Anton-Andreas Guha
Sicherheitspolitik ohne Vernunft - eine Psychose?
FORUM, 1981
wikipedia NATO-Doppelbeschluss
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Es ist noch gar nicht so lange her, da schüchterte man die Welt rings um Deutschland mit dem "scharfen Schwert in der Hand Germanias" ein und die "schimmernde Wehr" ließ manches vaterländische Auge feucht werden. Wenig später war es das "deutsche Heer", das die morschen Knochen erzittern ließ; nicht nur in Liedern wurde unablässig marschiert. Fast tausend Jahre lang konnte den deutschen Waffen nichts und niemand widerstehen und an vielen Stammtischen wird heute noch bedauert, daß die „Wunderwaffen" um ein weniges zu spät gekommen seien.
Arroganz und Überlegenheitsdünkel sind den Deutschen bekanntlich übel bekommen, nachdem freilich zuvor die Völker Europas und zahllose Menschen schrecklich leiden mußten.
Heute hat der demokratische Staat Bundesrepublik wieder eine Armee, die drittstärkste konventionelle der Welt sogar. Doch das Ritual hat sich in sein Gegenteil verkehrt: Statt Pathos und Siegeszuversicht ein unablässiges Lamentieren über die eigene Schwäche und den übermächtigen Gegner, den Warschauer Pakt und die Sowjetunion, denen man "nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hat".
Die Deutschen, so scheint es, sind auf militärischem und sicherheitspolitischem Gebiet zumindest reichlich exzentrisch, jedenfalls nicht normal, wobei man in der Stunde der Gefahr, da hatte Wilhelm II. offenbar recht, nur noch Deutsche kennt.
Da die „Bedrohung aus dem Osten" immer größer wird, weil die Sowjetunion, wie es in amtlichen Stellungnahmen und Äußerungen heißt, „ständig", „unaufhörlich", „unablässig" aufrüstet, gibt es in Bonn faktisch eine sicherheitspolitische Allparteienkoalition; zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien lassen sich in Fragen der Militär-, Rüstungs- und Sicherheitspolitik kaum noch Unterschiede feststellen, allenfalls Nuancen. Da aber das Fehlen einer konstruktiven Opposition in einer Demokratie ein Vakuum schafft, beginnt sich im außerparlamentarischen Raum eine Opposition zu bilden, die sich als Alternative zur herrschenden offiziellen Sicherheitspolitik versteht. Diese außerparlamentarische Opposition, auch Friedensbewegung genannt, geht von einigen wenigen zentralen Thesen aus, die sie belegen zu können glaubt:
1. Die NATO hat genügend konventionelle Waffenpotentiale, um jeden Angriff aus dem Osten chancenlos zu machen. Dies aber ist unerheblich, weil
2. jeder Krieg in Europa sofort in einen Nuklearkrieg eskalieren wird, und zwar nach den Einsatzkonzepten sowohl der NATO als auch des Warschauer Pakts (WP) selbst.
3. Gegen Nuklearangriffe läßt sich aber Westeuropa und vor allem die Bundesrepublik nicht verteidigen, d.h. schützen (übrigens auch die DDR und Osteuropa nicht). Mit anderen Worten: Westeuropa und die Bundesrepublik können selbst ihre vitalsten Interessen, etwa die Freiheit, nicht mit militärischen Mitteln „verteidigen", weil jeder Nuklearkrieg die totale Vernichtung bedeutet.
4. Die Bereitstellung militärischer Mittel kann also nur den Zweck haben, einen Krieg durch Abschreckung zu verhüten. Aber: Abschreckung ist nicht stabil, in ihrem Rahmen läßt sich offenbar nicht mehr rational denken. Sie kann keine Grenzen festlegen, weder politische, noch qualitative und quantitative der Rüstung, daher geht der Rüstungswettlauf ungehemmt weiter. Rüstungswettläufe führen aber unweigerlich zum Krieg. Daher taugt auch die Abschreckung nichts. Im übrigen wird Westeuropa stärker abgeschreckt als die Sowjetunion.
