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12.  Umkehr zum Leben  

Schlusswort-1986 von Herbert Gruhl

  Schlusswort 1984        Schlusswort-1987

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Wenn man die Salbaderei der Regierenden in diesen Jahren hört, dann wäre daraus nur eine Schlußfolgerung zu ziehen: Die Menschen wollen lieber sterben als sparen. Aber wollen sie das wirklich? Werden sie nicht vielmehr in verantwortungsloser Weise weiter betrogen? Auf jeden Fall wurde ihnen diese harte Alternative weder vor noch nach Tschernobyl klargemacht. 

Und es gibt weiterhin die großen Interessenmächte, denen jede wahrheitsgemäße Aufklärung genausowenig in den Kram paßt wie den Politikern. Und der brave Bürger läßt sich so gern belügen, hofft er doch allezeit, daß er selbst nicht unter den Betroffenen sein wird. Und solch tüchtige Menschen, wie es die Deutschen nunmal sind, denen kann ja schon gar nichts passieren! Wenn ihnen Katastrophen drohen, dann doch beileibe nicht von innen, sondern nur von außen — vor allem aus der Sowjet-Union!

Und was macht man, wenn man im Grunde nichts ändern will? Man beraumt internationale Konferenzen an! Da kann man sicher sein, daß es zu keinem Ergebnis kommen wird, doch die Öffentlichkeit ist beschäftigt, und man hat dann bei Bedarf stets einen Schuldigen. Möglichst viel Wirbel für den Tag, statt Nachdenken über die Zukunft lautet die Devise.

Die bisherigen großen Kontroversen der Menschheit, wovon die letzte, die zwischen Sozialismus und Kapitalismus noch anhält, sind im Begriff, von einer neuen großen Kontroverse abgelöst zu werden. Und das ist der beginnende Kampf zwischen den Zerstörern und Bewahrern unserer Erde. Die Zerstörer behaupten immer noch, sie müßten für »den Fortschritt« über Leichen gehen. Das ist im Westen nicht anders als im Osten. Doch die technizistische Denkweise, die an die Machbarkeit aller irdischen Dinge glaubt, erweist sich jetzt als Sackgasse des menschlichen Gehirns, das längst nicht mehr dem Leben dient, sondern der Ausbreitung der unbelebten Welt. 

Wenn der Mensch - wie viele Arten vor ihm - bald den Planeten räumen muß, dann wird die Ursache in dieser Verirrung des menschlichen Gehirns liegen, welches eine erdachte tote Welt anstelle der natürlichen errichten wollte. Die lebendige Welt geht an der Ratio zugrunde, die alles »rationalisieren« will. Darunter leiden alle Kreaturen, und auch der kreatürliche Mensch siecht schließlich dahin.

An diesem existentiellen Scheideweg sucht die »fortgeschrittene« Menschheit den Ausweg immer noch in einer Vorwärtsstrategie, ohne zu begreifen, daß genau damit die Straße des Todes beschritten wird. Wen die Götter vernichten wollen, den schlagen sie zunächst mit Blindheit, hieß es schon in der Antike. Die heutige Blindheit besteht in selbst­produzierten Hirngespinsten — und ist damit um so gefährlicher.

Hier wirkt auch eine unheilige Allianz zweier Glaubensrichtungen zusammen: die Technikgläubigkeit und die Geldgläubigkeit. Mit Technik läßt sich das große Geld machen, und mit dem Geld läßt sich wiederum Technik kaufen. Und weil der Staat mit seinen steuerlichen »Abschöpfungen« an diesen Vorgängen stets mitverdient, ist er zum Komplizen der Technik und der Kapitaleigner geworden.

So frißt die unbelebte Welt zunehmend größere Brocken der belebten Natur in sich hinein und stößt sie als wertlosen Kot wieder aus, der ganze Landschaften unter sich begräbt und als chemischer und atomarer Müll die ganze Erde vergiftet. Der Tod der Natur wird täglich deutlicher, und dennoch sind die Menschen bereit, dem gefräßigen Molloch all das zu opfern, was frühere Generationen hoch und heilig gehalten haben, weil sie wußten, daß ihr eigenes Weiterleben davon abhing. Die gegenwärtig Lebenden wissen nicht einmal mehr, welche Voraussetzungen ihr eigenes Leben benötigt, weil sie den eigenen Naturbezug so zugeschüttet haben, daß sie nicht mehr erkennen, wovon sich ihr Leben nährt.

Wie Drogensüchtige rennen die Völker jeder neuen Technisierung nach. Der letzte Schrei ist jetzt die Gentechnik, die unverfrorene Manipulation mit den tiefsten Geheimnissen der Natur. Ein weiteres Wahnsinns­projekt ist der Strahlenkrieg im Weltraum, von dem sich einige »Sicherheit« erhoffen, der aber im Gegenteil neue tödliche Risiken eröffnen wird. 

Der »Mythos der Maschine«, der moderne Gott des Westens wie des kommunistischen Ostens, der die Menschen in seinen Bann geschlagen hat, ist jetzt zu entlarven, denn er versklavt nicht nur den Menschen, radikaler als das je eine Religion vermochte, er verlangt auch die Opferung der Natur insgesamt. Die Entzauberung der Technik wird nun nirgends so deutlich wie in der Kernenergie, der Spitzentechnik unserer Tage. Sie liefert uns den Beweis: Alle Tendenzen in dieser Welt gehen an ihrer Übertreibung von selbst zugrunde. Wenn sie aber nicht selbst zugrunde gehen, dann werden sie ihre Urheber zugrunde richten. Die gewaltigste Macht des 20. Jahrhunderts, die Supertechnik im Ganzen, vermag nun bereits den Erdball rundum zu vergiften.

