versuchte man durch die These zu verschleiern, daß alles, was dem Wachstum des Systems (oder auch nur eines einzigen Konzerns) diene, auch das Wohl der Menschen fördere.«273

Schon seit längerem kann nur noch ein steigender Werbeaufwand den Absatz aufrechterhalten. Man muß immer neue Dinge anpreisen, die angeblich gut für jedermann sind. Doch: »Materielle Güter im Rahmen der gegenwärtigen Produktions- und Konsumformen als Weg zum Glück entsprechen weniger der biologischen Disposition des Menschen als einer durch Kapital­verwertungszwänge bestimmten Erziehung dazu. Die gegenwärtigen Produktionsformen und die von ihnen ausgehenden Wirkungen sind eher geeignet, jedes soziale Verhalten zu zerstören, als es aufzubauen.«274*

* (d-2013:)  Jost Herbig bei detopia

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Die Bruttosozialprodukt-Statistiken gelten nach wie vor als die Erfolgsbilanzen, obwohl schon seit vielen Jahren unbestritten nachgewiesen wird, daß auch alle Schäden die Zahlen steigern und somit das Gesamtergebnis verschönern. Von allen Instanzen wird die Einbildung genährt, daß man mit den gestiegenen Prozentziffern wieder entsprechend glücklicher geworden sei oder doch gefälligst sein solle.

Das statistische Barometer des Glücks funktioniert nun offensichtlich nicht mehr, es vibriert wild hin und her. Die Wohlstands­bürger zeigen sich undankbar, sie reagieren nicht so, wie man es gerne hätte und wie es vorausberechnet worden war. Vor 1973 untersuchte der Amerikaner Richard Easterlin das Verhältnis von Einkommen und Glücksgefühl in einzelnen Ländern und konnte keine klaren Abhängigkeiten ermitteln. Die Amerikaner fühlten sich sogar im Jahre 1970 weniger glücklich als im Jahre 1946.275

Das reale Pro-Kopf-Einkommen war in 25 Jahren um 62 % gestiegen, ohne daß sich der Grad der Zufriedenheit bemerkenswert verändert hätte. Scitovsky kommt zu dem Schluß, daß sich der Grad der Zufriedenheit nur soweit änderte, wie der Einzelne im Vergleich zu seiner Umgebung sein Einkommen verbessern konnte. Ein steigendes Einkommen ist mehr wert als ein gleichbleibend hohes Einkommen — aber nur dann, wenn das Einkommen der Umgebung nicht mitsteigt!

Daß die ganze Veranstaltung nur ein Wettbewerb um den Prestigegewinn ist, war die These des amerikanischen Ökonomen Thorstein Veblen (1857-1928) in seinem Buch <Theorie der feinen Leute> (1899). Nicht der Kampf um das Lebensnotwendige und auch nicht die Vermehrung des materiellen Komforts veranlasse die Menschen zu ihrem Streben nach immer mehr Besitz, sondern sie suchten die Auszeichnung, die mit dem Reichtum verbunden ist. Alle Schichten, auch die Armen seien davon überzeugt, daß in erster Linie der Reichtum das Ansehen und den entsprechenden Rang in der Gesellschaft bestimme. Darum werde der Reichtum vorgezeigt. Dies geschehe auch bei ärmeren Klassen durch demonstrativen Konsum und zur Schau gestellte Muße. Doch auf die Dauer bereite der erhöhte Besitzstand kein größeres Vergnügen als der vorherige, da wieder Vergleiche zum Besitz anderer angestellt werden, die erneute Unzufriedenheit und neue Anstrengungen auslösen.276

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Der Trick der letzten Jahrzehnte besteht nun in der Verheißung, das »wirtschaftliche Wachstum« werde dazu führen, daß schließlich einmal alle gleich viel haben könnten. Damit würde jedoch das Motiv Veblens entfallen; denn der Vergleich mit dem Status der anderen wäre dann nicht mehr der Stachel im Fleisch, der heute von der Werbung so eifrig gepflegt wird, daß nur starke Persönlichkeiten sich ihrer Wirkung zu entziehen vermögen.

Der erste Antrieb des Menschen war aber doch wohl von der Knappheit verursacht. Aus Furcht vor dem immer wieder drohenden Mangel hat er sich Vorräte angelegt und immer neue Absicherungen geschaffen. Bei diesem Vorgehen hatten die geistig Überlegenen einen Vorteil, der zu einem immer größeren Abstand und zur Deklassierung ganzer Völker führte.

 

  Der Umschlag ins Negative   

 

Das Phänomen, mit dem wir uns nun beschäftigen müssen, ist die Übersättigung und der Umschlag ins Negative. Dieses Gesetz formuliert schon ein dem griechischen, Philosophen Platon (428-348 vor Christi Geburt) zugeschriebener Satz: »Das Übermaß im Vorwärtstreiben der Dinge pflegt einen Umschlag ins Gegenteil als Rückschlag zur Folge zu haben; so verhält es sich in der Witterung, im Wachstum der Pflanzen und Leiber und nicht zum wenigsten dann auch in den Verfassungen.«277 In dieser Äußerung wird bereits weniger Gegenständliches in die Gesetzmäßigkeit des Umschlags einbezogen, wie die Staats­verfassungen. In allen Lebensbereichen schlagen positive Entwicklungen bei Übertreibung ins Negative um, das Übermaß wird zum Übel. In Goethes »Faust« heißt es bereits:

»Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage;
Weh dir, daß du ein Enkel bist!«278

Betrachten wir Deutschland nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges. Der Gesundheitszustand der Menschen war besser als heute, obwohl die Ernährung wahrhaftig knapp und die medizinische Versorgung nach heutigen Begriffen höchst mangelhaft war; jetzt würde es heißen: »unzumutbar!« Doch der Mangel, besser das Gefühl des Mangels ist heute in der medizinischen Versorgung größer als damals. Und das, obgleich 1981 in der Bundesrepublik Deutschland 151 Mrd. DM dafür ausgegeben wurden, gegenüber 52 Mrd. DM im Jahr 1970.279) 

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Auch in der Energieversorgung scheint der Mangel größer geworden zu sein, obwohl sich der Verbrauch in zwanzig Jahren verdoppelte. Wir erleben seit 1973 eine Diskussion über Energiemangel, obwohl der Verbrauch an Energie noch im Jahre 1959 halb so hoch war wie im Jahre 1979. Die maßgebenden Theoretiker ziehen daraus den Schluß, man müsse einen Überfluß an Energie schaffen. Das Übermaß an Energie aber »gefährdet die fundamentalen Gleichgewichte, ohne die die Menschheit nicht weiter bestehen kann. Daher sind Überfluß und Mangel, Überleben und Lebenserhaltung, Tun und Sein die zwei Seiten eines und desselben Problems.«280

Die ständige materielle Steigerung als Lebensziel ist von den echten physischen Bedürfnissen des Menschen her gesehen höchst fragwürdig. Da das Gesetz vom abnehmenden Ertrag gültig ist, kann die Steigerung nicht das höchste Ziel sein. Da der Mensch aber in der Industriegesellschaft auf Zunahme programmiert ist, fordert er blindlings immer noch mehr. Dies stimmt mit der Exponential­funktion überein: der lineare Zuwachs würde nicht ausreichen, um noch als solcher empfunden zu werden.281

Die Steigerung der materiellen Besitzstände und deren Auswirkungen beeinflussen auch alle nichtmateriellen Lebensinhalte im unabsehbaren Ausmaß. Von dem Überfluß an Gütern, »die das anhaltende Wirtschafts­wachstum hervorgebracht hat, ist heute vernünftigerweise anzunehmen, daß ihr Gesamteffekt der Gesundheit und dem Glück der Menschen abträglich, möglicherweise katastrophal sein könnte.«282 So urteilt der britische Wirtschaftswissenschaftler E.J. Mishan.

