2.8 Das Gesetz der gleitenden Fügungen
Gruhl-1992
Das Leben besteht in der Bewegung
und hat sein Wesen in ihr.Der griechische Philosoph Aristoteles
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Die Kapazität eines jeden Menschen hat trotz "Großhirn" irgendwo ihre Grenze. Darum haben sich die Menschen zu allen Zeiten ein vereinfachtes Bild von der Welt zurechtgelegt. Die Entdeckung der mechanischen Naturgesetze in den letzten Jahrhunderten kam dieser Neigung zur Vereinfachung entgegen. Die Gesetze der Mathematik und Physik wurden seitdem zunehmend zur Grundlage der Weltdeutung, so daß man darüber zusehends die biologischen Gesetze vergaß.
Die Welt wurde immer mehr als Rechenexempel aufgefaßt, dessen vollständige Lösung erreichbar schien, ja zum Ziel der Geschichte proklamiert wurde. Die Wissenschaft der Neuzeit konzentrierte sich mehr oder weniger auf das Mechanische, starr Systematische und eröffnete damit den Siegeszug der Technik und Ökonomie. Völlig vernachlässigt wurden die organischen Naturvorgänge, deren Eigenschaften mit den Begriffen "Wechsel, Werden, Vielheit, Gegensatz, Widerspruch, Krieg" zu umschreiben sind.81 Man ging von folgenden grundlegenden Annahmen aus:
1. Alles Geschehen habe berechenbare Ursachen.
2. Alles Geschehen habe berechenbare Wirkungen.
3. Das Ziel der Geschichte sei berechenbares Glück für alle.Diese Annahmen wurden in den Rang von Glaubenssätzen erhoben. In deren Rahmen bewegte sich der Wissenschafts- und Schulbetrieb mit entsprechenden Auswirkungen auf Wirtschaft und Staat. Die Vorstellungen waren also einfach genug, um weite Verbreitung finden zu können. Im Rahmen dieses Weltbildes wurde immer mehr "festgestellt", und es sollte noch mehr "geregelt" werden, letzten Endes alles. Das ist nicht nur symbolisch zu verstehen, das ist auch wörtlich zu nehmen, denn es handelt sich um feste Häuser, Straßen, Fahrpläne, Arbeitspläne, Investitionspläne, Sozialpläne und Zukunftspläne überhaupt. Nicht zu vergessen die staatlichen Gesetze, von denen es so viele gibt, daß schon lange kein einziger Mensch eines Landes alle kennen kann.
Ganz im Gegensatz dazu ist zur gleichen Zeit die Physik in Bereiche eingedrungen, wo es Feststehendes nicht mehr gibt. Weder im mikroskopischen noch im makroskopischen Bereich ist alles streng determiniert. Der Philosoph Max Scheler wußte schon 1928: "Nicht das Gesetz ist es, das hinter dem Chaos von Zufall und Willkür im ontologischen Sinne liegt, sondern das Chaos ist es, das hinter dem Gesetz formalmechanischer Art türmt."82 Nun, im Jahre 1988 konnte Hermann Haken sogar darlegen, "daß die Darwinschen Regeln sowohl in der belebten als auch in der unbelebten Materie gültig sind".83 In die gleiche Kerbe schlägt der fundamentale Satz des Biologen Erwin Chargaff: "Die Dialektik des Lebens ist viel subtiler als die Logik der Materie."84
Wir, das heißt die derzeitige Generation, müssen uns nun wieder auf die Unberechenbarkeit und auf den "Gegensatz-Charakter des Daseins" einstellen.85 Das menschliche Leben spielte sich in den letzten Jahrhunderten ohnehin wie früher unter den Regeln von eh und je ab. Tagtäglich überrascht uns Unberechenbares: unerwartetes Unglück und unerwartetes Glück — und beiden müssen wir uns fügen. Wir sind selbst viel zu tief in die Geschehnisse verstrickt, als daß uns die Prinzipien, unter deren Herrschaft sie ablaufen, bewußt werden könnten. Oder wir haben uns schon derart von Natureinwirkungen befreit, daß sie uns in unseren abgeschlossenen Häusern kaum berühren.
