1 Blaue Berge — Grüne Täler
Gruhl-1987
Erste Fragen — frühe Träume
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Zu meinen frühesten Erinnerungen gehört diese: Meine Mutter saß auf einer Fußbank und schälte Kartoffeln für das Mittagessen. Dabei klagte sie, wie so oft, über die schlechten Zeiten. Auf meine Frage, warum sie denn so schlecht seien, erwiderte sie: »Weil wir den Krieg verloren haben!« — »Und warum haben wir den Krieg verloren?« — »Weil siebenundzwanzig Länder gegen uns standen — und wir nur einen Verbündeten hatten, Österreich-Ungarn; denn Italien brach erst den Vertrag und kämpfte dann auch noch gegen uns!«
So habe alle Tapferkeit der deutschen Soldaten nichts genutzt, und auch mein Vater sei vier Jahre vergeblich als Landsturmmann im fernen Frankreich gewesen. Schließlich hätten doch die Franzosen, unsere ständigen Gegner, gesiegt und saugten uns nun mit ihren Reparationsforderungen aus. Und dann sei da noch die Inflation gewesen. Die fleißigen Leute hätten ihre Ersparnisse verloren, und über Monate mußten alle mit Millionen und Milliarden rechnen.
»Ja, vor dem Krieg, da war die Welt noch in Ordnung!« So und ähnlich lauteten die aufgeschnappten Redewendungen der Erwachsenen. Da ich am 22. Oktober 1921, abends um dreiviertel zehn, zur Welt kam, fehlen mir unmittelbare Erlebnisse aus dem ersten Viertel dieses Jahrhunderts, das mit dem Ersten Weltkrieg seinen Höhe- und Wendepunkt erreicht hatte.
Heute — im Alter von fünfundsechzig Jahren — weiß ich, daß selbst eine historische Katastrophe wie der Erste Weltkrieg, so bitter sie auch war, nicht die Ursache aller Geschehnisse der Folgezeit gewesen sein konnte. Womit ich nicht sagen will, daß meine Mutter solches behauptet hätte. Danach befragt, was das Wesentliche im Leben sei, hätte sie ganz sicher geantwortet: »Gott!« Dagegen konnte alles andere nur von geringerem Gewicht sein.
Auch mich erfüllten in jenen kindlichen Tagen andere Dinge als der letzte Krieg.
Da waren zunächst die Träume, die weit über die erlebte Welt hinausgingen, oder waren es manchmal auch Fieberphantasien? Jedenfalls ähnelten sie sich in Inhalt und Ablauf. Zuweilen wurde ich mit atemberaubender Geschwindigkeit in die Luft geschleudert und mußte unweigerlich irgendwo aufprallen und zerschellen. In anderen Träumen wurde mein Körper größer und größer wie ein sich ausdehnender Luftballon, wobei ich das Gefühl hatte, bald zerspringen zu müssen. Selbst die schlimmen Träume, in denen ich flüchten mußte, die Beine aber ihren Dienst versagten, waren dagegen noch vergleichsweise harmlos.
Der unheimlichste Traum aber blieb der wiederholte Sturz von der Erde in den unendlichen Weltenraum, weil es dabei keine Hoffnung auf Rettung gab, denn der Körper mußte unweigerlich im unendlichen Nichts vergehen.
Ich kann nicht annehmen, daß ich im damaligen Alter von sieben Jahren schon wußte, daß unsere Erde eine im Weltraum schwebende Kugel ist; das haben mir meine Brüder erst später erklärt, und geglaubt habe ich es auch nicht sogleich. Schweißgebadet wachte ich nach solchen Träumen auf.
Später träumte ich oft von feindlichen Flugzeugen, die in dichten Formationen anflogen, so daß sie fast den Himmel bedeckten. Mag sein, daß diese Träume auf der Äußerung eines reisenden Textilienhändlers, der uns regelmäßig besuchte, beruhten, wonach in einem künftigen Krieg die Sonne von Flugzeugen verdunkelt werden würde.
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Mich konnte auch sonst eine unheimliche Angst überfallen. So, wenn ich vor dem Schlafengehen den dunklen Hof betrat: Die Sterne funkelten am Himmel, und hinter der mächtigen Scheune donnerte in der Ferne ein Eisenbahnzug durch die Nacht. Dann geschah es hin und wieder, daß ich mich von aller Welt verlassen wähnte, und mich beschlich das Gefühl, ich könnte am nächsten Morgen nicht mehr erwachen und für immer von dieser belebten Erde getilgt sein.
Es muß noch vor meiner Schulzeit gewesen sein, als ich eine Art Gesicht oder ein mystisches Erlebnis hatte, wenn ich mich erkühnen darf, es so zu bezeichnen.
Ich saß auf einem Fußbänkchen in der Stube, die Sonne warf ihre Strahlen durch das Fenster, und meine damals etwa sechzehn Jahre alte Schwester schälte die Kartoffeln für die mittägliche Mahlzeit. Während ich sie so betrachtete, erschien sie mir plötzlich unheimlich fremd und fern. Für einige Sekunden blieb es mir völlig unfaßbar, daß es solche Wesen geben könne: mit Armen und Beinen, stehend und sich bewegend. Es war, als sähe ich meine Schwester, obwohl sie vor mir stand, aus einer völlig anderen Welt, in der solche hantierenden Lebewesen undenkbar waren.
Es blieb jedoch bei dem kurzen Schrecken darüber, daß es etwas so Seltsames wie Menschen überhaupt geben konnte. Eine solche Entrückung ist mir kein zweites Mal widerfahren. An dieses Erlebnis und an die verschiedenen Träume erinnerte ich mich später wohl gerade oft genug, daß sie nicht in Vergessenheit gerieten. Es mag sein, daß ich schon früh ein Gefühl dafür besessen habe, was wichtig genug ist, im Gedächtnis aufbewahrt zu werden.
Inzwischen nähert sich meine Lebensspanne dem Ende des 20. Jahrhunderts. Wie dicht sie noch an das Jahr 2000 heranreichen wird, bleibt im gnädigen Dunkel verborgen. Immerhin scheint es ratsam, jetzt meine Erinnerungen aufzuzeichnen, denn viele von denen, die mein Leben begleitet haben, deckt längst die Erde. Darunter gerade diejenigen, die mir lieb und vertraut gewesen sind, so daß ich auf ihr Urteil über mein Tun größeren Wert gelegt hätte als auf das der heutigen Mitwelt.
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Das heimelige Land
Auf meinem väterlichen Bauernhof haben Vorfahren des Namens Gruhl mindestens seit dem Jahre 1800 gesessen. 1849 war das jetzige stattliche Wohnhaus von meinem Urgroßvater, Andreas Gruhl, errichtet worden. Mein Vater, Max Gruhl, baute die Scheune neu und größer. Die dreiundzwanzig Hektar Land ergaben das, was man eine »Zweipferdewirtschaft« nannte. Von diesem Grund und Boden waren vier Hektar Wald abzuziehen und etwa die gleiche Fläche an Wiesen, um auf die eigentliche Substanz, das Ackerland, zu kommen. Darauf baute mein Vater Korn, so nannten wir dort den Roggen, und etwas weniger Weizen an, dazu den nötigen Hafer für die beiden Pferde, Gerste nur selten. Jedes dritte Jahr etwa wurde Klee gesät.
Und natürlich dürfen die Kartoffeln nicht vergessen werden, denn sie waren neben dem Brot die Grundlage der Ernährung. Besonders für die Kühe wurden die Runkelrüben angebaut, die noch mehr an beschwerlicher Arbeit mit sich brachten als die Kartoffeln. Das alles genügte, um etwa zehn Milchkühe, bis zu fünf Kälber und Fersen, einen Bullen, zirka zehn Schweine und acht Menschen zu ernähren. Die Menschen kamen immer zuletzt, was sich schon darin ausdrückte, daß es einem Bauern nie eingefallen wäre zu frühstücken, ehe sein Vieh versorgt war. Und das galt für die Sonn- und Feiertage genauso wie für jeden Wochentag.
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Doch eine Generation früher, zu Zeiten meines Großvaters, da war der Alltag noch beschwerlicher gewesen, wie mein Vater immer wieder erzählte. Da wurde schon ab fünf Uhr morgens — natürlich vor dem Frühstück — in der Scheune der Dreschflegel geschwungen. Jahraus, jahrein waren es die gleichen Mühen gewesen, mit Ausnahme der zwei Jahre, die er bei den Schützen in Dresden »gedient« hatte.
Ohne den Ausbruch des großen Krieges im Jahre 1914 wäre er über Dresden nie hinausgekommen. Doch nun erzählte er oft Geschichten aus dem fernen Frankreich. Große Schlachten konnte er zwar nicht schildern, denn er war sechsunddreißigjährig als einfacher Landsturmmann in der frontnahen Etappe, wohin sich allenfalls eine Granate verirrte, mit landwirtschaftlichen Aufgaben betraut gewesen.
Hätte mein mir unbekannt gebliebener Großvater August (er war schon am 28. Februar 1908 mit 64 Jahren gestorben) nicht den kleinen Nachbarhof dazugekauft, dann wäre der Gruhlsche Hof auch nur eine »Einpferdewirtschaft« geblieben wie die meisten des Ortes.
Dessen eigenartig klingender Name muß nun genannt werden: Gnaschwitz. Mit -witz und -litz und -ritz enden unzählige Dorfnamen in der Oberlausitz. Diese Silbe muß wohl wendischen Ursprungs sein, obwohl die Dörfer in der wendischen Sprache doch wieder anders genannt werden; so hieß Gnaschwitz <Hnasecy>. Unser Dorf war ein typischer »Rundling« und ist es heute noch. Dies wurde für eine slawische Siedlungsform gehalten, bis wir dann in der Schule hörten, daß im Kampfgebiet sowohl Slawen als auch Deutsche solche Rundlinge bauten, weil diese sich am besten verteidigen ließen.
Meine Heimat liegt bekanntlich in einem Raum, welchen die Slawen in den Jahrhunderten der Völkerwanderung besetzt hatten, denn sie waren westwärts bis zur Elbe und Saale vorgedrungen. Erst die ostwärts drängenden deutschen Siedler des 12. und 13. Jahrhunderts vertrieben die Slawen teilweise, teils unterwarfen sie diese oder vermischten sich mit ihnen. Entlang der Spree hielt sich nur ein geschlossenes Siedlungsgebiet der Wenden oder Sorben, das von Bautzen nach Norden bis in den Spreewald reicht.
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<Gnaschwitz> liegt fünf Kilometer südwestlich von Bautzen, an der damaligen Sprachgrenze, soweit man von einer Grenze sprechen darf, denn im allgemeinen sprach man dort beide Sprachen, die deutsche und die wendische. Ich ziehe die damals geläufige Bezeichnung wendisch vor, denn erst nach 1945 wurde das Wort sorbisch gebräuchlich.