Bereits 20 Jahre früher (1957) schrieb der deutsche Ökonom Wilhelm Röpke, den man als einen der Väter der Marktwirtschaft bezeichnet: 

»Wie lange wird die Landschaft und der Kern unserer Städte diesem Massenangriff des Betons und der Herolde des <dynamischen Funktionalismus> standhalten?.... Diese Entwicklung, die die Natur wie die Geschichte in gleichem Maße mißachtet, führt zu einer seelischen Verarmung, indem sie zu allen Poren und zu allen Sinnen auf uns einwirkt. Es ist nicht nur das optische Bild, unter dem sie verkümmern, sondern auch der akustische Widerhall: der Lärm, der von der modernen Massen­gesellschaft selber aufsteigt und sich schließlich im Geräusch der Düsenflugzeuge und Hubschrauber zur wahren Höllenqual steigert....

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Was nützt aller materieller Wohlstand, wenn wir die Welt gleichzeitig häßlicher, lärmender, gemeiner und langweiliger machen und die Menschen den moralisch-geistigen Grund ihrer Existenz verlieren? Der Mensch lebt eben nicht von Radios, Autos und Kühlschränken, sondern von der ganzen unkäuflichen Welt jenseits des Marktes und der Umsatzziffern, von Würde, Schönheit, Poesie, Anmut, Ritterlichkeit, Liebe und Freundschaft, vom Unberechnenden, über den Tag und seine Zwecke Hinausweisenden, von Gemeinschaft, Lebensbuntheit, Freiheit und Selbstentfaltung. Umstände, die ihm das verwehren oder erschweren, sind damit unwiderruflich gerichtet, denn sie zerstören den Kern seines Wesens.«283

Inzwischen bezweifeln immer mehr Bürger der Wohlstandsländer, daß der wirtschaftliche Standard das für unser Leben entscheidende Kriterium sein könne. Sogar ein Ökonom wie Friedrich Hayek meint, »daß wirtschaftliche Dinge sich nur auf die Lebensziele von untergeordneter Bedeutung auswirken.«284  

Mit anderen Worten: »Änderungen in unserer wirtschaftlichen Lage wirken sich in der Regel nur auf unsere marginalen Bedürfnisse aus. Es gibt viele Dinge, die wichtiger sind als die, welche durch wirtschaftliche Gewinne oder Verluste beeinflußt werden können und die wir weit höher stellen als die Annehmlichkeiten und selbst als viele der Lebensnotwendigkeiten, die beide durch die wirtschaftlichen Wechselfälle betroffen werden.«285

 

  Das Gesetz der Relativität in unserem Dasein   

 

Wenn aber der materielle Fortschritt viel zu hoch bewertet wurde und den Menschen in die Falle falscher Erwartungen lockte, worin liegt dann der wesentliche Inhalt des Daseins? Auch nicht im geistigen Bereich allein, sondern in der organischen Welt der Natur, zu welcher der Mensch gehört, wo Natur und Geist in ihm vereint sind. 

Für den Menschen wie für die Natur gelten nicht nur mechanistische Gesetze, sondern vorwiegend die ökologischen. Alle Gesetze, die in der gesamten belebten Natur gültig sind, gelten auch für den Menschen, weil er selbst ein Teil der lebenden Natur ist. Und sie gelten auch — wie verschiedene Wissenschaften in den letzten Jahrzehnten in vieler Hinsicht bewiesen haben — für Geist und Seele des Menschen.

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Welche Prinzipien beherrschen unser Dasein? 

 

Axiom I:
Alles, was lebt, befindet sich in dynamischer Unruhe.

Goethe sagt über die Natur: »Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr, und doch rückt sie nicht weiter. Sie verwandelt sich ewig und ist kein Moment Stillestehen in ihr.«286) Diesen Gedanken umkreist sein Gedicht »Eins und Alles«:

Und umzuschauen das Geschaffne, 
Damit sich's nicht zum Starren waffne, 
Wirkt ewiges, lebend'ges Thun. 
Und was nicht war, nun will es werden, 
Zu reinen Sonnen, farbigen Erden, 
In keinem Falle darf es ruhn.

Es soll sich regen, schaffend handeln, 
Erst sich gestalten, dann verwandeln;
Nur scheinbar steht's Momente still. 
Das Ewige regt sich fort in allen:
Denn alles muß in Nichts zerfallen, 
Wenn es im Sein beharren will.287

 

Axiom II: 

Kommt ein Organismus zur totalen Ruhe, so daß jeder Austausch mit der Umwelt aufhört, dann tritt über kurz, oder lang der Tod ein.

Hugo Kükelhaus beschreibt ein Experiment, das zur Beantwortung folgender Frage angestellt wurde: »Wie lange erträgt es ein Mensch, keinerlei Auseinandersetzung mit einer ihm entgegenstehenden Welt zu haben, völlig isoliert von jeglicher Reizeinwirkung zu sein?«288 Um solche Bedingungen herzustellen, »wählte man einen Schacht, der achtzig Meter unter der Erde in ein Bassin mündet. Das Bassin, etwa so groß wie ein Zimmer, war mit Wasser gefüllt, dessen Temperatur der Körper­temperatur des Menschen entsprach.

In dieses Bassin <bettete> man eine Versuchsperson so, daß sie sich bewegungslos schwimmend darin verhielt, und beatmete sie künstlich. Um zugleich jede Einwirkung aus dem Widerstand des Wassers zu unterbinden, falls die Testperson beispielsweise die Arme oder den Rumpf bewegte, umwickelte man sämtliche Körperoberflächen mit einem isolierenden Material, so daß taktile Reizeinwirkungen auf die Haut unterbunden waren. Absolute Dunkelheit und Lautlosigkeit eliminierten die nun noch verbleibenden Reizmöglichkeiten.

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Der Effekt dieses Zustandes war eklatant. Bereits nach wenigen Minuten stellten sich panikartige Halluzinationen ein. Nach etwa sechs bis acht Minuten kam es zu derart extremen Angstzuständen, daß der gesamte Hormonhaushalt des Organismus durcheinander geriet. Nach zehn bis fünfzehn Minuten schließlich mußte man den Versuch abbrechen, weil sich das Blut aufzulösen begann. Die weißen Blutkörperchen vermehrten sich, die Hypophyse stellte ihre Funktion ein, und die Hormonausschüttung wurde gestoppt — kurz, nach zehn Minuten Prozeßlosigkeit begann sich der Organismus zu zersetzen. — Damit wird überdeutlich, wovon der Mensch lebt — nämlich von der Auseinandersetzung mit einer ihm entgegenstehenden Welt.«289 Kükelhaus schließt daraus im einzelnen: »Erst im Umgang mit dem Gegenständlichen erfährt der Organismus jene Inanspruchnahme, die merkwürdigerweise in einer Minimalforderung besteht und nicht, wie man annehmen könnte, in einer Maximalforderung.«

Die Minimalforderung ist für jedes Lebewesen im Normalfall vorhanden, die Reize der Umwelt sind ausreichend, um leben zu können: Das Pendel bewegt sich. Der Ausschlag kann minimal sein, und jeder Organismus benötigt auch einen sehr unterschiedlich weiten. Wir dürfen wohl zu Recht annehmen, daß der Mensch den weitesten Ausschlag hat und auch benötigt. Viele andere Organismen würden z.B. den obigen Versuch bedeutend längere Zeit überleben.

