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4.  Die Wendung zum Umweltschützer

Gruhl-1987

 

  Der Start im Bundestag   

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In Bonn bezog ich ein winziges möbliertes Zimmer, welches den Vorteil bot, das Büro im Bundeshaus in zehn Minuten zu Fuß erreichen zu können. In die Innenstadt geriet ich all die Jahre hindurch selten. Der Weg führte am Wochenanfang vom Bahnhof zum Bundeshaus und am Freitag­nachmittag wieder schnurstracks zum Bahnhof und über Hannover nach Barsinghausen.

Daß die Partei nun auch in Bonn in die Opposition geraten war, störte mich wenig; darin hatte ich mich in Barsing­hausen acht Jahre üben können. Im übrigen ging ich mit keinen festumrissenen Vorstellungen über mein Arbeitsgebiet in den Deutschen Bundestag. Mit meinem bisherigen Werdegang hätte ich in beinahe jedem Ausschuß mitarbeiten können. Die Sitze wurden in der CDU/CSU-Fraktion landsmannschaftlich aufgeteilt. Aus Niedersachsen interessierte sich niemand für den Innenausschuß, und ein Kollege sprach: »Gruhl, gehen Sie in den Innenausschuß, der ist wichtig!« Ich war geneigt, dies wörtlich zu nehmen. 

Eines der ersten Gesetze, die zur Beratung standen, war das gegen den Fluglärm. Dafür interessierte ich mich schon deshalb, weil der Flughafen Hannover-Langenhagen in meinem Wahlkreis lag. 

In der vergangenen Periode hatte der Abgeordnete Hans Dichgans aus Düsseldorf die Berichterstattung innegehabt. Er suchte einen Nachfolger und verband seine Werbung mit der Feststellung, daß der Umweltschutz überhaupt ein Thema von zunehmender Wichtigkeit werden würde. Das erschien mir plausibel, und ich beschloß, dieses neue Gebiet in der Fraktion zu übernehmen, zumal kein konkurrierender Bewerber sichtbar war. Er hätte auch tunlichst aus den Mitgliedern des Innenausschusses kommen müssen, denn die neue Regierung hatte die Kompetenzen im Innenministerium konzentriert, nur die für Naturschutz und Landschaftspflege blieb beim Landwirtschaftsminister. 

Als sich nach wenigen Monaten abzeichnete, was auf mich zukam, ließ ich mich von meinem Arbeitgeber, das war inzwischen die Firma Philips-Data-Systems, beurlauben und verband mein Schicksal vollends mit der Politik und mit der Umwelt. 

In den folgenden Jahren bin ich oft gefragt worden, ob mir ein Schlüsselerlebnis die Gefährdung der Umwelt offenbarte. Ich mußte das stets verneinen. Ich könnte mit der Kindheit beginnen, wo ich schon den bedrohten Vögeln helfen wollte. Auf jeden Fall hat mich das Leben auf dem elterlichen Bauernhof Naturabläufe gelehrt, die so unmittelbar zu erfahren den folgenden Generationen kaum mehr beschieden gewesen ist. 

Während der kommunalpolitischen Tätigkeit hatte ich mich dann oft gefragt, ob es denn überall und immer sinnvoll sein könnte, ständig neue Baugebiete auszuweisen, Straßen zu bauen, Betriebe anzusiedeln, den Verkehr weiter und weiter zu verdichten. In meinem Kandidatenprospekt zur Landtagswahl 1967 hatte ich schon formuliert: 

»Politik in unseren Tagen heißt: Antworten finden auf eine sich wandelnde Welt — Entscheidungen treffen in Fragen, von denen frühere Generationen noch nichts ahnten. ... Vor uns liegt: Die Aufgabe, das Atomzeitalter politisch zu bewältigen. Das Gefüge der heutigen Welt ist in allen Bereichen so kompliziert geworden, daß es kaum noch jemand überschaut. Um aber die richtigen Wege zu finden, ist es nötig, das Leben im technischen Zeitalter in seiner unendlichen Vielfalt zu erfassen — und außerdem zukünftige Entwicklungen in alle Überlegungen einzubeziehen.« 

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Wenn ich nun zurückblicke, dann muß ich wohl den Kern der derzeitigen Weltproblematik in einem halben Jahr erfaßt haben. Denn schon mein erster eigener Aufsatz zu dem Thema enthielt alle neuen Grundgedanken. Er wurde am 8. September 1970 von der Tageszeitung Die Welt veröffentlicht. Die Überschrift lautete: »Forderung an die Industrie: Umweltschutz muß Vorrang vor Produktionserfolg haben«. Damit war der erste Schritt in die breite Öffentlichkeit getan. 

Ebenfalls im Herbst 1970 hatte die <Welt am Sonntag> eine Serie von dem britischen Biologen Gordon Rattray Taylor unter dem Titel< Wir, die Selbstmordgesellschaft> gebracht. In dieser Zeit begann meine Sammlung von Zeitungsartikeln und von Literatur über den gesamten Themenkreis. 

Eine weitere Bestätigung bescherte mir die <1. Internationale Parlamentarierkonferenz zu Umweltfragen> vom 2. bis 4. Juni 1971 in Bonn. Der amerikanische Professor Budowski hielt den Eröffnungsvortrag. Er sprach von ganz neuen Untersuchungen, die Professor Forrester am Massachusetts-Institute-of-Technology angestellt hatte. Sie bewiesen, daß die Vereinigten Staaten wie Westeuropa den Höhepunkt ihrer »Lebensqualität« in den sechziger Jahren überschritten hätten, und daß es seitdem abwärts gehe. Die negativen Auswirkungen des technischen Fortschritts machten die positiven Errungenschaften wieder zunichte, ja, überstiegen diese bereits. Noch nie hatte ich eine derart überraschende Bestätigung eigener Gedankengänge erfahren. 

So gewann ich die erschreckende Einsicht, an einer Politik beteiligt zu sein, die unsere Lebensgrundlagen um so geschwinder zerstören wird, je erfolgreicher sie ist! Binnen kurzem war es für mich keine Frage der »Umwelt« mehr, sondern eine der menschlichen Existenz auf diesem Planeten.

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Nun erschien es mir geradezu unglaublich, wie bei der Wissensfülle unseres ausgehenden Jahrhunderts völlig ignoriert werden konnte, womit all die bejubelten Zuwachsraten erreicht worden sind: mit der kurzfristigen Plünderung all der Bodenschätze, die nie wieder nachwachsen werden — und daß es die rasend zunehmenden industriellen Produktionsmengen und deren Belastung sind, die unsere natürliche Umwelt zerstören.

