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Vorwort im Juni 1989

zur Taschenbuchausgabe (Oktober 1989)

 

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Die erste Auflage dieses Buches erschien im Jahre 1984 und war sehr schnell vergriffen. Der Tod meines Verlegers Hans Erb verzögerte die zweite Ausgabe, bis nun der Verlag Ullstein dankens­werter­weise das Projekt übernommen hat.

Inzwischen verschlimmerte sich die Lage unseres Planeten von Jahr zu Jahr. Gerade weil es mit der Wirt­schaft noch so gut weiterging, verschärften sich die alten Umweltprobleme, und neue wurden sichtbar: Waldsterben und Waldrodung, Schwinden der Ozonschicht, Erwärmung der Atmosphäre und steigender Weltwasserspiegel, chemische und radioaktive Verseuchung von Boden, Wasser und Luft. Die Folgen von alledem zeigen sich im beschleunigten Aussterben unzähliger Pflanzen- und Tierarten. Laut World Wildlife Fund würden bis zum Jahre 2000 schon fünfzehn bis zwanzig Prozent aller Tier- und Pflanzenarten ausgerottet sein, denn die Aussterbe­rate sei gegenwärtig tausendmal höher als jemals.

Es sind die »Erfolge« der Gattung Mensch, die unsere Welt mit zunehmender Geschwindigkeit an den Abgrund treiben. Die Wissenschaftler und Politiker der Neuzeit haben völlig naturwidrige Vorstellungen darüber verbreitet, wie der Mensch die Erde zu bewirtschaften habe. Diese wurden von den Volksmassen in aller Welt gläubig aufgenommen und praktiziert, sie laufen aber auf die schnellstmögliche Vernichtung unserer Lebens­grund­lagen hinaus. Allein die menschliche Energiegewinnung aus fossilen Brennstoffen – auf Erdöläquivalent umgerechnet – erreicht jährlich acht Milliarden Tonnen, wobei allein fünf Milliarden Tonnen Kohlendioxyd in die Erdatmosphäre geschleudert werden. Dazu kommen noch die Holzverbrennungen und andere giftige Emissionen. Alle Belastungen der Kreisläufe der Natur nehmen zu, denn die Versorgung mit Gütern pro Kopf soll noch weiter gesteigert werden.

Aber auch die Anzahl der zu versorgenden Menschen vergrößert sich jährlich um 80 Millionen Köpfe. Die fünfte Milliarde ist längst überschritten, und die sechste wird voll sein, ehe wir das Jahr 2000 schreiben. Selbst China muß zugeben, daß es trotz rigoroser Maßnahmen nicht gelingt, die Bewohnerzahl konstant zu halten. Somit droht die Natur unseres kleinen Planeten allein aufgrund der Massen von Menschen, die bald nicht mehr mit dem Nötigsten versorgt werden können, zugrunde zu gehen. Die abiotische Belastung wird durch die Abfälle der menschlichen Produkte und der Produktionsvorgänge und des Verkehrs laufend erhöht.

Unser Zeitalter des »Fortschritts« begann aber – von Europa ausgehend – erst vor 200 Jahren. Erstmalig in seiner Geschichte umgab sich der Mensch mit Massen von leblosen Produkten, die er sich aus den fossilen Energie­vorräten und den Mineralien dieser Erde anfertigte. Wo aber diese leblosen Produkte in Form von Maschinen, Bauten, Fahrzeugen und Straßen von der Erdoberfläche Besitz ergreifen, verwandeln sie die belebten Flächen der Natur in Flächen des Todes. Vor allem der Beton ergießt sich immer weiter über die Landschaften, wogegen die Räume der Pflanzen- und Tierwelt dahinschwinden. Während also dem echten Wachstum schrumpfende Flächen bleiben, sprechen die Statistiker von der »Steigerung des Wachstums«, womit sie die Produktion toter Güter und die Ausbreitung der Betonflächen meinen.

New York war die erste ebenso berühmte wie sterile Betonwüste, die schon zu Anfang dieses Jahrhunderts von sich reden machte. Am Ende des Jahrhunderts wird nun diese Megalopolis von Dutzenden anderer Ballungs­gebiete an Ausdehnung und Menschenzahl übertroffen werden. Diese werden von wachsenden Elendsvierteln eingerahmt, wo die Menschen in selbstgebauten Hütten aus Blech, Holz und Plastikstoffen vegetieren. Denn die überzählig Geborenen strömen in die Großstädte, die zwar mit glitzernden Lichtern prunken, aber selbst niemals lebensfähig sind. Ihre sterilen Steinwüsten geben keinen Nährboden für die Geschöpfe der Natur. 

Allein die Menschen zieht es dahin; denn sie sind ahnungslos, sie wissen nicht, wieviel tausend Quadrat­kilometer fruchtbaren Landes zur Ernährung einer solchen Megalopolis erforderlich sind. Solange die Lieferungen über Wasser, Land und Luft funktionieren, haben sie keine Vorstellung über die Voraussetzungen ihres Daseins; nur bei Störungen interessieren sie sich dafür, um sofort die Verantwortung der Regierung zuzuschieben. Reißt aber die Belieferung aus der Ferne einmal gänzlich ab, dann werden die Bewohner dem Hungertod ausgeliefert sein.

Das Leben der Menschen in den »entwickelten« Ländern konzentriert sich heute auf die Dinge, die sie noch vor hundert Jahren gar nicht gekannt haben, also auch nicht brauchten. Nach wenigen Jahren der Gewöhnung an den Komfort behaupten sie heute, ohne diesen nicht mehr leben zu können. Eine höchst lächerliche Ansicht!