Alles, was lebt, benötigt Reize, solange es lebt.

Kükelhaus sagt: »Einerseits ist das Leben leicht verletzbar, und andererseits bedarf es einer ständigen Provokation dieser Verletzbarkeit.«290 Das heißt, der Reiz darf weder zu stark noch zu schwach sein. »Schwache Reize führen zur Entstehung von Organen, mittelstarke Reize kräftigen sie; starke Reize hemmen und überstarke Reize zerstören sie.«290

Tibor Scitovsky faßt die Ergebnisse psychologischer Experimente in dem Satz zusammen: »Abwechslung ist nicht die Wurzel des Lebens, sondern das Leben selbst.«291  Bezeichnenderweise ist dies die Erkenntnis eines Häftlings. Das Problem des Menschen in diesem Jahrhundert ist im allgemeinen nicht der Mangel an Reizen, sondern die Überflutung mit Reizen infolge von Information und Massenverkehr.

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Axiom III: 

Jeder lebende Organismus auf dieser Erde pendelt zwischen Zuwenig und Zuviel.

Geht der Ausschlag in die eine Richtung zu weit, dann beginnt das Leiden genauso wie bei einem zu weiten Ausschlag in die entgegengesetzte Richtung. Wird die Grenze des Erträglichen überschritten kommt es auf der einen Seite zum viel zu wenig oder auf der anderen zum viel zu viel — dann tritt der Tod des Organismus ein. Das führt zu der Schlußfolgerung:

Jeder Organismus kann seine Lebensfähigkeit sowohl durch den Mangel als auch durch den Überfluß verlieren.

Des Menschen Leben ist ein unermüdliches Pendeln zwischen den Gegensätzen, von denen wir einige der bedeutendsten einander gegenüberstellen. Dabei ist weder die eine noch die andere Seite immer positiv. Es hängt von der jeweiligen Lebenssituation ab, was als + oder als - zu gelten hat. Schwingt das Pendel zu stark auf die eine Seite, dann wird die entgegengesetzte positiv, schwingt es dann zu stark dorthin, so wiederholt sich der Vorgang mit umgekehrtem Vorzeichen.

In alten Lebensvorgängen herrscht ein dynamisches Gleichgewicht, nie ein statisches.

Um noch ein Beispiel anzuführen: Wenn man eine Schaukel feststellen würde, wäre ihr Zweck dahin; es wäre keine Schaukel mehr.

Die Schwingungen erfolgen allerdings nicht wie beim Pendel der Uhr im ständig gleichen Zeitmaß und Ausmaß — das wäre Mechanik und nicht Leben.292 Die Schwingungen des Lebens gleichen eher denen eines Oszillogramms: Der Ausschlag ist manchmal groß und manchmal klein, er ist von längerer Dauer oder auch ganz kurz, in unvorhersehbarer Reihenfolge — mit einem Satz: es ist die Bewegung des Lebens.

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Es gibt die wenig belebten Lebensläufe, die dicht an der Null-Linie entlangpendeln — und es gibt die vom Schicksal gewaltig hin und her Gerissenen, die unzählige Male hart auf die letzte Grenze auflaufen, wo sie entweder den großen Schwung zurück bekommen oder schließlich, die Grenze durchbrechend, scheiternd im Tode enden. 

Odysseus ist wohl das hervorragende Beispiel aus der Weltliteratur, und Goethes Faust dürfte zumindest das größte deutsche sein.

 

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Und noch eins: Jedes Menschen Null-Linie hat eine andere Lage. Des einen Norm liegt bei etwas mehr Wärme, seine Übersättigung beginnt später, seine Faulheit ist größer, er ist vielleicht geselliger als ein anderer, doch er liebt ein wenig den Schmerz, und seine Hoffnung bleibt dennoch fast unzerstörbar. Das heißt, für den einzelnen Menschen liegt die Mitte zwischen jedem der Gegensatzpaare ein wenig anders; etwas mehr böse ist in den Augen eines anderen keineswegs böser und so fort. Und zu guter Letzt verschieben sich auch noch die Grenzen im Verlaufe eines jeden Lebens. »Es ist eine Tatsache, daß das Angenehme und das Unangenehme ganz dicht beieinander liegen. Dabei sind die Grenzen meistens fließend; sie variieren von Mensch zu Mensch und können sich den jeweiligen Umständen entsprechend auch verschieben.«293

Die Summe aller Verschiebungen mag dann im großen Durchschnitt das ergeben, was Historiker den Zeitgeist nennen. Es ist der Strom des Lebens, der nie stillstehen kann; täte er es, dann wäre das Leben am Ende seiner Geschichte. Wie in einem Strom ist von Sekunde zu Sekunde die Position neu zu bestimmen, das heißt, daß ein jeder seine Umwelt neu bewerten muß und daß sich seine Stellung im Koordinatensystem der Werte und Gefühle fortwährend ändert.

Die beschriebenen Konzepte der Gesellschaftsingenieure, deren größter und bekanntester Karl Marx ist, bestehen darin, den Menschen aus dem Strom des Lebens herauszunehmen und in einen trockenen Käfig zu setzen. Dort ist er jeder Mühe weiterer Positionsbestimmungen enthoben, aber er hat auch keine Erlebnisse mehr. Dort würden dann die Menschen gleich den Fischen in der Rede Laotses liegen, die versuchen, sich gegenseitig mit ihren Mäulern zu befeuchten. »Aber was ihnen wirklich helfen würde, wäre einzig und allein, wenn jemand sie zurückwürfe in die Flüsse und Meere.«294

In der gesamten physischen Umwelt herrscht ein Wechselspiel von Gegensätzen, unter deren Herrschaft wir stehen und von denen wir unweigerlich geprägt werden. »Alles Leben existiert innerhalb eines engen Bandes.... zuviel ist ebenso schlecht wie zuwenig.«295

Hans Jonas fügt den auf Seite 169 aufgeführten Gegensatzpaaren noch einige weitere hinzu, die im endlosen Drama des Lebens eine Rolle spielen: »Interesse und Gleichgültigkeit, Gegenseitigkeit und Einseitigkeit, Zugehören und Ausgeschlossensein, Überlegenheit und Unterlegenheit, Schonung und Unduldsamkeit, Verständnis und Unverständnis, Hoch- und Geringschätzung, Verletzlichkeit und Robustheit, Selbstbeherrschung und Sichgehenlassen, Konflikt und Harmonie der Temperamente oder Situationen .... Das ist der Stoff persönlicher Romane, Romanzen, Tragödien, täglicher Siege und Niederlagen, Freuden und Leiden.«296

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Der emotional geladene Mensch stößt auf die Emotionen anderer und auf die Widerstände der Umwelt. Aber seine Emotionen sind nicht unabhängig von der Vernunft. (Wobei wir hier Vernunft im Sinne von Kant vom Verstand unterscheiden.)

Nur weil wir das Dunkel kennen, schätzen wir das Leuchten des Lichts und begrüßen Tag für Tag die Sonne. Sie ist es, die uns zugleich die Wärme spendet, an der wir uns um so mehr erfreuen, je stärker wir die bittere Kälte erfahren. Ist es zu trocken, so warten wir auf den Regen; drohen die Fluten aber die Ernte zu vernichten, dann hoffen wir auf trockenes Wetter. Die absolute Stille ist dem Menschen unheimlich; wird jedoch lauter Lärm abgestellt, so tut die plötzliche Stille wohl. Die Bewegung erkennen wir nur im Vergleich mit ruhenden Dingen; wenn wir selbst aus dem fahrenden Zug den Blick auf einen stehenden fixieren, meinen wir, dieser fahre vorbei.

