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6.2  Freiwilliger Verzicht ist dem Leben fremd

      

Es gibt keine weise Umkehr, 
keinen klugen Verzicht.

Der deutsche Historiker Oswald Spengler

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Lewis Mumford schloß sein Standardwerk mit den Sätzen: "Nur eine grundlegende Umorientierung unserer vielgerühmten, technologischen Lebensweise wird diesen Planeten davor retten, zu einer toten Wüste zu werden. Und ohne eine solche weitreichende Veränderung der menschlichen Wünsche, Gewohnheiten und Ideale werden die notwendigen materiellen Maßnahmen zum Schutz der Menschheit — von deren weiterer Entwicklung ganz zu schweigen — nicht angewendet werden können. — Um zu ihrer Rettung zu gelangen, wird die Menschheit eine Art spontaner religiöser Bekehrung vollziehen müssen."15

Mumford behauptet dann, solche Wandlungen seien in der Geschichte schon oft vorgekommen. Aber das trifft nicht zu! Da es auf diesem Planeten noch nie eine technische Zivilisation gegeben hat, die auch nur im Entferntesten mit der unsrigen vergleichbar wäre, kann es auch noch nie einen solchen Wandel gegeben haben. Mumford meinte, auf die "Achsenzeit" des 8.-6. Jhds v.Chr. verweisen zu können, als eine Reihe von religiösen Propheten und Philosophen gegen die schädlichen Folgen von Wohlleben, Geld und Macht angekämpft und Enthaltsamkeit gepredigt hatte.16

Er muß aber zugeben, daß sich diese Denkweisen selbst unter den damaligen ungemein leichteren Umständen nie allgemein durchsetzen konnten und auch die Entstehung der späteren völlig konträren europäischen Zivilisationen nicht verhindert haben. Mumford tröstet sich, das habe daran gelegen, daß ihre Enthalt­samkeitslehren keinen diesseitigen Lohn verhießen, sondern diesen in ein imaginäres Jenseits verlegten.17

In seinem "Epilog" stellt Mumford mehrmals die Frage, in welchem Maße unsere Zeitgenossen bereit seien, "die Anstrengungen und Opfer auf sich zu nehmen, die für eine solche menschliche Erneuerung notwendig sind." (Also auch ohne diesseitigen Lohn!) Mit einer gehörigen Portion Skepsis setzt er immer wieder auf die "einzelne Seele".

Heute sind aber die einzelnen Seelen stärker als jemals in der Geschichte auf sofortigen Lohn aus, und der kann in den Augen einer überwältigenden Mehrheit nur ein materieller sein. Die herrschenden Gesellschafts­systeme basieren heute auf Leistung und Belohnung. Im neuen Gesellschaftssystem müßte das Gegenteil, der materielle Verzicht, an der Spitze der Werte stehen!

 

In meinem Buch <Ein Planet wird geplündert> habe ich die Frage "Verzicht statt Leistung?" aufgeworfen und die Gangbarkeit dieses Weges offen gelassen.18) Als Konsequenz dieses Buches steht jedoch fest: Die Evolution des Lebens auf unserem Planeten resultiert aus einem endlosen Leistungs­wettbewerb; ein Wettbewerb mit dem Ziel der Nicht-Leistung ist nicht vorstellbar. Alle Lebewesen gehen stets an die Grenze ihrer Leistungs­fähigkeit; doch sie können diese nicht ständig steigern. Nur der Mensch vermochte seine Leistungen so enorm zu steigern, daß ihm nun der Planet Erde nicht mehr ausreicht. Die Technik erlaubte eine gewaltige Erhöhung der natürlichen Leistung mit künstlichen Mitteln. Gefährlich wurde sie erst seit ihrer exorbitanten Zunahme in unserem Jahrhundert.

Wenn jedoch die 100.000 menschlichen Generationen vor uns nicht genetisch auf Leistung hin programmiert gewesen wären, dann hätten sie den Kampf ums Dasein nicht überlebt. Wir erkannten ja gerade eine Ursache des Verfalls der Hochkulturen darin, daß ihre späten Erben nicht mehr zur Leistung bereit waren. Die Überlebenden aber befanden sich zu allen Zeiten im endlosen Wettstreit — früher um das nackte Leben, heute um das immer bessere.

Gerade die Demokratien sind Leistungsgesellschaften. Die Parteien stehen in einem Leistungswettbewerb und die Politiker in einem Leistungsstreß. Und der Wähler befördert doch nur solche "Volksvertreter" in die Parlamente, die seine Interessen (wie er sie versteht) wirksam vertreten, nicht solche, die dagegen verstoßen. Also richten sich beider Interessen nach dem Hier und Heute. Und alle erreichten "Besitzstände" werden mit Zähnen und Klauen verteidigt. Solange diese Besitzstände, auch "Lebens­standard" genannt, nicht angetastet werden, sind natürlich alle für den Umweltschutz. Aber dafür zu sorgen, ist Sache der Fachleute; wozu bezahlt man sie denn sonst? Möglichst billige technische Auswege möchten alle haben, denn in der Technik sind wir super. Fährt man erst einmal mit eingebautem Katalysator, dann hat man das reinste Gewissen!