Unser »Rundling« ist, genau betrachtet, eher ein Dreieck, gebildet von vierundzwanzig Bauernhöfen, mit einem kleinen Dorfteich in der Mitte. Dorthin richten im Radius von wenig mehr als einhundert Meter die Wohnhäuser auch heute noch ihre steilen Giebel; einzig und allein unser Wohnhaus steht mit der Traufe zum Dorfmittelpunkt. Innerhalb des Dreiecks befinden sich nur vier Gebäude: die alte und die neue Schule und, durch den Bach von dieser getrennt, das Gasthaus mit dem Kolonialwarenladen — so bezeichnete man damals das einzige Lebensmittelgeschäft mitten im Ort.
Wie klein das Bächlein ist, das sich in der Ortsmitte zum Teich verbreitert, geht schon daraus hervor, daß sein Name nie ganz eindeutig festgelegt worden ist; manche nannten es »Gnaschwitzer Wasser«, andere aber »Techritzbach«, nach dem zweiten Ort, den der Bach durchfließt, bevor er in die Spree mündet. Womit schon sichtbar wird, daß Gnaschwitz mit der deutschen Hauptstadt seit jeher direkt verbunden war; allerdings mit dem Unterschied, daß das Wasser, welches die Berliner aus unserer Gegend bekommen haben, immer schmutziger geworden ist. Die von Bäumen umsäumte Spree bot uns damals die einzige Bademöglichkeit, wenngleich das Wasser manchmal nicht mehr gut roch. Doch heute ist auch dieses Vergnügen längst dahin.
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Mein Heimatdorf liegt in einer leichten Mulde. Vor kaum einem der Bauernhöfe fehlte ein hoher Laubbaum, einige Obstbäume waren selbstverständlich. Sie standen in den mit Lattenzäunen eingefriedeten Gärten, worin die Gemüsebeete die Blumen zumeist an die Ränder verwiesen. Einen größeren Obstgarten besaß jeder Bauernhof, ebenfalls holzumzäunt, auf seiner Rückseite hinter der querstehenden Scheune. Dahinter begannen die sanft ansteigenden fruchtbaren Äcker. Vier weitere Bauernhöfe lagen hinter der Peripherie des Rundlings, dazu an die zehn Wohnhäuser, die sich Arbeiter und Angestellte bereits vor und nach dem Ersten Weltkrieg erbauten, wozu damals eiserne Sparsamkeit nötig gewesen war. Für die meisten blieb das eigene Häuschen ein Traum.
Die zwei Schulgebäude samt der Wohnungen für die drei Lehrerfamilien standen unmittelbar vor unserem Hof. An die Einweihung des Schulneubaus kann ich mich gut erinnern, da sie mit einem Schulfest verbunden war. 1926 war dieser hohe Anbau mit zwei übereinanderliegenden Klassenzimmern errichtet worden, mit einem blau geschieferten Uhrtürmchen auf dem roten Ziegeldach. Die vier weißen Ziffernblätter gaben uns zusammen mit dem Glockenschlag die Zeit während der Feldarbeit an. Die einzige Taschenuhr, welche die Bauern damals bestenfalls besaßen, war zu wertvoll, um zur Feldarbeit mitgenommen zu werden. Zur Mittagszeit aber, pünktlich um zwölf Uhr und am Abend, eine Stunde vor Sonnenuntergang, verkündete die Glocke unserer kleinen Friedhofskapelle die Zeit weit hörbarer. Der kupfergrüne Spitzturm dieser Kapelle am Ortsrand ist bis heute trotz seiner bescheidenen zwölf Meter das zweite Wahrzeichen unseres Dorfes geblieben. Die Glocke zog damals der Gemeindediener mit der Hand, und wir Kinder nannten ihn deshalb, weil er August hieß, den »Bimm-Bamm-August«.
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Allerdings waren schon schrille »Signale der neuen Zeit« auch in unserem Dörfchen vernehmbar. Werktäglich um neun Uhr wurde in den großen Granitsteinbrüchen von Demitz-Thumitz, nahe Bischofswerda, eine Serie von Sprengungen ausgelöst. Dies geschah mit dem gleichen Dynamit, das in der Pulverfabrik Gnaschwitz hergestellt wurde und dessen genau dosierte Wirkung man ebenfalls täglich um 15.45 Uhr mittels einiger Probeexplosionen zu kontrollieren pflegte.
Da diese Fabrik an der Spree, also nur einen Kilometer vom Dorf entfernt lag, donnerte ganz aus der Nähe das Industrie- wie das Kriegszeitalter gleichermaßen in unseren Ohren. Einigen Lärm verursachten neben der Schmiedewerkstatt die Pferdefuhrwerke. Man merkte am Klappern der Hufe, ob ein Einspänner oder ein Zweispänner nahte — und am Geräusch des hölzernen Wagens sogar in vielen Fällen, welcher Bauer das sein konnte. Um so feierlicher war dann die Stille des Sonntags.
Musik gehörte zu den ganz seltenen Erlebnissen. Nur bei den wenigen Festen im Freien marschierten Blaskapellen auf. Bei uns zu Hause konnte man allerdings seit Weihnachten des Jahres 1929 die Töne eines Klaviers hören, das für meinen Bruder Gerhart gekauft worden war. Obwohl er darauf kein großer Meister wurde, hat doch das Klavierspiel seitdem für mich etwas Anheimelndes bewahrt.
Sonst waren nur die Konzerte der Vögel zu hören. Die Schwalben zwitscherten im Hof, und draußen über den Feldern stiegen unzählige Lerchen trillernd in die Lüfte, besonders wenn der tauduftende Morgen anbrach.
Unser Dorf war eine in sich geschlossene Welt. Von den fünfhundert Einwohnern kannte jeder jeden beim Namen und wußte alles Wesentliche über die Familien und mancher noch ein bißchen mehr. Menschliche Schicksale wurden da unmittelbar miterlebt. Nach und nach lernten Kinder die Welt kennen, während sie heute die Kenntnisse vor aller Erfahrung aus dem Fernsehen beziehen.
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Damals war es schon ein enormer Fortschritt, als unser Dorf 1926 eine Omnibusverbindung zwischen Bautzen und Neukirch bekam. Das Vorbeifahren des Busses blieb lange eine Sensation für uns Kinder, die es nicht zu verpassen galt. Denn sonst kreuzten nur einzelne Autos und einige Motorräder den ereignisarmen Ort. In ihm gab es bis zum Zweiten Weltkrieg nur zwei Personenkraftwagen: den des Schmiedes und Landmaschinenbauers Lehmann und den des Lehrers Picha, der sich außer seinem Opel-Kadett dann sonst nichts mehr leisten konnte. Unser aller Verkehrsmittel war das Fahrrad, dessen Benutzung ich sehr früh erlernte, und dies blieb noch viele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg so.
Was über den vom Auge erfaßbaren Horizont hinausging, zählte schon zur unbekannten Ferne. Im südlichen Halbrund erhoben sich die sanft geschwungenen bewaldeten Höhen des Lausitzer Berglandes. Aus unseren Stubenfenstern sah man die vordersten der meist bläulich schimmernden Kuppen und sogar deren höchste, den Valtenberg, mit seinen 586 Metern in der Ferne. Vom Obstgarten hinter unseren beiden Scheunen erblickte man im Norden am Horizont die fünf spitzen Türme und die Burg der Stadt Bautzen. Davor wurde das Grün der welligen Wiesen und Felder von vielen Baumgruppen locker unterbrochen.
Unser grasiger Obstgarten mit Apfel-, Birnen- und Pflaumenbäumen neigte sich hinter der Scheune sanft zum Techritzbach hin. In diesen heimeligen Garten, wo nur das Rauschen der Bäume zu hören war, flüchtete ich mich oft in die Träume der Kinder- und Jünglingstage. Auf einer ausgebreiteten Pferdedecke las ich dort manches Buch oder sah den weißen Wolken nach, wenn sie über den blauen Himmel zogen.
Nach Bautzen kam ich als Kind nicht sehr oft. Dort war alles anders als auf unserem Dorf. Die Häuser ragten bis zu vier Stockwerken hoch! Und wie viele Geschäfte gab es da! Autos fielen allerdings damals kaum ins Gewicht; dafür gab es noch viele Pferdefuhrwerke, vor allem aber ein Gewimmel von Menschen!
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Sie waren so gekleidet, als hätten sie alle Tage Sonntag! Bei uns auf dem Dorf wurden jedenfalls die »guten Sachen« nur an Sonn- und Feiertagen angelegt. Mein Vater äußerte wiederholt seinen Grundsatz: Wer mit der Hand arbeitet, der darf wochentags getrost in schmutziger Kleidung herumlaufen, wer aber einen sauberen Beruf ausübt, der hat sich gefälligst dementsprechend anzuziehen. Letzteres konnte in unserem Dorf eigentlich nur die Lehrer betreffen. Zwei von ihnen trugen während des Unterrichts allerdings lange Kittel, um den Anzug zu schonen, der eine einen weißen, der andere einen braunen, was aber keine politische Demonstration darstellen sollte.
Unsere Kreisstadt Bautzen feierte im Jahre 1933 ihr tausendjähriges Bestehen über eine Woche lang. Am ersten Sonntag fand ein riesiger Umzug statt, in welchem die Geschichte unserer Heimat seit den Germanen durch Menschen in den Kostümen und Trachten der vergangenen Jahrhunderte dargestellt wurde. Dabei fehlte weder Friedrich der Große (verkörpert durch den Schauspieler Otto Gebühr) mit seinen Soldaten noch Napoleon auf seiner Flucht aus Rußland.
Am stärksten beeindruckt hat mich aber die Aufführung eines historischen Dramas im Burghof, das in den Hussitenkriegen spielte. Die Hussiten waren kriegerische Haufen, die sich um die Anhänger des 1415 in Konstanz verbrannten tschechischen Reformators Hus geschart hatten. Sie überzogen auch die Oberlausitz mit ihren Raubzügen und belagerten wochenlang Bautzen. Der Stadtschreiber Peter Preischwitz schoß ihnen heimlich Pfeile mit Nachrichten über die Spree. Dieser gemeine Verräter wurde schließlich entlarvt und erhielt seine verdiente Strafe. Er wurde »gevierteilt«, was besagt, daß vier Pferde an Händen und Füßen angespannt wurden, die seinen Körper auseinandergerissen haben.
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Alles in allem reizte mich die geschäftige Stadt nicht sehr. Weit stärker wurde meine Phantasie von den bewaldeten Bergen beflügelt, worüber die Gedanken beschwingt in die Ferne schweifen konnten. Da war zum Beispiel der Kirchweg nach Gaußig: erst eine halbe Stunde durch Felder auf einer von Apfelbäumen gesäumten Straße (entlang aller Wege wuchsen Apfelbäume, die den scharfen Wind entlang der Berge am besten vertrugen), dann durch kleine Wäldchen, zwischen denen ein Bächlein murmelte, und vorbei an den Häusern von Golenz, bis der Schloßpark erreicht war. Hinter seinem Eisengitterzaun standen die größten und ältesten Bäume weit und breit, und das weiße Schloß schimmerte nur flüchtig durch das Grün. Die schmucklose gotische Kirche erschien uns Kindern sehr groß und vor allem hoch. Sowohl die Töne der drei Glocken wie die der Orgel versetzten die Seele in eine weihevolle Stimmung, die noch auf dem Heimweg anhielt.
