3.8 Die angekündigten Großtaten
Nicht himmlisch, nicht irdisch haben wir dich erschaffen.
Denn du sollst dein eigener Werkmeister sein und dich
aus dem Stoffe, der dir zusagt, formen.
-- Der italienische Philosoph Pico della Mirandola
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Die Menschen jeder Kultur sind überzeugt gewesen, sich auf dem richtigen Wege zu befinden, den sie nur einzuhalten brauchten. So hatten sich in allen Kulturkreisen der Weltgeschichte konstante Lebensanschauungen und Lebensformen entwickelt, die sich nur unmerklich langsam veränderten. Das Hauptmerkmal der euro-amerikanischen Zivilisation ist aber, daß sie einen neuen Wert entdeckt hat: die Veränderung an sich. Die jetzige Zivilisation gab es auf, an erreichten Zuständen festzuhalten, ja sie erklärte das als destruktiv. Die neue Zielsetzung heißt, das Erreichte immerzu zu überbieten, das Gute durch das noch Bessere zu ersetzen.
"Dieser Fortschritt, der eine immer stärkere Beschleunigung erfährt, kennzeichnet unsere moderne Zivilisation im Gegensatz zu allen früheren. Wir müssen uns dieses Charakters der modernen Gesellschaft stets bewußt sein, um keiner Täuschung hinsichtlich der völlig neuen Qualität der heutigen Verhältnisse zu erliegen."71
Der neue Gott heißt Fortschritt. Ein solch überragendes, die Menschen begeisterndes Ziel war imstande, den alten Gott vergessen zu machen. Die neue Qualität bestand aus Quantitäten! Darum war der neue Gott ein sichtbarer. Jahrtausende hatten die Völker Gott angerufen; doch nie war er herabgestiegen, um ihnen zu helfen. Nun halfen sie sich selbst und — siehe da — es funktionierte! Was lag näher, als den unsichtbaren und unergründlichen Gott, für den das inzwischen astronomisch erforschte Universum nirgendwo eine Nische gelassen hatte, durch den sichtbaren und produzierenden Gott zu ersetzen: die Maschine plus Energie. Energie, die man sich wiederum durch Maschinen selbst erzeugt, zunächst in Kraftwerken und letzten Endes jeder einzelne für sich privat in seinem Auto.
Wir sahen bei Betrachtung der Weltgeschichte, daß ganze Völker seit jeher bereit gewesen waren, ihrem Gott zu entsagen, wenn sich ein anderer Gott augenscheinlich als der stärkere erwiesen hatte. Die Frage liegt nahe, warum dann die Euroamerikaner ihren christlichen Glauben nicht aufgegeben haben. Wahrscheinlich brauchen sie weiterhin etwas für die Seele, denn die Maschine blieb allzu kalt, gefühllos und nüchtern. Und warum sollte man nicht gerade jetzt den christlichen Gott loben? Wo er doch zur Eroberung der Erde aufgefordert hatte! War man doch nun darauf gekommen, wie man es anstellen mußte, um sich die Erde Untertan zu machen!
Selbst die konservativste Macht der heutigen Welt, die katholische Kirche, mußte kapitulieren:
"Gott hat in seiner Güte und Weisheit in die Natur unerschöpfliche Hilfsquellen [!] gelegt und hat den Menschen Verstand und schöpferische Kraft gegeben, sich die geeigneten Werkzeuge zu beschaffen, um sich ihrer zu bemächtigen und sie zur Befriedigung der Bedürfnisse und Erfordernisse des Lebens einsetzbar zu machen.
Deshalb liegt die grundlegende Lösung des Problems [der vielen Geburten]... in einem erneuerten wissenschaftlich-technischen Bemühen des Menschen, seine Herrschaft über die Natur zu vertiefen und auszuweiten [!]. Die von der Wissenschaft und Technik schon erreichten Fortschritte eröffnen auf diesem Weg unbegrenzte Horizonte ..."So lautet es in der Enzyklika des Papstes Johannes XXIII. aus dem Jahre 1961. Die "unbegrenzten Horizonte" sind durch die Fülle physikalischen und chemischen Grundlagenwissens eröffnet worden, das sich vor allem seit dem 19. Jahrhundert in Windeseile angesammelt hatte. So konnte Winston Churchill mit vollem Recht 1932 schreiben: "Wir wissen genug, um sicher zu sein, daß die wissenschaftlichen Errungenschaften der nächsten fünfzig Jahre bedeutend größer, schneller und überraschender sein werden als die, die wir bereits kennengelernt haben."72 Und er behielt voll und ganz recht mit seiner Voraussage.