Alle irdischen Dinge stehen in Relation zueinander; sie werden nur erkannt und beziehen ihren Wert nur aus ihrer Gegensätzlichkeit.

Das sagt uns Laotse:

Der Himmel scheint uns schön, weil es Häßliches gibt.
Das Gute scheint uns gut, weil es Böses gibt.
Doch Hell und Dunkel ergänzen einander.
Vom Tal aus ist die Erde hoch, vom Berg aus tief.
Oder umgekehrt?   297

Für physikalische und chemische Zustände wie für Werte und Gefühle gilt: Nur auf Grund der Relationen können wir etwas wahrnehmen und beurteilen; wobei der jeweilige Standort des Beobachters oder des Erlebenden entscheidend für das Erlebnis und seine Bewertung ist.

In einem gleichbleibenden Zustand gibt es kein Leben mehr, denn Leben besteht aus Überraschungen. Die absolute Ordnung ist dem Tode gleich. Andererseits ist im völligen Chaos auch kein Leben und keine Evolution möglich; denn die Natur kann nur auf dem erreichten Ordnungsgefüge weiterbauen, wie schließlich auch der Mensch seine Kultur auf vorherigen Ordnungen errichtet.

Wir betrachten im Folgenden einige Gegensatzpaare im Pendel der Welt. Zunächst Freiheit und Notwendigkeit, die als über­greifendes Paar in allen Ereignissen eine Rolle spielen.

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   Freiheit und Notwendigkeit   

 

Wenn wir an die vielen Verknüpfungen der Lebewesen, an ihre Einordnung in die Regelkreise denken, wie sie die Ökologie beschreibt, dann ist sicher, daß jede Freiheit begrenzt ist. Auch für das wohl freieste Lebewesen, den Menschen, gibt es keine absolute Freiheit. »Es ist physisch und logisch unmöglich, daß jemand frei von allem ist; solche Freiheit würde das Ende der Existenz bedeuten.«298

Wenn heute immer wieder der Ruf nach mehr Freiheit erschallt, dann ist das die fortgesetzte Übertreibung einer Zielsetzung der französischen Revolution. Was damals die Befreiung von persönlicher Knechtschaft, ja Rechtlosigkeit war, kann heute nur noch fortgesetzt werden, indem die Freiheit von jeglicher Verpflichtung, von jeder Bindung propagiert wird. Die Verfechter der absoluten Freiheit nennt man heute Spontis und Chaoten, von denen einige ganz bewußt das Chaos herbeiführen wollen, andere nur in Illusionen von Freiheit befangen sind. Die Freiheitsforderung ist ein gutes Beispiel dafür, wie ein berechtigtes Verlangen durch Übertreibung ins Gegenteil umschlägt.

Das Wort Freiheit wird heute allen Münzen aufgeprägt, wo immer solche in Umlauf gebracht werden, da die politische Werbung den attraktiven Glanz des Wortes längst mißbraucht. Es ist kein Zufall, daß heute die Freiheit ein Bestandteil nahezu jeder Ideologie ist, die in unserem Jahrhundert feilgeboten wird. »In der Tat geht die Freiheitsberaubung der Person mit der Ideologie der Freiheit der Person Hand in Hand; und die Abschaffung der Freiheit vollzieht sich zumeist im Namen der Freiheit.«299

Freiheit ist nicht mehr ein Rechtstitel, sondern ist zu einem Besitztitel geworden, wie alles! Man will die Freiheiten en gros einkaufen und vergißt dabei, daß Freiheit eben kein Besitz, sondern ein Weg ist. Wo es wirklich gelingt, in den Besitz von weiteren Freiheiten zu kommen, dort muß nach den Gegenleistungen gefragt werden.

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Man wird sie gar nicht lange suchen müssen. Der amerikanische Soziologe James Burnham faßt das in die Worte zusammen: »Es bereitet vielen Menschen moralische Genugtuung, zu sagen, daß diese Gesellschaft <freier> sei als jene, doch ist schwer einzusehen, was das eigentlich bedeutet. Wir können höchstens sagen, daß diese Gesellschaft in gewisser Hinsicht freier — und in anderer weniger frei — sei als jene.«298

Auch Freiheit und Gerechtigkeit bilden ein Gegensatzpaar, was immer man als »gerecht« ansehen mag. Freiheit und Gerechtigkeit werden heute in einem Atemzug versprochen, ohne Rücksicht darauf, daß die Summe beider niemals wächst, sondern jeweils nur die eine auf Kosten der anderen. »Wir haben natürlich nichts gegen Gerechtigkeit, dennoch halten wir es für legitim, daraufhinzuweisen, daß dieses Wort hier die grundlegende Wahrheit ihres Gegenteils verdeckt, nämlich der Freiheit. Unter der Maske der Gerechtigkeit nimmt die allgemeine Freiheit allerdings das öde und graue Aussehen der den Notwendig­keiten unterworfenen Existenz an«.300

Diese grundlegende Feststellung trifft Georges Bataille in seinem theoretischen Werk. »Gerechtigkeit und Freiheit sind nun einmal dialektische Begriffe. Je mehr Gerechtigkeit, desto weniger Freiheit; je mehr Freiheit, desto weniger Gerechtigkeit. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, das ist eine wundervolle Parole. Aber wenn sie die Gleichheit erhalten wollen, dann müssen sie die Freiheit einschränken, und wenn sie den Menschen die Freiheit lassen wollen, dann kann es keine Gleichheit geben.«301

Darum spielt mit Recht die Frage »Freiheit wofür?« eine bedeutende Rolle. Sie stellt sich zunächst für das einzelne Individuum:

»Freiheit für die Tätigkeit des höheren Nervensystems und der Muskeln, die von den Nerven gesteuert werden.... Kurz, der Organismus ist frei für komplizierte, sozial wichtige Aufgaben, weil er in einem elastischen Rahmen lebt, der automatisch in gleichbleibendem Zustand gehalten wird.«302 Die praktischen Freiheiten sind zunächst folgende: Ansichten öffentlich kundzutun, legitime Tätigkeiten auszuüben, Vereine zu gründen, zu reisen, Wohnort und Arbeit zu wechseln. Diese Handlungen waren früher oft untersagt oder sehr erschwert, und in manchen Staaten sind sie es heute noch. Wo die Freiheit dazu rechtlich gegeben ist, heißt das noch längst nicht, daß jeder in der Lage sei, davon Gebrauch zu machen.

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Wer aber nun vom Staat fordert, er solle auch noch die materiellen Voraussetzungen dafür schaffen, muß bereit sein, Freiheiten an diesen abzugeben.