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Obwohl irgendwann im nächsten Jahrhundert das Erdöl zur Neige geht, kam in der Schweiz eine "Autopartei" sofort ins Parlament. Ihr Ziel ist nicht etwa das Auto, denn niemand will es den Schweizern wegnehmen, sondern die unbegrenzte Fahrt­geschwindigkeit. Eben dabei ist bekanntlich der Energie­verbrauch höher und die Belastung der Umwelt größer. Selbst in einer so aufgeklärten Bevölkerung wie der schweizerischen ermittelte das Institut für Marktanalyse, daß zwar immer mehr Menschen die Umweltproblematik kennen; aber ihr eigenes Verhalten wollen sie nur ändern, wenn dies nicht mehr Arbeit oder sonstigen Aufwand kostet, und dabei soll die Wirksamkeit der Produkte und ihre Verpackung keineswegs geringer werden.19

In den USA wurde bei den letzten Kongreßwahlen in einzelnen Staaten über eine ganze Reihe von Umwelt­schutz­entwürfen abgestimmt. Nicht ein einziger erhielt eine Mehrheit! In Kalifornien bekam der Plan "The big Green" doppelt soviel Gegenstimmen wie Befürworter. Wo doch gerade dort der Wassernotstand seit nun schon sechs Jahren die Abhängigkeit von der Natur vor Augen führt. In Missouri lehnten Dreiviertel der Wähler den Schutz der Flüsse im Ozark-Gebirge ab. In Oregon war eine große Mehrheit gegen strengere Regelungen zur Wiederverwendung von Müll.

Erich Fromm war einer unter den vielen Optimisten, die da meinten, daß die nötigen Veränderungen die Zustimm­ung der Bevölkerungs­mehrheit finden könnten. Er hoffte sogar, daß die Bevölkerung für Ver­brauch­er­streiks mobilisiert werden könnte. Solches würde funktionieren, wenn es sehr viel reifere Konsumenten gäbe; doch es gibt keine reifen Konsumenten, die an die Zukunft denken. Der Mensch ist so veranlagt, daß er harte Anford­erungen der unmittelbaren Gegenwart durchsteht, aber die künftige Umwelt läßt ihn kalt, zumal deren Kollaps ja nicht auf einen Schlag eintreten wird. Und für kommende Zusammen­brüche verlangt er erst einmal handgreifliche Beweise — und die können nur bereits eingetretene Katastrophen liefern.

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Angesichts der Überlebensfrage sind einige Wissenschaftler und Theologen schon weiter gegangen und haben eine neue Askese gefordert.20) Der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker schrieb 1978 einen Aufsatz über die Frage "Gehen wir einer asketischen Weltkultur entgegen?"21 Im gleichen Jahr sprach er den lapidaren Satz: "Eine demokratische Askese aber, eine asketische Demokratie hat es bis heute nicht gegeben." 22)

Soweit es schon in früheren Zeiten eine freiwillige Entsagung, meist unter dem Namen Askese, gegeben hat, war diese religiös begründet. Besonders buddhistische und christliche Religions­gemeinschaften sahen in dem Verzicht auf irdische Güter und Genüsse eine verdienstvolle Leistung. In Europa spielt die asketische Bewegung keine Rolle mehr, aber Reste leben in Nordamerika fort. Die Amischen, vom Oberrhein herkommend, leben in verschiedenen Staaten der USA mit insgesamt 100.000 Anhängern. Sie treiben Landwirtschaft ohne Einsatz jeglicher Maschinen, ohne Strom und alles, was an diesem hängt wie Licht, Radio und Fernsehen. Ihr einziges Buch ist die Bibel, und ihr Glaube feit sie immer noch gegen die Anfechtungen der amerikanischen Superzivilisation. Eigentlich leben sie so, wie das in Europa noch bis ins 19. Jahrhundert der Fall gewesen ist. Sie könnten den Untergang unserer Zivilisation ohne weiteres überleben, falls es kein atomarer ist.23

Sollte das menschliche Leben auf unserem Planeten auf Dauer Bestand haben, dann müßte es sich in dieser naturnahen Weise abspielen. Wie hart (nach gegenwärtigen Begriffen) ein solches Leben und das der Naturvölker ist, davon haben die heutigen Propagandisten eines "natürlichen Lebens" keine blasse Ahnung. Denen hat schon Nietzsche zu recht die Leviten gelesen:

"›Gemäß der Natur‹ wollt Ihr leben? Oh ihr edlen Stoiker, welche Betrügerei der Worte! Denkt euch ein Wesen, wie es die Natur ist, verschwenderisch ohne Maß, gleichgültig ohne Maß, ohne Absichten und Rücksichten, ohne Erbarmen und Gerechtigkeit, fruchtbar und öde und ungewiß zugleich, denkt euch die Indifferenz selbst als Macht — wie könntet ihr gemäß dieser Indifferenz leben? ... In Wahrheit steht es ganz anders: indem ihr entzückt den Kanon eures Gesetzes aus der Natur zu lesen vorgebt, wollt ihr etwas Umgekehrtes, ihr wunderlichen Schauspieler und Selbst-Betrüger! Euer Stolz will der Natur, sogar der Natur, eure Moral, euer Ideal vorschreiben und einverleiben ..."24

Damit ist ein großer, ich befürchte der größte Teil, der heutigen grünen Bewegung treffend charakterisiert und darüberhinaus der Gesellschaft, die sich für "umweltbewußt" hält.

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Der Mensch hat sich in seiner Geschichte wie sämtliche Lebewesen der Natur gebeugt, nicht weil er es wollte, sondern weil er es mußte. Erst in den letzten Jahrhunderten erlag er zunehmend dem Irrtum, daß er sich ihr nicht mehr beugen müsse. Die Möglich­keiten zur Umgestaltung der Natur haben sich vertausend­facht, und speziell dem abendländischen Menschen wie neuerdings dem japanischen gelingt es nicht, etwas sein zu lassen, was er tun könnte. Und die freie Entfesselung der Kräfte der westlichen Völker hat in den letzten Jahren den Sieg über die gefesselten Kräfte des Ostblocks errungen. Demnach stehen heute die Chancen für eine asketische Bewegung im Osten Europas noch schlechter als in der westlichen Welt.

Heute ließe sich die Askesebewegung nicht mit der Hoffnung auf "ewigen Lohn" beflügeln, sie müßte sich von Vernunftgründen leiten lassen. Die Menschen müßten sich bewußt entscheiden, ein Leben zu führen, das ihren Nachkommen die Chance offenhält, überhaupt zu existieren. Der Logik nach müßte ein solches Ziel nachvollziehbar sein. Doch wir sind keine so logischen Wesen. Derartige Antriebskräfte bleiben schwach. Der Horizont ist wie eh und je räumlich und zeitlich begrenzt. "Solange nicht mehr Menschen mitmachen, bleibt wenig Hoffnung, die Zerstörung der Erde aufzuhalten." Mit diesem Satz endet der "Worldwatch Institute Report" 89/90. Doch wer macht überhaupt mit?

Sogar Erich Fromm mußte zugeben, "daß der einzelne die sich am Horizont abzeichnende Katastrophe den Opfern vorzieht, die er jetzt bringen müßte."25) Die <Süddeutsche Zeitung> beschrieb die reale Bewußtseins­lage im Oktober 1991 mit der Schlagzeile: "Von den nötigen fundamentalen Veränderungen zum Schutz der Umwelt sind die Menschen Lichtjahre entfernt".26  

Die "einzelne Seele" neigt auch zu der Annahme, auf mich kommt es nicht an, ich allein ändere nichts! — und mindestens 90 Prozent aller Reden, Schriften und Bilder sind voll der Gegenpropaganda! Und diese hat mit einer Behauptung sogar Recht, daß das jetzige ökonomisch-politische System zusammen­bräche, wenn die Völker zum Konsum­verzicht übergingen. Das wußte ein Staatsmann wie Churchill schon 1932.

Der bei weitem wirksamste Verzicht, der auf Kinder, stößt auf völliges Unverständnis bei denen, die sonst nichts haben als Kinder. Die menschliche Gattung hat sich der natürlichen Regulation ihrer Anzahl, die von widrigen Naturkräften besorgt wurde, mittels medizinischer Künste entzogen und steht jetzt vor der harten Notwendigkeit, sich selbst regulieren zu müssen, sich also selbst Beschränkungen aufzuerlegen. Sie zeigte sich aber außerstande, ihre eigene Zahl zu regulieren. 

Mit wenigen Ausnahmen in Europa gelingt es den Völkern nicht, ihre Geburten zu begrenzen. Dort, wo es Regierungen mit Druck versuchten, scheiterten sie am Unverständnis und am offenen Widerstand der Individuen. Die Überfüllung ist der Preis der Freiheit, die bereits zu immer schlimmer werdender Unfreiheit aller führt. In dieser elementarsten Frage siegt die angeborene Natur über alle logischen Überlegungen. 

Von ihrem Ursprung aus sind die Geschöpfe der Natur auf Ausbreitung und Verdrängung aus, um ihre Verluste scheren sie sich wenig. Nur der abend­ländische Mensch hat wohl immer ein wenig daran gedacht und tut es auch jetzt. Doch das ändert nichts an der Entwicklung der übrigen Weltbevölkerung, die wie eine unheimliche Naturkatastrophe die Erde überflutet.

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Himmelfahrt ins Nichts von Herbert Gruhl 1992

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