Der neue Gott heißt also Fortschritt, und dessen ökonomische Folge heißt wirtschaftliches Wachstum. Mumford bezeichnet die neue Religion als <Mythos der Maschine>. Die Erlösung des Menschen aus seiner materiellen Daseinsnot — ist es nicht das, was die christliche Botschaft versprochen hatte? Und mit zunehmender Erfüllung dieser Botschaft, die der Mensch jetzt eigenhändig besorgte, hatte man ihren Verkünder immer weniger und weniger nötig. Was man jetzt verehrt, ist die Veränderung.
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Wo das schöne neue Leben der Güterfülle noch nicht erreicht ist, dort muß es noch geschaffen werden. Und wo der Reichtum schon da ist, dort muß er noch reichhaltiger werden. Das gilt für ganze Völker wie für jeden einzelnen Menschen. Nicht ein bestimmtes Ziel ist zu erreichen, sondern die Erhöhung der Geschwindigkeit auf ein unbekanntes Ziel hin. Und die ökonomische Geschwindigkeit wird in Prozenten der "Wachstumsraten" gemessen; darin sind sich die Broker in New York mit den schwarzen Bergarbeitern in Südafrika und den weißen in der Sowjetunion so einig wie die deutschen Gewerkschaftler mit allen Parlamentsparteien.
Es ist ein physikalisches Gesetz, daß sich die Richtung einer Bewegung um so schwerer verändern läßt, je höher ihre Geschwindigkeit ist; das weiß jeder Autofahrer. Da aber die Erhöhung der Geschwindigkeit das oberste Ziel der jetzigen Weltvorgänge ist, bleibt nichts anderes übrig, als die Fahrt in der einmal eingeschlagenen Richtung fortzusetzen; denn das "Aussteigen" wird immer lebensgefährlicher. So liegt eine begründete Logik darin, daß sich alle Kräfte, die sich sonst erbittert bekämpfen, darin einig sind: Das wirtschaftliche Wachstum muß hoch bleiben — und das geht nur bei Einsatz und Weiterentwicklung all der technischen Mittel, die schon zur Verfügung stehen und derer, die man noch zu finden hofft.
Im großtechnischen Bereich sind so bahnbrechende Erfindungen wie Elektrizität, Benzinmotor, Rakete und Kernspaltung nicht mehr zu erwarten. Der Aufbau von Fabriken für Automobile, Flugzeuge und Kraftwerksanlagen erforderte Investitionen von vielen Milliarden auf Jahrzehnte. Damit ist jedoch auch der Kurs der Industrie und der Gesellschaft, die diese Produkte kaufen soll, auf längere Zeit festgeschrieben. Denn auch die Straßen, Plätze, Garagen und Servicestationen mußten eingerichtet werden. Ähnliches gilt für die Flugzeuge, die Schiffe, das Elektrizitäts- und Telefonnetz. Das heißt, die industrialisierte und motorisierte Gesellschaft wird um so schwerfälliger, je perfektionierter sie wird. Auch die gegenseitigen Abhängigkeiten der Industriezweige nehmen zu und ebenfalls die Abhängigkeit aller Länder von den Rohstoffzufuhren aus aller Welt. Solange also die Entwicklung im höchsten Tempo weitergehen soll, kann es sich nur um eine Fortschreibung bisheriger Trends handeln.
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Um so gravierender wird es aber, wenn eine der Voraussetzungen plötzlich wegfällt. Eine solche Gefahr bestand bei Ausfall des Erdöls 1973, sie kann aber in allen möglichen Bereichen eintreten.