Die historisch erste Aufgabe des Staates lag in der Herstellung von Sicherheit. Das ist bis heute eine wichtige Aufgabe geblieben; denn wo mit der absoluten Freiheit eines jeden gerechnet werden muß, kann nur Unsicherheit und Furcht herrschen. Der Mensch schätzt nur ein begrenztes Risiko, im übrigen sucht er die Sicherheit. Eine Gemeinschaft und erst recht eine Kulturgemeinschaft kann nicht in pausenloser Furcht vor Überfällen im eigenen Land oder von jenseits der Grenzen leben. Was Unsicherheit bedeutet, davon hat allerdings der gegenwärtige Wohlstandsbürger kaum eine blasse Ahnung. Mishan sagt zu Recht: »Der Wunsch nach Sicherheit ist aber stärker als der nach Freiheit; tatsächlich ist ja Sicherheit eine Vorbedingung für Freiheit.«303

Da die Bedrohung aus verschiedenen Gründen jetzt wieder zunimmt, meint Mishan, werde der Wunsch nach Sicherheit eher stärker werden. Wenn die Gefahr bedrohlicher wird und die Menschen sich ihrer zunehmenden Verwundbarkeit bewußt werden, wird der instinktive Selbsterhaltungstrieb »sie dazu veranlassen, dem Staat weit größere Überwachungs-, Führungs- und Unterdrückungs­befugnisse zuzugestehen, als mit unseren Vorstellungen von persönlicher Freiheit vereinbar sind. — Hoffnung, diesem schmählichen Schicksal zu entkommen oder es wenigstens zu mildern, kann die Menschheit nur dann schöpfen, wenn sie sich allmählich klar darüber wird, was in unserer Welt geschieht.«304

Je stärker der materielle Besitzstand zunimmt, um so mehr wächst die Sorge, diesen in Sicherheit zu wissen. Aber auch sehender Trieb nach materiellem Besitz entspringt dem Sicherheitsbedürfnis. Man will sich mit Vorräten gegen künftigen Mangel schützen. In dem Bestreben, sich immer mehr abzusichern, gerät der Einzelne allerdings in den Bann dessen, was Erich Fromm den »Habenmodus« nennt. Die materiellen Besitzstände werden schließlich zu Ketten, die für Freiheit weniger statt mehr Spielraum lassen.305

Die Menschen hatten sich die letzten Jahrhunderte der großen Täuschung hingegeben, daß die Vervielfach­ung der technischen und ökonomischen Mittel mit einer Ausweitung der Freiheit verbunden wäre. Das Gegenteil ist der Fall! Der Mensch konnte zwar aus einem Dasein beschränkter Möglichkeiten ausbrechen, dafür ist er jedoch in die Gefangenschaft neuer materieller Zwänge geraten.306

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Friedrich Georg Jünger stellt diese Entwicklung in seinem Buch <Die Perfektion der Technik> dar. »Wenn alles von einer mechanischen Notwendigkeit regiert würde, bedürfte es gar keines Willens, auch würde das Problem der Freiheit in einem solchen Zustande nicht einmal auftauchen können. Dort wäre alles Stoß, Druck und Schlag.«307

Zur Zeit sind die Völker der Erde immer noch bemüht, den Weg in die Unfreiheit zu beschleunigen. So lange das sogenannte Wachstum der Wirtschaft und der Einsatz immer größerer Energiemengen das oberste Ziel menschlichen Tuns ist, werden automatisch immer neue Zwänge geschaffen und die bisherigen verstärkt. Georges Bataille hat in seinem Werk die Problematik dieser Entwicklung für den Menschen von verschiedenen Seiten beleuchtet. Relativ frei war der Mensch nur in den stabilen naturnahen Gesellschaften. In der jetzigen Gesellschaft hat sich das menschliche Leben allen Erfordernissen gebeugt, die eine Vermehrung der »Errungenschaften« zum Ziel haben. Das Ergebnis ist, »bei dieser Unterordnung unter die Steigerungen verliert das Einzelwesen seine Autonomie, es ordnet sich dem unter, was es in Zukunft sein wird auf Grund des Wachstums seiner Ressourcen. Das Wachstum muß sich indes auf den Moment einstellen, wo es sich in reinen Verlust auflöst.«308

Diesen Moment werden wahrscheinlich als erste die Menschen in Europa erfahren, von wo die Entwicklung ausging und wo zur Zeit die Abhängigkeit von der Zufuhr notwendiger Ressourcen lebensgefährliche Ausmaße erreicht hat. Besonders der Europäer »geriet immer mehr in die Knechtschaft der Dinge und hat sich, so herrlich er sich zuzeiten auch dünkte und dünkt, immer tiefer in den Dienst der Materie, der rohen Kräfte verstrickt.«309

 

Taktisch und symbolisch fällt zur Zeit besonders die Abhängigkeit vom Erdöl ins Auge. Eine hellsichtige Voraussage darüber enthält ein Gedicht Bert Brechts aus dem Jahr 1929: 
<700  Intellektuelle beten einen Öltank an>:

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Ohne Einladung
Sind wir gekommen
Siebenhundert (und viele sind noch unterwegs)

Überall her
Wo kein Wind mehr weht
Von den Mühlen, die langsam mahlen, und
Von den Öfen, hinter denen es heißt
Daß kein Hund mehr vorkommt.

Und haben Dich gesehen
Plötzlich über Nacht
Öltank.

Gestern warst Du noch nicht da
Aber heute
Bist nur Du mehr.

Eilet herbei, alle
Die ihr absägt den Ast, auf dem ihr sitzet
Werktätige!
Gott ist wiedergekommen
In Gestalt eines Öltanks. 

Du Häßlicher
Du bist der Schönste!

Tue uns Gewalt an
Du Sachlicher!

Lösche aus unser Ich!
Mache uns kollektiv!
Denn nicht wie wir wollen
Sondern wie Du willst.

Du bist nicht gemacht aus Elfenbein und Ebenholz,
sondern aus
Eisen.
Herrlich, herrlich, herrlich!
Du Unscheinbarer!

Du bist kein Unsichtbarer
Nicht unendlich bist Du!
Sondern sieben Meter hoch.

 

In Dir ist kein Geheimnis
Sondern Öl.
Und Du verfährst mit uns
Nicht nach Gutdünken, noch unerforschlich
Sondern nach Berechnung.

Was ist für Dich ein Gras?
Du sitzest darauf.
Wo ehedem ein Gras war
Da sitzest jetzt Du, Öltank!
Und vor Dir ist ein Gefühl
Nichts.

Darum erhöre uns
Und erlöse uns von dem Übel des Geistes.
Im Namen der Elektrifizierung
Der Ratio und der Statistik!  

310)

 

 

Mit diesen Versen war Bert Brecht seiner Zeit um fünfzig Jahre voraus. Was der Atheist Brecht als Menetekel an die Wand malte, davor warnte 1980 der Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika:

»Der Mensch kann nicht auf sich selber verzichten noch auf den Platz, der ihm in der sichtbaren Welt zukommt; er darf nicht Sklave der Dinge, Sklave der Wirtschaftssysteme, Sklave der Produktion, Sklave der eigenen Produkte werden. Eine Zivilisation von rein materialistischem Charakter verurteilt den Menschen zu solcher Sklaverei ...«311

Diese Unterwerfung des Menschen unter die Knechtschaft der eigenen Produkte und Ziele entspricht einer natürlichen Neigung des Menschen zur Anpassung.312 Diese Neigung besteht auch im technischen Zeitalter, sie hat nur das Objekt gewechselt. Der Mensch hat sich in den modernen Industrieländern zwar im allgemeinen — keineswegs immer — von der Knechtschaft gegenüber persönlichen Despoten befreit; eingetauscht hat er dafür die Knechtschaft gegenüber den materiellen Dingen. Dazu ist allerdings der Mensch, der sich fortschrittlich dünkt, offenbar leichter bereit als zur Unterordnung unter personifizierte Mächte.

Ontologisch scheint aber der Unterschied gar nicht so groß zu sein, was die Soziologen Max Horkheimer und Theodor Adorno dazu veranlaßt, von »der rätselhaften Bereitschaft der technologisch erzogenen Massen, in den Bann eines jeglichen Despotismus zu geraten«, zu sprechen.313

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Das heißt aber auch, daß beide Arten von Knechtschaft zusammentreffen können, womit diese ihre äußerste Perfektion erreicht. Die Formel heißt dann: Stalin + Technokratie. Diese Kombination hat die Welt jüngst schon mehrmals erlebt, und ihre Vollendung wurde in George Orwells Vision für das Jahr 1984 dargestellt. Wir leben nun bereits in diesen Jahren, und es scheint, daß die Schreckensvision des Schriftstellers noch nicht ganz erreicht werden wird. Doch das ist nicht unser Verdienst und auch nicht ein Erfolg der Politik, das verdanken wir nur der Tatsache, daß der Fortschritt seinen Schwung verloren hat.