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Wer die offizielle Sicherheitspolitik an der Wirklichkeit mißt, verfällt zunächst in Ratlosigkeit, denn er kann so gut wie nichts von dem bestätigt finden, was behauptet wird. Im Gegenteil: Die Behauptungen und Aussagen der Sicherheitspolitiker und Militärexperten sind vielfach falsch, widersprüchlich, irreal, zuweilen bar jeder Vernunft.
Wer hier keine bewußte manipulative Strategie vermuten will, etwa um die Öffentlichkeit bewußt zu täuschen, um Zustimmung zu dieser Sicherheitspolitik zu erhalten und kritische Fragen nicht erst aufkommen zu lassen, wird nicht umhin können, ein psychopathologisches Problem anzunehmen.
Sicherheitspolitik vollzieht sich in einem wahnhaften Bereich, in einer Psychose, weitgehend abgehoben von der Wirklichkeit, sich vielmehr eine Scheinwirklichkeit schaffend, in der das Gute (der Westen) mit dem Bösen (dem Osten), das Licht mit der Finsternis ringt. Dabei ist die Einsicht wenig tröstlich, daß man diese Diagnose auch sowjetischen Sicherheitsexperten stellen könnte. Wie auch immer: Dies ist eine schwerwiegende Behauptung, die belegt werden muß.
Der rationale Kern der konventionellen Verteidigungspolitik der NATO besagt in etwa, daß soviel militärische Mittel bereitgestellt werden müssen, um einen möglichen sowjetischen Angriff mit Sicherheit zum Scheitern zu verurteilen (als dieses Konzept entwickelt wurde, hatte die Sowjetunion noch keine einsatzfähigen Atomwaffen). Diese Politik war „auftragsbezogen": Erfolgreiche Verteidigung, das war der Auftrag. Auftragsbezogene Sicherheitspolitik schielt also nicht in erster Linie darauf, wieviel Zahlen der Gegner bei den einzelnen Waffensystemen zur Verfügung hat, wieviel Panzer, Flugzeuge, Soldaten usw., sondern achtet darauf, ob die eigenen Mittel den gestellten Auftrag zu erfüllen vermögen. Zwar bleibt natürlich ein Wechselverhältnis zu den Maßnahmen des angenommenen Gegners, aber die auftragsbezogene Verteidigungspolitik der NATO konnte dem Warschauer Pakt — nach Würdigung einer Vielzahl entscheidender Faktoren — eine numerische Überlegenheit von 3:1 zugestehen, ohne daß die westliche Sicherheit gefährdet würde. Nach Ansicht des Oberbefehlshabers der US-Streitkräfte in der Bundesrepublik und im NATO-Abschnitt Mitteleuropa, General Frederik J. Kroesen, hat sich dieses Verhältnis mittlerweile auf 6:1 zugunsten der NATO verändert, weil die moderne Technologie eindeutig Verteidigungs- und Abwehrkonzeptionen begünstige.
Der Warschauer Pakt erreicht eine 3:1-Überlegenheit bei keinem einzigen Waffensystem, geschweige denn eine von 6:1. Dennoch behauptet die offizielle Sicherheitspolitik, egal aus welcher Partei sie kommt, die NATO sei „hoffnungslos", „dramatisch" usw. unterlegen, ein konventioneller Angriff der UdSSR könnte nur mit Atomwaffen gestoppt werden.
Aber weiter: Unter Militärexperten besteht Einigkeit darüber, daß ein großangelegter Angriff des WP schon im Ansatz entdeckt würde, die Vorwarnzeit mindestens sechs Wochen betrüge. Dann aber stünden sich in Mitteleuropa nicht die jetzt stationierten 920.000 Mann WP-Soldaten und die 780.000 NATO-Soldaten gegenüber, sondern Millionen-Armeen, zunächst mindestens 5,2 Millionen Mann auf westlicher, 4,8 Millionen auf östlicher Seite. Es würden nämlich die ausgebildeten Reserven einberufen.
