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Nachdichtung und Wahrheit:

Zur Diskussion um Häuptling Seattle

 

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Um die Rede des Häuptlings Seattle, die in den letzten Jahren im deutschen Sprachraum weite Verbreitung erfuhr, ist eine Diskussion entstanden. In der Zeitschrift <natur> (Nr. 7, 1984) veröffentlichten Anna Pytlik und Rolf Gehlen einen Artikel unter dem Titel <Mit der Wahrheit auf Kriegsfuß>. Sie bezeichnen darin den amerikanischen Dichter Arrowsmith als den Verfasser einer »Nachdichtung« der Seattle-Rede und ergehen sich dann in scheinbar tiefgründigen textkritischen Untersuchungen der Nachdichtung, um selbst die von Dr. Henry A. Smith aufgezeichnete Rede des Häuptlings in Bausch und Bogen zu verwerfen.

Dabei verwenden sie selber nicht die geringste Mühe auf eine Untersuchung der Begleittexte der Seattle-Rede. Auf diese Weise gelingt ihnen ein Kunststück besonderer Art: Sie benutzen die Fälschung der Seattle-Rede, um Zweifel an der Rede überhaupt zu schüren. Mit scheinbarer Akribie wird (anhand von Untersuchungen eines anderen Autors) ausgeführt, daß z.B. der in der (gefälschten) Seattle-Rede erwähnte Ziegenmelkervogel in Seattles Heimat gar nicht vorkomme; was Seattle sage, könne viel eher von einem Indianer aus den weiten Ebenen, den Plains, stammen;

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in der Seattle-Rede jagten die Duwamishs (der Stamm des Häuptlings) Bisons (Büffel), obgleich es im Lande der Duwamishs, die Fischer waren, gar keine Büffel gegeben habe, denn die Büffel hätten die Ebenen bevölkert.

Und schließlich: Die Duwamishs seien auch keine Reiter gewesen, die auf Ponys durch die Wälder jagten, denn Pferde seien dort bis ins 19. Jahrhundert hinein unbekannt und im übrigen auch für ein Volk von Fischern nur wenig sinnvoll gewesen.

Der Witz ist, daß die überlieferte Rede des Häuptlings alle diese Begriffe gar nicht kennt — sie kommen in der Tat dort nicht vor. Lediglich die „Nachdichtung" — besser sollte man wirklich sagen: die Fälschung — operiert mit solchen Bildern. Und selbstverständlich ist auch der Nachweis, daß Dr. Smith beim Vertragsabschluß am 22. Januar 1855 nicht zugegen war, völlig unsinnig, denn Smith hat dies an keiner Stelle behauptet. 

Soll also nun eine Fälschung den Beweis dafür liefern, daß Seattle gar nicht gesprochen hat?

Pytlik und Gehlen machen es sich sehr einfach. Sie übernehmen schlicht die falsche Angabe des Walter-Verlags, der in den ersten Ausgaben seiner Broschüre mit der Seattle-Rede behauptet hatte, eine von »dem amerikanischen Dichter Arrowsmith adaptierte Fassung« übernommen zu haben.

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Nun hat ausgerechnet Arrowsmith selbst die Fassung, die ihm hier in die Schuhe geschoben wird, als leicht erkennbare Fälschung bezeichnet und gesagt, daß es nur eine einzige Quelle gebe — und das ist der Dolmetscher Dr. Smith. Arrowsmith nennt in der Zeitschrift >American Poetry Review< vom Januar/Februar 1973 den »Nachdichter« der weitverbreiteten Fassung: er heißt John M. Rich.

Arrowsmiths Urteil über den Text lautet in der angegebenen Zeitschrift:

»Getränkt in billige Klischees und übertüncht mit sentimentaler christlicher Frömmigkeit kann die Falschheit von Rich's Version (die ganz von Smith's Übersetzung, der einzigen Quelle, abhängt) auf den ersten Blick entlarvt werden. Doch sie ist irgendwie die kanonische Version der Rede geworden, und ihre offensichtliche Unrichtigkeit hat viel dazu beigetragen, Zweifel an der Authentizität der Rede überhaupt hervorzurufen.«

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Es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß der Walter-Verlag in späteren Auflagen (vor mir liegt beispielsweise die 11. Auflage 1984) den Hinweis auf Arrowsmith fallen ließ und nunmehr einen ganz anderen Quellenhinweis bringt, der freilich die verwendete Rede-Fassung noch zweifelhafter erscheinen läßt. Hier der vollständige Text dieses Quellenhinweises:

»Der Wortlaut dieser Ausgabe basiert auf dem Text zum amerikanischen Dokumentarfilm <Home>, dessen deutschsprachige Version die Landeszentrale für politische Bildung im Auftrag des Ministers für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen verleiht und dem die Rede des Häuptlings Seattle zugrunde liegt. Die Übersetzung besorgte die Dedo Weigert Film GmbH, München. Die Fotos stammen vom Autor des im Walter-Verlag erschienenen Buches <Indianer>, Heinrich Gohl.«