Für den engeren Bereich des »Umweltschutzes« hatte die Fraktion alsbald die Konstituierung einer Arbeitsgruppe gebilligt, für die ich bereits den Namen <Arbeitsgruppe für Umweltvorsorge> durchsetzen konnte. Alle Fraktionsmitglieder bekamen die Einladungen zu den Sitzungen, aber die Zahl der Abgeordneten, welche öfter teilnahmen, blieb unter zehn. 

Das herausragende parlamentarische Ereignis war die erste große Umweltdebatte am 16.12.1970, in der mich die Fraktion eine programmatische Rede von 40 Minuten Dauer halten ließ. Da ich ein Neuling war, hatte der Fraktionsvorstand Manfred Wörner beauftragt, mein Manuskript zu prüfen. Das einzige, was er abgeschwächt haben wollte, war eine Stelle, an der ich die Bundeskompetenz für alle Umweltangelegenheiten forderte.

Die Rede erregte wohl einiges Aufsehen, aber längst nicht genug. Sie war bereits so zukunftsbezogen, daß ich sie 1984 in die Sammlung ökolog­ischer Texte aufgenommen habe, die als Lesebuch unter dem Titel <Glücklich... — Zeugnisse Ökologischer Weltsicht Aus Vier Jahr­tausenden> erschienen ist.

Trotz der ersten Neider wurde meine Kompetenz für diese neuartige Problematik in der Fraktion nicht angezweifelt. Der damalige Fraktions­geschäfts­führer Will Rasner sprach mich aus freien Stücken an, daß er die Notwendigkeit sehe, für die Arbeitsgruppen ein Büro zu schaffen, das mit einem Assistenten und einer Schreibkraft besetzt werden sollte. 

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Da eine geeignete Person nicht so bald gefunden wurde, die auch die Zustimmung von Ernst Benda bekommen hätte, der damals Leiter des Arbeitskreises I der Fraktion (für Innen- und Rechtspolitik) war, zog sich die Sache hin. Inzwischen starb Rasner an einem Krebsleiden, und Benda wechselte zum Bundes­verfassungsgericht. Meinen Anliegen sehr gewogen zeigte sich der Fraktionsgeschäftsführer Josef Rösing. Ich wurde mehrfach zu den Sitzungen des Fraktionsvorstandes eingeladen und nahm dreimal an der Fraktionsvorsitzenden-Konferenz der CDU/CSU-Fraktionen des Bundes und der Länder teil. 

Bei der betreffenden Tagung in Berlin am 3. März 1971 wurden wir von Axel Springer in sein repräsentatives Hochhaus an der Mauer eingeladen. Dort fiel mir Eberhard von Brauchitsch auf, der damals Springers Generalbevollmächtigter wurde. In einem kleinen Kreis der zufällig um ihn Sitzenden sprach er über Möglichkeiten, in Bonn wieder an die Macht zu kommen und zweifelte, ob das der CDU wohl mit Rainer Barzel gelingen könne. Er meinte unter anderem, daß es doch wohl nicht so schwierig sein könne, mit einigen Millionen Mark die nötigen Abgeordneten zu kaufen, um mit deren Stimmen die knappe Mehrheit der SPD/FDP-Koalition zu kippen. Ich hatte den Eindruck, daß er diese Überlegung durchaus ernst meinte, hielt sie aber meinerseits damals nicht für so realistisch, um lange darüber nachzusinnen. 

Von Rainer Barzel kann ich nur sagen, daß er der Kompetenteste von den drei Fraktionsvorsitzenden gewesen ist, die ich erlebt habe. Die Sitzungen begannen pünktlich auf die Minute, er gab einen präzisen Bericht und blieb immer Herr der Lage. In einem Gespräch, das ich über die Umweltfragen in seinem Büro hatte, war ich überrascht über seine Ruhe und Konzentration, da ich doch wußte, daß er in jenen Jahren von Problemen gehetzt wurde. 

(d-2018)  wikipedia  R. Barzel 1924-2006    DNB.Barzel.Bücher  

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Andererseits habe ich es hin und wieder selbst erlebt, wie er mit Bravour auf psychologischem Glatteis ausrutschte. Dafür ein Beispiel: Als er zur Bundestagswahl 1976 in meinem Wahlkreis eine Rede hielt, begann er: »Mit dem Kollegen Gruhl verbindet mich zweierlei: Wir sind beide Bestsellerautoren, und wir sind beide <back-bencher>« (Hinterbänkler). 

Im ersten Teil des Vergleichs hat er seinen Rang als Autor stark übertrieben, denn sein Buch <Es ist noch nicht zu spät> hatte gerade die ersten Auflagen erreicht — im zweiten Teil aber seine Position stark untertrieben, denn er war natürlich nie ein Hinterbänkler. 

Manchmal fehlte ihm eben ein feineres Gespür, was auch der Grund für das gescheiterte Mißtrauensvotum 1972 gewesen sein mag. Für mich ist am wahrscheinlichsten, daß die fehlenden Stimmen von Abgeordneten herrührten, denen er irgendwann ganz empfindlich auf den Nerv getreten sein mag.

In diesem Zusammenhang wurde der damals aus der FDP ausgetretene Abgeordnete Wilhelm Helms zu Unrecht verdächtigt, so zum Beispiel in dem Buch von Arnulf Baring <Machtwechsel>. Dort hieß es in der ersten Auflage: Helms »war von der Rede Walter Scheels so beeindruckt, daß er sich spontan entschloß, sein Barzel gegebenes Wort zu brechen und sich statt dessen der Stimme zu enthalten.« 

Ich benutze die Gelegenheit zu einer Klarstellung. Als ich den Abgeordneten Helms am entscheidenden Vormittag ganz allein auf der hintersten Bank sitzen sah, plazierte ich mich neben ihn; mir war klar, in welch unheimlicher Nervenbelastung er sich befinden müsse, und ich fand es fast schäbig von der CDU/CSU, ihn da so vereinsamt sitzen zu lassen. So wurde ich dann ungewollt Ohrenzeuge zahlreicher abfälliger Bemerkungen, die er gerade während der Rede Walter Scheels höchst verärgert ausstieß. Wenn er also von den Ausführungen »beeindruckt« war, dann nur negativ. 