Noch folgenreicher als diese Entwicklungen sind unter Umständen die Erwartungen, die von ihnen ausgelöst werden. Dazu gehören die Jugendrevolten der sechziger Jahre. Sie drängten auf schnellere Verwirklichung von Zukunftsutopien, die ihnen von vielen Seiten vorgegaukelt worden waren. Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt hatten aber einige Entwicklungen schon ihre Grenzen erreicht, was inzwischen an einigen Beispielen sichtbar geworden ist.
Am Überschallflugzeug für den Verkehr, auf das die USA verzichteten, erwies sich erstmalig bei einem Großprojekt der Technik, daß der finanzielle Aufwand, der Verbrauch an Energie und die Umweltbelastung weit höher zu Buche schlagen als der Gewinn an Zeit für einige wenige Passagiere. Darum ließen bald sowohl Frankreich und Großbritannien als auch die Sowjetunion ihren bereits installierten Supersonic-Transport in den achtziger Jahren auslaufen. In den Voraussagen hatte es geheißen, daß in diesen Jahren bereits überwiegend im Superschallbereich geflogen werden würde. Bei den Kampfflugzeugen spielten natürlich ökonomische Erwägungen nie eine Rolle; sie operieren schon seit den fünfziger Jahren im Überschallbereich.
Im atomaren Bereich ist allerdings die Entwicklung noch nicht beendet, wenngleich die Brüterlinie als gescheitert gelten kann und auch in der Kernspaltung ein Rückschlag eingetreten ist. Der Bau weiterer Reaktoren wurde in vielen Ländern eingestellt. Atomare Schiffsantriebe liefen, außer im militärischen Bereich, völlig aus. Weil der Brennstoff Uran auf unserem Planeten nur in begrenzten Mengen zur Verfügung steht, man schätzt die Vorräte heute auf fünf Millionen Tonnen, erhofft man sich alles von der Kernfusion.
Auch die Kernfusion hatte in der Wasserstoffbombe zunächst die militärische Realisierung erfahren. Doch zwischen der Energieerzeugung in Form eines Sprengsatzes und einer im kontrollierten Dauerbetrieb besteht ein bedeutender Unterschied. Ob die Zähmung der Kräfte, die in unserer Sonne toben, in einem von Menschen gesteuerten Reaktor je gelingen wird, bleibt noch völlig offen. Die Befürworter erwarten sich unbegrenzte Mengen von Energie, also das erträumte perpetuum mobile, gezündet vom Super-Prometheus.
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Wer ist der Mensch, daß er sich solch prometheische Entwürfe erlaubt? Die Prometheus-Sage ist im indogermanischen Sprachgebiet verbreitet und hat tiefsinnig-tragische Züge. Sie beweist die ehrfurchtsvolle Scheu der Menschen gegenüber dem Feuer, das den Göttern frevelhaft entrissen worden war. "Und so stellt gleich das erste philosophische Problem einen peinlichen unlösbaren Widerspruch zwischen Mensch und Gott hin und rückt ihn wie einen Felsblock an die Pforte jeder Kultur. Das Beste und Höchste, dessen die Menschheit teilhaftig werden kann, erreicht sie durch einen Frevel...."73) Soweit Friedrich Nietzsche in <Die Geburt der Tragödie>.
Für die Hellenen war die Hybris des Menschen eine ständige Gefahr, vor deren Versuchungen er sich zu hüten hatte. Im Prometheus-Mythos wurden die Qualen des Verletzers göttlicher Gesetze beschrieben. Es ist kennzeichnend, wie Goethe die Sicht umkehrt: Prometheus ist bei ihm nicht mehr der Leidende, sondern der höhnende Herausforderer Gottes.74 Wir benötigen heute den Mythos nicht mehr, für uns ist er Wirklichkeit. Ob allerdings die für eine geregelte Stromerzeugung notwendigen technischen Anlagen jemals sicher funktionieren und ökonomisch noch tragbar sein werden, bleibt offen. Nach früherer Meinung der Optimisten hätte bereits 1985 die Fusion fast die gesamte Energieversorgung der industriellen Welt übernommen haben müssen. Ein gewisser Krafft A. Ehricke sah um diese Zeit Fusionskraftwerke bereits auf dem Mond arbeiten.75)
Ökologen weisen andererseits nach, daß die erzeugte Energiemenge pro Landfläche eine bestimmte Belastungsgrenze nicht überschreiten darf, wenn das Ökosystem nicht zusammenbrechen soll. Diese Grenze ist aber schon jetzt um das Mehrfache überschritten.76
Unbegrenzte Energie, die selbstverständlich auch noch billig sein soll, ist eine Hauptvoraussetzung für die meisten Propheten künftiger Supertechnologien. Am Energiemangel ist bisher auch noch keine Technik gescheitert oder auch nur dadurch verzögert worden. Doch unvorhergesehene Schwierigkeiten anderer Art verursachten das Ausbleiben vieler phantastischer Projekte.