Viele Jahre später erinnerten mich Verse von Stefan George an meinen Aufbruch ins Leben:
So begannst du mein tag:
Von verheissungen voll
Aus dem kindlichen tale
Ein jauchzen erscholl.Karges Brot und seltene Feste
Aus welch bescheidenen Verhältnissen schwang sich die kindliche Phantasie empor! Um davon einen Eindruck zu bekommen, muß man einiges über die »Speisekarte« eines Bauernhofes zwischen den beiden Weltkriegen wissen. Dabei lag unser Dorf keineswegs in einer rein ländlichen, sondern in einer nach damaligen Begriffen schon beträchtlich industrialisierten Region.
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Zum Frühstück gab es tagaus, tagein eine Mehlsuppe, das heißt Roggenmehl mit Milch aufgekocht, danach Bratkartoffeln mit Speck gebraten. Zum Abendbrot gab es wieder Bratkartoffeln und danach Milch mit hineingeschnittenen Brotstückchen als Suppe. Der Unterschied zwischen den Bauern im Dorf bestand darin, daß die ärmeren oder auch sparsamen bis geizigen der Mehlsuppe etwas Wasser zugossen und den Bratkartoffeln weniger Speck beitaten. In aller Regel aß die Bauernfamilie samt Knecht und Magd aus einer Schüssel und aus einer Pfanne.
Größere Unterschiede in den Gerichten gab es dann schon beim Mittagessen, das nur an wenigen Tagen der Woche aus Fleisch, Kartoffeln, eventuell auch Gemüse, öfter aber nur aus Pellkartoffeln mit Butter oder Fett, bestenfalls mit einem Hering, bestanden hat. Die »Dienstboten«, auch so wurden sie damals tituliert, wählten ihren Arbeitgeber oft nach den Gesichtspunkten der Verpflegung; denn es sprach sich schnell herum, bei welcher Bauersfrau es etwas reichlicher zuging.
Die Bezahlung in Reichsmark war überall bescheiden und die Arbeit schwer, vor allem lang: zwischen fünf und sechs Uhr morgens bis neunzehn oder zwanzig Uhr und noch länger — ohne eigentliche Mittagspause. Eine Zwangspause von jeweils einer Viertelstunde entstand durch das zweite Frühstück und die Vesper am Nachmittag. Dabei verzehrte man unvorstellbar dicke Schnitten, die man dort »Bemmen« nannte, mit Butter oder Schweinefettaufstrich, dessen Stärke wiederum etwas größeren Wohlstand oder auch Großzügigkeit der jeweiligen Bauersfamilie demonstrierte.
Die besonders schweren Erntearbeiten wurden schon mal mit zusätzlichem Wurstaufstrich — jedenfalls bei uns — belohnt. Dazu gab es immer einen »Kaffee« aus selbstgebrannten Roggenkörnern, die dann zermahlen wurden. Da diese beiden Zwischenmahlzeiten sehr oft draußen, auf dem Feldrain sitzend, eingenommen werden mußten, wurden die Kaffeekrüge aus Ton oder Blech so verpackt, daß er zumindest noch lauwarm blieb.
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Jeder Sonntag aber war ein kulinarischer Festtag — sicherlich nicht in jedem Haushalt, aber bei uns! Früh gab es Brötchen mit Butter. Mittags eine Suppe für jeden auf seinem eigenen Teller, dann ein gutes Fleischgericht mit Gemüse oder Salat — und zum Nachtisch noch Kompott oder gar Pudding. Nachmittags gab es wieder Brötchen mit Butter und richtigen Bohnenkaffee. Seit jener Zeit rechne ich den Bohnenkaffee zu den Genüssen dieser Erde.
Aber dann erst das Abendbrot! Da wurde zum üblichen Roggenbrot mit Butter auch Wurst aufgetischt, nicht nur aus der Hausschlachtung, sondern manchmal verschiedene Sorten, von einem richtigen Fleischer gekauft; manchmal zwei Eier pro Person, dann allerdings keine Wurst. Dazu wurde Milch oder Saft oder gar eine Flasche Bier je Person getrunken. Gerade weil ich sehr viele von den warmen Speisen nicht mochte, war das kalte Abendbrot am Sonntag der Höhepunkt der Woche.
Ich erinnere mich noch an das erste Kindergottesdienstfest in Gaußig zu Beginn meiner Schulzeit. Der Graf Schall-Riaucour hatte eine große Wiese in seinem Park zur Verfügung gestellt. Wir zogen an seinem weißen Schloß vorbei und ließen den Grafen hochleben, als er sich an einem der großen Fenster zeigte. Ich hatte mir einen Grafen anders vorgestellt, denn er war klein gewachsen und sah etwas dicklich aus. Im übrigen beneidete ich ihn nur um eines: Er würde es sich vermutlich leisten können, jeden Tag ein solches Abendbrot einzunehmen, wie es mir nur am Sonntag vergönnt war!
Auf der Kletterstange — ein guter Kletterer war ich früh — holte ich mir dann ein Würstchen herunter. Zu solchen Festen im Freien, auch der Schule und des Turnvereins, die jährlich nur einmal stattfanden, bekam ich 50 Reichspfennige mit; die reichten für ein Paar Würstchen und eine Fischsemmel, wie wir das nannten, sowie für eine Karussellfahrt. Wenn es dunkel wurde, endete das Fest für die Kinder mit einem Lampionumzug.
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Wenn ich schon das karge Brot jener Tage beschreibe, dann dürfen die Festtage nicht vergessen werden. Das waren: Weihnachten, Ostern, Pfingsten, Erntedank- und Kirchweihfest. Zu diesen Festen wurde in unserem eigenen Backofen gebacken. Große runde Kuchen von etwa fünfzig Zentimeter Durchmesser: Streuselkuchen, Quarkkuchen, Mohnkuchen, Zuckerkuchen, im Herbst auch Apfel- und Pflaumenkuchen und zur Weihnachtszeit außerdem noch Stollen. Mein Vater rührte den Teig in einer großen Wanne, während die Frauen die leichteren Arbeiten verrichteten. Ich kostete schon laufend hier und da etwas. Dann entfachte mein Vater ein Feuer im Backofen mit Riesenscheiten, die hell aufloderten und funkensprühend krachten. Wenn sie abgebrannt waren, reichte die Hitze, daß ein Schub von zwölf solch großer Kuchen gebacken werden konnte und noch ein zweiter Schub. Sie wurden dann im Hausflur auf Stroh gesetzt, bis sie abkühlten. Das ganze Haus duftete noch tagelang nach frischem Kuchen, der nicht nur an den Festtagen, sondern noch Wochen danach gegessen wurde. Gab es eine Hochzeit, dann war es auch üblich, den Nachbarn und Verwandten beträchtliche Kuchenpakete zu bringen.
Mit alledem schaffte ich es, mich immer wieder durchzufüttern, obwohl ich die alltäglichen Speisen zum großen Teil verschmähte. Dennoch blieb ich ein etwas zu zartes, blasses Kind, was man damals als »blutarm« bezeichnete. Ja, es kam so weit, daß sich meine Mutter ernstlich um meine Gesundheit sorgte. Das brachte mir einige Privilegien auf der »Speisekarte« ein, die anderen nicht zugestanden worden wären. So durfte ich mir jeden Morgen einen Milchkakao zubereiten, wozu ich Brot und Butter aß. Das Brot, das mir damals gar manches verschmähte Mittagessen ersetzt hat, ist seither stets mein Hauptnahrungsmittel geblieben. Die ausgesprochene Leidenschaft meiner Kinder- und Jugendjahre für wohlschmeckende Gerichte ist seither beträchtlich abgeklungen, obgleich ich einer guten Mahlzeit auch heute nicht abgeneigt bin.
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Das schönste Fest im Jahreslauf war wohl die Kirmes Ende Oktober. Da gab es am Sonntag und am Montag, dem zweiten Festtag, nicht nur erlesene Gerichte, sondern auch die Besuche der vielen Verwandten, von denen wir sonst wenig hörten. Weil noch zwei Brüder und zwei Schwestern meines Vaters, andererseits drei Schwestern und zwei Brüder meiner Mutter lebten, die in der Regel zwei bis fünf Kinder hatten, kam selbst dann eine ansehnliche Gästeschar zusammen, wenn nur ein Teil der Geladenen erschien. Sie fuhren in Kutschen vor, die bis in die dreißiger Jahre die repräsentativen Fahrzeuge der Bauern blieben. Wir selbst besaßen zwei davon: Eine Kutsche für solche Besuche, doch häufiger benutzt für die Fahrt zum Bautzener Wochenmarkt und auch für die Kirchfahrt nach Gaußig — während für die Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen ein ganz schwarzer, glänzender Landauer diente, beinahe schon ein Prunkgefährt, in dessen weichen Polstern man tief einsank.
Neben den festlichen Menüs waren für mich die Gespräche der Erwachsenen am interessantesten. Sie kramten in ihren Erinnerungen aus Kriegs- und Vorkriegszeit, sprachen aber auch über ihre gegenwärtigen Sorgen und selbstverständlich von Gedeih und Verderb ihrer Landfrüchte wie ihres Viehs. Dieses blieb von Seuchen nicht verschont; ich selbst erinnere mich noch an eine schlimme Maul- und Klauenseuche sowie an eine große Mäuseplage in den dreißiger Jahren. Einer meiner Vettern hatte bereits in den zwanziger Jahren seinen Hof auf die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise umgestellt, worauf er allgemein etwas herablassend als ein Sonderling dargestellt wurde.
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Doch zum Verständnis der Situation ist zu sagen, daß die damalige Düngung mit gekauften Stickstoffen, Phosphaten und Kali lächerlich gering gewesen ist, während die unzähligen chemischen Bekämpfungsmittel heutiger Tage noch nicht einmal existierten. Im übrigen hatte man dringendere Sorgen; denn viele Bauern waren in Schulden geraten, und einige hatten ihre Höfe aufgeben müssen, wenn auch nicht in unserer Verwandtschaft. Dennoch ließ man sich die wenigen Festtage nicht nehmen, obwohl sie besonders für die Frauen mit viel zusätzlicher Arbeit verbunden waren.
Wenn schließlich am Montagabend die letzte Kutsche davongefahren war, und die Stille mit der Dämmerung in die geleerten Stuben einkehrte, dann überkam mich immer eine tiefe Traurigkeit, von der ich nicht zu sagen wüßte, ob dabei die schmerzliche Wehmut oder ein mit ihr verwobenes wohliges Gefühl überwog. Die Ursache mag in der Ungewissen Situation jedes Abschieds gelegen haben, in der man nie wissen kann, ob eine Wiederkehr oder ein »niemals mehr« bevorsteht. Solche Phasen der Wehmut überwältigten mich des öfteren, ohne daß ich den Anlaß zu ergründen vermocht hätte. Später erfuhr ich, daß die Liebe von Gefühlen ebensolcher Art begleitet wird — vor allem zu der Zeit, wo sie noch bangt, erkannt zu werden.
