Start Himmelfahrt

Prof. Eberhard Seidel 1992

Buchbesprechnung zu Himmelfahrt ins Nichts

im Buch "Umwelt-Wirtschafts-Forum"

detopia-2023:

Auch das PDF lesen - weil bei mir noch schlecht korrigiert

Quelle:  https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-662-40987-9_18    

Quelle:  DNB.Buch

UWF 1, November 1992
Institut für Umweltwirtschaftsanalysen,
Umwelt Wirtschafts Forum
Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1992

 


Ein im Wortsinn kolossales Gemälde. Mit unbeirrt festem, fast immer aber auch recht breitem Pinselstrich auf die riesige Leinwand einer universalen "Weltgeschichte" geworfen. In fast einer jeden Beziehung weitgespannt: die Natur- und Geisteswissenschaften umfassend, dazu Philosophie und Religion. Erstreckt über alle irdischen Kontinente und Meere, bis in die kosmischen Räume hinein.

Weitgespannt vor allem auch zeitlich: sozusagen von "Urknall" und "Ursuppe" her. Erst unmerklich, schleichend, bald furchteinflößend und zum Schluß atemberaubend die Beschleunigung in der dargestellten - natürlichen, kulturellen und schließlich zivilisatorischen - Entwicklung: "Der 4.000.000.000 Jahre dauernde Anlauf des Lebens". "Der 3.000.000 Jahre dauernde Anlauf des Menschen".

100.000 Jahre Denken. 10.000 Jahre Machen. Einige Jahrtausende Hochkultur. Ganze 200 Jahre technische Zivilisation. Und nun: die Menschenflut, die Unratlawine, die Entropie und "Das zwangsläufige Ende".

 

Gibt es eine Möglichkeit zur Wende? Gruhl will und kann sich mit dieser Frage nicht mehr aufhalten. Der "Point of no Return" ist überschritten. Was bleibt ist die "Himmelfahrt ins Nichts". Trefflich gewählter Titel für ein in Zorn und Eifer, vor allem aber mit Herzblut geschriebenes Buch.

Was die Fachwissenschaftler aller Couleur zu dieser Schrift sagen werden, ja sagen müssen, ist nach alledem schon klar: Keiner wird sich, keiner kann sich mit seiner Arbeit, seinen Konzepten, Theoremen und Lösungsvorschlägen im einzelnen wiederfinden. Keiner kann sich darob auch direkt angesprochen fühlen. Schon die Mischung von "Meinung" und "Fakten" wird manchem nicht gefallen. Die meisten werden das höchst komplizierte hierarchisch-systemische Gefüge der Fakten nicht finden, wie auch das ihrer Konzeptionen und Theorien nicht.

Gruhl geht zwar oft durchaus in die Tiefe, aber das geschieht immer gleichsam unmarkiert und ungeschieden in einem einzigen - groß // und breit dahinfließenden - Strom der Darlegung. Die Grenzen von Einzelwissenschaften sind nicht respektiert. Die Grenze zwischen Fachwissenschaft und Philosophie ist breit verwischt. Der Beobachtung Wilhelm Buschs, nach der sich der Weise nur Ieise, beziehungs- und bedingungsweise äußert, folgt Gruhl nicht. Wem das Herz voll, dem geht der Mund über!

Näher als zu den - immer nur bedingten - wissenschaftlichen Prognosen wird man daher die Gruhl'schen Extrapolationen an alt- oder auch neutestamentliche Prophetien rücken. Besser als die Propheten des alten Testaments oder auch die Apokalypse aus der Offenbarung des Johannes passen zu Gruhl freilich die "Windzeit" und "Wolfszeit" der germanischen Mythologie oder auch die "Gotterdammerung" in Richard Wagners "Ring des Nibelungen".

Festgestellt ist damit, daß auch die Theologen an Gruhl keine rechte Freude haben werden. Und vielleicht haben gar die Verehrer jenes Philosophen etwas auszusetzen, den Gruhl - ihn hierin neben Goethe stellend - allen anderen seiner Zunft vorzieht: Friedrich Nietzsche. (Über die Paßform einiger Zitate läßt sich streiten.)