Hier stellt sich bereits heraus, daß es ein übermenschliches Ziel des Menschen war, sich selbst ein über­menschliches Leben aufzuzwingen — ein Leben, das nur noch die gnadenlose Notwendigkeit kennt, wogegen die gewiß strenge Natur noch jederzeit Freiheiten gnädig bereithielt.

»Wenn Gott, dieser große <Wiedergutmacher>, sowie die Natur als die beständige, sich selber treue und die Ordnung immerfort erneuernde Macht ausfallen, ist nichts mehr erlaubt. Dann gibt es keine Nachsicht und keine Freude mehr, sondern alles ist Pflicht.«314

Nachdem sich nun des französischen Staatsmannes Alexis de Tocquevilles Satz, daß der Hang zum Wohlsein die Mutter der Knechtschaft sei, so eklatant bewahrheitet hat, sehen wir uns zu einem Mittelweg gezwungen. Was uns Not tut, hat der englische Philosoph und Kritiker der französischen Revolution Edmund Burke (1729-1797) vorausgesagt: 

»Die Menschen eignen sich für die bürgerliche Freiheit in genauem Verhältnis zu ihrem Willen, ihrem eigenen Appetit moralische Fesseln anzulegen. Die Gesellschaft kann nicht existieren, ohne daß irgendwo eine Bremse des ungezügelten Willens und des Appetits eingebaut wird, und je weniger die Menschen selbst in ihrem Innern darüber verfügen, desto mehr muß sie ihnen von außen auferlegt werden. Es ist in der ewigen Ordnung der Dinge beschlossen, daß Menschen mit ungezügeltem Charakter nicht frei sein können315

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Das Problem der heutigen Zivilisation liegt darin, daß den Menschen diese Bremse von außen nicht mehr auferlegt ist. Die Natur hat kurzfristig keine Macht mehr über den Menschen. Und ein Souverän kann das Volk nicht mehr bremsen, denn das Volk ist selbst souverän. Somit bleibt nur die Möglichkeit, daß jeder Einzelne sich selbst zügelt. Früher machte die Natur dem Menschen ganz schnell klar, was ihm erlaubt war und was nicht — bei Strafe des Todes.

Die neuesten Zukunftsentwürfe gehen immer noch davon aus, daß der Mensch der Gebieter der Natur sei und bleiben werde. So ist das neue Schlagwort vom »ökologischen Humanismus« in Umlauf gekommen. Darin bleibt der Mensch das Substantiv, und die Ökologie wird zum Adjektiv, als eine Eigenschaft des Humanismus. Die Wahrheit ist umgekehrt: der Mensch ist ein Teil der Natur, darum könnte man höchstens von einer humanen Ökologie oder von Humanökologie reden.316

 

   Angst und Hoffnung    

 

So wie es keine Freiheit ohne Begrenzung gibt, so gibt es auch keine Hoffnung ohne Entsagung. Entsagung war von jeher »Quell von Kraft und neuer Hoffnung. Der Mensch akzeptierte die Realität des Todes und begründete darauf die Sinngebung für sein physisches Sein.«317

Die Frage ist nur, ob der Mensch tagtäglich immer wieder die Kraft hat, allem Widrigen seinen Überlebens­willen entgegen­zusetzen. Solange er dies vermag, »lebt« er; wenn seine Kräfte erlahmen, dann stirbt er, selbst wenn er noch sein Leben »fristen« sollte. Erst wenn das Leben vernichtet wird, ist es aus mit der Hoffnung.  

Die Hoffnung kann nur dort lebendig bleiben, wo die Welt noch offen steht, wo das, was zu erwarten ist, sich noch nicht als eine abgeschlossene und damit unabänderliche Sache darstellt. »Hoffnung als Prinzip ergibt sich also aus der Offenheit, aus der Nichtabgeschlossenheit der Welt, und wir können nun auch umgekehrt argumentieren, daß jedem Individuum sein Anteil an dieser Offenheit gegeben werden muß, damit ihm Hoffnung bleibt. Unterdrückung, geistige, politische oder materielle Sklaverei besteht darin, den Menschen von einem offenen System in ein geschlossenes System zu versetzen, in ein Gefängnis irgendwelcher Art.« Dieses Gefängnis braucht nur darin zu bestehen, daß keine Aussicht bleibt, die Lage zu verändern.

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»Die offene Welt lebt auf die Zukunft hin. In der Zukunft liegen Angst und Hoffnung.«318 Das heißt auch, daß es keine Hoffnung ohne Angst geben kann. Wo weder Hoffnung noch Angst vorhanden ist, dort ist das Leben auf Null reduziert; das Pendel steht still. Mathematisches Denken müßte die Mitte für den Idealzustand halten. Insofern war das sogenannte »hedonistische Gleichgewicht« der Griechen ein Irrtum, wenn es statisch aufgefaßt wird, aber ein richtiges Ziel, wenn zuviel genauso vermieden werden soll wie zuwenig.319 Da die Lust in der Beseitigung von Unbehagen besteht, wird sie um so intensiver empfunden, je mehr Unlust zu beseitigen ist. Also muß das Unlustgefühl der Lust unweigerlich vorausgehen.320 Ständiges Wohlbehagen kann nur zu Unlust und Frustration führen.

»Die echte Fülle des Lebens besteht nicht in der Zufriedenheit, der Wohlgelungenheit, der Ankunft. Cervantes wußte, daß <der Weg immer besser ist als die Herberge!> Eine Zeit, die ihrem Verlangen, ihrem Ideal genuggetan hat, begehrt nichts mehr; ihr ist die Quelle des Wünschens versiegt. Das bedeutet, daß die berühmte Fülle in Wahrheit ein Ende ist. Es gibt Jahrhunderte, die ihre Wünsche nicht zu erneuern wissen und an Zufriedenheit sterben, wie die beglückte Drohne nach dem Hochzeitsflug.«321 Die in der Fülle lebende Generation hat nur noch die eine Hoffnung, Jahr für Jahr einen höheren Konsum bewältigen zu dürfen.

Daraus folgt, daß auch die grundlegenden Daseinsbedingungen, die in der Regel als Übelstände aufgefaßt werden, keine solchen sind. Sie bilden vielmehr die unverzichtbaren Komponenten des Lebens überhaupt, und auch - ja gerade - des erfüllten Lebens. Denn es gibt keine Freiheit ohne Notwendigkeit, keine Freude ohne Trauer, keine Lust ohne Schmerz., keine Hoffnung ohne Angst.

In Goethes »Dichtung und Wahrheit« heißt es: »Alles Behagen am Leben ist auf eine regelmäßige Wiederkehr der äußeren Dinge gegründet. Der Wechsel von Tag und Nacht, der Jahreszeiten, der Blüten und Früchte, und was sonst von Epoche zu Epoche entgegentritt, damit wir es genießen können und sollen, diese sind die eigentlichen Triebfedern des menschlichen Lebens. Je offener wir für diese Genüsse sind, desto glücklicher fühlen wir uns.«322

Es gibt kein Durchschnittsleben und es gibt keine Norm für das Glück des Einzelnen. Es ist ein wunderbarer Vorzug jedes lebenden Wesens, daß es sich anpassen kann. Auch die psychische Anpassungs­fähigkeit ist Voraussetzung des Überlebens.

