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3.6  Die totale Mobilität

Es ist wohl das erste Mal in der Geschichte,
daß die ganze Welt der Fortbewegung dient.

Der amerikanische Biochemiker Erwin Chargaff

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In einem materialistischen Zeitalter versteht man unter Freiheit immer weniger die Geistesfreiheit als vielmehr die Bewegungs­freiheit. Die Technik machte es möglich, daß die Mobilität am Ende des 20. Jahrhunderts Ausmaße erreicht, an die zu dessen Beginn nicht einmal im Traum zu denken war.

Der Mensch liebt das Fahren und die Geschwindigkeit. Nur so ist zu erklären, daß Autos Absatz finden, die 200 Stunden­kilometer und mehr leisten können, obwohl sie auf den Autostraßen Amerikas und Europas der Geschwindig­keits­begrenzung unterliegen und im übrigen wegen Überfüllung der Straßen dieses Tempo kaum jemals während eines Autodaseins ausfahren können. Allein die Möglichkeit vermittelt ein Rauschgefühl des Überschusses an PS und der Omnipotenz. Und der Autobesitzer hat die freie Wahl, einfach irgendwohin zu rasen, womit sein Machtstreben befriedigt wird.

"Kein anderes Produkt symbolisiert den Deutschen so wie das Automobil Glanz und Gloria des hochent­wick­elten Industrie­systems; kein anderes erfreut sich bei allen Ständen und Klassen einer vergleichbaren Zuneigung; kein anderes gilt gleichermaßen, weit über seinen schlichten Zweck des Transport­mittels hinaus, als Ausweis von Leistung, Tüchtigkeit, Wohlstand." Dies schrieb das deutsche Magazin <Der Spiegel> 1989.54

Wer sich ein Auto leisten konnte, hatte am Anfang der Motorisierung einen höheren Status erreicht, so wie früher der Mensch zu Pferde. Indem der Erwerb eines solchen Statussymbols infolge der Serienproduktion sehr schnell erschwinglicher wurde, konnten sich dieses immer mehr Menschen leisten, bis es nun schließlich keines mehr ist, und die Menschen, die auf sich halten, auf das Flugzeug umsteigen müssen. Doch auch da herrscht schon der Massentransport und die Massenabfertigung. Das war ein Grund, den Überschallflug anzubieten. Dagegen bleibt das Auto individuell und kann zum teuersten Spielzeug aufgemöbelt werden.

Denn die Industrie war in der Lage, die Fahrzeuge immer komfortabler auszustatten, so daß die Familie sozusagen in ihren Polstermöbeln durch die Lande reist. Und die Technik wurde so perfektioniert, daß Pannen nur noch selten vorkommen — und wenn, dann ist die nächste Werkstatt nicht weit. Allen anderen Verkehrsmitteln ist das Kraftfahrzeug schon insofern überlegen, weil es Menschen und Waren überall hin von Haustür zu Haustür befördert.

Das Auto hat die Welt und das Leben der Menschen stärker als jede andere Erfindung verändert. Vor 1900 soll ein Mensch in seinem ganzen Leben durchschnittlich 50.000 Kilometer zurückgelegt haben, heute schaffen das viele in einem Jahr mit dem eigenen Auto. Jeder sechste Bundesbürger arbeitet auf irgendeine Weise für das Auto. Der Autobesitzer wendet von 20 Jahren seiner Arbeitszeit ganze zwei bis sechs Jahre für sein Auto auf.55 Da ähnliche Zahlen auf alle industrialisierten Nationen zutreffen, dürfen wir von mobilen Gesellschaften sprechen; denn der Löwenanteil ihrer Arbeitsleistungen dient tatsächlich der Mobilität.

Weil auch der Bahn- und Flugverkehr und deren Zulieferindustrien samt Dienstleistungen eingerechnet werden müssen, kommen wir zu dem Ergebnis, daß sogar jeder dritte Beschäftigte für die ständige Fahrbereitschaft und den Reisekomfort aller Bürger arbeitet. Noch deutlicher gesagt: Zwei Beschäftigte leisten sich einen Dritten, der in irgendeiner Form für die Mobilität der drei samt ihrer in keinem Arbeits­verhältnis stehenden Familien­angehörigen, also für etwa sechs Personen arbeitet. Interessant ist, daß nur einer von den dreien 20 Prozent seiner Arbeitskraft aufwendet, um die Ernährung der sechs zu sichern. Eine solche Diskrepanz hätte längst zu Überlegungen führen müssen, ob diese Gewichtung stimmen kann.

Die Autoproduktion, die im Jahre 1885 mit einem Wagen begann, erreichte 1990 einen weltweiten Jahres­ausstoß von rund 40 Millionen Personen­kraftwagen und 12 Millionen Lastkraftwagen. Da dies in einem Jahrhundert geschah, ist es nicht übertrieben, von einer Explosion zu sprechen. Nach unserer zusammen­gedrängten Zeitrechnung waren nur 50 Minuten dafür nötig; wir können auch sagen, der dreißigtausendste Teil der Menschheits­geschichte oder der dreißigmillionste Teil der Naturgeschichte der Erde!