Als zutreffendes Beispiel für die Abläufe im Reich des Lebendigen bietet sich die globale Bewegung dessen, was wir das Wetter nennen, an. In der Atmosphäre tobt der Krieg zwischen den Hoch- und Tiefdruckgebieten in "ewiger Wiederkehr". Es kann zu keiner "Lösung" kommen; denn wie sollte die auch aussehen? Könnte Hoch- und Tiefdruck sich ausgleichen, und ewige Ruhe einkehren? Oder könnten die Hochdruckgebiete die Tiefdruckgebiete besiegen oder umgekehrt?
Die Atmosphäre bleibt ewig in unberechenbarer Bewegung, ohne die es keine Entwicklung und kein Geschehen auf unserem Planeten gäbe. Und das Leben folgt den gleichen Spielregeln. Seit einigen Jahren zeigen uns die Satellitenaufnahmen alltäglich die Bewegungen der Hoch- und Tiefdruckgebiete auf dem Fernsehschirm im Zeitraffer. Nichts kann besser das veranschaulichen, was ich das "Gesetz der gleitenden Fügungen" nenne.
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Aus den Wirbeln der Wolken ersehen wir, wie sich große und kleine Kreisläufe bilden und wieder auflösen, unablässig ineinanderfließen, zerfließen, erneut bilden, auch hin und wieder stillstehen, aber nie für lange. Das ist schon verwirrend genug. Doch wir sehen die Bewegungen mit dem Auge des Satelliten nur zweidimensional und mit zeitlicher Dimension. Dazu gehören auch noch die nicht sichtbar gemachten vertikalen Bewegungen. Wie über dem Land die warme Luft aufsteigt, sich abkühlt und wieder sinkt, wie über den Meeren die Feuchtigkeit verdunstet und irgendwo als Regen niedergeht — und wir sehen auch nicht, wie diese vertikalen Kreisbewegungen in die horizontalen geraten, wobei ein unberechenbares Durcheinander entsteht, das man durchaus als Chaos bezeichnen könnte. Darum kann der Meteorologe schwer voraussagen — oft nicht einmal für den nächsten Tag — an welcher Stelle sich ein Hurrikan bilden, wo genau sich ein Gewitter zusammenbrauen, wo aus den Wolken der Regen niedergehen und wo er als Schnee fallen wird.
Schließlich spielen auch die Erhebungen auf der Erde (neuerdings auch die Großstädte und Industriegebiete mit ihrer Wärmeentwicklung) eine Rolle. Wer sich vorstellen kann, wie hier Dutzende von großen Kräften und Tausende von kleinen in jeder Sekunde zusammenwirken, wobei sich die Konstellationen ständig ändern, der wird sich auch eine Vorstellung vom Kampf des Lebens auf unserem Planeten bilden können. Von dieser Ähnlichkeit der Vorgänge des Wetters und des Lebens war Leonardo da Vinci sein Leben lang fasziniert. Er versuchte, nicht nur die Menschen und Tiere in ihren Bewegungen festzuhalten, sondern auch die Bewegungen der Elemente Wasser und Luft, vor allem auch in ihrer zerstörerischen Gewalt.86 Je weiter der Beobachter auf Distanz geht, je längere Zeiträume er zusammenfaßt, um so besser wird er die großen Gesetzmäßigkeiten erkennen.
Eine andere, langsamere Arbeit der Natur läßt sich in den dahinschlängelnden Bächen und Flüssen (soweit sie noch unbegradigt blieben) erkennen. Der sich in Mäandern eingrabende Bach veranschaulicht das ungeregelte Wirken von Kraft und Gegenkraft. Wo das fließende Wasser auf Widerstand stößt, weicht es in anderer Richtung aus, bis ihm der Weg wieder versperrt wird, und so fort. Und die Weltmeere nagen immerfort an den Küsten und entreißen dem Festland Stück für Stück — umgekehrt wird unablässig der Boden aus den Bergen, wiederum durch das Wasser, hinabgetragen, womit sich an den Flußmündungen das Festland weiter und weiter ins Meer hinein verbreitet.
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Nietzsche schrieb über "Die Grundgestalt in der Abfolge der Lebenserregungen. Wechsel von Hebung und Senkung, das Wogen ist der einfachste Typus. Die Wellenform fast in allen Vorgängen der Natur: in ihr pflanzen sich Bewegungen fort."87) Im Fragments seines Vorgängers Heraklit heißt es: "Das Gegeneinanderstehende trägt sich, das eine zum anderen, hinüber und herüber, es sammelt sich aus sich."88) Die eben geschilderten Naturkräfte waren von physischer, unbelebter Art, aber sie sind zugleich Grundlagen des Lebens und kehren in allen Geschehnissen des Lebens wieder, wo alles in gleicher Weise in Bewegung ist — vom Keimen bis zum Sterben.