Bald nach der Kirmes nahte der Winter, und die Vorfreude auf das Weihnachtsfest begann. Da gab es viel Schnee, den der Südwestwind zu uns blies. Ich habe nie wieder eine Landschaft erlebt, wo ein derart heftiger Wind an so vielen Tagen des Jahres über die Ländereien fegte und im Winter den Schnee vor sich hertrieb. War die Winterluft aber ruhig, dann stiegen die Rauchsäulen aus allen Essen kerzengerade zum blauen Himmel empor, wie mir das von einem eiskalten sonnigen Weihnachtsmorgen in Erinnerung geblieben ist. Die Bescherung geschah nach alter Sitte am Weihnachtsmorgen. Es gehörte zum gewohnten Ritual, daß mich mein Vater mit den Worten weckte: »Herbert, der Ruprecht ist dagewesen!«
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Es waren aus heutiger Sicht ein paar Kleinigkeiten, die uns glücklich machten: Jeder erhielt einen Teller voll mit Gebäck und Nüssen sowie einer Tafel Schokolade, die Kinder ein paar Spiele oder Bücher, teils solche, die sie sich gewünscht hatten, dazu noch dieses oder jenes Kleidungsstück, das ohnehin nötig geworden wäre. Ich bekam jede Weihnacht einen Stabilbaukasten, bestehend aus durchlöcherten Metallstäben, -rädern und Schrauben, womit ich auch eigene Konstruktionen erfinden konnte. Diese technischen Baukästen, jährlich um einen vermehrt, füllten viele kindliche Tage aus.
Ein ganz außergewöhnliches Geschenk und darum eine gelungene Überraschung war es, als ich nach Vollendung des vierzehnten Lebensjahres ein Fahrrad unter dem Christbaum vorfand, sogar mit dynamogetriebener Beleuchtung. Ich war schon seit sieben Jahren fleißig gefahren, aber mit dem Damenfahrrad meiner Schwester, das zufällig frei geworden war. Denn um 1927 mußte bei uns irgendwie ein vorübergehender Wohlstand ausgebrochen sein, weil fünf Fahrräder angeschafft worden waren — sogar eines für meine Mutter, die aber dann das Fahren nicht mehr erlernen mochte. Seitdem waren mir alle Besorgungsfahrten aufgetragen worden: am häufigsten zum Bäcker, oft zum Schuster und manchmal nach Bautzen.
Aber auch ohne Ziel herumzufahren machte mir jederzeit Spaß.
Der Kreislauf des Jahres
Was wir zu tun und zu lassen hatten, wurde von der Natur und der Jahreszeit bestimmt. Der Winter brachte weniger Arbeit, dafür aber andere Erschwernisse. Der Wind blies den Schnee über die kahlen Felder zu hohen Wehen zusammen, wodurch die Straßen unpassierbar wurden. Diese mußten von den Männern des Dorfes freigeschaufelt werden, denn die damaligen Schneepflüge schafften die Räumung nicht.
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Der grimmigste Winter meines ganzen bisherigen Lebens war der von 1928/29, also während meines ersten Schuljahres. Die Flüsse und Seen froren zu meterdickem Eis, und eine ansteckende Grippewelle mit vielen Todesfällen durchquerte Europa. Auch die Bewohner unseres Dorfes wurden buchstäblich in die Betten geworfen, unsere Familie nicht ausgenommen. Nur meine damals achtzehnjährige Schwester hatte die Grippe nach einem Tag überwunden, obwohl gerade ihr Federbett vor dem Gesicht jeden Morgen vom nächtlichen Hauch ihres Atems hart gefroren war, denn sie schlief im kältesten Zimmer.
Mein Vater kam nach drei Tagen wieder auf die Beine, und ich schaffte es nach einer Woche. Wir nahmen damals kaum Medikamente, weil diese sehr teuer waren, dagegen viele Sorten von Haustee. Ich erinnere mich noch heute, an den Tagen nach Verlassen des Bettes in einer vorher nie erfahrenen Hochstimmung gewesen zu sein. Und ich vergesse nicht, daß in jenen Wintertagen ausnahmsweise Apfelsinen gekauft wurden, weil das ein einmaliger Genuß gewesen ist.
Schließlich schmolzen auch die höchsten Schneewehen in der alljährlichen Frühlingssonne, und die Pflanzen ergrünten und erblühten alsbald. Wie bunt waren doch die Wiesen damals! Und der Duft der Gräser entfaltete sich gerade dann am vollsten, wenn sie gemäht wurden. Ganz anders ist dann der Geruch des Heues; daran erkennt man, ob es noch feucht oder schon ganz trocken ist. Ein eigenartiges Aroma verströmt der grüne Klee, zumal dann, wenn er in der Frühe gemäht wird.
Eine jede Getreidesorte erkennt man leicht am Geruch des Strohs und auch an dem der Körner. Der Strohduft erinnert mich stets an die brütende Hitze der Erntezeit — wie die Kartoffeldüfte mit dem Herbst verbunden bleiben, in welchem der Brandgeruch des lodernden Kräutichts über das schon kahle Land zog. So konnte man Dutzende von Pflanzen an ihren Düften erspüren, auch wenn sie nicht zu sehen waren.
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Weniger angenehme Gerüche gehen von Tieren aus. Oder liegt das daran, daß sie so gehalten werden, wie es ihrer ursprünglichen Natur sicher nicht entspricht? In den Ställen stinkt ihr Kot, den sie strohtretend in den begehrten Mist verwandeln. Wie bei den Pflanzen kann jede gesunde Bauernnase den Mist von Rindern, Schweinen, Ziegen, Schafen, Pferden, Hühnern und Gänsen sofort erkennen.
Das große Ausmisten der Ställe alle vier bis sechs Wochen war nicht nur eine stinkige, sondern auch höchst anstrengende Arbeit, die mein Vater gar nicht so gern, aber dennoch zum großen Teil selbst verrichtete. Mit einem Misthaken rollte er die aus dem Stroh entstandenen dicken Mistfladen zusammen und zog die feuchten schweren Rollen durch die Tür zum Mistwagen. Dort belud eine Person mit der Gabel einen Wagen, während der zweite Wagen im Wechsel vom Kutscher aufs Feld gefahren und die Ladung dort reihenweise in Häufchen heruntergeharkt wurde. Ein gesonderter Arbeitsgang war an den folgenden Tagen das »Mistbreiten«, das heißt gleichmäßiges Verstreuen der Haufen über das Feld, in das der Mist dann eingeackert wurde.
Hier schloß sich der Kreislauf der Natur, denn der Mist bildete die wesentliche Grundlage zur Düngung der Pflanzen, von denen sich dann die Tiere wie die Menschen wieder ernährten. Auf damaligen Bauernhöfen blieb nichts ungenutzt. Das gesamte Stroh wurde restlos verwertet. Das weiche Stroh des Hafers, zum größten Teil auch das härtere des Weizens, wurde ohnehin von den Tieren gefressen, nachdem es vorher gehäckselt, das heißt mit einer elektrisch betriebenen Maschine in kurze Stückchen geschnitten, und dann mit zerkleinerten Rüben vermischt worden war.
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Auch die gesamte Spreu, die beim Ausdreschen der Ähren anfiel, wurde aufgekocht und mit Kleie vermischt als »warmes Gericht« den Rindern in die Krippen geschüttet. Die Kleie fiel beim Mahlen der Körner in der Mühle an, wo Hafer sowie alle minderwertigen Körner der anderen Getreidearten zu Futterschrot zermahlen wurden, von dem sich auch die Schweine ernährten. Unser Müller betrieb seine Mühle an einem kleinen Bach, vier Kilometer entfernt, in Katschwitz; Windmühlen waren in der Oberlausitz selten.
In unserem Kuhstall standen in der Regel zehn schwarzweiße Kühe an langen Ketten. Eine jede hatte ihren Namen wie Anne, Grete, Suse, Martha, aber auch solche wie Schwarze, Weiße, Schecke, Blesse und dergleichen. Sie hatten nichts weiter zu tun als möglichst viel Milch zu geben und hoffentlich jährlich ein Kalb zu werfen, manchmal auch Zwillinge, ganz selten mehr - also Abweichungen in der gleichen Häufigkeit wie bei Menschen auch. Die handgemolkene Milch wurde morgens und abends durch die handgetriebene Zentrifuge gedreht, die ich auch als Kind schon ab und zu »leiern« mußte, wie wir damals sagten. Die Magermilch bekamen die größeren Kälber und die Schweine, während die im Keller aufbewahrte Sahne am Freitag jeder Woche in einem großen Faß »gebuttert« wurde.
Zwei Personen waren nötig, um das Butterfaß mit der Sahne über eine halbe Stunde lang hin und her zu stoßen, wozu ich ebenfalls schon in frühen Jahren eingespannt wurde. Die dabei entstandene Buttermilch schmeckte gut, ebenso die aus ihr gebackenen Buttermilch-Plinsen, die es öfters am Freitag als Mittagsmahlzeit gab. Für die Butter hatten wir eine Stammkundschaft von ungefähr zehn Familien, die sich ab Freitagmittag ihre Butter abholten.
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Wenn zufällig viele Kühe in unserem Stall »trocken standen«, was etwa acht Wochen vor dem Kalben unvermeidlich ist, dann hatte meine Schwester große Mühe, die begehrte Butter den Familien möglichst gerecht — unter Berücksichtigung ihrer Kinderanzahl zum Beispiel — zu kürzen; denn Butter war einer der wenigen Artikel, die schon vor dem Krieg knapp geworden waren. Doch kurz vor dessen Beginn wurde die zwangsweise Ablieferung der gesamten Milch an die Molkereien eingeführt, womit ein gutes Stück aus dem Kreislauf eines Bauernhof' herausgebrochen war.
Im ganzen gesehen war ein Bauernhof bis dahin mit seinen Pferdestärken und Menschenkräften immer noch ein fast in sich geschlossenes Ökosystem geblieben. Weder von arabischen Erdölquellen noch von der städtischen Industrie abhängig hätten seine Bewohner über Jahre hinweg vom eigenen Grund und Boden und von der Energie der Sonne leben können. Wir hatten zwar elektrischen Strom, aber der Betrieb wäre ohne diesen nicht gleich zusammengebrochen. Der Zukauf umfaßte vor dem Zweiten Weltkrieg im wesentlichen die Kleidung und das Schuhwerk. Während der Woche liefen wir alle in Holzpantoffeln, die man bei uns »Holzlatschen« nannte, und im Sommer meistens barfuß. Schuhe zog man allenfalls für den Schul- und Kirchgang an.
