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6.3  Befohlener Verzicht muß scheitern

Denn Täter werden nie den Himmel zwingen;
Was sie vereinen - wird sich wieder spalten,
Was sie erneuern - über Nacht veralten,
Und was sie stiften - Not und Unheil bringen.
(Der deutsche Dichter Reinhold Schneider)

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Wäre der freiwillige Verzicht der Demokratie gemäß, so der angeordnete Verzicht der Diktatur. Doch konnte jemals ein Diktator seinem Volk auf die Dauer vorenthalten, was andere hatten? Das ging nur in Kriegszeiten. Doch in solchen konnten sogar Demokratien ihren Bürgern von der Antike bis zur Gegenwart "Blut, Schweiß und Tränen" abverlangen. Wenn ein Gewaltherrscher längere Zeit regieren will, dann muß auch er um eine gewisse Balance zwischen den Erwartungen seiner Untertanen und seinen eigenen Plänen bemüht sein. 

Die Propaganda schafft zwar viel, doch nicht alles. Einen Diktator, der seine Propaganda­maschine für die Erhaltung der Natur eingesetzt hätte, hat es noch nicht gegeben. Die Gefahr für unsere Umwelt und Zukunft darzustellen, war bisher lediglich ein Thema der Medien in den Demokratienwo aber die Gegen­propaganda auch alle Freiheit bis hin zur Narrenfreiheit genießt.

Nationale und internationale Wirtschaftsmächte sind stets auf Ausdehnung, niemals auf Einschränkung ihres Handels und Handelns bedacht. Und sie sind in mächtigen Verbänden organisiert bis hin zum "Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen" (GATT). Ihr Ziel ist die Vergrößerung des Welthandels, Befreiung von allen seinen Fesseln, auch wenn dabei lebenswichtige Bereiche zuschanden gehen. Die Amerikaner verlangen von Europa, daß es seine Bauern opfert. Und die Europäische Gemeinschaft opfert zur Zeit die gesamte Natur dem freien Binnenmarkt.

Wenn also in einem Land der Versuch einer konsequenten ökologischen Politik gestartet würde, stünde es selbst bei kräftigster Unterstützung durch das eigene Volk einer Welt von Feinden gegenüber. Aus dieser Sachlage schließen einige, daß eine Ökodiktatur immer eine Weltdiktatur sein müsse. 

So äußert sich unter anderen der Mediziner Dimitri Chorafas: "Ein Stopp, ja schon eine wesentliche Verlangsamung des Wachstums setzen eine Welt­diktatur voraus, die ganzen Industriezweigen jede Expansion verbietet ... Man müßte den Menschen sagen, daß sie die Dinge, die sie begehren, ... nicht bekommen können."27

Ich habe die Möglichkeit einer totalen Weltregierung schon <Ein Ein Planet wird geplündert> geprüft, mit dem Ergebnis, daß sie weder realisierbar ist noch wünschenswert wäre.28 Den Vorwurf, ich hätte dort eine Weltdiktatur gefordert, haben sich einige Ignoranten aus ihren roten Fingern gesogen.**

Was schon damals meine Ahnung war, ist zur Gewißheit geworden: Eine Weltregierung müßte allen Streit in der Welt mit Gewalt unterdrücken. Ein ökolog­isches Gleichgewicht entsteht jedoch nur aus einem Gleichgewicht streitender Mächte, wie die gesamte Evolutionsgeschichte beweist. Keine Weltregierung und kein Weltdiktator kann die Funktion Gottes übernehmen — also müßten sie scheitern. Es wird nie zu einer Weltregierung, geschweige denn einer Welt-Ökodiktatur kommen. Die Weltregierung ist ein rein technizistischer Gedanke, kein ökologischer.

 

Der große Vorteil der Natur war seit jeher ihre Diversifikation, ihre räumliche und zeitliche Wandlungsfähigkeit. Schon diese aufzuheben heißt, ihr die Über­lebens­fähigkeit abzuschneiden. 

Die Vereinheitlichung der Welt ist ein Meilenstein zum Ende der Welt. Das wird vielleicht heute verständlicher, wo gerade das bisher gewaltigste Vereinheit­lichungs­experiment der Weltgeschichte mißglückt ist. Nicht nur die Völker des Ostblocks flogen auseinander, auch die der Sowjetunion selbst und sogar die Jugoslawiens streben voneinander weg.