Für alle Genannten hat Herbert Gruhl sein Buch indessen wohl nicht geschrieben. Oder doch geschrieben? Viele Professoren werden es - gleichsam als Privatlektüre - auf ihre Nachttischen haben. Es ist zu hoffen, und es ist ihnen zu wünschen. In dem Buch fin den sich eindrucksvolle, ja hinreißende Formulierungen in Fülle.

Viele andere werden Gruhls neues Buch nicht so schnell aus der Hand legen konnen. Bei nicht wenigen freilich wird das Buch auch hier relativ früh an gewisse Grenzen stoßen. Der Grund: "Die Wahrheit hat keine Freunde". Sie hat niemand zum Freund, weil sie selbst sich niemanden zum Freunde macht. "Trost und Wahrheit"- das große Problem der Religion klingt an. Kurz: es fehlt die "Frohe Botschaft".

Daß alles schlecht ist, weiß man selber, man möchte es nicht noch und vor allem nicht immer wieder lesen müssen. Ein Er-

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weckungsbuch, der Entwurf eines "Global Future Management"- möglichst eines zur Wende im Polstersessel -, hätte es da sicher Ieichter.

Aber alle mögliche Fundamental- und Detailkritik einmal beiseite gelassen: Gruhl könnte ganz einfach recht haben! Gruhl könnte ein - knappes, überaus  dichtes - Bild von "Weg und Ziel des Menschen in Welt und Zeit" gezeichnet haben. Von hier und heute aus gesehen, lassen sich wenig Anzeichen fiir eine grundsätzlich andere Erwartung und Alternative finden. Es hat vielmehr hohe Wahrscheinlichkeit für sich, daB vor unseren Augen ein biosphärischer Makroprozeß von unauthaltsamer Wucht schicksalhaft abrollt: Die evolutionsökologisch entgleiste Spezies Mensch verzehrt und zerstört ihren Lebensraum, vernichtet dabei viele andere tierische und pflanzliche Lebensformen und schliefßlich sich selbst. Es ist paradox, aber es ist Realität: Je erdrückender klar wird, daß gewisse Lebensformen der westlichen lndustrieläander kein Modell fiir die gesamte Welt sein können, desto mehr Menschen drängen in eben diese Lebensform.

 

 

Okologisch (sozio-extern) gesehen, ist alles so einfach. Schlichte drei Faktoren sind im grof3en und
ganzen hinreichend, das Geschehen zu erklaren: die
Kopfzahl der Menschen, die Hohe undArtihrer Anspriiche und die Technik von deren Befriedigung. Insoweit
die Menschheit ihre Anspriiche nicht zu kontrollieren
und dieses Kontrolldefizit nicht via Technik zu kompensieren vermag, ist sie zum Untergang verurteilt.
Okonomisch (sozio-intern) betrachtet, ist dagegen
alles unendlich kompliziert und schwierig. Schon in
der Rolle des privaten Konsumenten fallt es schwer,
iiberzogene Energie- und Stoffverbrauche zu kappen,
iiberzogene Anfalle von Hausmiill zu mindern. Schon
hier lauert die "Rationalitatsfalle" in vielerlei Gestalt.
Fiir die Produzenten in Arbeitgeber- wie in Arbeitnehmerposition ist mit dem Herstellen des Oberflusses
immer auch der Erwerb des Lebensnotwendigen verbunden. Fiirdie Inhaber betrieblicher Fiihrungspositionen hangen daran die Existenz der Unternehmung, der
Erhalt der Arbeitsplatze, soziale Verantwortung, Berufs- und Lebenserfolg. Der Wettbewerb- und das ist
vielleicht das Verhangnisvollste iiberhaupt - zwingt
auchjene zu wachsenden Gewinnen, wachsenden Einkommen und Investitionen, die letztlich nur ihre Existenz in diesem "Spiel" sichern, die also schlicht "dabeibleiben" wollen. Das ganze System- auch der Staat als
Fiskus - ist infolgedessen siichtig nach Wachstum;
alles handelt auf dieser Straf3e im neurotischen
Wiederholungszwang. Soweit die "Umkehr" iiberhaupt thematisiert wird, bleibt sie in der Rolle des
"guten Vorsatzes", der fiir den Siichtigen bekanntlich
nie handlungsleitend wird und so den Weg zur Holle
markiert.