Zurück zu Pytlik und Gehlen in der <natur>: Statt sich an Tatsachen zu halten, die durchaus bekannt sind, fragen die beiden Verfasser polemisch: »Wer war Seattle, wer waren die Duwamish? In keiner der publizierten Reden wird der Leser mit Informationen belastet...«

Aber Pytlik und Gehlen »belasten« die Leser von <natur> nicht einmal mit den Informationen, auf die sie doch

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wohl bei Dr. Smith gestoßen sind, wie man Andeutungen entnehmen kann. Hätten sie es getan, dann wäre ihre unerträglich billige Polemik am Schluß des Artikels unmöglich gewesen. (Was hat z. B. das »alljährliche Karl-May-Spektakel in Bad Segeberg« mit dem Ereignis des Jahres 1854 zu tun?) Sie versteigen sich dann zu der Behauptung: »Seattles Rede ist vermutlich bald vergessen.«

 

Ich meine vielmehr, daß es endlich Zeit wird, die Fassung der Rede zu verbreiten, die den tatsächlichen Aussagen dieses hervorragenden Menschen am weitestgehenden entspricht. Warum druckte <natur> zusammen mit dem Artikel gerade die »falscheste« Redeversion (so genannt im eigenen Vorspann) ab? Warum nicht z.B. meine Übersetzung der authentischen Rede, wie ich sie in meiner Anthologie <Glücklich werden die sein... — Zeugnisse ökologischer Weltsicht aus vier Jahrtausenden> (Erb Verlag, Düsseldorf 1984) veröffentlicht habe?

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Zum besseren Verständnis gehören dazu die Beschreibungen der Zusammenhänge, die in der Ausgabe der Rede vom <Museum of History and Industry> in Seattle vorangestellt werden, und die des Dolmetschers Dr. Henry A. Smith. Dieser schildert nicht nur den Häuptling sehr eindrucksvoll; er läßt in seiner bescheidenen Schlußbemerkung auch erkennen, wie sehr er darum bemüht war, in seiner Darstellung den Ereignissen gerecht zu werden.

Das Museum of History and Industry in Seattle an der pazifischen Küste veröffentlichte am 31. März 1982 eine kleine Broschüre unter dem Titel <The Famous Oration of the CHIEF SEATTLE> mit einer Einleitung, die ins Deutsche übersetzt so lautet:

»Dr. David Maynard, Indianer-Hilfsagent und Freund des Häuptlings Seattle, arrangierte 1854 für den neuen Territorial Gouverneur Isaac I. Stevens, der auch als Indianer-Kommissar tätig war, ein Treffen mit dem Häuptling und seinem Volk. Die Indianer versammelten sich an der Küste genau nördlich des gegenwärtigen Kingdomes.

Bei diesem Treffen hielt der alte Häuptling Seattle ein leidenschaftliches Plädoyer in seiner Muttersprache. Dr. Henry Ä. Smith, nach dem die Smith-Bucht genannt ist, war ein geborenes Sprachtalent, der die lokale Salish-Sprache beherrschte. Während der Häuptling sprach, machte Smith Notizen, aus denen er später die Rede rekonstruierte.

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Bedauerlicherweise gibt es keinen Weg, die Genauigkeit seiner Übersetzung zu beurteilen. Zeitgenossen bezeichneten sie jedoch als >getreue< Wiedergabe. Es gibt keinen Zweifel, daß sie viele Gedanken des Häuptlings enthält, wenn auch zuweilen in Dr. Smiths schwerfällige viktorianische Sätze gekleidet.«

 

Zu welcher Zeit Dr. Smith die Rede in englischer Sprache niedergeschrieben hat, ist unbekannt. Es könnte durchaus auch unmittelbar nach dem Ereignis gewesen sein. Auf jeden Fall hat der Häuptling Seattle einen gewaltigen Eindruck auf ihn gemacht. Somit sind die auch geäußerten Vermutungen, Dr. Smith sei bei der Rede des Häuptlings gar nicht persönlich dabeigewesen, absurd.

Er schrieb nämlich am 29. Oktober 1887 in der Zeitung <Seattle Sunday Star>:

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»Der alte Häuptling Seattle war der größte Indianer, den ich je sah, und bei weitem die edelste Erscheinung. Er brachte es in seinen Mokassins auf beinahe sechs Fuß und war breitschultrig, vollbrüstig und bestens proportioniert. Seine Augen waren groß, klug, ausdrucksvoll und freundlich, wenn sie ruhten, und sie spiegelten getreulich die wechselnden Gemütszustände der großen Seele, die durch sie hindurch leuchtete.