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Damit das möglich wurde, baute man auf der Fläche der alten Bundesrepublik Deutschland Straßen mit einer Gesamtlänge von fast genau 500.000 Kilometern. Somit "besaß" 1989 jeder Bundesbürger, ob Säugling oder Greis, acht Meter Straße; an den gesamten Verkehrsflächen des Landes war er mit 182 Quadratmetern beteiligt. Daß dies sehr viel ist, zeigt ein Vergleich mit der auch schon hohen Wohnfläche pro Person von 38 Quadrat­metern. Der bundesdeutsche Bürger legte 1987 im Durchschnitt über 10.000 Kilometer zurück, davon über 80 Prozent mit dem Auto, 10 Prozent mit öffentlichen Verkehrsmitteln, 6,5 Prozent mit der Bahn und über 2 Prozent mit dem Flugzeug.56 Das bedeutet, daß durchschnittlich jeder Deutsche im Laufe seiner normalen Lebenszeit jetzt 700.000 Kilometer hinter sich bringt. Und: "Mehr als die Hälfte des automobilen Personenverkehrs dient dem Vergnügen, ist Freizeit- und Urlaubsverkehr."57

Die Bequemlichkeit des heutigen Reisens hat den Tourismus in ungeahnte Höhen schnellen lassen. Obwohl ein jeder heute fast kostenlos mittels Film und Fernsehen in alle Winkel der Welt hineinschauen kann, ist die Begierde, möglichst überall einmal gewesen zu sein, eher noch mächtiger geworden. Die Reiselust ist eben auch Teil des Betätigungsdranges jedes Menschen. Der Tourismus aber verdankt dem Auto seinen phänomenalen Aufstieg zum Wirtschafts­faktor. An den Zielorten sind riesige Komplexe in die Höhe gezogen worden, die man "Infrastrukturen" nennt. 

Dennoch steuert der Tourismus für wenige Länder mehr als 5 Prozent zum Bruttosozialprodukt bei (Österreich, Spanien und Portugal). Nicht nur zur Sommerszeit wälzen sich nun endlose Kolonnen über die Autobahnen Europas. Besonders im zentralen deutschen Raum kommt es immer häufiger vor, daß das Fahrzeug zum "Stehzeug" wird. Die totale Beweglichkeit aller schlägt um in die Bewegungslosigkeit. Doch kein noch so langer Stau in brütender Hitze kann die Menschen davon abhalten, die überfüllten Städte für ein paar Wochen gegen die überfüllten Urlaubsorte zu tauschen.

Seit das Skifahren in Mode gekommen ist, hat der Winterurlaub einen alle Rekorde schlagenden Aufschwung erlebt. Das hat allein in den Alpen zur Anlage von 41.000 Skipisten mit 120.000 Kilometern Gesamtlänge geführt, wo sich die Skifahrer mittels der über 15.000 Bergbahnen und Lifte in die Höhe schaukeln lassen. Da die letzten europäischen Winter schneearm blieben, die Gastronomie aber auf ihre "Saison" wartete, begann man, sich den Schnee "herzustellen". Eine neue technische Aufrüstung, die mit "Schneekanonen", ist nun im vollen Gange.

Die Alpen sind jährliches Ziel von 100 Millionen Menschen. Und das Mittelmeer lockt weitere 100 Millionen. Den Brenner allein überqueren pro Minute 17 Personen- und vier Lastkraftwagen.

Am grenzüberschreitenden Welttourismus nahmen im Jahre 1990 über 400 Millionen Personen teil, und für das Jahr 2000 sagen die Experten 600 Millionen voraus. Dafür werde man dann 18 Millionen Betten statt der bisherigen 10 Millionen benötigen sowie etwa 12.500 Großflugzeuge.58 Anfang 1990 waren 8000, davon 2000 Groß­raumflugzeuge im Einsatz. Bis 2009 sollen Flugzeuge im Werte von beinahe einer Billion Dollar hergestellt werden. Man will solche für 500 und mehr Passagiere bauen.59

Dabei häufen sich jetzt schon die Klagen über überfüllte Lufträume, während die zunehmenden Beinahe-Zusammen­stöße verschwiegen werden. Der Bestand an motorgetriebenen Flugzeugen in der Bundesrepublik Deutschland belief sich 1989 auf 8791, der grenzüberschreitende Luftverkehr beförderte 1989 mehr als 21 Millionen Reisende und eine Million Tonnen Güter.60 Weltweit benutzten im gleichen Jahr 1120 Millionen Menschen Passagier­flugzeuge.61

Was niemand für möglich gehalten hätte: der Luftraum, wo die Freiheit einmal grenzenlos gewesen sein soll, ist heute schon manchmal mit Flugzeugen verstopft.

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*Audio: a)  Lied von R. Mey   b) Parodie von O. Waalkes 

 

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Himmelfahrt ins Nichts von Herbert Gruhl 1992