Untereinem Aspekt HiBt sich das von Gruhl sohochgestellte Kriterium schonungsloser Wahrheit indessen
auch gegen den Verfasser kehren: Gruhl sieht das En de der irdischen Biosphare als zwangslaufige Folge des
prometheischen, des titanischen oder faustischen
Strebens des Menschen. Der Mensch als zweiter
Schopfer, als selbsterkorener Gott, der er dann freilich
doch nicht ist, kommt in den Blick. Deshalb auch das
Stichwort "Gotterdammerung". Man kann mit Konrad
Lorenz diesen Zusammenhang aber auch ungleich
niichterner sehen: Der Mensch scheitert, wei! er noch
gar nicht Mensch geworden ist!

Das Tier-MenschObergangsfeld ist in okologischer Sichtweise noch
keineswegs geschlossen. Was sich vielmehr zeigt, sind
extreme Gefahrdungen der Moglichkeit seines Abschlusses.

Denn was ist bisher geschehen? Kraft seines Verstandes hat der Mensch jene negative Riickkopplung
zerbrochen, die Anspruch und Anzahl einer Spezies
reguliert und so - alles mit allem - im Gleichgewicht
halt. Als ein "Werdender" hat der Mensch damit sein
erstes Wort gesprochen. Es ist das genau jenes Zauberwort, das auch Goethes beriihmtem Lehrling schon zu
Gebote stand. Das rettende zweite Wort- es ist nichts
weniger als das Kriterium fiir die SchlieBung des TierMensch-Obergangsfeldes - darf damit als "ent-borgen" gelten. Es lautet: Selbstbeschrankung, Selbstbeschrankung der "materia humana". Da uns nichts
und niemand die negative Riickkopplung zuriickbringt,
werden wir sie selbst leisten miissen. Was die Religioneri mit "Erlosung" und Umkehr thematisieren, zielt,
zu Ende gedacht, wohl auf eben diesen Punkt.
Erlaubt sei ein Szenario: ein Schriftsteller schreibt
iiber einen Schriftsteller und beruft - zur Bestatigung
der Thesen seines Heiden- eine "Weltkonferenz" ein.
Man wiirde das als einen ziemlich bemiihten Einfall
abtun. Das Leben selbst schreibt freilich allemal die
noch phantastischeren Geschichten. In der Umweltkonferenz von Rio de Janeiro ist dieses Szenario gestellt. Viele Menschen aus vielen Nationen, darunter
die jeweils Hauptzustandigen fiir den Umweltschutz,
kommen zusammen, urn Gruhls Schliisse zu bestatigen und zu bekraftigen: Nach allem, was man von der
diesjahrigen Umweltkonferenz weif3, wird eben dieser
Plan dort ins Werk gesetzt.
Obrigens, urn bei dieser Konferenz noch zu bleiben:
Ware Gruhl weniger eckig und kantig, weniger dem
verptlichtet, was er fiir die Wahrheit halt, er ware
moglicherweise noch heute unser Bundesminister fiir
Urn welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Er konnte die Bundesrepublik Deutschland in Rio de Janeiro
vertreten, vielleicht als "dienstiiltester U mweltminister
der Erde". Globaler Umweltschutz als Staatsdoktrin,
als nationale Mission des erneuerten, gliicklich wiedervereinten Deutschland. Der Politiker Gruhl ware am
Ziel cines seiner schonsten Traume.
Gruhl schreibt ohne Hoffnung. Was er noch will, ist
"die Geschichte erzahlen". "Unaufhaltsam rollt die
Maschinerie", "Freiwilliger Verzicht ist dem Leben
fremd", "Befohlener Verzicht muB scheitern", "Zu

 

 

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