In allen Dingen herrschte größte Sparsamkeit. Das Geld war sehr wertvoll in jener Zeit, in der es noch wandernde Bettler gab. Das waren ältere Männer, die sich immerzu »auf der Walz« befanden, darum wurden sie auch »Handwerksburschen« genannt, obwohl sie kaum je daran dachten, ein Handwerk auszuüben. Sie klopften in regelmäßigen Abständen wieder an. Bei uns bekamen sie grundsätzlich zwei Pfennige. Wenn ich allein zu Hause war, dann durfte auch ich ihnen die zwei Pfennige aushändigen, denn der Teller mit den Kupfermünzen stand immer im Schrank bereit. Meine Mutter argumentierte: Zwei Pfennige in fünf Häusern, dafür bekommt er schon zwei Semmeln! Und die waren tatsächlich viel größer als die heutigen.
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Um die Mittagszeit fragte schon mal einer, ob noch etwas vom Essen übrig sei, dann bekam er auch von dem, was wir aßen. Sie fragten natürlich nur dort, wo sie aus Erfahrung mit einem schmackhaften Gericht rechnen konnten. Geredet wurde so gut wie nichts, sie bedankten sich sehr ehrerbietig und zogen ihres Weges. Die Gemeinden hatten kostenlose Herbergen, die von ihnen ebenfalls turnusgemäß aufgesucht wurden. Außer den Bettlern kamen noch ab und zu Hausierer »aus der großen weiten Welt«, manche ebenso regelmäßig. Etwa ein- oder zweimal im Jahr erschien ein sogenannter »Flohzirkus« und errichtete auf dem Dorfplatz sein Schauzelt. Er bestritt sein Programm nicht mit Flöhen, sondern in der Regel mit Pferden und Menschen und wenigen exotischen Tieren. Dort ging ich selten hin, das interessierte mich einfach nicht genug, um dafür Geld von den Eltern zu erbetteln, was ohnehin nur widerstrebend bewilligt wurde.
Mein Elternhaus
Meine Mutter Helene, geborene Benad, stammte aus dem zwanzig Kilometer entfernten Dörfchen Göbeln, das nur wenige Häuser zählte. Ihr väterlicher Hof, den ihr Bruder bewirtschaftete, entsprach dem unsrigen, war aber dort der einzige größere des Ortes. Er liegt ebenfalls an der Spree in einem Gebiet, in dem nun wirklich Wendisch die Muttersprache war. Meine Mutter beherrschte aber auch die deutsche Sprache vollkommen. Sie war eine fromme Frau mit streng evangelisch-lutherischem Bekenntnis, wie mein Vater, der wenig darüber sprach. Geheiratet haben meine Eltern 1908. Ihr erstes Kind starb bald nach der Geburt, so daß die 1910 geborene Schwester Frieda das älteste von uns vier Kindern war. Von meinen Brüdern Gerhart, geboren 1911, und Walter, geboren 1913, wird noch die Rede sein.
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Während der vier Kriegsjahre hatte die Mutter sowohl Hof und Feld bestellen als auch die drei Kinder versorgen müssen. Allerdings gab es damals die selbstverständliche nachbarschaftliche Hilfe der Bauern, und zu allen Erntezeiten sprangen auch diejenigen ein, die selbst nicht im landwirtschaftlichen Beruf standen.
Meine Mutter war wohl schon seit der Kriegszeit kränklich gewesen, vielleicht auch erst seit meiner Geburt; denn sie hatte damals ihren 45. Geburtstag hinter sich. Aber in dem geschilderten harten Winter von 1929 wurde sie mit der Grippe herzschwach und so nervenkrank, daß ihre Hände bei jedem Anfall flatterten — oder war es manchmal Schüttelfrost? Eines Mittags wurde es so schlimm, daß sie glaubte, ihre letzte Stunde habe geschlagen. Als ich am Nachmittag zur Schule gehen mußte, wollte sie von mir Abschied nehmen, da sie bei meiner Rückkehr nicht mehr am Leben sein würde. Dies stürzte mich derartig in Schmerz und Tränen, daß ich trotz alles Zuredens der anderen den Schulgang verweigerte. Der eiligst gerufene Hausarzt, Doktor Zieschank, kam. Er ist heute mit fast 90 Jahren einer der wenigen Überlebenden jener Zeit, die ich damals als schon Erwachsene kannte.
Nach einigen Stunden trat an jenem Tage Besserung ein. Doch der Arzt blieb auf Wochen unser regelmäßiger Gast und mußte noch einige Male zwischendurch gerufen werden. Nach Jahren hat er geäußert, daß er meine Mutter aufgegeben hatte. Sie wurde auch nie mehr so gesund, daß sie Feldarbeiten hätte verrichten können, was für jede Bauersfrau selbstverständlich war; aber sie versorgte den Haushalt und einen Teil des Viehs. So war es ein Glücksfall, daß meine Schwester Frieda, die schon das Jahr der landwirtschaftlichen Schule in Bautzen hinter sich hatte, in Haus und Stall wie auf dem Feld die Rolle des Mädchens für alles auf sich nahm. Stets kümmerte sie sich darüber hinaus noch um mich und sorgte für die Wäsche meiner zwei älteren Brüder Gerhart und Walter.
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Diese traten zunächst nicht so sehr als Teil der Familie in mein frühes Bewußtsein, da sie schon als Oberschüler im Internat der Landständischen Oberschule in Bautzen wohnten. Sie tauchten jedoch an jedem Wochenende als mit höherem Wissen versehene Vorbilder, aus der Ferne kommend, bei uns auf. Beide waren vom Volksschulleiter auf die Oberschule gelobt worden, wenn auch erst nach sieben Schuljahren. Da nur jeweils ein Kind den Hof erben konnte, bemühten sich die Bauern damals schon, die übrigen Söhne einen Beruf erlernen zu lassen, bei ausreichender Begabung auch einen akademischen. Wenn allerdings gleich zwei studieren sollten, wie bei uns, dann kostete das schon viel von dem wenigen guten Geld, welches aufzubringen meinen Eltern zunehmend größere Mühe bereitete. Mit den Töchtern hatte man es leichter, sie wurden in der Regel »verheiratet«, erhielten allerdings eine angemessene »Ausstattung«.
In den Jahren nach 1929 verfielen die Preise unserer Produkte mehr und mehr. Die Arbeitslosen konnten sich keine Butter leisten und wichen auf Margarine aus. Unsere Hühnereier wurden so niedrig gehandelt, daß meine Mutter oft vorrechnete, wie viele Eier wir verspeisen könnten, wenn wir auf dieses und jenes kaufbare Lebensmittel verzichteten. Das Ei wurde ihre Ersatzwährung.
Noch bitterer war, daß unsere Landprodukte manchmal überhaupt keine Käufer fanden. Die Mutter hatte allerdings ein System entwickelt, nach dem sie in allen Läden Bautzens, in denen sie hin und wieder etwas kaufte, fleißig ihre Butter und ihre Eier anpries. Stolz berichtete sie dann, etwas losgeworden zu sein, oder kam auch schon mal niedergeschlagen mit dem größten Teil ihrer Ware zurück. Manchmal durfte ich sonnabends mit in die Stadt, denn das war der Markttag, und wurde so Zeuge ihres geschickten Handelns. Auf den Verkauf der Weihnachtsgänse verwandte sie die größte Mühe, wobei hin und wieder meine Trägerdienste vonnöten waren.
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Nicht wenige Bauern und auch größere Gutsbesitzer haben in jener Zeit Konkurs anmelden müssen. Es spricht für unser Dorf, daß ein solcher Fall nicht vorkam. Selbst der Traugott Lange, der täglich einige Male von der Arbeit weg in die Gastwirtschaft eilen mußte, um sein »Pullchen« Doppelkorn zu trinken, hielt den Hof mit knapper Not. Doch unsere Lage wurde immerhin so riskant, daß der Vater etwas tat, was ihm beinahe ehrenrührig erschienen sein mochte: er verkaufte zwei kleine Grundstücke als Bauplätze. Das war sein Tribut an die damalige Weltwirtschaftskrise und ein Opfer für die studierenden Söhne.
Mein Vater war ein kleiner schmächtiger Mann, der in seiner Arbeit voll aufging. Er hielt es zweifellos für seine höchste Pflicht, den Hof in Ordnung zu halten und ihn so an einen seiner Söhne weiterzureichen, wie er ihn von seinem Vater übernommen hatte. Im Übergabeprotokoll stand dann auch: »Der Augenschein beweist, daß hier mit Lust und Liebe gewirtschaftet wurde.«
An den Ecken der Felder, wo der Pflug nicht hinkam, hackte er die Scholle mit der Hand bis auf den letzten Quadratzentimeter. Neuerungen gegenüber war er stets aufgeschlossen. Er kaufte die Maschinen, die für einen so kleinen Hof gerade noch zu verantworten waren, darunter 1929 die erste Melkmaschine weit und breit. An Düngemitteln streute er maßvoll und mit der Hand: Stickstoff, Phosphat und Kali, wie es Justus Liebig empfohlen hatte. Das hinderte die im herrlichen Blau leuchtenden Kornblumen und den blutroten Mohn nicht an der Verbreitung über Getreidefelder und Feldraine. Bereits gegen Ende der zwanziger Jahre hatte mein Vater unter den Bauern dafür gesorgt, daß die Flurbereinigung in Gang kam, die unsere dreißig Feld- und Wiesenschläge auf zehn entsprechend größere reduzierte. Einige Jahre lang war er auch Mitglied des Gemeinderates gewesen.
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Es ist wahrscheinlich, daß mein Vater der einzige Bauer des Dorfes war, der Bücher las. An den langen Winterabenden und an Sonn- und Feiertagen, auf deren Einhaltung er strikt achtete, nahm er sich außer der Tageszeitung und dem wöchentlichen <Fachblatt für Landwirte> historische Bücher, aber auch Romane und Indianergeschichten vor.
Die einzige Geselligkeit, die sich mein Vater leistete, bestand darin, daß er manchen Sonntagabend »bei Hollans« verbrachte, wie unsere Dorfwirtsfamilie hieß. Sein häufigster Gesprächspartner war dort unser Schulleiter Ernst Voigt. Sie tranken dabei mäßig vom ortsüblichen Bier und Korn und unterhielten sich über den Lauf der Welt. Nach einem solchen Sonntagabend war mein Vater auf dem kurzen Heimweg plötzlich umgefallen, hatte sich aber bald wieder gefangen. Doch zu Hause fiel er erneut in Ohnmacht. Meine Mutter war außer sich und rief: »Er stirbt uns!« Sie holte den benachbarten Schmiedemeister Lehmann, während ich allein bei meinem kalkweißen Vater weinte, der sich nicht rührte. Aber schließlich ging alles ohne Arzt vorüber.