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Was meine Tätigkeit betrifft, so hatte ich inzwischen in der Parteiorganisation der CDU den Vorsitz im <Untersuchungsausschuß für Umweltfragen> innerhalb des <Bundesfachausschusses für Strukturpolitik> übertragen bekommen. Ein erstes Konzept dieser Gruppe, für die Bundestagswahl 1972 ausgearbeitet, stellte Richard von Weizsäcker mit mir der Presse am 27.10.1972 vor. Er war vom Bundesvorstand der CDU mit der Wahrnehmung der Umweltfragen beauftragt worden, machte aber keinen Hehl daraus, daß er an dieser Aufgabe wenig Geschmack finden konnte. Dennoch setzte ich einige Hoffnungen in ihn, die er später restlos enttäuschte. 

Ich fürchte, er hat bis heute - im völligen Gegensatz zu seinem Bruder Carl Friedrich - noch nicht viel von den Überlebensproblemen begriffen, in denen sich dieser Planet längst befindet.
Diesem Brüderpaar kommt geradezu symbolische Bedeutung zu. 

detopia-2024: Zu CFW lese man nun Geulen-2020 und Geulen-2023; zu CFWs Rolle als Atombauer unter Hitler.

Während der eine die Kandidatur für die Koalition zur Wahl des Bundespräsidenten 1979 ablehnte, weil er »für die achtziger Jahre schwere Krisen der Welt und daher unserer Nation« voraussah, vollendete der andere eine erfolgreiche Karriere. Doch seine geschliffenen Reden können nicht darüber hinwegtäuschen, daß er wie alle anderen, die in der Politik erfolgreich mitmischen, bisher — was die ökologischen Überlebensprobleme betrifft —, einer vordergründigen Betrachtungsweise verhaftet blieb. 

Welch grandioser Unsinn in jenen Jahren auch noch in Köpfen spukte, die es eigentlich schon besser hätten wissen müssen, bewies die Aussage des Präsidenten eines <Landesamtes für Umweltschutz>(!): Die natürliche Umwelt sei nicht mehr zu retten, wir müßten uns darauf einstellen, in einer künstlichen zu leben(!).

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   Ich schreibe ein Buch!  

Unterdessen hatte ich auch Hinweise auf den 1968 gegründeten <Club of Rome> erhalten und erfahren, daß Professor Eduard Pestel aus Hannover zu den Mitbegründern gehörte. Bei einem ersten Treffen übergab er mir ein Schreibmaschinen-Manuskript in englischer Sprache: <Die Grenzen des Wachstums> von Dennis Meadows. Es war für mich eine erregende Lektüre, bevor noch 1972 das Buch in deutscher Sprache herauskam. 

Die läppischen Einwände der Kritiker dieser Untersuchung haben mich derart aufgebracht, daß ihnen ein gut Teil meines Entschlusses zuzuschreiben ist, ein eigenes Buch über die katastrophale Entwicklung auf unserer Erde zu verfassen.  

Denn mit den eigentlichen Ursachen der verhängnisvollen Entwicklung und mit den verbleibenden Möglich­keiten hatte sich der Meadowsbericht wenig befaßt. Der Umfang meines Projekts in all seinen Verästelungen ließ mich an der Vollendung zweifeln, da ich zwangsläufig die gesamte Literatur zum Thema durcharbeiten mußte, um späteren Einwänden von vornherein den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Material für das Buch konnte ich auf der Studienreise in die Vereinigten Staaten sammeln. Eine Delegation von sieben Abgeordneten, die sich für Umwelt­fragen interessierten, reiste auf dem sowjetischen Schiff <Alexander Puschkin> über den Atlantik und durch den Lorenz-Strom nach Montreal, um sich dann in den Staaten die Umweltgesetzgebung und die ergriffenen Maßnahmen erläutern zu lassen. Es war meine erste Reise außerhalb Europas und schon insofern ein Erlebnis. Der damalige Präsident Nixon hatte 1970 eine große Rede gehalten, die ein weltweites Signal setzte und ebenfalls Bestätigungen für meine Gedanken enthielt. Der ausgedehnte nordamerikanische Kontinent stand längst vor den gleichen Problemen wie die Bundesrepublik Deutschland. Bei uns ballt sich die Industrie auf engem Raum zusammen, aber auch dort konzentriert sie sich an bestimmten Stellen des riesigen Landes in manchmal noch verheerenderer Weise als in Europa.

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So erhielt ich stets neue Anstöße, wenn ich mich zuweilen fragte, ob sich je genügend Zeit finden werde, mein Buch zu vollenden. 

Nicht nur, daß die Arbeit im Bundestag und im Wahlkreis zu leisten war; die vorzeitige Auflösung des Bundestages führte zur Neuwahl am 19. November 1972 und damit erneut zu dem verworrenen Spiel der Kandidatenaufstellung. Wieder trat der gleiche Gegenkandidat auf den Plan. Allerdings konnte ich nun schon anerkannte Leistungen vorweisen und weitaus selbstbewußter in das erneute Gefecht gehen. Die Mehrheit der Mitgliederversammlung sprach jetzt eine Empfehlung für mich aus, und in der Delegiertensitzung wurde der genannte Gegenkandidat wiederum im ersten Wahlgang geschlagen. 

Doch auch das unvermeidliche Lotteriespiel mit der Landesliste mußte durchgestanden werden. Immerhin war zu vermuten, daß die Partei bei wachsendem Umweltbewußtsein der Bevölkerung den Sprecher der Fraktion nicht fallenlassen und sich damit bloßstellen würde. Doch daß man darauf nicht vertrauen konnte, hatte ich jüngst bei einem Landesparteitag in Braunschweig erfahren. Bei meiner Kandidatur für den Landesvorstand hatten Taktierer dafür gesorgt, daß ich weit abgeschlagen landete. Schließlich gewann ich aber den neunten Platz auf der Landesliste, nach dem neunzehnten im Jahre 1969 also ein großer Sprung nach vorn. Dennoch habe ich meinem Nachfolger im Kreisvorsitz, Jürgen Gansäuer aus Laatzen, einiges zu verdanken, der damals und auch 1976 im Wahlmänner­gremium erfolgreich für meine Plazierung gekämpft hat. 

Aber auch die Partei hatte ihren Nutzen: Während die Wahl im Jahre 1972 für die CDU einen höchst empfind­lichen Rückschlag brachte, konnte ich die Stimmenzahl im Wahlkreis Hannover III fast halten. Die Arbeit an meinem Buch förderte immerzu weitere Fakten zutage, so daß ich meine Erkenntnisse zunehmend untermauern konnte. Mir wurde immer klarer, daß die Folgerungen in jeder Beziehung schlüssig und nicht zu erschüttern sein würden. Damit gewann ich eine Selbstsicherheit, die mich seither nicht mehr verlassen hat, welche Anfechtungen auch immer durchzustehen waren. 

