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4.6  Die Gewässer verderben und versiegen   Gruhl-1992

Alles ist aus dem Wasser entsprungen!
Alles wird durch das Wasser erhalten!
Der deutsche Dichter Goethe im "Faust II"

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Das starke Überwiegen der Wasserflächen läßt unsere Erde aus dem Weltraum als "blauen Planeten" erscheinen. Die Wasser­massen dürften in ihrer Menge schon seit vier Milliarden Jahren annähernd konstant geblieben sein. Ihre Berechnung ergibt heute ein Gesamtvolumen von 1350 Millionen Kubik­kilometer, davon 3,5 Prozent Süßwasser. Im Wasserdampf der Atmosphäre befinden sich 0,1 Prozent. Auf dem Festland sind 77 Prozent des Wassers in Form von Eis gebunden.

Der Grund und Boden allein wäre wertlos. Wo etwas darauf wachsen soll, muß Wasser da sein, viel Wasser — von oben Regen und von unten Grundwasser. Die Sonne läßt täglich 1000 Kubikkilometer Meerwasser verdunsten, das als Regen wieder zum größten Teil auf das Meer zurückfällt und zu einem Viertel über den Landflächen niedergeht. Dieser von der Sonnenenergie betriebene Kreislauf ist zugleich eine globale Entsalzungs­anlage. Da der Regen sehr unregelmäßig und ungleich verteilt fällt, ist die Speicherkapazität der Böden und die Höhe des Grundwasserspiegels von entscheidender Bedeutung.

Die Pflanzen benötigen, um ein Kilogramm Grünlandtrockensubstanz zu bilden, zwischen 150 und 1200 Liter Wasser. Das zeigt deutlich, daß nicht nur der Boden, sondern auch das Wasser dem Wachstum Grenzen setzt.

In den Wasserkreislauf greift der Mensch umso störender ein, je größer erstens die Zahl der Menschen und zweitens ihr "Lebens­standard" ist. Unser Körper braucht nur drei Liter pro Tag. Aber in der Bundesrepublik Deutschland verbrauchte 1983 eine Person durchschnittlich 145 Liter täglich. Mit einem Drittel des Trinkwassers spült der Mensch seinen Kot dorthin, wo er nicht hingehört: in die Gewässer. Wie schon Justus von Liebig erkannte, gehörte der in den Boden. Aber die Menschenmassen der Städte stünden da vor einem übelriechenden Transport­problem, das ihnen die Kanäle abnehmen.

Mit 30 Prozent des Trinkwassers duscht und badet der Bundesbürger. Das restliche Drittel wird für Geschirr- und Wäschewaschen verbraucht, wofür ein besonderer Kult entfaltet worden ist. Der Schmutz wird mit elektrischen Waschapparaten und chemischen Mitteln bekämpft, die Wäsche noch mit Trocknern und Büglern behandelt. Die Belastung der Umwelt durch diese Methoden beträgt das Vielfache dessen, was der Schmutz an Nachteilen verursacht.

Um einen Kubikmeter Wasser auf den Reinheitsgrad des Trinkwassers zu bringen, sind etwa zehn Megajoule Energie nötig, und für die Klärung noch einmal diese Menge. Eine moderne amerikanische Stadt mit einer Million Einwohnern benötigt für beide Vorgänge zwei Kernkraftwerke der 1000-Megawatt-Klasse. Die Industrie nutzt ebenfalls zum großen Teil Trinkwasser. Dieses eingerechnet, verbraucht der Mittel­europäer um die 400 Kubikmeter Wasser im Jahr, der USA-Bürger aber 2000, also fünfmal mehr.59 Die Entsalzung von Meerwasser erfordert sogar drei- bis sechsmal soviel Energie wie die Aufbereitung von Süßwasser.

Der Welt stehen jährlich 20- bis 30.000 Kubikkilometer Süßwasser zur Verfügung, wovon zur Zeit 3000 genutzt werden. Das ist schon viel, wenn wir die extrem unterschiedliche Verteilung der Niederschläge berücksichtigen, die ja auch zur Folge hat, daß ein großer Teil der Landfläche unfruchtbar ist und bleiben wird. Der Mensch siedelte schon immer da, wo genügend Trinkwasser vorhanden ist. Die Millionenstädte von heute müssen sich längst ihr Wasser aus zunehmend entfernteren Vorkommen heran­pumpen, was dann dort zu Grundwasser­senkungen mit negativen Folgen für die Vegetation führt. Das Oberflächen­wasser muß zu wachsenden Anteilen über das sogenannte "Uferfiltrat" herangezogen werden. Seine "Aufbereitung" ist umso kostspieliger, je verschmutzter die benutzten Flüsse sind. Die Kapazitätsgrenzen sind bereits in vielen Regionen erreicht, und in Trockenjahren wird die Lage kritisch. Meldungen über Wassernotstände kamen in den letzten zwei Jahren aus allen Kontinenten.