Dieser wurde schon darum nur im äußersten Notfall gerufen, weil er teuer war, und noch teurer konnte die Medizin werden, die er verschrieb. Übrigens schmeckte damals alle Medizin sehr bitter, so daß wir Kinder sie auch nur höchst widerwillig einnahmen. Heute weiß ich, daß Weisheit darin lag, der Medizin den bitteren Geschmack zu belassen, damit der Patient sie nur nahm, wenn ihn eine Krankheit dazu zwang. Die heutige wohlschmeckende Medizin ist ein raffinierter Betrug der menschlichen Sinnesorgane, der den ungehemmten Verzehr solcher Mittel begünstigt, die schließlich nicht mehr zum Wohle des Körpers, sondern vielmehr zum Wohle der pharmazeutischen Industrie eingenommen werden. — Mein Vater war zudem noch stolz darauf, zeitlebens keinen Arzt bemüht zu haben.
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Doch ein Leiden hatte er: Alle zwei Monate, manchmal aber auch erst nach einem halben Jahr, bekam er einen Kopfschmerzanfall, der zwei bis drei Tage dauerte. Da wollte er nichts anderes als ungestört liegen, nur kalte Umschläge durften wir ihm auf die Stirn legen. Er konnte sich nicht erklären, wieso er während der vier Jahre in Frankreich keinen einzigen Kopfschmerzanfall bekommen hatte. Das Bedürfnis meines Vaters, in Ruhe gelassen zu werden, geriet gar oft in Widerspruch zu der Fürsorglichkeit meiner Mutter, die ihn wie uns alle bei Kleinigkeiten mit Haustees, Salben und Umschlägen traktierte — immer fürchtend, daß sich sonst schon aus einem verletzten Finger eine Blutvergiftung oder anderes Schlimmes entwickeln könnte.
Mit mir waren meine zweifellos nicht mehr jungen Eltern sehr nachsichtig — und ich nutzte dies oft über Gebühr aus, wofür ich sie später oft innerlich um Vergebung gebeten habe. Nur einmal habe ich mordsmäßige Schläge bekommen und das ausgerechnet aus ganz nichtigem Anlaß.
Einer unserer zwei Knechte hatte sich eine Spielzeugpistole mit Zündblättchenband gekauft, man nannte das damals Hundertschußpistole. Sie kauften trotz ihres knappen Geldes hin und wieder solch kindische Dinge. Ich war unbändig neugierig auf diese Pistole; doch obgleich ich mich oft in den zusammenhängenden zwei Kammern der Knechte aufhielt und mit ihnen geradezu freundschaftlich verkehrte, weigerte sich Willi, mir dieses Ding auch nur ein einziges Mal in die Hand zu geben. Da schlich ich mich eines Vormittags in deren verschlossene Kammern, nur um mir die Pistole näher zu betrachten.
Ein stets mit Geräten verstelltes Innenfenster zur Treppe bot die Gelegenheit des Einstiegs. Als ich überraschend meinen Vater draußen auf dem Hof hörte, muß ich unbedacht durch das Außenfenster gespäht haben, jedenfalls hatte mich mein Vater sofort erblickt. Gleich darauf schrie er durch das schmale Innenfenster, durch das wohl nur ich Knirps schlüpfen konnte, so wütend wie ich es noch nie von ihm gehört hatte: »Herbert, komm heraus, ich weiß genau, daß du da drin bist!«
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Zögernd sah ich schließlich keinen anderen Ausweg mehr, als mich zu stellen. Noch im Herausklettern bekam ich links und rechts solche Ohrfeigen, daß mir der Schädel brummte. Da es Sonnabend war, mußte mein Vater mit dem Fahrrad nach Bautzen, kam aber vorzeitig zurück. In Gegenwart meiner Mutter wurde ich noch einmal jämmerlich durchgebleut. Ihren Vorhaltungen entnahm ich, daß sie davon ausgingen, ich hätte den Knechten etwas stehlen wollen, was sie als die denkbar verwerflichste Tat ansahen. Ich wußte sehr wohl, daß ich, so wie sich die Sache darstellte, etwas verübt hatte, was meinen Eltern bei ihrer protestantisch strengen Moralauffassung als ein unverzeihlicher Frevel erscheinen mußte. Aber ich konnte mich doch nicht so lächerlich machen und zugeben, daß ich einen Einbruch verübt hatte, nur um ein Kinderspielzeug näher zu betrachten.
Mir wurde da im Alter von wohl neun Jahren eingebleut, daß ich in fremden Kammern nichts zu suchen hatte. Tatsächlich hat niemand den nichtigen Anlaß meines Vergehens erfahren. Da mich die Knechte fragten, warum ich denn so ungemein verdroschen worden sei, konnte ich beruhigt sein, daß auch sie den Grund des »Einbruchs« nicht erfahren hatten.
Mein Vater aber bekam noch am gleichen Tag den geschilderten Kopfschmerzanfall.
Meine Eltern unterhielten sich noch oft in wendischer Sprache, die ich als Kind nebenbei erlernte. Aber wir Kinder wollten Deutsche sein, wir sprachen bewußt nicht mehr wendisch, und in unserer Schule wurde selbstredend nur deutsch unterrichtet. Vater äußerte wiederholt, daß das Wendische nicht zu retten sei. Nach dem Krieg hatte es Bemühungen gegeben, einen selbständigen wendischen Staat in der Ober- und Niederlausitz zu etablieren, mit Anlehnung an die Tschechoslowakei, die das zögernd förderte.
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Ein beträchtliches Hindernis war schon die Tatsache, daß der etwa fünfundzwanzig Kilometer breite Grenzstreifen im Lausitzer Bergland rein deutsch besiedelt war, und überdies das Gebiet jenseits der Grenze auch noch von den Sudetendeutschen. So blieb es bei den wenigen Kundgebungen eines Herrn Bart, welcher gern der »König der Wenden« geworden wäre. Die Deutschen hatten mit dem Slogan geantwortet »Ob Bart denn wirklich Wende ist? Denn Broda heißt er nicht!« (Broda lautet das wendische Wort für den Bart.)
Andererseits trugen selbst im deutsch besiedelten Gebiet zwei Berge eindeutig wendische Namen: Czorneboh und Bieleboh. Der erste bedeutet Schwarzer Gott und der zweite Weißer Gott, womit auf einprägsame Weise deutlich bewiesen wurde, daß auch die Slawen das böse und das gute Prinzip als konkurrierende Mächte dieser Welt aufgefaßt haben. Aus ihrer Sicht, da sie in der Ebene wohnten, lag zunächst der Schwarze Gott vor ihnen, erst dahinter konnten sie zum Weißen Gott gelangen, der damals wie heute mit 500 Metern um 61 Meter niedriger ist als der Schwarze.
Vom Czorneboh waren im Jahre 1758 die Truppen des österreichischen Generals Daun des Nachts herabgestiegen, um dem leichtsinnig gewordenen Preußenkönig im Siebenjährigen Krieg die furchtbare Niederlage von Hochkirch zu bereiten. 1813 soll im gleichen Gebiet ein Fehler eines napoleonischen Generals maßgeblich dafür gewesen sein, daß der Kaiser die Schlacht bei Bautzen verlor, ehe er darauf in der Völkerschlacht bei Leipzig endgültig sein Reich verspielte.
Der Anteil meiner Heimat an der Geschichte bestand nicht nur darin, daß auf ihrem Boden einige blutige Schlachten ausgetragen wurden, von hier stammten auch einige historische Persönlichkeiten. Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte wurde in Rammenau geboren und verlebte da seine Kindheit. Gotthold Ephraim Lessings Heimatstadt ist das nahe Kamenz.
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Der Philosoph Rudolf Hermann Lotze stammt aus Bautzen, und selbst den Mystiker Jakob Böhme in Görlitz, der als erster philosophische Schriften in deutscher Sprache veröffentlichte, kann man noch meinem Heimatraum zuordnen.
Unter den Wenden hat es keine bekannten historischen Persönlichkeiten gegeben. In unserem Dorf hatte allerdings ein Sprachgenie gelebt, ein Mann, der dem Namen nach wendischer Abstammung sein konnte. Eine Inschrift im Treppenhaus der neuen Schule verkündete: »In Gnaschwitz wurde im Jahre 1699 Johann Gelansky geboren, der 38 Sprachen beherrscht haben soll«. Ich nahm damals an, daß er sie draußen in der Welt gelernt hätte, aber dem war nicht so. Er hatte sein Leben in Gnaschwitz verbracht und war als Sohn eines armen Bauern nur kurze Zeit zur Schule gegangen. Als Bauer, der nebenbei eine Poststelle in Göda betreute, hatte er die Sprachen aus Büchern gelernt.
Meine Schulzeit begann zu Ostern des Jahres 1928.
Die zehn Jungen und elf Mädchen unseres Jahrgangs bildeten eine Klasse, die vier Jahre so zusammenblieb. Innerhalb weniger Monate lernte ich fließend lesen, und auch sonst fiel mir nichts schwer. Dennoch war ich überrascht, als unser Klassenlehrer und Schulleiter Ernst Voigt zuerst meinen Namen aufrief, als wir nach einem Jahr unsere Sitzplätze nach Leistung zugewiesen bekamen. Den Platz behauptete ich dann ohne Mühe, die ich mir auch zu keiner Zeit gab. Im Gegenteil, im fünften und sechsten Schuljahr überkam mich eine beträchtliche Faulheit; meine Schularbeiten fehlten oft, so daß sich Lehrer Marschner bei meinen Eltern beschwerte. Sein Pech war, daß er im alten Schulhaus, also direkt uns gegenüber wohnte, so daß wir jeden lautstarken Ehekrach — und der tobte öfters — ganz unfreiwillig miterlebten. Das blieb nicht ohne Folgen für seine Autorität, zumal die Familie unsere Milch und unser Wasser trank; die Milch gegen Bezahlung und das Wasser umsonst.
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Unser Brunnen vor der Haustür lieferte das beste Trinkwasser weit und breit. Die Pumpe bestand aus einem dicken, durchbohrten Baumstamm, der vier Meter in den ummauerten tiefen Brunnen versenkt war und zwei Meter über die Erde ragte. Der Schwengel und das seitlich herausragende Rohr bestanden aus Eisen. Darüber breitete schon damals ein jetzt hundert Jahre alter Kastanienbaum sein schattiges Dach. Seine kugelrunde Krone ist das Wahrzeichen unseres Hofes geblieben. Wären die Äste nicht jeweils nach einigen Jahren kurz geschnitten worden, dann hätte er längst das hohe Dach unseres Wohnhauses weit überragt. Dies ist der Baum, in dem ich am liebsten herumkletterte und dem ich am innigsten verbunden blieb.
Meine liebste Beschäftigung wurde sehr bald das Lesen von Büchern. Es hatte damit begonnen, daß meine Mutter mich 1929 — ich war eben sieben Jahre alt geworden — sehr oft aufforderte, an ihrem Krankenbett aus der Bibel vorzulesen: »Lies aus dem Neuen Testament, das Alte ist nicht so wichtig.« Ich las aus einer 1890 gedruckten dicken Bilderbibel mit Goldschnitt und gotischer Schrift, die ich trotz einiger zerrissener Seiten bis heute in Ehren halte. Aus dieser Zeit blieben mir die biblischen Geschichten tiefer im Gedächtnis verhaftet als später durch den Religionsunterricht, obgleich dieser durchaus einprägsam gewesen ist.