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So richtet sich z.B. ein schwer Körperbehinderter in den ihm offengebliebenen Möglichkeiten ein. Seine Schwingungsweite hat eine andere Mitte als die des körperlich Gesunden; aber er pendelt genauso zwischen Lust- und Unlustgefühlen wie jeder Gesunde. Eine außergewöhnliche Belastung für ihn ergibt sich aus dem Vergleich mit den Gesunden, die um ihn sind. Darum leidet er am meisten, wenn ihn diese seine Benachteiligung spüren lassen - auch wenn es in der Form wohlmeinender Teilnahme geschieht; denn auch diese berührt immer wieder schmerzlich sein Schicksal wie eine Wunde, während er sich selbst doch längst arrangiert hat.

Jedes Lebewesen paßt sich an das an, woran es nichts zu ändern vermag. Im organischen Bereich ist Wahrheit das, was unausweichlich ist.

Das einzelne Dasein befindet sich nicht nur mit seiner Umwelt und sich selbst im Gleichgewicht, es stellt sich auch unablässig auf die sich ändernden Umstände ein und ändert sich mit ihnen. Die alles steuernde Natur hält für jede Lebensphase eines Organismus die Kräfte bereit, die jeweils benötigt werden. Die psychosomatischen Funktionen steuern den Menschen — seinem Geschlecht entsprechend — von der Wiege bis zum Grabe in der dem jeweiligen Alter und der jeweiligen Situation angemessenen Weise.

Der Säugling konzentriert sich auf die Nahrung. Das Kind begreift nach und nach die Umwelt. Und die innere Traumwelt setzt sich fort in den Träumen der Liebe. Die Jugendlichen und die Reifenden entwickeln wieder ein sich wandelndes Daseinsgefühl. Die mutterwerdende Frau verwandelt sich, denn biologisch-psychische Kräfte lenken sie so, daß mütterliche Gefühle heranreifen — und alle Angst der Eltern vor dem Neuen erweist sich als unbegründet. Später naht das wieder anders geartete Glück des Alters. Im naturgemäßen Lebensverlauf reagiert die selbsttätige Steuerung auf die besonderen Erfordernisse jeder biologischen Lebensphase in optimaler Weise; es sei denn, daß Störungen auftreten. Diese können krankhafter Art sein oder sich aus den Zwängen der jetzigen mechanistisch geprägten Lebensweise ergeben.

Das mechanistische Denken kennt nur einen konstanten Normaltyp: den erwachsenen jungen Mann, körperlich top-fit, mit »nützlichem« Wissen programmiert wie ein Computer, der seinen Job hundertprozentig ausübt und für einen besser bezahlten trainiert. Höchstes Vorbild ist der Astronaut, der unter extremsten Bedingungen genauso gut funktioniert wie eine Maschine.

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Auch das weibliche Geschlecht soll dann bestrebt sein, es diesem Ideal gleichzutun. Die lange Jugend- und Studierzeit dient der Vorbereitung auf die kurze Hochleistungsepoche; denn schon bald ist das Individuum ökonomisch untauglich geworden wie der Industriemüll. Der Kult der quantitativen Leistung verhindert die Kultivierung des Daseins.

 

    Die Ambivalenz des Lebendigen    

 

In der Natur überlebt das am besten angepaßte Lebewesen. Das heißt, daß auch das Leben des einzelnen Individuums eine ständige Anpassung an die gesamte Umwelt erfordert, auch an die eigenen Artgenossen. Der Anpassungsdruck bestand immer. Wer sich früher nicht an seine Gesellschaft, die insgesamt hart mit der Umwelt kämpfte, anpaßte, ging zugrunde; denn die Gesellschaft hatte nicht die Mittel, Kostgänger mit durchzuschleppen.

In der Zivilisation ist für den Einzelnen eine starke Anpassung an die Natur und die Gesellschaft nicht mehr unbedingt nötig. Und dies wird als großer Erfolg angesehen. Daß aber jeder Einzelne nun einer viel größeren Zahl von neuen Mechanismen ausgesetzt ist, hat man bis heute nicht begriffen, oder man will es nicht wahrhaben. Manche, die das erkannt haben, wollen die Mechanismen abschaffen, und sie glauben, daß dann die Welt wieder in Ordnung sei.

Somit rebellieren heute viele Menschen gegen die Zwänge der Zivilisation, also gegen den weiter zunehmenden »Anpassungsdruck«; sie rebellieren jedoch in der Regel gegen die Auswirkungen, nicht gegen die Ursachen. Sie rebellieren zum Beispiel gegen die Bürokratie, gegen die Steuern, gegen die Überwachung. Neuerdings rebellieren nicht wenige gegen die Umweltverschmutzung. Doch nur ein Bruchteil dieser Protestierer nimmt zur Kenntnis, daß die Umweltverderbnis eine automatische Folge des eigenen Konsumverhaltens im technischen Zeitalter ist; eines Verhaltens, dessen Steigerung die große Mehrheit weiter fortzusetzen wünscht.

Auch der Friede zwischen einzelnen Menschen wie zwischen den Völkern kann immer nur so lange bewahrt werden, wie sich diese aneinander anpassen. Soweit heutige Jugendliche gegen alles rebellieren, andererseits lautstark für den Frieden eintreten, ignorieren sie die Tatsache, daß der Friede eben nicht durch Ansprüche zu erhalten ist, sondern durch die notwendige Anpassung an die verschiedenen Mächte, die nun einmal existieren.

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Ab sofort ist nichts nötiger, als daß sich die Menschen den ökologischen Gesetzen anpassen, dagegen führt die bisher geübte Anpassung an die Zivilisation binnen kurzem in den globalen Untergang.

Es ist auch irrig, daß ein Abstreifen der Zivilisation zur Freiheit führt. Die Anpassung an die ökologischen Gesetze ist nicht weniger hart als an die jetzigen ökonomischen—sie hat nur einen »kleinen Vorteil«: sie fuhrt zum Überleben, während der andere Weg in den Untergang führt. Es gibt kein erschreckenderes Zeichen für den desolaten Geisteszustand dieser Zeit als die Illusion, das ökologische Leben werde ein Paradies sein. Damit betrügt man sich und andere wie gehabt.

Überall, wo wir auf dieser Welt irgendwelche Gewinne feststellen, müssen auch entsprechende Verluste entstanden sein.

Diese können an einer anderen Stelle im Raum oder an einer anderen Stelle in der Zeit auftreten — vor uns oder nach uns. Nur soweit wir die Gewinne auf die uns zufließende Energie der Sonne zurückführen können, sind es echte Gewinne. Aber nur die Natur hat die Fähigkeit, die Sonnenenergie in Leben umzuwandeln — und nur solange wir leben, lebt auch unser Geist, der selbst mit minimaler Energie auskommt. Den Geist, das wirksamste Energieprodukt, gibt es jedoch ohne die Voraussetzung eines lebenden Körpers nicht.

Umgekehrt gilt ebenso:

Überall, wo wir auf dieser Welt irgendwelche Verluste feststellen, müssen auch entsprechende Gewinne zu finden sein.

Nur soweit wir die Verluste auf die menschliche Zerstörungskraft zurückführen können, sind es unwiederbringliche Verluste.

Die Sonne ist der Motor der natürlichen Evolution. Der Mensch ist zur Zeit der Motor der Entropie­vermehrung, die inzwischen schneller verläuft als die natürliche Evolution.