In sieben Staaten im Südwesten der USA bis Kalifornien gab es 1991 das sechste niederschlagsarme Jahr in ununter­brochener Folge, was den dort ohnehin traditionellen Wasserkrieg wieder verschärfte, angeheizt durch den wachsenden Bevölk­erungs­druck. In Mexiko-City mit seinen 20 Millionen Einwohnern überschreitet das entnommene Grundwasser die Auffüllung bereits um 40 Prozent.

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In Israel beteten 1990 Rabbiner am Ölberg um Regen; 300 unterirdische Wasserreservoirs sind ausge­trocknet. Der Notstand hielt im März 1991 an. Das Wasser am Persischen Golf war schon vor dem dortigen Krieg knapp, denn die Bevölkerung verbraucht inzwischen soviel Wasser pro Kopf wie die Bürger der USA. In den asiatischen Teilen der Sowjetunion gehört der Wassermangel zum Alltag. In China leiden nun schon 300 Städte an akutem Wassermangel, die 70 Prozent der nationalen Industrieproduktion beherbergen; der Grund­wasser­spiegel in Peking fällt jährlich um ein bis zwei Meter. Überall ist die Knappheit natürlich mit der Qualitäts­minderung verbunden.

Unter Giften in den Gewässern haben besonders die Industrieländer zu leiden. Seit einigen Jahren ist das ein Dauerthema der Presse, auch aller Länder Europas. Die Flüsse wurden seit dem II. Weltkrieg zunehmend zu Abwasserkanälen, wobei die Regionen am Unterlauf stets in die schlechteste Position gerieten. Das trifft besonders für den Rhein und für die Niederlande zu. Diese vergiften allerdings durch ihre Intensivlandwirtschaft und chemische Industrie ihr Gebiet noch zusätzlich, was selbst die Königin zugeben mußte. In Frankreich werden erst 40 Prozent der Abwässer biologisch geklärt. Obwohl die Bundesrepublik Deutschland 90 Prozent ihrer Abwässer biologisch klärt, handelte sie sich wie Großbritannien eine Klage der EG wegen Nichteinhaltung der Trinkwasserqualität ein. In Italien und anderen Ländern ist die Lage dennoch schlechter.

Im ehemaligen Ostblock, woher in den vergangenen Jahren nur selten Meldungen durchdrangen, wurde jetzt das ganze Desaster offenkundig. Aus Polen wurde bekannt, daß vielerorts das Wasser nicht einmal für die Industrie taugt, und von 265 überprüften Brunnen waren 40 Prozent verseucht. 60 Prozent der Abwässer werden in der Sowjetunion ungeklärt in die Flüsse geleitet, die vorwiegend im Schwarzen Meer enden, das keinen Austausch mit dem Weltmeer hat. Im Weißen Meer versenkte die Sowjetunion in den fünfziger und sechziger Jahren chemische Waffen, die jetzt durchrosten. In der Region um Archangelsk brächten viele Frauen "nur noch mißgebildete Fleischklumpen zur Welt".60

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In Meeren, die vom Festland umgeben sind und nur geringen Austausch mit den Ozeanen haben, ist die Lage schon seit langem kritisch. Ihre Ufer sind in der Regel dicht besiedelt und industrialisiert, während die Abwässer immer noch ungeklärt eingeleitet werden. Diese Meere sind durch die Zuflüsse überdüngt und weitgehend von Giften belastet; aber auch der Wind treibt mit der Ackerkrume den von der Landwirtschaft gestreuten Stickstoff wie auch das Phosphat in die Meere. Die Folge ist Sauerstoffarmut und schließliches Absterben jeglichen Lebens. Die ersten Leidtragenden sind die Fischer.