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Alles, was unter der heutigen Ausstattung liegt, wird als »nicht menschenwürdig« eingestuft. Dabei sind die Erdenbewohner lediglich von der Sucht befallen. Aber wie alle Süchtigen sind sie nicht fähig, sich selbst zu befreien. Und da die ganze Gesellschaft von der gleichen Sucht beherrscht wird, sind auch keine Ärzte da, die sie kurieren könnten.

Noch schlimmer ist, daß die Sucht nach immer mehr zu einem ökonomischen Dogma, zur Staatsreligion erhoben wurde. Ja, es ist die erste wirklich internationale Religion. Und diese brauchte erstaunlicherweise kaum hundert Jahre, um rund um den Erdball akzeptiert zu werden. Ob sie in der sogenannten kapitalistischen oder in der sozialistischen Variante auftritt, spielt dabei eine geringe Rolle. In beiden Systemen ist die Wirtschaft die heilige Kuh, von der man jedes Jahr mehr Milch erwartet und zu erzwingen versucht. 

Der Erfolgsbilanz wird stets nur eine Statistik des Materiellen zugrunde gelegt. Beim ermittelten Brutto­sozialprodukt steigt der Anteil der Produkte immer schneller, die einen sehr geringen oder gar keinen Nutzwert mit sich bringen, aber dennoch ökologische Schäden verursachen; denn für die echten Bedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Wohnung) sind Steigerungen bei uns längst nicht mehr sinnvoll. Darum müssen neue Wünsche geweckt werden: das größere Auto, die Urlaubsreise mit dem Flugzeug an ferne Badestrände, die ebenso überfüllt wie verschmutzt sind, der häufige Wechsel der Wohnungs­einrichtung, neue Moden, neue Kosmetika und neueste Elektronik auf allen Gebieten.

Die heutige Industrie, wie sie zum Beispiel in der Bundesrepublik Deutschland existiert, stößt zu rund neunzig Prozent solche Produkte aus, die zum Leben keineswegs erforderlich sind. Die Fülle des Angebots verbreitet den Glanz scheinbaren Reichtums, der in Wirklichkeit nur aus einer statistischen Größe besteht, die über das echte Wohlbefinden der Bewohner nichts besagt. 

Diese Vergeudung könnte hingenommen werden, wenn sie nicht die schmale Lebensbasis des Menschen auf dieser Erde in kurzer Zeit aufzehren würde. Denn jeder unnütze Artikel erfordert Rohstoffe und Energie, erzeugt Verkehr und Abfall, wirkt also auf die natürliche Umwelt verderblich und über kurz oder lang tödlich.

Doch das materielle Wettrennen unter den Nationen geht unvermindert weiter. Es scheint ja auch noch alles gut zu laufen. Zwar jagt eine Umweltkonferenz die andere, und jede sendet dringlichste Warnungen aus, aber Folgen haben diese genausowenig wie die Abrüstungs­konferenzen der Vergangenheit.

Die Völker wie deren Regierungen fühlen sich nicht bemüßigt, ihre Wahnideen radikal zu revidieren. Die Gier nach mehr beherrscht Herzen und Hirne, der »Fortschritt« erscheint ihnen nach wie vor nur als materielle Steigerung denkbar. Unser materialistisches Zeitalter hat Unwerte zu Werten hochstilisiert und die geistigen Werte, auf die in den vorhergehenden Jahrtausenden das Denken des Menschen gerichtet war, innerhalb eines Jahrhunderts degradiert.

Auf die daraus resultierende Überlebenskrise, die nur noch von wenigen bestritten wird, reagieren die meisten überhaupt nicht. Und von denen, die sich Sorgen machen, kommen zumeist Entwürfe für neue, perfekte Welten, wie es sie noch nie gegeben hat und niemals geben wird. Sie führen uns erneut in die Irre! Was wir benötigen, das sind nicht unbeweisbare und unerprobte Utopien über die ideale Gesellschaft der Zukunft. Wir brauchen die Rückbesinnung auf das, was zu allen Zeiten gegolten hat und immer gelten wird. Und das sagen uns die Weisen früherer Zeiten. Ihr Wort wieder zur Geltung zu bringen, ist Aufgabe dieser Auswahl. Ihre Anweisungen zu beherzigen, wäre der erste Schritt in eine Zukunft, deren drohende Schatten von Tag zu Tag länger werden.

Geistige Tätigkeit verzehrt keine Materie/Energie und zerstört die Umwelt nicht, gewährt uns hingegen das höchstmögliche Maß an Sinnerfüllung, das sterblichen Wesen erreichbar bleibt.

Die Zeugnisse vergangener Epochen umgeben uns noch: am stärksten verinnerlicht in der Musik, am anschau­lichsten dargestellt in der Kunst der Maler und Bildhauer. Sie bezogen ihre Motive aus der Mythologie der Völker, die von Dichtern, Philosophen und Religionsstiftern niedergeschrieben wurden. Ihre überlieferten Zeugnisse geben uns Anweisungen zu Lebensformen, die materiellen Überfluß nicht benötigen, um dem Dasein einen Sinn abzugewinnen.

Der spanische Philosoph Baltasar Graciány Morales (1601-1658) schrieb: »Die erste Tagereise des schönen Lebens verwende man zur Unter­haltung mit den Toten: Wir leben, um zu erkennen und um uns selbst zu erkennen, also machen wahrhafte Bücher uns zu Menschen.«

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Marktschellenberg im Juni 1989, Herbert Gruhl

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 wikipedia  Baltasar_Gracian

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 Herbert Gruhl  Zeugnisse ökologischer Weltsicht