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Da auf eine vierseitige Konzeption hin keiner der beiden angeschriebenen Verlage angebissen hatte, beschloß ich, zunächst das Werk zu vollenden, um dann weiter zu sehen. Mein Assistent im Bundestag, Hans Beyschlag, half mir bei der Beschaffung der Daten und Statistiken sehr und sorgte somit für zeitliche Entlastung. Und meine Sekretärin, Hedda Kurze, tippte unermüdlich die immer wieder verbesserten Manuskripte. Während der Sommerpause des Jahres 1973 war mir in der Klausur auf der Schmittenhöhe, im Herzen Österreichs klargeworden, daß die Gliederung neu konzipiert werden mußte und auch noch vieles zu erweitern war. Ein gutes Stück voran kam ich dann in den Sommerferien des Jahres 1974 in Anzere im Wallis. Damit ist nicht gesagt, daß ich nur in auserlesenen Landschaften schreiben kann; mir ist vielmehr bewußt geworden, daß es ihrer dabei nicht bedarf.

Der größte Teil des Buches entstand in Barsinghausen am Deister, wo wir 1970 in der gleichen Straße, nur drei Grundstücke von unserer ersten Wohnung entfernt, einen Bauplatz erwerben konnten. Unsere Mietwohnung von achtzig Quadratmetern war inzwischen für vier Kinder allzu eng geworden. Denn 1961 war bereits zu den zwei in Berlin geborenen Söhnen unsere Tochter Christina hinzugekommen und 1966 unser Rüdiger. Das Fertighaus, das wir uns nun errichten ließen, konnten wir innerhalb weniger Wochen beziehen. Damit hatten wir uns nahe am Wald des Deisters eine eigene Heimstatt geschaffen, die uns sowohl das Land unserer Jugend als auch die zweite Heimat an den Berliner Seen ersetzte. All die Jahre bedeutete es für mich das größte Glück, eine Frau zu haben, die nicht nur gern für Haus und Kinder sorgte, sondern die sich auch vielseitig zu beschäftigen wußte, während ich mich immer häufiger unterwegs befand. Sie hat mir stets den Rücken freigehalten und mich derart gestärkt, daß ich meine vielseitigen Belastungen bis heute durchstehen konnte.

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Allerdings führte nicht jede Reise soweit, wie die nach Kenia im Jahre 1973. Dort, in Nairobi, bestätigte die <3. Internationale Umweltkonferenz>, daß wir es mit einer weltweiten Krise zu tun haben. Es wurde aber auch deutlich, wie sehr sich Tagungen im Kreise drehen, bis sie mühselig zu Entschließungen kommen, die dann von den Regierungen in aller Welt ohnehin nicht beachtet werden.

 wikipedia  Umweltversammlung_der_Vereinten_Nationen  (detopia-2020)

Im Lande war zu beobachten, wie die Dorfbewohner Säcke mit Holzkohle in die Städte schleppten, die sie aus den ständig seltener werdenden Gehölzen gewonnen hatten. Eine wochenlange Trockenheit war soeben zu Ende gegangen, aber im Nationalpark nahe Nairobi lagen die verdursteten Tiere zu Tausenden im verdorrten Gras. Dennoch wurde mir die Natur in diesem bevorzugten Landstrich Afrikas zum Erlebnis. Immerzu leuchtete der schnee­bedeckte Kilimandscharo aus der Ferne, als wir den Tsavo-Nationalpark durchquerten. Alle einheimischen Tierarten ließen sich beobachten und fotografieren. Welch hautnahe Berührung verschiedener Welten, als zehn Meter vor unserem Geländewagen ein Rudel Löwen ihr gerissenes Zebra ungerührt auffraß, ohne sich durch unsere Anwesenheit im geringsten stören zu lassen. Doch der Tourismus und die explosive Zunahme der hungrigen Einheimischen werden dafür sorgen, daß auch die Reste der Wildnis und damit die Lebensräume all dieser Arten zugrunde gerichtet werden.

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  Entlarvte Trugbilder  

Während der Ausarbeitung meines Buches hatte ich mich mit unausweichlich Konsequenz Schritt für Schritt von der CDU entfernt, aber auch von den politischen Mustern aller anderen Partein. Es bestätigte sich das Wort Friedrich Nietzsches: »Wer viel denkt, kann kein Parteimann sein, er denkt sich zu schnell durch eine Partei hindurch.« Mir wurde immer deutlicher, daß ein »immerwährendes Wachstum« die natürliche Lebensbasis des Menschen auf dieser Erde unvermeidlich ruinieren müsse, und daß die Frage nur noch lauten könne, in welcher Zeit das geschehen werde. 

Es liegt auf der Hand, daß die uns verbleibende Frist um so kürzer ausfallen muß, je höher und schneller das sogenannte »wirtschaftliche Wachstum« noch gesteigert werden kann. Die Wachstumstheorie war jedoch längst zum unantastbaren eisern Bestandteil der C-Parteien avanciert, obwohl sich Ludwig Erhard dagegen gewehrt hatte. Darüber hinaus bestand und besteht bis heute eine Einheitsfront aller alten Parteien und auch der Unternehmer wie der Gewerk­schaften in dieser elementaren Frage. 

Ich notierte mir bereits im Sommer 1973: 

»Leider ist der Konservatismus in den letzten Jahren korrumpiert worden, indem sich die Industriellen hauptsächlich auf die Seite der Konservativen geschlagen haben. Eine eigenartige Verkehrung, ausgerechnet diejenigen, die tagtäglich die Welt mit Neuerungen überschwemmen und den Leuten immerzu <modernere> Lebensgewohnheiten einreden, als Konservative zu bezeichnen. Wahrscheinlich liegt das daran, daß sie bei ihrem Tun so wenig Staat wie nur möglich wollen. Sie sind auch für die Demokratie; der <Nachtwächterstaat> liegt ihnen. In Deutschland ist dies das Dilemma der C-Parteien; denn diese könnten ihrer Herkunft nach konservative und soziale Parteien sein, aber sie befinden sich fest im Griff ihrer geldmächtigen <Förderer>. Entsprechend hindern die Gewerkschaften die SPD.«

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Es wurde mir immer klarer, daß überall in der Welt die Politik von ökonomischen Theorien beherrscht wird, deren sagenhafte Blindheit bezüglich ihrer eigenen Grundlagen offenkundig ist. Beschränkte Fachleute können überall gefährlich werden, aber hier hat sich ein Fachidiotismus zusammengebraut, der weltweit zu verhängnisvollen Folgen führen muß — zumal dieser Irrsinn systemübergreifend im Osten vom Staat gepflegt und im Westen von immer gewaltiger geballten Kapitalmächten und Interessenverbänden gesteuert wird.