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Es ist schlechthin unbegreiflich, daß diese simple Tatsache nicht berücksichtigt wird (und bislang einen Erfolg bei den Wiener Verhandlungen MBFR verhindert), wenn die "ungeheure" Überlegenheit des WP beschworen wird, dessen eingemottetes Kriegsmaterial (Panzer, Artillerie) in westlichen Statistiken übrigens mitgezählt wird, das der NATO dagegen nicht.
Ein „Angriff aus dem Stand" der Sowjets hätte jedoch ebenfalls keine Chance, weil die NATO unter allen Umständen in der Lage wäre, den Nachschub und die rasche Heranführung der Reserven (zweite und dritte Welle) zu unterbinden. Auch bei einem solchen Angriff wäre übrigens eine Vorwarnzeit von 4 bis 6 Tagen gegeben. Das ist die Realität.
Die maßlose Übertreibung der sowjetischen konventionellen Streitkräfte ist daher ein ernstes psychotisches Indiz. Der Psychotiker fühlt sich bedroht, überall wittert er übermächtige Feinde. Alles, was sie tun, dient dem Zweck, ihm zu schaden, ihn zu vernichten. Der Psychotiker aber ist entschlossen, sich zur Wehr zu setzen, den Feind zu vernichten. Daß er dabei auch vernichtet wird, sogar noch eher, kann er sich allerdings nicht zu Bewußtsein bringen, dies ist ja eben ein Zeichen seiner Krankheit.
Betrachtet man die nukleare Sicherheitspolitik der NATO, vor allem die der Bundesregierung, stellt man ebenfalls frappierende Ähnlichkeiten fest. Hartnäckig hält sie z.B. an dem Begriff „Verteidigung" und den entsprechenden Begriffsvarianten fest, obwohl es für die Bundesrepublik keinerlei Verteidigungsmöglichkeiten, also Schutz von Menschen und Gütern gäbe, wenn Atomwaffen zum Einsatz kämen. Am schwachsinnigsten (im psychiatrischen Wortsinne) ist die Begriffs Variante „Verteidigungsfall", womit realistischerweise der Kriegs-, also der Vernichtungsfall gemeint ist.
Die offizielle Sicherheitspolitik denkt nicht über die Abschreckung hinaus. Bundesverteidigungsminister Apel beispielsweise (aber auch andere Sicherheitsexperten) bezeichnet die Atomwaffen ständig als „politische" Waffen, d.h., die sollten den Krieg verhüten und dürfen nicht zum Einsatz kommen. Andererseits aber muß der Einsatz dieser Waffen dem Gegner in einer sehr präzisen Kriegsführungskonzeption glaubwürdig angedroht werden, denn Abschreckung steht und fällt mit ihrer Glaubwürdigkeit. Dieser Widerspruch wird offenkundig verdrängt, die Öffentlichkeit beispielsweise wird nicht über die Konsequenzen eines Atomkriegs in Mitteleuropa aufgeklärt. Kein Politiker spricht darüber, obwohl verantwortungsbewußte Politik stets auch die möglichen Konsequenzen zu bedenken und auszusprechen hätte.
Käme es in Europa zum Krieg, der in jedem Falle ein atomarer wäre (was bedeutet, daß sich die Bundeswehr in diesem Augenblick in wertlosen Schrott verwandeln würde), würde die Bundesrepublik von atomaren Waffen sowohl der NATO als auch des WP vernichtet. Zehn Prozent der 7000 taktischen NATO-Waffen würden in Deutschland (also DDR und BRD) auf absehbare Zeit kein Leben mehr ermöglichen.