Er war normalerweise ernst, schweigsam und würdevoll, aber bei großen Ereignissen bewegte er sich unter den versammelten Mengen wie ein Titan unter Lilliputanern, und sein beiläufigstes Wort war Gesetz.

Wenn er sich erhob, um in der Ratsversammlung zu sprechen oder Rat zu erteilen, wendeten sich alle Augen zu ihm, und tiefto-nige, sonore und beredte Sätze rollten von seinen Lippen wie der endlose Donner der Katarakte, die aus unerschöpflichen Quellen strömen; und seine prächtige Haltung war ebenso nobel wie die des kultiviertesten militärischen Anführers, der die Streitkräfte eines Kontinents kommandiert.

Weder seine Beredsamkeit, seine Würde, noch seine Anmut waren anerzogen. Sie gehörten so natürlich zu seiner Männlichkeit wie die Nadeln und Zapfen zu einem großen Kiefernbaum.

Sein Einfluß war erstaunlich. Er hätte ein Imperator sein können, aber all seine Instinkte waren demokratisch, und er herrschte über seine Untertanen mit Güte und väterlicher Milde.

Er war allzeit hochgeschätzt und genoß die besondere Achtung der Weißen, und das nie so sehr wie dann, wenn er an deren Tafel saß. Und bei solchen Gelegenheiten offenbarte er mehr als sonstwo seine echten Instinkte eines Gentleman.

Als der Gouverneur Stevens zum ersten Mal in Seattle ankam und den Eingeborenen mitteilte, daß er zum Kommissar für Indianische Angelegenheiten im Territorium Washington ernannt worden war, gaben sie ihm einen demonstrativen Empfang vor Dr. Maynards Büro, nahe dem Strand an der Main Street.

Die Bucht wimmelte von Kanus, und das Ufer war umsäumt von einer lebenden Masse sich drängender dunkler Menschen, bis des alten Häuptlings Seattle Trompetentöne über die gewaltige Menge rollten wie der Weckruf einer Pauke, womit augenblicklich perfekte Stille eintrat.

Der Gouverneur wurde dann der eingeborenen Menge von Dr. Maynard vorgestellt und begann sofort in einem beredten, klaren und unverblümten Stil mit der Darlegung seiner Mission bei ihnen, die zu gut bekannt ist, als daß sie ins Gedächtnis zurückgerufen werden müßte. [Dr. Smith meint hiermit das Angebot des amerikanischen Präsidenten, den Indianern das Land abzukaufen.]

Als er sich setzte, erhob sich Häuptling Seattle mit der ganzen Würde eines Senators, der die Verantwortung für eine große Nation auf seinen Schultern trägt. Indem er eine Hand auf das Haupt des Gouverneurs legte und langsam mit dem Zeigefinger der anderen himmelwärts deutete, begann er seine denkwürdige Ansprache in feierlicher und eindrucksvoller Tonart:...«.

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Wenn ein Mensch noch nach 33 Jahren ein Ereignis so eindrucksvoll beschreiben kann, dann hat auch die Rede tiefe Spuren in seinem Gedächtnis hinterlassen. Es ist auch so gut wie sicher, daß Dr. Smith den Häuptling Seattle bereits vor der Rede und ebenso in den Jahren danach wiederholt getroffen und gesprochen hat. Somit waren ihm dessen Gedanken und Worte so geläufig, daß er bei der Übersetzung nicht nur auf seine Notizen angewiesen blieb. Schon die Beschreibung des Häuptlings beweist das gute Erinnerungsvermögen des Dolmetschers, der ja auch die Rede dem Gouverneur Stevens sofort übersetzen mußte. Denn es ist nicht anzunehmen, daß dieser einer Rede zuhörte, ohne sich wenigstens die Hauptgesichtspunkte übersetzen zu lassen.

Die von Dr. Smith zu welchem Zeitpunkt auch immer niedergeschriebene Rede ist die einzige existierende Quelle. Darum habe ich diesen Text übersetzt und in meine Anthologie aufgenommen.

Die Diskussion um den Häuptling Seattle hat eine ganz unsinnige Wendung mit der Frage erreicht, ob es den »edlen Wilden« gebe. Da ist man versucht, die Gegenfrage zu stellen: Gibt es den »edlen Zivilisierten«? Wenn an der Beschreibung von Dr. Smith auch nur die Hälfte stimmen würde, so stünde immer noch fest, daß der Häuptling Seattle ein sehr edler Mensch und ein Philosoph gewesen ist. Man sollte ihm die Ehre antun, nun endlich die Rede weiter zu verbreiten, die seinen Ausführungen so gut wie möglich entspricht.

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 Herbert Gruhl  Häuptling Seattle hat gesprochen  Der authentische Text seiner Rede mit Klarstellung: Nachdichtung und Wahrheit