Die ersten Bücher auf dem Weihnachtstisch beinhalteten deutsche Märchen und Heldensagen. Nach einer nur kurzen Karl-May-Epoche bevorzugte ich historische Stoffe, zum Teil in Romanform dargelegt. Die meisten Bücher entlieh ich unserer kleinen Schulbücherei. Bücher, die mir der Schulleiter, der selbst die Ausleihe besorgte, vermutlich nicht gegeben hätte, nahm ich »für meinen Vater« mit. Auch mein ältester Bruder, der inzwischen in Dresden drei Jahre lang für das Lehramt studierte, hatte einiges im Bücherschrank.
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Eines Tages fragte meine Mutter besorgt: »Du liest nun so viele Bücher! Steht denn darin auch etwas von Gott?« Ich antwortete ohne Umschweife mit Ja, ohne ganz von der Richtigkeit meiner Antwort überzeugt zu sein; denn so viel erfaßte ich instinktiv, daß sie eine andere Antwort sehr betrübt hätte. Ich dachte aber zugleich, daß die Antwort in einem höheren Sinne nicht unbedingt falsch war. Umgekehrt habe auch ich meine Mutter schon früh mit Fragen in Verlegenheit gebracht. So wollte ich von ihr wissen, wie lange diese Welt bestehen werde. Sie meinte, Jesus habe auf diese Frage geantwortet: »2000 Jahre und noch mehr.«
Erst in den letzten Jahren habe ich mich wieder an diese Aussage erinnert, aber eine solche in der Bibel nicht ermitteln können. Meine Mutter sprach auch wiederholt von einer »weisen Frau« in ihrer Heimat, die irgendwann geweissagt hatte, die Welt werde dann untergehen, wenn sie »ganz von den Drähten überzogen« sein würde. Ich konnte mir damals unter einer »verdrahteten Welt« noch nichts Rechtes vorstellen. Es war zwar für eine Überlandleitung vom Kraftwerk Hirschfelde nach Bautzen ein neuartiger Stahlmast exakt auf eines unserer Felder gesetzt worden, aber das war damals die einzige große Leitung weit und breit. Doch heute, sechzig Jahre später, haben weite Teile der Erde den angekündigten Zustand wohl erreicht.
Durch die Geschichten, die sich die »Alten« zur Zeit meiner Kindheit erzählten, schimmerte manchmal ein Rest Aberglaube durch. Doch schon damals war auch in meiner Heimat der neue Aberglaube an die Technik und an den nie endenden Fortschritt sehr stark, und ich habe mich dem keineswegs entzogen. Das große Ereignis jener Jahre war das Luftschiff des Namens Graf Zeppelin. Mehrmals schon hatten wir auf »den Zeppelin« vergeblich gewartet, weil das Wetter zu schlecht geworden war. Doch eines Sonntags zog er dann majestätisch langsam und silbern glänzend seine niedrige Bahn von Bautzen nach Dresden.
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Ich wünschte und bekam zu Weihnachten ein Buch über die Erdumkreisung des Zeppelin, verfaßt von dessen Kommandanten Hugo Eckener. Bautzen rühmte sich auch schon eines Flugplatzes, auf dem etwa jährlich einige Sportflieger anreisten, um an einem sonntäglichen »Flugtag« auf einmotorigen Ein- und Doppeldeckern ihre Kunstflüge vorzuführen; den Höhepunkt bildeten jeweils einige Fallschirmabsprünge. Im Jahr 1932 hielt sich bereits wochenlang eine NS-Fliegerstaffel auf dem Platz auf, deren Flugübungen wir Jungen möglichst nicht versäumten, denn es waren nur vier Kilometer von Gnaschwitz bis zum Flugplatz.
Mein Bruder Walter äußerte in den frühen dreißiger Jahren einmal, er sei sicher, daß wir des Menschen Flug zum Mond noch erleben würden. Er wollte ja auch Ingenieur werden; doch weil dieser Beruf 1931 keine Aussichten bot und meinem Vater gerade dieses Studium zu teuer erschien, brach Walter die Oberschule ab und arbeitete seitdem auf unserem Hof. Ich selbst entdeckte nach der Volksschule, daß ich eigentlich von der Technik zu wenig wußte. Darum arbeitete ich ein Buch von 1000 Seiten mit dem Titel Die Welt der Technik durch, worin alle Sparten nach dem Stand jener Jahre erläutert waren.
Frühe Weggefährten
Zu den Eigenarten meines Daseins gehörte, daß ich nie wußte, was ich einmal werden sollte. Im Gesichtskreis lagen damals allein die konventionellen Berufe, obgleich es in den fernen Großstädten schon alles mögliche gegeben haben mag. Da meine Brüder bereits die Oberschule bezogen hatten, schienen eigene Überlegungen ohnehin nur spielerischen Charakter zu haben. Wenn ich allerdings ernstlich gewollt hätte, würden mir meine Eltern die Oberschule dennoch nicht verweigert haben.
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Aber ich konnte mir damals nicht recht vorstellen, wozu das gut sein könnte und wie ich aus dem gewohnten Kreis der Klasse und von den mir innigst vertrauten Gegnern, den drei Lehrern, scheiden sollte. Hatte ich mir doch so unerlaubte Freiheiten herausgenommen wie die, tagtäglich während der großen Pause um die Ecke zu sausen, um zu Hause das zweite Frühstück einzunehmen. Es gereichte mir zur großen Befriedigung, dieses verbotene Spiel — trotz einiger höchst kritischer Situationen — über all die Jahre durchgehalten zu haben.
Aber es war keineswegs so, daß mein Verhältnis zu den Klassenkameraden, die Mädchen zählten dabei nicht, problemlos blieb. Ich war von höchstens mittlerer Größe und Stärke. Kurt Rausendorf, der neben mir saß, weil seine Leistungen den meinen am nächsten kamen, übertraf mich an Statur und Körperkraft. Irgendwann fing er an, mich zu kommandieren. Ich spürte, daß dies unweigerlich entweder zur dauernden Unterwerfung oder zu einem schweren Kampf führen müßte. Die Hilfe der Lehrer in Anspruch zu nehmen, schied schon nach unserem Ehrenkodex von vornherein aus, und konnte für mich auch gar nicht in Frage kommen.
Ich fand folgenden Ausweg: Bei einer geeigneten Gelegenheit verweigerte ich Kurt die Erfüllung eines unbilligen Begehrens. Er fiel wie erwartet in der Pause über mich her, und es kam zu einem erbitterten Kampf. Ich wehrte mich lange und mit äußerster Kraft — obwohl ich wußte, daß ich verlieren würde — und verlor auch knapp. Doch Kurt hatte begriffen, daß er jedesmal mit einem solch erbitterten Kampf rechnen mußte, sobald er versuchen würde, mich zu etwas zu zwingen — und das erschien ihm wohl allzu anstrengend, genau wie ich vorauskalkuliert hatte. Er ließ mich danach in Frieden, und wir arrangierten uns.
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Als ich ihn nach dem Krieg wiedertraf, war ich einen Kopf größer als er; offensichtlich war er kaum mehr gewachsen. Schon etwa fünfzigjährig starb er an Krebs, was auch dem Hans Weber aus unserer Klasse etwa um die gleiche Zeit widerfuhr.
Aus dem Krieg waren von uns elf Jungen »nur« drei nicht heimgekehrt, während der Jahrgang 1921/22 insgesamt weit größere Verluste zu beklagen hatte. Einer der Gefallenen war Erich Zieschang mit dem ich — welch wunderbarer Zufall — nach dem Urlaub 1943 einen Tag und eine Nacht im Güterwagen an die Ostfront gerollt war, von wo er nie zurückkehrte. Ich erinnere mich noch, wie er mich des Nachts weckte, um sich zu verabschieden, da er seine Endstation erreicht hatte. Der andere Gefallene war das einzige Kind des ärmsten Bauern im Dorf. Paul Bahr, den ich die letzten Schuljahre nicht mehr gut leiden konnte, da er sich zu einem Streber entwickelt hatte. Ein grausames Schicksal für seine leidgeprüften Eltern, die sich ihr ganzes Leben abgerackert hatten, um ihm den verschuldeten Hof zu erhalten.
Der dritte Gefallene aber war der vertrauteste Freund meiner Kinderjahre: Helmut Lehmann. Doch zu meinen frühen Spielgefährten zählten auch seine Brüder, der ein Jahr ältere Armin und der zwei Jahre jüngere Johannes. In Lehmanns Schmiede bekamen die Bauern alles, was sie benötigten, vom Hufbeschlag für die Pferde bis hin zur fertigen Landmaschine. In der großen Werkstatt brannte fast immer ein Feuer, in dem die Eisen aller Art zum Glühen gebracht wurden. So interessant das auch war, es wurde von Meistern und Gesellen gar nicht gern gesehen, wenn wir Kinder da herumstanden und gafften.
Das klingende Schlagen der Hämmer auf dem Amboß und der klirrende Lauf der vielen Wellen mit den angeschlossenen Bohr-, Schneide- und Schleifmaschinen war auch das einzige Geräusch, das die Ruhe unseres Dorfes anhaltend störte und mich morgens öfter weckte. Andererseits bemerkte man die Stille erst dann richtig wohltuend, wenn die Räder zur Mittagspause und abends abgeschaltet wurden und sonntags stillstanden.
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Die »drei Lehmanns« und ich waren also während der ersten Schuljahre viel beisammen. Doch dann nicht mehr lange, denn Armin litt unter schrecklichem Asthma. Er hatte einen ebenso kurzen Schulweg wie ich; aber immer weniger Schritte konnte er sich abringen, ehe ihn der nächste Hustenanfall zum Stehenbleiben zwang. Noch bevor er sein vierzehntes Lebensjahr vollenden konnte, geleiteten alle Schüler seinen Sarg zum Friedhof, der hinter der Schmiede lag.
Sein Bruder Helmut, sechs Jahre lang mein Klassenkamerad, wechselte zur Handelsschule nach Bautzen, doch unser Kontakt ging erst im Krieg verloren. Allerdings verbrachten wir im März 1944, zufällig beide auf Urlaub, unter anderem einen fröhlichen Abend im größeren Kreis. Er verlor sein Leben noch in den letzten Kriegswochen unter höchst unglücklichen Umständen. Die Amerikaner erschossen ihn, weil er versehentlich seinen Karabiner auf dem Rücken ließ, obwohl er sich schon ergeben hatte.
An Begegnungen mit dem Tode hatte es schon vor dem Krieg nicht gefehlt. Zu meinen Freunden zählte Voigts Herbert, der einzige Sohn des Schulleiters, durch den ich sicherlich zu meinem Vornamen gekommen bin. Doch drei Jahre Altersunterschied und seine Zugehörigkeit zu den Oberschülern in Bautzen sorgten für einen Rest Abstand. Er war noch schmaler und blässer als ich und bekam im Jahre 1934 eine Lungenentzündung. Zu jener Zeit wurde es üblich, die Schwerkranken ins Krankenhaus nach Bautzen zu befördern. Von dort hörte man nur gelegentlich etwas über sein Ringen mit dem Tode. Seine älteste Schwester Ruth, im Begriff Medizin zu studieren, durfte ihn auch dort schwesterlich pflegen. Er soll davon gesprochen haben, daß er nun bald bei seinem Herrgott sein werde — nach wenigen weiteren Tagen war er's.