Mittelmeer, Nord- und Ostsee sind zugleich Erholungsgebiete der Binnenbevölkerung, die jetzt, voll­motor­isiert wie sie ist, leicht dahin gelangen kann. Ans Mittelmeer kommen jährlich 100 Millionen "Erholungs­suchende". Allein an Öl gelangen 650.000 Tonnen pro Jahr in dieses Meer. 1990 wurde es schon als großer Erfolg ausgegeben, daß sich 15 Länder in einer "Charta von Nikosia" geeinigt hatten, bis zum Jahre 2025(!) 100 Kläranlagen und 25 Giftmüll­deponien zu bauen. Das dürfte wie fast immer zu wenig und zu spät sein. Erschwerend kommt hinzu, daß die Mittelmeervölker traditionell wenig Sinn für die Umwelt haben.

Auch die Ostsee hat wenig Wasseraustausch mit dem Weltmeer, und dieser muß über die ebenfalls verschmutzte Nordsee laufen. Wegen des Sauer­stoff­mangels ist ein Viertel der Ostsee tot. Die Anrainerstaaten trafen sich wiederholt in Konferenzen, ohne daß bedeutende Erfolge erzielt werden konnten. Über die Nordsee sind wohl noch mehr Konferenzen abgehalten, Verhandlungen geführt, Untersuchungen angestellt worden. Sie trägt auch die zusätzlichen Belastungen des größten Schiffsverkehrs der Welt und neuerdings noch zahlreicher Bohrinseln. Sie ist von noch mehr Industrie und Menschen umsäumt, und größere Ströme wie Rhein und Elbe versorgen sie aus entfernten Hinterländern mit Abwässern und Giften. Die wichtigsten Posten sind jährlich 400.000 Tonnen fossile Kohlenwasserstoffe, einige zehntausend Tonnen Zink und Blei, einige tausend Tonnen Kupfer, Chrom und Nickel, einige hundert Tonnen Cadmium und mindestens einhundert Tonnen Quecksilber.61 Die Untersuchungen ergaben, daß sich Chlorkohlenwasserstoffe und andere auf dem Meeresboden irreversibel anreichern.

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Der Ökologe Konrad Buchwald folgert in einer neuesten Untersuchung: 

"Das bedeutet, daß praktisch keine weiteren Einträge in die Nordsee mehr erfolgen dürfen, wenn diese weiterhin ihre Funktionen für unsere Gesellschaft erfüllen soll: für Erholung, Naturschutz und Fischerei. Sanierung der Nordsee kann also bestenfalls heißen: Erhaltung des gegenwärtigen Zustandes. Und auch dieses Ziel ist nur zu erreichen, wenn alle Schadstoff­einleitungen schnellstens beendet werden."62

Es besteht nicht die geringste Aussicht, daß solche Forderungen in absehbarer Zeit auch nur aufgegriffen werden. Zu den bekannten Belastungen der Nordsee ist eine weitere an die Öffentlichkeit gedrungen, die durch die atomaren Wiederaufbereitungsanlagen in La Hague und Sellafield; darum strahlt der Meeresboden mit 8000 Becquerel pro Quadratmeter Cäsium 137, wovon die Hälfte aus der Katastrophe von Tschernobyl stammt, von woher die Ostsee noch schwerer betroffen wurde.63 Prinz Charles bezeichnete auf der 2. Internationalen Nordsee-Konferenz im Jahre 1987 die Nordsee als Kloake; selbst wenn sofort gehandelt würde, müßten noch Jahre vergehen, bevor die Nordsee zu retten wäre. Aber schon die Regierung seines eigenen Landes war ganz anderer Ansicht, und so ist es kein Wunder, wenn bis heute nichts Wesentliches geschah.

Die Nordsee zählt zu den wichtigsten Schelfgebieten dieser Erde, die eine besondere Bedeutung haben. Sie werden von vielen Fischarten zum Laichen aufgesucht, weil sie sozusagen die Kinderstuben der Fische sind. Zu den Schelfgebieten rechnet man die Ränder der Weltmeere bis zu einer Wassertiefe von 200 Metern; das ergibt fünf Prozent der Wasseroberfläche der Erde, also rund 17 Millionen Quadratkilometer.