Handlungsfähig sind nur die Nationalstaaten und darunter auch nur die gut organisierten, wovon es nur wenige gibt. Aber auch die bestorganisierten Staaten mit gebildetster Bevölkerung können dieser keinen Lebensstil des Verzichts zumuten, solange nicht der Leidensdruck dazu zwingt. Carl Friedrich von Weizsäcker sagte 1978: "Wir haben in der Tat keine andere Wahl als die, uns durch unsere selbsterzeugten Probleme bewußt unter denjenigen Leidens­druck setzen zu lassen, ohne den nie eine Bewußtseins­änderung geschieht."29)  Das heißt also weitermachen, bis der Leidensdruck kommt. 

* (d-2010:)  D.Chorafas bei detopia       ** Ich habe nachgelesen hier: Register Gruhl 1975 - Diktatur: 301, 308, 339 

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In der damaligen konkreten Situation hieß das: Bauen wir also Atomkraftwerke! Nun ist mit Tschernobyl der Leidensdruck hereingebrochen. Aber hat er etwas verändert? Nein! Selbst in der ehemaligen Sowjetunion werden die anfälligen Atomkraftwerke weiter betrieben. Und die Bevölkerung des Landes steht unter zu vielerlei Leidensdruck, als daß sie so sehr an die Gefahren dieser Werke denken würde.

Arnold Toynbee erwartete 1975 den kommenden Leidensdruck für uns, die entwickelten Völker, von den bald versiegenden freiwilligen Rohstoff­liefer­ungen der unterentwickelten Länder. Dieser Druck ist ausgeblieben, denn die Unterentwickelten müssen infolge ihrer Bevölkerungs­explosion weiterhin ihre Rohstoffe verkaufen, sogar billig verkaufen, um sich selbst über Wasser zu halten. Und selbst unter den reichen Erdölländern herrscht längst Angebots­konkurrenz, welche die Preise niedrig hält. So ist den westlichen Industrieländern eine Atempause in den Schoß gefallen. Diese hatte eben auch die Folge, daß der Erdölschock von 1973 schnell verdrängt wurde.

Außerdem durften sich die westlichen Länder über den Zusammenbruch der Sowjetunion unter den Rüstungslasten freuen. Aber das ist die Freude von Kindern, die noch nicht wissen, was ihnen selbst bevorsteht. Darum sind auch die düsteren Ankündigungen über die Zukunft der Demokratien wieder aus den Sinnen entschwunden.

Hatte doch der Ökonom Friedrich Hayek angekündigt: "Das einzige, was die moderne Demokratie nicht überleben wird, ist die Notwendigkeit einer wesentlichen Senkung des Lebens­standards im Frieden oder auch nur ein lang anhaltender Stillstand des wirtschaftlichen Fortschritts."30

[30: In: Hayek, Weg zur Knechtschft, Seite 261; 1971]

In Amerika traut der Theologe Francis Schaeffer seinen Landsleuten andererseits zu, daß die Mehrheit "den Verlust von Freiheiten ertragen wird, ohne ihre Stimme zu erheben, solange ihr eigener Lebensstil nicht bedroht ist".31 Das heißt also, daß die Menschen eine Diktatur eher hinnehmen werden, um ihren verschwenderischen Lebensstil zu bewahren, als eine, die ihnen diesen nimmt!

Auf welche Weise eine ökologische Überlebenspolitik auch immer versucht würde, die Folgen wären: verminderte Einkommen, teurere Waren, größere Arbeitslosigkeit. Eine solche Entwicklung könnten nur lebensmüde Politiker riskieren. 

Denn schon nach wenigen Monaten würden sie mittels der Dolchstoß­legende hinweggefegt werden. Allein ihnen würde man die ganze Schuld dafür aufbürden, daß es nicht mehr so fröhlich weitergehe wie vorher. <Hätten wir nur dieses verdammte "Experiment Zukunft" nicht begonnen, dann wäre noch alles wie früher!>, würde man fluchen.