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Mir fiel, damals zwölfjährig, die Aufgabe zu, mit Kranz und Beileidskarte die elterliche Wohnung aufzusuchen, wo nach althergebrachter Weise der Tote aufgebahrt lag. Ruth öffnete, nahm beides entgegen und traf mich völlig unvorbereitet mit der Frage: »Willst du Herbert noch einmal sehen?« Ich bejahte etwas unschlüssig, da mir eine Verneinung unangemessen erschienen wäre, und wurde sogleich ins Wohnzimmer geführt. Dort lag Herbert im offenen Sarg von Blumen umgeben. Doch ich erschrak, weil seine Eltern andächtig daneben saßen. Ich betete still mein »Vater unser« oder harrte vielleicht nur so lange aus, wie das gedauert haben könnte. Kaum draußen, erschrak ich noch einmal: Ich hatte vergessen, am Sarg die Mütze abzunehmen.
Auf den letzten Seiten sind doch wohl die glücklichen Zeiten meiner Kindertage zu kurz gekommen. Schließlich war ja die Welt noch so neu! Wie sauber lag das Land vor den stets neugierigen Augen! Und dann erst die Wälder! In ihnen bot sich mir seit Kindesbeinen die Natur in der idealsten Weise dar. Die Bäume, Sträucher und Farne hindert in ihrem Wachstum keine Menschenhand. Die Stille wird nur durch das Windesrauschen und durch die Laute der Vögel unterbrochen — und im Winter schwiegen selbst diese. Den verschneiten Wald zähle ich zu den größten Herrlichkeiten dieser Erde.
Insgesamt hatte ich als Kind viel Freiheit. Wir waren eine etwa gleichaltrige Horde von Jungen, die ihre lauten Spiele im Dorf oft bis in die Dunkelheit hinein trieben, im Winter das Schlittschuhlaufen auf dem winzigen Dorfteich übten oder auf sanften Wiesenhügeln rodelten. Auch im Deutschen Turnverein war ich ein eifriges Mitglied. Dieser wurde allerdings bald durch die NS-Jugendorganisationen abgelöst.
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Für einige Haustiere waren mir frühzeitig Sorgepflichten aufgetragen worden. Eine Schar von zehn bis zwanzig Gänsen, die sich tags im Obstgarten tummelte, war des Abends in den Stall zu bringen und mit Futter und Wasser zu versehen. Eine sichtbare Freude konnte ich ihnen bereiten, wenn ich sie zum Dorfteich brachte. Die Gänse boten die Voraussetzung für einige abwechslungsreiche Tage im Winter, an denen ihre Federn geschlissen wurden. Dazu kamen die Frauen aus der Nachbarschaft ein bis zwei Wochen lang. Aus diesem Anlaß ließen wir beim Bäcker Napfkuchen, sogenannte »Beben« backen, zu denen dann sogar wochentags Bohnenkaffee serviert wurde. Dabei war es meine Aufgabe, die geschlissenen Federn einzusammeln und vorsichtig in die Säcke zu stopfen.
In einem Frühling, es muß in meiner frühen Schulzeit gewesen sein, entwickelte sich eine innige Freundschaft zu einem Zwillingspaar unserer Zicklein. Diese kamen mir sogleich entgegengesprungen, wenn sie mich sahen, und wir tollten dann alle drei im Hof herum, daß es eine Lust war.
Eines Tages, als ich aus der Schule kommend nichtsahnend um die Hausecke in den Hof einbog, sah ich, wie unser Hausschlachter die Zicklein bereits zerteilte. Da erfaßte mich namenloser Schmerz und eine ungeheure Wut auf alle Erwachsenen, besonders aber auf den Schlachter. Ich wollte einen Stein auf ihn werfen, sah aber so schnell keinen, so daß ich nur eine Handvoll Moos in seine Richtung warf, wobei ich verzweifelt die Worte ausstieß: »Du verfluchter Hund!« Dann kehrte ich um und weinte draußen untröstlich.
Eine besondere Perfidie schien mir darin zu liegen, daß der Hausschlachter zu einer ganz ungewöhnlichen Tageszeit bestellt worden war, zu der man mich in der Schule wähnte. Dann kam mir aber der Gedanke, meine Eltern könnten die Absicht gehabt haben, mich zu schonen, indem sie vollendete Tatsachen schaffen wollten. Denn mir war schon klar, daß den Haustieren irgendwann der Weg alles Fleisches nicht erspart bleiben konnte. Von dem Fleisch dieser Zicklein aber aß ich in den nächsten Wochen keinen Bissen.
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Nur ein weiteres Mal fühlte ich mich einem kleinen Rehkitz ähnlich verbunden. Meine Brüder hatten es mit nach Hause gebracht, da ihm von der Mähmaschine eine Pfote abgesäbelt worden war. Doch alle Pflege half nichts; es geschah, wie vom Jagdpächter vorausgesagt, das Tier überlebte unter den Menschen nicht. Obwohl die Wunde heilte, konnte ich nach vierzehn Tagen nur noch andächtig ein Grab schaufeln und Blumen darauf pflanzen.
Es mag widersprüchlich erscheinen, wenn ich andererseits gern als Treiber mit auf die Jagd ging. Aber schließlich war wohlbekannt, daß zu viel Wild die Ernte schädigen konnte. Und an Rebhühnern und Fasanen fehlte es damals wahrhaftig nicht, so daß viele von ihnen erlegt werden mußten. Die Zahl der Hasen und Rehe wurde jeweils gegen Jahresende in ein oder zwei Großjagden vermindert.
Meine Lieblingstiere waren schon in jenen Tagen die Vögel. Nur die Spatzen mochte ich nicht, weil sie in allzu großen Scharen einfielen, sobald die Hühner gefüttert wurden, und die jederzeit zu ihrem unmelodischen Lärmen aufgelegt waren. Dagegen hatte ich die Schwalben gern, von denen alljährlich meist fünf Paare bei uns einkehrten, die sozusagen zu uns gehörten. Zwei nisteten im Kuhstall und drei unter dem Sims des Wohnhauses oder der Scheune. Die Frühlings- und Sommermonate waren erfüllt vom Trillern der Lerchen, von denen über den Feldern unzählige aufstiegen. Die Konzerte der Grasmücken und die immer gleiche Tonfolge der Buchfinken waren wohlvertraut. Ausgeblieben sind im Laufe der Jahre die Stare, die im Frühjahr wie im Herbst die riesigen Ulmen, welche den Nachbarhof überragten, mit lautem Stimmengewirr belebten, während sie sich zum Abflug sammelten. Völlig verschwunden sind auch die Scharen der Goldammern, welche sich im Winter futtersuchend in den Gehöften unter die Spatzen mischten.
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Es konnte sein, daß die schwarze Amsel erst damals bei uns auftauchte, jedenfalls erinnere ich mich, wie an einem Frühlingstag von den höchsten Zweigen des riesigen Apfelbaumes im Garten des Lehrers ein neuer Gesang ertönte, der dann alle Jahre wiederkehrte. Schließlich wünschte ich mir ein Büchlein über die Vögel und bekam es zum Geburtstag, obwohl es eigentlich nicht üblich war, etwas zum Geburtstag zu schenken oder ihn auch nur zu beachten.
Ich hatte von der Gefährdung der Vogel in der Zeitung gelesen und daß es ihnen zunehmend an Nistgelegenheiten fehle. Daraufhin begann ich Nistkasten zu bauen. Aus einem hohlen Baumstamm ließen sich mehrere herrichten, die ich in unseren Wald schleppte, wo sie dann tatsächlich von den Meisen angenommen wurden.
Für meine Steckenpferde hatte ich reichlich Zeit, denn außer den leichten Gelegenheitsarbeiten wie Gartengießen, Holz hereinholen, den Ofen anheizen und den schon genannten Tätigkeiten wurde ich sehr geschont — im Unterschied zu vielen anderen Bauernkindern.
Nur eine jährliche Arbeit blieb mir in höchst unangenehmer Erinnerung: das herbstliche Kartoffellesen, so hieß das Zusammenklauben der Kartoffeln, die von einer pferdegezogenen Maschine Zeile für Zeile breitgeworfen wurden. Das war eine rund vierzehn Tage anhaltende Arbeit mit gebeugtem Rücken. Wenn ich mich bei anderen Gelegenheiten schon einmal drücken konnte, in der Kartoffelernte gab es kein Pardon, da wurde alles aufgeboten, was Hände hatte. Die nichtbäuerlichen Kinder taten es gegen bescheidene Bezahlung, meist m der Form von Kartoffeln für den Winter. Ich las zusammen mit meinem Vater, der den Korb stets viel früher voll hatte und beide Körbe zusammen auch noch zum Wagen schleppte, um sie dort auszuschütten.
Auch bei der Getreideernte mußte ich schon mit meiner ganzen Kraft zupacken. Das begann beim »Abraffen« der Halme hinter der Sense und dem Binden der Garben. Diese wurden dann »gepuppt«, das heißt in Gruppen aufrecht zusammengestellt — Korn und Weizen zu je neun und Hafer zu fünf Garben. Die mittlere Garbe, an welche die anderen gelehnt wurden, mußte von einer Person gehalten werden, was schon eher eine kinderleichte Arbeit war. Bis aber die Puppe »feststand«, konnte sie schon hin und wieder in sich zusammenfallen, was eine Schimpferei darüber auslöste, wer daran wohl schuld sei.
Die Garben trockneten dann je nach Wetterlage einige Tage, bevor sie in die Scheune eingefahren werden konnten. Dort wurden sie in der Regel von einer Kette mehrerer Personen weitergeworfen und in allen Räumen der Scheune fein geradlinig und fest »gepanst«, damit möglichst die ganze Ernte untergebracht werden konnte. Das »Pansen« besorgte mein Vater, und meine immerhin bedeutende Aufgabe bestand dann, ihm jede Garbe so gezielt vor die Hände zu werfen, daß er sie leicht greifen und mit dem Druck seiner Knie fest einpansen konnte. Die stärkeren Männer gabelten die Garben jeweils ein Stockwerk höher, und die Frauen warfen sie weiter. War die Ernte schlecht, dann waren die Garben leicht, war sie gut, dann waren die Garben von prall gefüllten Ähren schwer.
Wenn auch der Erntesegen höchst ungleich ausfiel, so blieben die Arbeiten doch Jahr für Jahr die gleichen, egal, ob in Berlin ein Kaiser, ein Parlament oder ein Diktator regierte. 1934 gab es ein unwahrscheinlich trockenes Jahr, so daß wir die magere Ernte in wenigen Tagen hereingeholt hatten.
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Herbert Gruhl 1987 Überleben ist alles Erinnerungen, Memoiren, Biografie