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Das gleiche Prinzip von Gewinn und Verlust gilt für die Psyche.  

Die Psychoanalyse versucht, in diese Tiefen einzudringen; doch eine durchschaubare Bilanz wird es niemals geben. Richtig bleibt auch hier, daß die Summe letzten Endes immer gleich sein wird. Mishan ist überzeugt, »daß sich die Summe beständigen Glücks sogar unter den günstigsten Umständen durch wissenschaftliche Entdeckungen nicht wesentlich vergrößern läßt.«323

Zu einer einseitigen Bewertung kommt nur derjenige, der aus einer bestimmten Situation heraus urteilt. Wenn zum Beispiel Max Scheler feststellt, »alles Bewußtsein gründet in Leiden und alle höheren Stufen des Bewußtseins in steigendem Leiden«324, ist das richtig, gibt aber nur die eine Seite des Daseins wieder. Die entgegengesetzte Aussage würde lauten: »Alles Bewußtsein gründet in der Freude und alle höheren Stufen des Bewußtseins in steigender Freude.« Das allein stehenzulassen, hieße aber auch wieder nur, die entgegengesetzte Seite des Daseins zu betrachten. Das Leben besteht vielmehr in der Pendelbewegung zwischen den beiden Extremen.

Der Mensch ist in seiner ganzen Geschichte, wie jedes Lebewesen, so stark in seinem Kampf ums Überleben strapaziert worden, daß er sich nach einem statischen, gesicherten Zustand, nach Ruhe sehnte. Einen solchen Zustand hat er selten gefunden. Wo er ihn aber vorübergehend erreicht hat, wie zum Beispiel in den Wohlstandsregionen der Gegenwart, da überkommt ihn bald der Drang nach Veränderung, nach neuen Aufgaben und Erlebnissen. Nur stumpfsinnige Menschen fühlen sich im Glück der gefüllten Futtertröge wohl, die anderen brechen aus einer solchen Situation aus. Viele der jugendlichen Aussteiger handeln unter diesem Impuls. (Der Irrtum der Politiker besteht darin, daß sie glauben, die Tröge immer voller schütten zu müssen.) 

Manche vertragen die Jahr für Jahr gleichförmigen Abläufe ihres Arbeitsplatzes nicht mehr, manche leiden unter der Öde ihrer Ehe, und manche Kinder frustriert die Familie, die ihnen alles bietet, während sie selbst nichts beitragen können, da alles fertig gekauft wird. Ivan Illich folgert daraus: »Gefangen in seinem klimatisierten Glück, ist der Mensch kastriert: es bleibt ihm nur noch die Wut, die ihn dazu bringt, zu töten oder sich zu töten.«325)

Aus alledem können wir schließen: Alles ist gut, nur nicht überall, nur nicht immer, nur nicht für jeden. Umgekehrt: Alles ist schlecht, nur nicht überall, nur nicht immer, nur nicht für jeden. Wir wandeln uns, die Welt wandelt sich. So ist heute sinnlos, was in früheren Zeiten erstrebenswert war, und sinnvoll, wovor man bisher Angst hatte, Plus wird Minus, und Minus wird Plus.

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In einem Buch mit dem Titel <Die Seele und das Leid> (erschienen 1919 mit einer Einleitung von Ernst Haeckel) zitiert der Schriftsteller Harry Schumann den Artikel einer Pariser Zeitung. Dort wurde mitten im Ersten Weltkrieg, der in Europa tobte, berichtet:

 

In Japan greift zur Zeit eine Selbstmordmanie um sich, die den Behörden ein Anlaß schwerer Sorge ist. Man schlitzt sich zu Hause den Leib auf nach der guten alten Sitte des Harakiri, oder man entscheidet sich je nach Temperament und Veranlassung für Gift, Strick oder den Sprung ins Wasser. 

Und doch muß, wenn uns die Literaten nicht etwas weisgemacht haben, das Leben im Lande der Chrysanthemen und des Blütenschnees, wo die Frauen Kimono tragen und die Nächte so wunderhübsch von bunten Lampions erhellt sind, die entzückendste Idylle sein, die sich denken läßt. 

In Europa dagegen ist, wie die Statistik beweist, der Selbstmord während des Krieges ganz außer Mode gekommen. Und doch ist unser Leben mühselig und alles dessen beraubt, was einst seinen Reiz ausmachte, schleichen unsere Tage in Kummer und Sorge dahin, lastet auf uns Trauer und drücken uns Entbehrungen. 

Wer sich aber entleibt, das sind die glücklichen Japaner, die von all dem Jammer verschont blieben. Junge Leute, die sich keinen Wunsch zu versagen brauchen, die sich ganz dem Genuß des Lebens hingeben konnten, Glückskinder, für die der Himmel voller Geigen hängt, sagen der Welt mit verblüffender Leichtigkeit Valet. 

Die Alten aber und die Kranken, die unter Schmerzen und Gebrechen seufzen, klammern sich ängstlich an das bißchen Leben, das doch für sie nur ein Dornenweg ist. Sie wollen nicht sterben, für nichts auf der Welt.... Wir hängen also am Leben in dem Maße, wie es uns Leiden beschert. Und das ist gar nicht so dumm, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Man braucht nur an die Liebe einer Mutter zu ihrem Kinde zu denken, und man wird dasselbe Gesetz bestätigt finden. Man hängt um so mehr an einem geliebten Wesen, als es uns Schmerzen bereitet. 326) 

Harry Schumann knüpft daran die Betrachtung:

Wie durch einen Blitz wird durch diesen Artikel der Glückssinn des Daseins und die Stellung des Leides im Leben erhellt. Das Leid erst schafft den Wert des Lebens für den Menschen, und immer wieder bewahrt es vor Erstarrung ... Not und Sorgen stählen die Lebenskraft und erhöhen sie und mit ihr auch die Lebensfreude im seligen Gefühl des Wachsens und Vorwärtskommens. Fließt aber das Leben eintönig und sorglos dahin, so erschlaffen Lebenskräfte und Lebensfreude. 

Der Europäer des 20. Jahrhunderts konnte solche Zusammenhänge um so schwerer begreifen, je besser es ihm ging. Der Bericht verdeutlicht, daß der Mensch Herausforderungen braucht, ein bewegtes Leben, zumindest innerhalb einer gewissen Schwankungs­breite. Wird die Grenze auf der Seite eines Mangels überschritten, dann führt das zum Tod durch Verhungern — wird sie nach der Seite der Überfülle überschritten, dann führt das zum Tod durch Selbstmord. Das eine Extrem finden wir auf der südlichen Halbkugel, die Ursache ist Unterentwicklung — das andere Extrem auf der nördlichen, seine Ursache ist Über­entwicklung.

Sowohl das materielle Leben wie das psychische bewegt sich zwischen zwei Polen und darf nie zum Stillstand kommen. Die Erlebniswelt des Einzelnen besteht aus einem Netz unaufhörlicher Schwingungen, die sich in ihrem Auf und Ab zu einem Lebensgefühl verdichten. 

Nur ein Teil der Anstöße kommt von außen, und ein geringer Teil ist rational erklärbar. Ihre Ursprünge sind genausowenig zu entschlüsseln wie die Absicht der Natur, deren Teil wir sind. In Goethes Bildersprache läßt der <Geist> im <Faust> das Wesen des Weltgeistes ahnen:

In Lebensfluten, im Tatensturm
Wall' ich auf und ab,
Webe hin und her!

Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Ein wechselnd Weben,
Ein glühend Leben.

So schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit,
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid. 327

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Herbert Gruhl   Das irdische Gleichgewicht  Ökologie unseres Daseins