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Der Begriff Dolchstoßlegende entstand in Deutschland nach 1918: Hätte man nur den Waffenstillstand nicht geschlossen, dann wäre der Krieg nicht verloren gegangen. Der Dolchstoß sei von rückwärts, von der Politik gekommen. Es war aber damals die Oberste Heeresleitung, die nachweislich von der Regierung den Waffenstillstand verlangt hatte, da die Truppen am Ende ihrer Kräfte waren.

Um so sicherer würde eine solche Legende in unserem Falle entstehen — solange der Zusammenbruch des jetzigen zivilisatorischen Systems noch nicht zur Tatsache geworden ist, die jeder am eigenen Leibe spürt.

Heute stellt sich aber das Problem, daß einer noch immer siegreichen Armee mitten im Vormarsch der Rückzugsbefehl erteilt werden müßte!

Niemand will ihn geben, da er damit Kopf und Kragen riskieren würde. Weil niemand die ganze Schuld stellvertretend, sich opfernd auf sich nehmen und Erfolg dabei haben kann, wird der Krieg gegen die Erde bis zum bitteren Ende weitergeführt werden. "Es gibt keine weise Umkehr, keinen klugen Verzicht!"32 Selbst wenn eine tollkühne Führung den Versuch zur Rettung wagen würde, sie müßte noch während der Operation an den uneinsichtigen Massen scheitern. 

Außerdem, wir leben inzwischen im Zeitalter der Massen. Massen, die nicht von der Vernunft, sondern von der Demagogie geleitet werden, wenn sie nicht sogar - wie Ortega y Gasset meint - taub sind:

"Geht es weiter wie bisher, so wird es in Europa — und rückwirkend in der ganzen Welt — von Tag zu Tag deutlicher werden, daß die Massen in jeder Beziehung unlenkbar sind. In den schweren Stunden, die für unseren Erdteil heraufziehen, ist es möglich, daß sie plötzlich verängstigt, einen Augenblick lang den guten Willen haben werden ... die Führung überlegener Gruppen anzunehmen. Aber selbst dieser gute Wille wird scheitern. Denn die Grundverfassung ihrer Seele ist Unzugänglichkeit und Unbelehrbarkeit. Es ist ihr angeborener Fehler, nichts zu berück­sichtigen, was außerhalb ihres Horizontes ist, seien es Tatsachen, seien es Personen." (33)

 

Der Massenmensch kann die späteren Folgen seines heutigen Tuns nicht erkennen, schlimmer: er will sie auch gar nicht wissen.

Nachdem schon ein Jahrhundert der Drang zur großen Zahl auf allen Gebieten herrscht, ist im Jahre 1989 die Massenansammlung zu einem entscheidenden politischen Machtfaktor geworden. Diesmal war das Ergebnis begrüßenswert, aber wie wird es ein andermal sein? Denn die bloße Masse, die sich emotional und noch ziellos dahinwälzt, ist die unbeständigste und unberechenbarste politische Kraft. Diesmal wurde ihre Macht bejubelt, aber solche Massen werden uns noch das Fürchten lehren.

Und die Masse, welche die Herrschaft erringt, wird schnell erfahren, wie hilflos sie dann dasteht. Im erbitterten Kampf der Cliquen endeten die meisten Revolutionen, deren Urheber sich einig waren, wogegen sie kämpften, aber feindlich im wofür. Am Ende der blutigen Auseinandersetzungen kam in der Regel der Diktator, der es verstand, mit Massen umzugehen. In sein Kalkül gehören die Wünsche der Massen, und die sind aufs Unmittelbare, nicht auf die Zukunft gerichtet! Und das Fatale an der Weltgeschichte ist, daß bei der erfolgreichen Bekämpfung aktueller Übel die nächsten und größeren Übel bereits erzeugt werden.

Der tierische Ameisenhaufen ist hilflos und stirbt, wenn er keine Königin mehr hat. Der Menschenhaufen ist hilflos, wenn ihm kein Gott die nötigen Befehle gibt. Nur ein solcher hätte die Autorität, den nötigen Verzicht durchzusetzen. So wie früher Götter die Autorität hatten, dem Menschen seine ökonomischen Überschüsse abzuverlangen, womit sie der ständigen Eskalation im "wirtschaftlichen Wachstum" bis zur Katastrophe entzogen waren.

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Himmelfahrt ins Nichts von Herbert Gruhl 1992