Immer wieder muß festgestellt werden, daß eine Wissenschaft, die sich nicht um ihre Grundlagen kümmert, wie das die derzeitige Ökonomie tut, zwar jede Menge stimmiger Einzelergebnisse vorlegen kann, daß sich aber ihre Aussagen bei einer umfassenden Betrachtung als »scharfsinnige Schwachsinnigkeiten« erweisen. Leider gelingt die Entlarvung von Irrlehren in aller Regel erst dann, wenn es zu spät ist. Mit der notwendigen Schärfe des Blicks hat der amerikanische Ökonom Herman Daly die mißachteten Voraussetzungen wie die übergeordneten Zielsetzungen jeder Ökonomie dargelegt, doch besonders die deutschen Ökonomen sind bei ihren kurzsichtigen Spielereien geblieben und damals wie heute blind für umgreifende Betrachtungen. 

Die stärksten Mächte unserer Zeit, die Großindustrie und die Gewerkschaften, haben unter anderem darum einen größeren Einfluß als die Politiker, weil dort die Manager langfristig, großenteils sogar auf Lebenszeit ihre Stellungen innehaben. Jeder Politiker bekommt seinen Auftrag jeweils nur für vier Jahre, das heißt, er muß einen großen Teil seiner Zeit und Nervenkraft darauf vergeuden, seinen Auftrag verlängert zu bekommen. In der Regel wird er nur dann gekürt, wenn er sich jenen Mächten gefügig zeigt, die ihn unentwegt für ihre Interessen zu vereinnahmen trachten.

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Er kann sich nicht auf die Gesetzgebung in der Hauptstadt konzentrieren, die heute schwierig genug ist. Er muß sich widersprüchlichen Wünschen seines Wahlkreises beugen; er hat in der Partei nicht nur aufreibend zu arbeiten, sondern auch um die Wiederwahl in Ämter zu kämpfen, ohne die er das nächste Mal nicht mehr nominiert würde. Zu all diesen strapaziösen Tätigkeiten werden die Vertreter der oben genannten Mächte weit weniger gezwungen. Dagegen sind sie es gerade, die den Politiker zermürben und ihm drohen, daß sie ihn nicht mehr unterstützen werden, wenn er sich nicht für dieses und jenes »mit aller Kraft« einsetze. Damit befindet er sich in einem Dauerstreß und wird, wenn schon kein gefügiger Partner, so doch ein geschwächter Gegner. 

Eine Wurzel für diese Verhältnisse liegt im historischen Ursprung der Demokratie. Die Parlamente sollten ja die Macht des Staates kontrollieren und beschneiden. Das wurde mit derart durchschlagendem Erfolg erreicht, daß der Staat nun auch gegenüber den Großunternehmen schwach ist, die sich sowohl die Bürokratie als auch die »Volksvertreter« dienstbar zu machen wissen. Neue Sammelbecken der Kapitalinteressen bildeten sich mit den Großbanken. Diese Mächte wuchsen in aller Stille und darum unkontrolliert. Sie durch die Mitbestimmung kontrollieren zu wollen, erwies sich als Farce, denn die Arbeitnehmer sind an der Macht ihrer Unternehmen ebenso interessiert wie die Unternehmer.

Den Verantwortlichen im Staat fehlt es auch an Muße, um grundsätzliche Überlegungen pflegen zu können, die sowohl in die Tiefe der Probleme als auch in die Zukunft vordringen müßten. Ihnen gelingt es gerade noch, die vielfältigen Geschäfte des Tages zu erledigen. Im Jet rasen sie zudem in der Welt umher, statt Entscheidungen gründlich zu überdenken. Wo kann da in der Hast unserer Tage etwas reifen? 

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Und wieviel mehr als in früheren Zeiten müßte heut ein Regierender überdenken, bevor er handelt. Er hat zwar seine Fachleute, aber wie soll er die vielen und zum großen Teil entgegengesetzten Ratschläge zusammenfügen? Das könnte nur einer tun, der von den Geschäften des Tages freigestellt ist, also keiner der Politiker. 

So war mir in der Bonner Szenerie durchaus klargeworden, an welchen Drähten die Puppen tanzen. Da gibt es unzählige Indizien, ohne daß sie zu beweisen sind. Um Beweise bemühen sich dann bekanntlich auch Untersuchungsausschüsse und -berichte vergeblich. Und ich habe es nicht als meine Aufgabe angesehen, die Einflüsse der anonymen Mächte aufzudecken; das wäre eine ebenso langwierige wie unnütze Arbeit gewesen. Denn solange die Völker an die alleinseligmachende Ökonomie so innig glauben wie früher an den lieben Gott, könnten auch die besten Beweise keine Änderung bewirken.

 

Eine der bedeutendsten Erfahrungen meiner Bonner Zeit war die, daß dort alles in Ressorts aufgesplittert ist. Jedes Fachgebiet verfügt, wie der Begriff schon sagt, über eigene Fachleute, die aus der begrenzten Sicht ihres Käfigs Vorschläge vorbringen und Urteile fällen. Den Fachministerien entsprechen die Ausschüsse des Bundestages, und diesen wieder die Arbeitskreise und Gruppen der Fraktionen. Sobald sich Abgeordnete ein Stück Kompetenz erobert haben, hüten sie diese mit Zähnen und Klauen. Sie stehen natürlich auch unter dem Druck der jeweiligen Interessenverbände, die möglichst viel für sich »herausgeholt« haben möchten, und selbstverständlich unter dem Druck ihrer Klientel im Wahlkreis.

Die Arbeitswoche in Bonn besteht aus einem unablässigen Dahinhasten von Sitzung zu Sitzung, von Termin zu Termin. Die Fraktionsvorstände tagen am Montagnachmittag, am Abend die Landesgruppen nach Fraktionen getrennt.

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Dienstag, vormittags, treffen sich die Arbeitskreise der Fraktionen — wollen sich die Mitglieder der dazugehörigen Ausschüsse noch besprechen, dann müssen sie das während des Frühstücks erledigen. In der Mittagspause treffen sich die Sondergruppen, was für mich die Gruppe der Arbeitnehmer war. Ab Nachmittag tagen die Gesamtfraktionen bis in den Abend, was stets mit einer laufenden Abwanderung aus dem Saal verbunden ist, denn auf den Abend haben bereits wieder spezielle Arbeitsgruppen eingeladen. Am Mittwoch tagen die offiziellen Bundestags-Ausschüsse den ganzen Tag, so daß es praktisch nicht möglich ist, zwei Ausschüssen anzugehören oder einen Kollegen zu vertreten. 