Die erstarrten Ökonomen und Politiker behaupten mit ihren satten Mehrheiten immer noch, daß wir ohne die lebensfeindlichen Stoffe aus dem Atom heute gar nicht mehr leben könnten. Wenn dies stimmte, dann müßten wir unser Weiterleben einem reinen »Glücksfall« verdanken; nämlich dem, daß den Amerikanern im letzten Weltkrieg die Kernspaltung mit der Atombombe gelungen ist, woraus sich dann die sogenannte »friedliche Nutzung« der Kernenergie entwickelte.

Nun sollen wir unseren Fortbestand noch einem weiteren ganz unwahrscheinlichen Glücksfall anvertrauen: daß nie etwas passiert? Passiert aber doch so etwas wie in Tschernobyl, dann würde in der Bundesrepublik Deutschland nicht (nur) die Stromversorgung zusammenbrechen, sondern das Leben. 

Nur die Verringerung der Ausbeutung der Erde, ihrer Rohstoffe und Energien, sowie der Inanspruchnahme von Wasser, Luft und Böden kann uns Menschen die Zukunft retten. Aber:

»Das verzagte Bonner Credo besagt, daß die Deutschen noch immer nicht durch Überzeugung, sondern nur durch Überfütterung bei der demokratischen Fahne zu halten seien — ein herablassend technokratischer, ein paternalistisch bevormundender, ein menschenverachtender, ein viehzüchterischer Standpunkt.« 

Das schrieb Wilhelm Bittorf schon 1980 im SPIEGEL. Und weiter:    wikipedia  Wilhelm_Bittorf   1929-2002 (72)    dnb Person

»Wenn die Industriegesellschaft ohne Atomkraft nicht weiterbestehen kann, dann hat sie wirklich ihre Grenzen erreicht, ohne Atomkraft und mit... Und wer glaubt, daß die freiheitliche Gesellschaft nur durch den Bau von immer weiteren Atomanlagen und schließlich nur noch durch Schnelle Brüter aufrechtzuerhalten sei, bekundet im Grunde einen noch schwärzeren und irrationaleren Defätismus als ein antiatomarer Unheilsprophet, der uns alle schon radioaktiv krepieren sieht.

Höchste Zeit deshalb, gegen diese Gesinnung anzugehen. Höchste Zeit zu begreifen, daß es künftig keinesfalls mehr darauf ankommen kann, durch materielle Wohlstandsexpansion um jeden Preis Demokratie zu ermöglichen. Es wird nur noch um die ungleich schwierigere Frage gehen, wie wir Freiheit und Demokratie gerade dann bewahren und beleben können, wenn die materielle Basis der Gesellschaft stagniert und schrumpft, statt zu wachsen. 

Gewiß sind dabei die grüngetünchten Roten nicht von Nutzen, die auf diesem Umweg doch noch zu ihrem Ziel zu gelangen hoffen. Ihre Formel, daß kommende Krisen zum Sozialismus führen, ist indes nur das Pendant zu der ebenso einfältigen Bonner Gleichung Wachstum gleich Demokratie — und mehr Wachstum gleich mehr Demokratie... Marxens und Brechts Träume von den Freuden, die bei höchster Entfaltung der Produktivkräfte allen Menschen winken, sind heute ebenso überholt wie die kapitalistische Vision vom endlosen Fortschritt...«. 

Die Schicksalsfrage der Welt lautet: Haben die Kräfte des Lebens - zersplittert und auf ihr privates Dasein bedacht, wie das der Natur gemäß ist - eine Chance gegen die supertechnischen Mächte? Zumal dann, wenn die verantwortlichen Regierungen gewissenlos sind? Können die heutigen Machtstrukturen in Ost und West ohne Gegenmacht geändert werden? Können die Kräfte des Lebens sich zur siegenden Gegenmacht zusammenballen? — Dazu muß sich das Daseinsbewußtsein der Menschen wandeln. Eine andere Anschauung von dem, was auf der Erde notwendig, sogar überlebensnotwendig ist, muß um sich greifen, bis sie auch in die Etagen der Macht eindringt. Kann das noch schnell genug geschehen? 

Wir können annehmen, daß das Menetekel von Tschernobyl, wo sich die bisher größte Katastrophe der Technik (keineswegs die eines politischen Systems) ereignet hat, gerade die dortigen Machthaber zum Nachdenken zwingen wird. Zum Nachdenken über ihre Vergötzung der Technik und auch über die Sinnlosigkeit ihrer Atombombenarsenale. Im Westen kann wenigstens die freie Meinungsäußerung — wie auch dieses Buch beweist — für Nachdenklichkeit sorgen; doch sie blieb bisher ohne politische Folgen, welches Land wir auch unter die Lupe nehmen.

Wir alle haben jetzt nach Tschernobyl die vielleicht letzte Chance, eine verheerende Entwicklung aufzuhalten, die selbst bei Ausbleiben großer Katastrophen und eines Atomkrieges die tödlichen Gifte rund um den Erdball verbreitet und anreichert, solange Menschen damit hantieren. Wenn kein Einhalt geboten wird, dann müssen die Lebewesen langsam dahinsiechen, bis unser Planet schließlich wüst und leer um die Sonne kreisen wird. Dies vollbracht zu haben, wird allerdings die größte, aber auch die letzte gewaltige Tat der Gattung Mensch gewesen sein.

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Ende

 

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 Herbert Gruhl - Der atomare Selbstmord - Mit 10 Abbildungen und Karten