Der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt formulierte vor einem Jahrhundert: "Das Verharren führt zur Erstarrung und zum Tode; nur in der Bewegung, so schmerzlich sie sei, ist Leben."89 Bewegung stößt automatisch auf Widerstand oder eine Gegenbewegung. Nietzsche sieht: "Alles Geschehen, alle Bewegung, alles Werden als ein Feststellen von Grad- und Kraftverhältnissen, als ein Kampf ..."90
Eine Bewegung, die auf keine Widerstände stößt, läuft ins Leere, löst sich auf, verschwindet. Doch in der von Pflanzen und Tieren belebten Welt stoßen alle Lebensformen auf Widerstände. Da sie ihr Leben, ihren Lebensraum, ihre Lebensmittel behaupten wollen, stoßen sie auf den Widerstand anderer Lebewesen, die für sich Gleiches beanspruchen. "Jedes Dasein hat seinen Daseinswillen: im Kampf sich zu erhalten und seinen Lebensraum zu erweitern."91
Je beweglicher ein Lebewesen ist, desto häufiger wird es auf anderes Leben stoßen, das auch leben will, um so mehr Reibereien wird es also verursachen. Einer der berühmten Aussprüche des französischen Philosophen Blaise Pascal lautet, alles Unglück der Menschen rühre nur daher, "daß sie es nämlich nicht verstehen, in Ruhe in einem Zimmer zu bleiben".92
Das Problem ist jedoch, daß die Menschen gar nicht in ihren Häusern bleiben können, weil sie darin verhungern und verdursten müßten. Sie müssen "hinaus ins feindliche Leben". Sie müßten allerdings nicht ständig weltweit zu Lande, zu Wasser und in der Luft mobil sein, wie sie das inzwischen gewohnt sind.
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Schon die Naturelemente Luft, Wasser, ja sogar die Böden, bewegen sich und treffen auf Widerstände. Und die neugeborenen Lebewesen erlangen das eigene Bewußtsein nur auf Grund von Widerständen.93 Schon das Kleinkind ist darauf programmiert, sich gegen Widerstände durchzusetzen. Jedes Lebewesen hat genetisch den Willen zum Leben in sich. (Vielleicht hätte Nietzsche richtiger daran getan, vom Willen zum Leben, statt vom "Willen zur Macht" zu sprechen; er verwendet die Wendung "Wille zum Leben" allerdings auch sehr oft.)
Aber aggressiv muß der Wille zum Leben schon sein, wenn er Erfolg haben will. "Es ist die angeborene Kraft, welche die Eiche auf der Suche nach der Sonne über andere Bäume hinauswachsen läßt ... aus dem Rosenbusch die Blüten treibt ... die das Elefantenkalb groß werden, den Seestern sich ausbreiten, die Mamba lang werden läßt. Es ist die unbezwingliche Kraft, die dem Menschenkind befiehlt, den Schutz der Mutter zu verlassen und sich ins Abenteuer des Lebens zu stürzen."94
Die jungen Tiere üben sich zunächst im Spiel. Auch dies wird uns heute in unzähligen Filmen über das Leben von (zum Teil uns früher unbekannten) Tierarten vorgeführt. Und an den Kindern kann man es immer noch beobachten, obwohl Generationen von Psychodidaktikern sich bemüht haben, ihre theoretischen Hirngespinste gerade auf die Kinder loszulassen. Später wird Ernst aus dem Spiel. Die der eigenen Entfaltung entgegenstehenden Hindernisse sucht jedes Lebewesen zu überwinden, notfalls durch Vernichtung des Gegners, was stets das Risiko, selbst vernichtet zu werden, einschließt. Davor hat jedes seiner selbst bewußte Lebewesen Angst. Es sucht also wo möglich, die Gefahr zu vermeiden; das Bedürfnis nach Sicherheit kann größer werden als der Drang, sich selbst durchzusetzen.