Mit den Schelfen befaßte sich 1990 die "61. Dahlem Konferenz". Diese Gebiete nehmen jährlich 250 Millionen Tonnen Kohlendioxyd aus der Atmosphäre und dazu die Kohlenstoffe der Landwirtschaft über die Flüsse aus dem Binnenland auf. Damit wird der Sauerstoffgehalt des Wassers aufgezehrt, und die Eutrophierung tritt ein. Darum ist die hochgepriesene Aquakultur, das heißt die gewerbsmäßige Haltung von Fischen und Meeresfrüchten eine "biologische Zeitbombe", so die Konferenzteilnehmer, da sie zusätzliche Nährstoffe und am Ende Tierkot in die Schelfe bringt. Dadurch sind schon ganze Fjorde in Norwegen verschlammt worden.

Überdies werden diese Monokulturen mit Antibiotika gefüttert, deren langfristige Folgen die Wissenschaftler mit dem DDT verglichen. Ihre Schlußfolgerung: "Die Zeit drängt, wenn Maßnahmen gegen die Zerstörung der Schelfe entwickelt werden sollen, die nicht wieder eine Umweltzerstörung durch eine andere ersetzten."64

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Die Ölverschmutzung der Weltmeere betrug in den letzten Jahren 3,2 Millionen Tonnen. 37 Prozent davon stammen aus der Industrie und den Wohnsiedlungen, 33 Prozent aus der normalen Schiffahrt, während aus Tankerunglücken nur zwölf Prozent jährlich kommen, deren Zahl zurückgegangen sei.65 In den Zahlen noch nicht erfaßt sind die Verpestungen des Persischen Golfs, wo das Öl als Kriegswaffe großen Ausmaßes eingesetzt wurde, wozu noch die Luftverpestung der brennenden Ölquellen kommt. Es wird unfaßlich bleiben, wie hier knappe Ressourcen der Zukunft vernichtet wurden und dabei noch die Umwelt verheerend schädigten. Noch unfaßlicher: Die Empörung der Weltöffentlichkeit blieb gering! Ein Beweis dafür, daß die eigentlichen Probleme unserer Erde noch gar nicht begriffen werden.

Die Korallenriffe, vielleicht die größten Naturwunder unseres Planeten, liegen im Sterben. Dieses Phänomen, 1987 erst entdeckt, wurde 1990 in allen Weltmeeren beobachtet: in der Karibik, im Pazifik, um Australien und Indonesien wie um die Galapagos­inseln. Überall verlieren die Korallentierchen ihre leuchtenden Farben, und übrig bleibt ein bleiches Skelett. Aus bisher unerklärlichen Gründen stoßen die Korallen die Algen ab, mit denen sie in Symbiose leben müssen, worauf sie in kurzer Zeit selbst absterben. Da sie das weltweit tun, muß es eine überall wirksame Ursache geben, die man in der veränderten Umwelt vermutet.

Eine weitere Belastung der Ozeane scheint bevorzustehen: der Tiefseebergbau zur Gewinnung von Manganknollen, die auch andere Metalle enthalten. In Anbetracht der kommenden Rohstoffknappheit spricht man seit 20 Jahren von den großen Schätzen auf den Böden der Ozeane, die man ausbeuten könnte. Am besten erforscht wurde ein 13 Millionen Quadratkilometer umfassendes Gebiet im nördlichen Pazifik. Dort rechnet man mit zwei Milliarden Tonnen Mangan, 94 Millionen Tonnen Nickel, 87 Mt Kupfer und 24 Mt Kobalt. Auf einem Quadratkilometer wären das 154 Tonnen Mangan, aber nur zwischen zweieinhalb und sieben Tonnen der anderen Mineralien. Dafür müßte der Meeresboden in einigen Kilometern Tiefe durchfurcht werden, wobei der Schlamm aufgewirbelt würde.

Dann käme die Anreicherung noch auf hoher See, wobei ein großer Teil als Abfall sofort wieder ins Meer gekippt würde. Bei der Verhüttung an Land mit Schwefelsäure bleiben nochmals 68 Prozent als Abfall übrig.66 Daß bei diesen Eingriffen empfindliche Ökosysteme gestört werden, ist offenkundig. Die amerikanische Umweltbehörde warnt auch davor, daß schwer­metallhaltige Knollenpartikel in die Nahrungskette gelangen könnten.  

Insgesamt ist die Schädigung der Meere, indem man sie einerseits als bequeme Abfalldeponie benutzt, andererseits überfischt, schon so weit fortgeschritten, daß die amerikanische Meeresbiologin Sylvia Earle die Einrichtung von "Meeresparks" fordert, analog zu den "Naturschutzparks" auf dem Festland.67

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Himmelfahrt ins Nichts von Herbert Gruhl 1992