Da hier die Abwesenheit stärker ins Gewicht fällt und augenfällig registriert wird, bleibt für die eigene Büroarbeit hauptsächlich nur der Donnerstag und der Freitagvormittag — während das Plenum tagt! Irgendwann müssen schließlich die Briefe beantwortet, Schriftstücke oder Reden vorbereitet, Telefonate erledigt werden. Das Durchsehen der Papierberge — von Durchlesen kann gar nicht die Rede sein — muß ohnehin auf die Abendstunden verlegt, während der Sitzungen getätigt oder für die Bahnfahrt aufgehoben werden. Freitagmittag eilen alle hastig zu ihren Zügen, schon darum, weil am Abend im Wahlkreis oder anderswo mehr oder weniger belanglose Termine wahrgenommen werden müssen.

Ein Witzbold hat einmal gesagt, die Abgeordneten in Bonn seien so rastlos beschäftigt, daß die Welt unter­gehen könnte, ohne daß sie es merkten — und das ist keine so abwegige Vorstellung. Aus eigener Erfahrung muß ich zugeben, daß ich an den Tagen in Bonn über die Ereignisse schlechter informiert war als am Wochenende zu Hause, wo ich dann die liegengebliebenen vier Tageszeitungen und sechs Wochen­zeitungen durchzunehmen hatte. 

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Die verhängnisvolle Kehrseite der ausufernden Geschäftigkeit auf eingefahrenen Geleisen wurde mir bald klar. Es besteht für keine Regierungskoalition eine Chance, langfristige Konzeptionen zu entwickeln. Und wären solche vorhanden, dann würden sie nicht erst im Dickicht der Interessen, sondern schon im Gestrüpp der wohletablierten Ministerialbürokratien erbarmungslos zerfleddert werden. Wie viele völlig folgenlose Anläufe habe ich in den neun Jahren allein in der CDU/CSU-Fraktion erlebt! Um die Arbeit zu »straffen«, »Konzeptionen« oder »Strategien« zu entwickeln, wurden wiederholt Gremien gewählt oder eingesetzt, von denen man dann nie mehr etwas gehört hat, was über die üblichen Belanglosigkeiten hinausgegangen wäre. 

Doch die zutage getretene Hilflosigkeit ist lediglich das Spiegelbild der heutigen hochzivilisierten Gesell­schaft, die eben selbst total zersplittert ist. Die unvermeidliche Folge des immer diffuser werdenden »Fortschritts« ist: Es gibt keinen, der die Dinge noch übersehen könnte. Und der Bundeskanzler, der laut Grundgesetz die »Richtlinien der Politik« bestimmen soll, kann das schon gar nicht, denn er ist der Gehetzteste unter den Gehetzten.

Bei alledem waren allerdings viele Abende in Bonn durch Einladungen und Empfänge aufgelockert, bei denen erlesene Speisen und Getränke serviert wurden. Ich gestehe, diese angenehme Abwechslung gern wahrgenommen zu haben; denn auch die damit verbundenen Gespräche gehören zum politischen Alltag. Nur ein Prinzip habe ich dabei eisern durchgehalten: um Mitternacht war Schluß, denn der ausgiebige Schlaf ist mir noch stets über alles gegangen. Kleine Konzessionen an die Geselligkeit konnte ich mir schon darum erlauben, weil ich in meinem Leben sonst nur wenig Zeit durch belangloses Gerede vertan habe. 

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Wenn ich an die vielen denke, die sich immer wieder die gleichen unbedeutenden Geschichten erzählen, dann liegt hierin ein gut Teil meines Zeitgewinns, der mich überhaupt erst in die Lage versetzt hat, mein eigenes Tun und die ganze Politik kritischen Blickes zu begleiten und darüber hinaus noch zu schreiben. Meine Texte sind mir keineswegs nur so aus der Feder geflossen; ich habe verbessert und immer wieder verbessert, ehe mir ein Manuskript druckwürdig erschien.

   Ein Versuch in der CDU    

In Bonn ging acht Monate nach der Wahl des Jahres 1972 die Periode Barzel zur Neige, und Karl Carstens wurde Fraktionsvorsitzender. Ein neuer Vorsitzender, eine neue Chance, hoffte ich damals. An einem ungewöhnlich heißen Julitag des Jahres 1973 fuhr ich eigens nach Bonn, weil Professor Carstens mir diesen Termin gegeben hatte, sprach eine halbe Stunde mit ihm und übergab ein zwölfseitiges Papier über die anstehende Problematik, dessen Inhalt im folgenden verkürzt wiedergegeben wird.

Die Stellung unserer Partei zum Bereich »Umwelt«

I. Das Problem

Die Gefährdung der natürlichen Umwelt ist ein weltweites Problem. Mit dem »Umweltschutz« im engeren Sinne ist nur ein Teilbereich bezeichnet. Zur Beseitigung des Gesamtproblems müssen folgende Problemkreise in die Überlegungen einbezogen werden:

1. Das exponentielle Wachstum der Wirtschaft, das in den letzten Jahrzehnten alle 10-15 Jahre zu einer Verdoppelung der Produktion in den Industrieländern führte. 
2. Das exponentielle Wachstum der Bevölkerung, das schon bei gleichbleibendem Lebensstandard ein Problem darstellt, aber durch dessen Steigerung verschärft wird. Für uns in der Bundesrepublik entsteht mit der sinkenden Geburtenziffer ein Gastarbeiterproblem, was uns in einigen Jahren schwer zu schaffen machen wird.

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3. Die Erschöpfung vieler wichtiger Rohstoffe innerhalb der nächsten 100 Jahre.
4. Die Erschöpfung der fossilen Energievorräte, insbesondere des Erdöls. Auch deren Ersatz durch die Atomenergie ist infolge der wachsenden Zahl von Kernkraftwerken und besonders wegen ihrer Abwärme problematisch, sogar dann, wenn man von den Fragen der Strahlung und des Atommülls absieht. 
5. Die Umweltverderbnis (Pollution) im engeren Sinne nimmt infolge der Entwicklung unter 1. und 2. weiter zu: Wasser- und Luftverunreinigung, Lärm und steigende Abfallberge, sowie zunehmender Gebrauch von Chemikalien aller Art.
6. Der verschärfte Nahrungsmittelmangel in weiten Teilen der Welt, der bei uns wiederum ein Überschußproblem ist.
7. Die natürliche Umwelt und besonders die Pflanzen- und Tierwelt befindet sich weltweit auf dem Rückzug infolge der Inanspruchnahme durch den Menschen und der Ausplünderung selbst der Weltmeere. Aufgrund dieser Entwicklungen wird auch unsere Trinkwasserversorgung bald in größte Schwierigkeiten kommen.