Es gibt Gattungen, die sich nur verteidigen, solche, die sofort angreifen, und solche, die beides praktizieren. Der Mensch beherrscht zwar auch die Strategie der Verteidigung, gehört aber genetisch zu den Angreifern. Schließlich ist er über Jahrmillionen Jäger gewesen, und zuletzt eroberte er die Welt! Doch der Mensch kann sich auch in die Sklaverei fügen, um zu überleben. Die beiden extremen Alternativen lauten: Überwältigung oder Unterwerfung. Der Hund, sicher ein aggressives Tier, hat sich dem ihn betreuenden Menschen treu und brav unterworfen, womit er sich in dessen Gefolge weltweit ausbreiten konnte, während er sonst vielleicht sein Ende in den Fleischtöpfen gefunden hätte oder vom Menschen längst ausgerottet worden wäre.
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Die Lebewesen müssen sich sowohl ihrer physischen Umgebung als auch den darin lebenden Arten anpassen, ganz gleich, ob es sich um Tiere, Pflanzen oder Bakterien handelt. Auch für den Menschen gilt: "Ein erfolgreiches Leben ist kein Leben ohne Prüfungen, Fehlschläge und Tragödien, sondern ein Leben, in dem der Mensch eine angemessene Anzahl erfolgreicher Reaktionen auf die konstanten Herausforderungen der körperlichen und sozialen Umwelt bestanden hat."95 Anpassung, gelegentlich auch Verstellung, gehört zu den nötigen Überlebensstrategien. Die gesamte Evolutionsgeschichte ist eine aktive Anpassung an die Umwelt gewesen. Auch "die Pflanze Mensch gedeiht am kräftigsten, wenn die Gefahren groß sind, in unsicheren Verhältnissen".96
Der französische Dichter Romain Rolland läßt seinen weise gewordenen Romanhelden Meister Breugnon sagen: "Schließlich ist der Mensch alles in allem ein braves Tier." Denn:
"Er paßt sich gleichermaßen dem Glück wie dem Leid an, dem Überfluß wie der Not. Gebt ihm vier Beine oder nehmt ihm seine zwei beiden, macht ihn taub, blind, stumm, er wird Mittel und Wege finden, sich anzupassen und in seinem heimlichen Innern zu sehen, zu hören, und zu reden. Er ist wie Wachs, so man es auseinanderzieht und wieder zusammendrückt; die Seele knetet es in ihrem Feuer. Und gar schön ist zu fühlen, da man diese Geschmeidigkeit des Geistes und der Sprunggelenke hat, daß man ebensogut ein Fisch im Wasser, ein Vogel in der Luft, ein Salamander im Feuer oder ein Mensch auf der Erde sein kann, der fröhlichen Herzens wider die vier Elemente ankämpft."97
"Aus dem Krieg des Entgegengesetzten entsteht alles Werden" erkannte schon Heraklit. Darum warf er dem großen Homer vor, zu Unrecht gewünscht zu haben. "Möchte doch verschwinden der Streit aus der Welt der Götter und Menschen!" Und er begründet: "Denn es gäbe keine Harmonie, wenn es nicht hoch und tief gäbe, und kein Lebewesen, wenn nicht die Gegensätze weiblich — männlich wären."98 Vielleicht war es ungerecht, ausgerechnet dem leidgeprüften Odysseus einen Vorwurf wegen dieses Stoßseufzers zu machen. Aber das Leben kann nicht anders sein: Nur aus dem Streit entsteht die Harmonie, allerdings nicht für lange, dann entzündet sich neuer Streit, weil eben die lebendige Welt in Bewegung bleibt.
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Würde es andererseits nur Streit geben, dann hätten sich die lebendigen Wesen wohl schnell selbst ausgemerzt. Darum gibt es auch die gegenseitige Hilfe der Arten und die Symbiose. "Alles Dasein beruht auf gegenseitiger Hilfe", sagt Karl Jaspers, "aber nicht die Hilfe, der Friede und die Harmonie des Ganzen ist das Letzte, sondern Kampf und dann Ausbeutung durch die jeweils Siegenden."99
Ohne Fressen und Gefressenwerden würde es kein Leben auf diesem Planeten geben. Zur Zeit treibt das Fressen allerdings einem Höhepunkt zu; denn das herrschende Wesen, der Mensch, züchtet und mästet jährlich Milliarden eingesperrter Tiere nur zum eigenen Fraß.