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Die vorausgesagten und nicht realisierten Utopien sind inzwischen so zahlreich, daß ihr Scheitern einmal an einigen Beispielen festgestellt werden muß. Der Amerikaner Olaf Helmer, Leiter des "Institute for the Future" in Connecticut, hatte im Jahre 1970 die Vollendung von 56 Großprojekten mit Zeitangaben zwischen 1980 und 2020 angekündigt.77
Der Vergleich der konkretesten von diesen mit dem realen Stand des Jahres 1992 ergibt folgendes Bild: Bis 1990 sollten bereits in Gebrauch sein: Automatisierte Sprachen-Übersetzung durch Computer, künstlich fabrizierte Ersatzorgane für den menschlichen Körper, elektronische Prothesen, Radar für Blinde, die Fließbandfertigung von Computern mit eigener Motivation und Lernfähigkeit und schließlich Maschinen mit höherer Intelligenz als sie die meisten Menschen besitzen. Im Stadium der allgemeinen Einführung noch vor dem Jahr 2000 sollten sich heute befinden: der bergwerksmäßige Abbau von Meeresbodenschätzen, die Wetterkontrolle und -steuerung, Energieerzeugung durch kontrollierte Kernfusion, künstliche Schöpfung von Lebewesen.
Vor der unmittelbaren Verwirklichung sollten bis zum Jahr 2020 stehen: Substanzen, die den Körper zum Nachwachsen neuer Organe anregen, chemische Stoffe zur dauernden Anhebung des Intelligenzniveaus, chemische Kontrolle des Alterns, Reisen in die Zeit durch langandauerndes Koma (Tiefschlaf) und schließlich das unmittelbare Einführen von Informationen in das Gehirn.
Die ausgebliebene Verwirklichung dieser und vieler anderer Vorhaben in der angegebenen Zeit und das jetzt absehbare Scheitern einiger auf immer, gerade jetzt, kann kaum Zufall sein. Die Überprüfung beweist vielmehr, daß der Mensch jetzt an der Grenze seiner Möglichkeiten angekommen ist. Daß seine Phantasie über alle Grenzen hinausschoß, ist nicht überraschend. Da bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vieles geglückt ist, was man im vorigen Jahrhundert noch für unmöglich hielt, war alle Welt in eine Euphorie geraten, die beinahe alles für machbar hielt. Die Wirklichkeit verursachte jedoch einen Stau, während die Phantasie gerade erst in volle Fahrt gekommen war. Die "Negation der Natur", von der John Locke gesprochen hatte, gelingt auf vielen Gebieten nicht mehr, und das Scheitern auf anderen zeichnet sich deutlich ab. Der Mensch sieht sich immer deutlicher vor unüberwindbaren Grenzen. Ein aktuelles Beispiel ist die Entwicklung der Weltraumfahrt.
Noch im Jahre 1987 hatten die Europäer ein eigenes Weltraumprogramm beschlossen und waren bereit, dafür rund 100 Milliarden DM auszugeben. Am 18. Dezember 1990 brachte die <Frankfurter Allgemeine Zeitung> einen Leitartikel mit der Überschrift "Bemannte Raumfahrt ohne Zukunft" — so schnell geht das!
Es gibt aber inzwischen ein neues Gebiet, auf dem der prometheische Mensch alle Grenzen zu durchbrechen sich anschickt, die Gentechnik.
In der Genetik kamen die Erkenntnisse derart über Nacht, daß jetzt die Folgen fast eher eintreffen als die Voraussagen.
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Himmelfahrt ins Nichts von Herbert Gruhl 1992