 

Für alle hier nur pauschal aufgeführten Bereiche liegen inzwischen unzählig viele wissenschaftliche Untersuchungen und eindringliche Warnungen vor. An der Spitze steht die vom Club of Rome in Auftrag gegebene Untersuchung des Massachusetts Institute of Technology. Wir müssen in allen wesentlichen Punkten leider davon ausgehen, daß die erwähnten »Menschheitsmodelle« stimmen. Somit wird es bei unverändertem Wachstum im Laufe der nächsten 100 Jahre zu weltweiten Katastrophen kommen.

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Damit die angekündigten Katastrophen verhindert oder wenigstens die schlimmsten Folgen verhütet werden, müßten schon heute weltweite Kurskorrekturen in die Wege geleitet werden. Dies ist um so nötiger, als alle Änderungen menschlicher Projektionen sich erst mit beträchtlicher Verzögerung auswirken. Auch die Programme zum Umweltschutz im engeren Sinne können erst in etwa zehn Jahren wesentliche Wirkungen zeitigen. Bis dahin haben aber die verschlechternden Faktoren ebenfalls wieder zugenommen, zumal die Produktionen weiter gesteigert werden. Die jetzir gen »Langzeitprogramme« gehen in fast allen Ländern noch unbeirrt von einer Steigerungsrate des Bruttosozialprodukts von rund 5% je Jahr aus.

II  Die politische Lage

Die skizzierten Erkenntnisse sind erst in den letzten drei Jahren in das öffentliche Bewußtsein gerückt. Unsere Partei hat leider diese einmalige Gelegenheit bisher nicht ergriffen, die eine so konservative Idee wie die Bewahrung der natürlichen Umwelt ihr bietet. Eine Idee, die von selbst eine absolute Notwendigkeit erlangen wird, je weiter die Zeit fortschreitet. Hier geht es um die Lebensmöglichkeit der nächsten Generationen auf diesem Planeten. Die weitere Entwicklung wird automatisch den Verfechtern der Umwelt in die Hände arbeiten. In den Industrieländern werden nur noch die Parteien Siegeschancen haben, die überzeugend darlegen, daß sie zu allererst die Grundlagen menschlichen Lebens retten wollen.

Meine Bemühungen, die gesunde Umwelt bereits im letzten Wahlkampf stärker als unser Ziel herauszustellen, fanden wenig Unterstützung in der Führung der CDU. Ich war schon zufrieden, daß unser >Konzept für Umweltvorsorge< noch vor der Wahl als Broschüre herauskam.

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Immerhin gelang es, mit diesem Konzept und durch die Tätigkeit der >Arbeitsgruppe für Umweltvorsorge der CDU/CSU-Bundestagsfraktion< mit den Koalitionsparteien einigermaßen Schritt zu halten. Besonders in der interessierten Öffentlichkeit wurde unsere Haltung in den Umweltdebatten des Bundestages und zu den behandelten Gesetzentwürfen positiv vermerkt. Damit gelang es, alle Wege offen zu halten, obgleich man unserer Partei oft eine industriefreundliche Haltung unterstellt, was in diesem Fall nicht als umweltfreundlich gilt.

Soweit Umweltgesetze in der letzten Wahlperiode behandelt wurden, erfolgte die Verabschiedung einstimmig: Gesetz zur Bekämpfung des Fluglärms, Gesetz über die Verminderung des Bleigehalts in Ottokraftstoffen,

Gesetz über die Beseitigung von Abfällen. ... Eine starke Behinderung der Deutschen Umweltgesetzgebung droht von Seiten der EWG. Da das Verständnis der anderen Länder noch nachhinkt, könnten sie unter Berufung auf die europäische Zuständigkeit deutsche Gesetze zu verhindern suchen. Dieser ernsten Frage kann unsererseits nicht einfach mit Nachgiebigkeit begegnet werden.

III. Welche praktischen Schritte sind zu unternehmen? 

In der konstituierenden Sitzung der <Arbeitsgruppe für Umweltvorsorge> der Fraktion wurde von den Kollegen betont, daß unsere Tätigkeit eine viel stärkere Unterstützung von Seiten der Fraktion finden müsse und daß sie größere Publizität bekommen sollte. Es wird nötig sein, daß sich auch der Fraktionsvorsitzende in unüberhörbar deutlicher Weise zu den Fragen äußert, welche nicht nur unser Volk, sondern die gesamte Menschheit in den nächsten Jahrzehnten zunehmend bewegen werden. 

Dazu gehört notwendigerweise, daß sich die Fraktion in ihrer ganzen Breite mit der Gesamtproblematik etwas mehr vertraut macht...

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Allein die fundierte sachliche Mitberatung an den zum Teil in der Materie sehr schwierigen Gesetzen wird große Anstrengungen von unserer Seite erfordern. Da hier weitgehend Übereinstimmung mit den Koalitionsparteien zu erwarten ist, sollte unsere Fraktion darüber hinaus zumindest mit kleinen und großen Anfragen und in Sonderfällen auch mit einem eigenen Gesetzentwurf in Erscheinung treten. Dazu fehlen z.Z. die arbeitsmäßigen und personellen Voraussetzungen fast ganz.

Noch wichtiger ist aber, daß bei allen Planungen und Aussagen unserer Fraktion (z. B. bei der Steuerreform, der Raumordnungs- und Technologiepolitik - um nur einige zu nennen) die gesamte Umweltproblematik von heute und morgen hineingearbeitet wird. Davon sind wir noch weit entfernt. Darum möchte ich noch einmal betonen, daß Mittel und Wege gefunden werden müssen, um den Informationsstand unserer Fraktion bedeutend zu verbessern. Es ist mir bewußt, daß diese knappe Übersicht noch sehr unvollständig ist. Ich erkläre mich aber gern bereit, die Vorlage in den gewünschten Richtungen durch zusätzliche Ausführungen zu ergänzen.