Als grundlegendes Prinzip der Ökologie gilt nach wie vor: Alles, was lebt, fügt sich zueinander, aneinander, ineinander, auseinander, nebeneinander, übereinander, untereinander, nacheinander. Und es kommt hin und wieder auch zum totalen Durcheinander, zum Chaos. Nietzsche schrieb unter Berufung auf den großen Heraklit: "Das Volk meint zwar, etwas Starres, Fertiges, Beharrendes zu erkennen; in Wahrheit ist in jedem Augenblick Licht und Dunkel, Bitter und Süß bei einander und an einander geheftet, wie zwei Ringende, von denen bald der Eine, bald der Andre die Obmacht bekommt. Der Honig ist, nach Heraklit, zugleich bitter und süß, und die Welt ist ein Mischkrug, der beständig umgerührt werden muß.
Aus dem Krieg des Entgegengesetzten entsteht alles Werden: die bestimmten, als andauernd uns erscheinenden Qualitäten drücken nur das momentane Übergewicht des einen Kämpfers aus, aber der Krieg ist damit nicht zu Ende, das Ringen dauert in Ewigkeit fort. Alles geschieht gemäß diesem Streite, und gerade dieser Streit offenbart die ewige Gerechtigkeit."100 Der unaufhörliche Wandel ermöglicht es, daß sich immerzu neue Chancen auftun. Das von mir so benannte "Gesetz der gleitenden Fügungen" beherrscht die physikalische, geistige und psychische Welt.
In allen Jahrtausenden ist der einzelne Mensch weder stets glücklich noch stets unglücklich gewesen. Obwohl geballte Ereignisse das Leben des Einzelnen total verändert, sein Daseinsgefühl erschüttert haben: solange kein tödliches Unglück eintrat, ging er gestärkt aus den Prüfungen hervor. Er hätte zwar objektiv in aussichtslosen Situationen oft genug Grund zur Verzweiflung und Kapitulation gehabt — aber wie hat er reagiert?
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Seine Psyche hat sich mit der Situation abgefunden, sie hat sich gefügt, ja, sie hat der übelsten Lage noch Positives abgewinnen können. Denn ein jeder bewertet die Dinge von dem Standort aus, an dem er sich im Leben jeweils befindet. Und notfalls läßt sich die Aussichtslosigkeit durch eine Utopie oder eine Vision ersetzen — und es spielt nicht einmal eine Rolle, wenn sie sich als bloße Täuschung erweist. Selbst wenn eine Verständigung zwischen Menschen nicht mehr möglich ist, kann sich noch jeder für sich allein mit seinem Schicksal verständigen. Er kann sich fügen, so wie sich das Wasser in Mäandern dem Tal anschmiegt. Wenn der Mensch das Glück am Weg findet, dann jubelt er, wenn ihm Leid begegnet, dann trauert er. Solange er sich die wunderbare Gabe der Fügung bewahrt, wird er nicht zerbrechen, sondern der Einklang mit dem Lauf der Dinge wird zur Quelle tiefer Befriedigung.
Physikalische Gesetze gelten also auch im psychischen Bereich, nur feiner, diffiziler, so daß sie meist unbemerkt bleiben. Hier waltet von selber, was heute oft "flexible response" genannt wird. Wir sind befähigt, auf jedes Ereignis angemessen zu reagieren, es anzunehmen oder abzulehnen, uns zu wehren oder zu fügen, so daß unser innerer Kern nicht Schaden nimmt. Er nimmt dann Schaden, wenn wir ein Ereignis innerlich annehmen, äußerlich aber gezwungen werden, es abzulehnen, oder wenn wir es äußerlich ablehnen, innerlich aber wünschen. Ein Müssen kann immer dahinterstehen, aber selbst dieser Zwang kann sich letzten Endes als segensreich erweisen.
Den Begriff der Ambivalenz führte der Zürcher Psychiater Eugen Bleuler Anfang dieses Jahrhunderts zur Bezeichnung der widersprüchlichen Regungen der Seele ein. Nietzsche hatte dem Menschen seinerzeit vorgeworfen, "daß er nicht die Kehrseite der Dinge als notwendig versteht: daß er die Übelstände bekämpft, wie als ob man ihrer entraten könnte ...", daß er andererseits das Ideal als etwas auffasse, "an dem nichts Schädliches, Böses, Gefährliches, Fragwürdiges, Vernichtendes übrig bleiben soll". Nietzsche setzte eine umgekehrte Einsicht dagegen: "daß mit jedem Wachstum des Menschen auch seine Kehrseite wachsen muß, daß der höchste Mensch, gesetzt daß ein solcher Begriff erlaubt ist, der Mensch wäre, welcher den Gegensatzcharakter des Daseins am stärksten darstellte, als dessen Glorie und einzige Rechtfertigung".101
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Zum "dionysischen Jasagen zur Welt", zum amor fati gehöre, die bisher verneinten Seiten des Daseins nicht nur als notwendig, sondern auch als wünschenswert zu begreifen, als "die mächtigeren, fruchtbareren, wahreren Seiten des Daseins ...".102
Auch bei der Bewertung von Lust und Schmerz (Unlust) sind Physis und Psyche nicht zu trennen. Lust und Schmerz sind beide zugleich positiv und negativ.103) Noch wichtiger ist aber, daß "Lust und Unlust so mit einem Stricke zusammengeknüpft" sind, daß, wer möglichst viel von der einen haben will, auch möglichst viel von der anderen haben muß — daß, wer das ›Himmelhoch-Jauchzen‹ lernen will, sich auch für das ›zum-Tode-betrübt‹ bereit halten muß? Und so steht es vielleicht!"104 So steht es tatsächlich! Das kann keine Frage mehr sein. Nietzsche bekräftigt das an anderer Stelle selbst, "denn das Glück und das Unglück sind zwei Geschwister und Zwillinge, die miteinander groß wachsen ...".105
Nietzsche beharrt stets darauf, daß die Leidenschaften zum Leben gehören, "man darf sie nicht als Störer des Glücks verdächtig machen. Das Dasein wird eine öde Wüste ohne Liebe und Haß. Die Menschen wollen die gleichmäßige Ruhe gar nicht, sie suchen Erregung und Aufregung. Sie fordern Lust und Schmerz gleichsam heraus. Nichts Großes wird ohne Leidenschaft vollbracht, sagt Aristoteles."106
Natürlich führen Leidenschaften, wie das Wort lagt, auch zu Leiden. Aber das hat noch kaum jemanden davon abgehalten, das leidenschaftlich zu verfolgen, wozu ihn sein Inneres drängte. Gegen Leidenschaften kann das ins Feld geführt werden, was auch gegen Krankheiten einzuwenden ist, aber selbst die haben Ihren Wert.107 Leiden sind die stärksten Widerstände, die uns auferlegt werden können. Dem entsprechend erzeugt ihre Überwindung auch das höchste Glücksgefühl. "Denn was selbst leidet, hat immer ein Gegengewicht seines Schmerzes in sich."108
Die Überwindung eines Leidens, einer Krankheit ist ein Sieg. Jeder Sieg erregt Lustgefühle, nicht nur der eigene Sieg, sondern auch der Sieg derer, mit denen sich ein Mensch identifiziert. Das kann sein Verein sein oder eine Fußballmannschaft, oder die Olympia-Mannschaft seines Landes, aber eben auch das eigene Land und Volk im Krieg, wo der Sieg auf Grund des höheren Einsatzes und der höchsten Ernsthaftigkeit noch immer den gewaltigsten Siegesrausch hervorgerufen hat.
Der Wille zum Sieg ist Teil des Willens zum Leben, der eben auch ein Wille zur Macht in der Definition Nietzsches ist. "Der Wille zur Macht als Leben" überschreibt er einen Abschnitt, in dem es heißt:
"was der Mensch will ... das ist ein Plus von Macht. Im Streben danach folgt sowohl Lust als Unlust; aus jenem Willen heraus sucht er nach Widerstand, braucht er etwas, das sich entgegenstellt. Die Unlust, als Hemmung seines Willens zur Macht, ist also ein normales Faktum ... der Mensch weicht ihr nicht aus, er hat sie vielmehr fortwährend nötig: jeder Sieg, jedes Lustgefühl, jedes Geschehen setzt einen überwundenen Widerstand voraus."(109)
Auf Grund der dargelegten Erkenntnisse ist offenkundig, warum Kulturen untergehen müssen. Sie streben allesamt einen statischen Zustand des Wohllebens an, und das in der derzeitigen Weltzivilisation totaler denn je. Jetzt verwendet man überall die Redensart, daß die Probleme dieser Welt "gelöst" werden müßten. Die Lösung ist aber etwas ganz Unnatürliches. Alles Natürliche befindet sich im ständigen Werden, und die Geschöpfe der Natur tasten sich in einem niemals endenden Kampf zwischen Leben und Tod dahin.
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