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Karl Carstens, der spätere Bundespräsident, war bei dem Gespräch nett und freundlich. Ich verriet ihm meine Arbeit an einem Buch über die ganze Problematik. Darauf fragte er, ob ich schon einen Verleger hätte; den sollte ich mir bald besorgen, denn er wisse aus Erfahrung, wie lange das sonst noch dauere. Diesen Rat beschloß ich zu befolgen. Meinen Vorschlag, einmal eine Sondersitzung der Fraktion zu diesem Thema abzuhalten, wie das hin und wieder bei wichtigen Themen üblich war, versprach er im Vorstand vorzubringen. Die gute Absicht bestätigte er am folgenden Tage noch schriftlich, doch dann war nichts mehr darüber zu hören. Ich bohrte nicht nach, weil in den folgenden Reden und Handlungen seine parteikonformen Ansichten immer deutlicher wurden. Damit war diese Hoffnung sehr schnell zerronnen.

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Die zunächst letzten Umweltgesetze, die wir im Innenausschuß zu beraten hatten, waren das über den Wasserhaushalt und das über die Erhebung von Abwasser­gebühren. In der interfraktionellen Arbeitsgruppe lief immer weniger in meinem Sinne. Die Europäische Gemeinschaft, so wurde argumentiert, erlaube das und jenes nicht. Und bremsend reagierten — wie schon bei früheren Umweltgesetzen — die von der CDU regierten Länder im Bundesrat, dazu vor allem Bayern. Doch die von der SPD beherrschten Länder verhielten sich nicht viel positiver. Und der FDP-Vertreter im Ausschuß fragte mich unverhohlen: »Aber Herr Gruhl, haben Sie denn noch nichts von der Wirtschaftskrise gehört? Jetzt ist anderes wichtiger!« Schließlich passierte eine Fassung der Wassergesetze fast einstimmig das Plenum, gegen die ich protestierend stimmte, weil sie gegenüber der ursprünglichen Vorlage im wahrsten Sinne des Wortes »verwässert« war.

Von Umweltschutz war sonst in Bonn kaum noch die Rede. Der Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte sich zwar am 3. Juli 1975 einen ganzen Tag Zeit genommen, um über die Umweltprobleme zu konferieren. Eingeladen waren einige Mitglieder des <Sachverständigenrates für Umweltschutz> beim Innenminister, einige Vertreter der Wirtschaft und von jeder Fraktion ein Abgeordneter. Das Gespräch kam über die üblichen Allgemeinplätze nicht hinaus. Für mich war besonders interessant, wie Helmut Schmidt eine Sitzung leitete; denn ich konnte wohl zu Recht annehmen, daß es im Bundeskabinett ebenso zuging. Er hatte die Zügel straff in der Hand und trieb die Dinge voran, ich kann aber auch nicht behaupten, daß ich übermäßig von ihm beeindruckt war.

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Bei der Mittagsmahlzeit nutzte ich die Gelegenheit, dem Bundeskanzler, der mir den Platz neben sich angeboten hatte, meine Enttäuschung darüber kundzutun, daß er keine Vertreter der Umwelt- und Naturschutz­verbände eingeladen hatte. Seine Antwort lautete: »Sollen doch die Wissenschaftler zeigen, was sie können.« Nachträglich bestätigte sich, daß die Veranstaltung wohl auch zur Information des Kanzlers dienen, aber hauptsächlich einen Alibicharakter für die Öffentlichkeit haben sollte. Das einzige konkrete Ergebnis war, daß Helmut Schmidt am Schluß die <Arbeitsgemeinschaft für Umweltfragen> aufforderte, Konzeptionen zu entwickeln. Das war darum interessant, weil sich diese Vereinigung von Anfang an in der Hand der deutschen Industrie befand. Sie unterhält ihre Geschäftsstelle kostenlos im Haus des <Deutschen Industrie- und Handelstages> in Bonn und große Firmen finanzieren als Mitglieder die Tätigkeit. Mit den 25 Mark, die ich und andere persönliche Mitglieder zahlen, ließe sich in der Tat herzlich wenig anfangen.

 

Politisch war in Bonn die Umwelt zu einem belanglosen Randthema herabgestuft worden, während sie vorher wenigstens ein anerkanntes Randthema gewesen war. In keiner der drei etablierten Parteien hatten die neuen Globalprobleme eine Chance, ernsthaft aufgegriffen zu werden. Die FDP, die sich unter Innenminister Genscher nach 1969 eine Zeitlang als Umweltschutzpartei zu gebärden versuchte, konnte diesen Anspruch schon darum nicht erfüllen, weil sie am meisten von der Finanzierung durch die Wirtschaft abhängt. 

Auf die SPD trifft das nicht in dem Maße zu. Erhard Eppler hatte jedoch bisher keine echte Chance, weil immer noch die verständnislosen Gewerkschaften die Parteitage beherrschen und auch die Kommunalpolitiker und ihre Verbände eine den Umweltschutz bremsende Macht ausüben.

So kam es nach dem Erdölschock von 1973 zu einer stillschweigenden Allparteienkoalition mit dem Ergebnis, daß die Umweltfragen beiseite geschoben wurden. Nur die Atomenergieproblematik geriet ab und zu auf die Tagesordnung. Da gab es in der SPD wenigstens einige Skeptiker, in der CDU/CSU stand ich ganz allein. 

Ich ergriff dreizehnmal das Wort gegen die Atomenergie, doch die Medien verschwiegen das durchweg. Ich hatte zu Anfang der siebziger Jahre einmal Manfred Wörner gefragt, wie denn ein Land mit Atomkraftwerken noch verteidigt werden könne. Seine Antwort beschränkte sich auf die Vermutung, daß der Gegner sich doch wohl auf den Beschuß militärischer Ziele konzentrieren würde.

Es wurde immer lächerlicher, wie die C-Parteien der Regierung in jeder Energiedebatte vorwarfen, daß sie ihr Energieprogramm nicht konsequent genug vorantriebe, obwohl doch längst deutlich geworden war, daß es zu den einst erwarteten Steigerungsraten des Verbrauchs überhaupt nicht kam. Ich habe in den Debatten von 1976 bis 1978 erklärt, wie unsinnig die Berechnungsmethoden sind, und daß die wirtschaftlichen Prognosen und die Energieprogramme der letzten Jahre den Nobelpreis für Fehlleistungen verdienen. Inzwischen ist das bewiesen, denn die Bundesrepublik Deutschland verbrauchte in den letzten Jahren kaum mehr Energie als 1973. 

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  Herbert Gruhl 1987  - Erinnerungen, Memoiren, Biografie