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Auch die Sowjets müßten nur einen Bruchteil ihres atomaren Potentials einsetzen. Alle Strukturen der Industriegesellschaft wären zerstört. Im ungünstigsten, aber sehr realistischen Falle würden 10 Prozent der Bevölkerung das Inferno mit weniger als 200 rad Strahlung überleben, also für längere Zeit eine Chance haben. Dann müßten sie irgendwohin auswandern, falls sie jemand aufnehmen wollte. Die etwa 25 Millionen Bundesdeutschen mit mehr als 200 rad Strahlung müßten humanerweise getötet werden, weil sie erstens keinerlei Überlebenschancen hätten, zweitens den 10 Prozent Überlebenden die (dann in der Bundesrepublik und wahrscheinlich sogar in ganz Europa nicht mehr reproduzierbaren) knappen Ressourcen wegnähmen. Wird die gegenwärtige Sicherheitspolitik beibehalten, die einen Atomkrieg in Europa zwar aus dem Bewußtsein verdrängt, gleichzeitig aber als Risiko einkalkuliert und hinnimmt, so wäre es eine ebenso notwendige wie verantwortungsbewußte Maßnahme (wichtiger als jeder Zivilschutz), eine Euthanasie-Armee aufzustellen, die nach einem Atomkrieg die hoffnungslos Verwundeten tötet. So etwas wie medizinische Versorgung gäbe es ohnehin nicht.
Ein Krieg mit taktischen Atomwaffen ist dagegen theoretisch sowohl für die USA als auch für die UdSSR führbar. Entgegen den Beteuerungen der Bonner Politik könnten die Sowjets durchaus damit rechnen, daß die USA Europas wegen keine Atomwaffen gegen die UdSSR einsetzen, weil sie damit die eigene Vernichtung riskieren würden. Das heißt: Für die Alliierten der beiden Supermächte ist ein taktischer Atomkrieg tödlich (bedeutet die „strategische Situation"), für die Supermächte selbst nicht, sie verlieren nur ein paar Divisionen. Die Sicherheitsinteressen sind also kraß unterschiedlich.
Das heißt weiter, daß bis zur nuklear-taktischen Ebene die Abschreckung für beide Supermächte relativ gering ist. Abschreckung bedeutet daher realistischerweise, daß die USA den Sowjets glaubwürdig die Vernichtung Europas androhen. Davor sind die bösen Moskowiter, denen man im Westen alles zutraut, bisher zurückgeschreckt (denn für das Abschreckungsdenken ist die Annahme absurd, der Gegner habe deshalb nicht angegriffen, weil er gar nicht angreifen will). Sie hatten bislang kein so wichtiges politisches Interesse, dessen Wahrnehmung die Vernichtung Europas gelohnt hätte. Dies allerdings würde sich in dem Augenblick ändern, in dem sich eine für die Sowjets — und sei es nur eine subjektiv wahrgenommene — existenzbedrohende Situation ergäbe. Das bedeutet, daß es bereits im Existenzinteresse der Bundesrepublik liegt, akute Krisensituationen zu vermeiden.
Die Bundesregierung muß also — ob sie es zugibt oder nicht — immer auch für die Sowjets und deren Interessen mitdenken, weil die auf NATO-Seite lagernden (und im Kriegsfall zu einem großen Teil auf deutschem Gebiet explodierenden) 7000 taktischen Kernwaffen und die 5000 des WP den politischen Handlungsspielraum der Bundesrepublik drastisch eingeengt haben. Die Bundesregierung schreckt sich also de facto schon längst selbst ab, sie ist schon längst erpreßbar geworden, was sich auch sofort zeigen würde, wenn die Sowjets es darauf anlegten. Sie tut nur so, als wäre sie noch ein souveräner Staat in einem freien Bündnis.
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Obwohl also — entgegen der offiziellen Sicherheitspolitik — das bereits vorhandene Zuviel an Atomwaffen und nicht das behauptete Zuwenig die Bundesrepublik zu einem abhängigen Staat degradieren, der, sofern ein Quentchen Vernunft in Bonn herrschte, unter allen Bedingungen das Umschlagen einer politischen Krise in eine militärische vermeiden muß (sofern nicht die Gefahr einer Auslöschung des deutschen Volkes und seiner Geschichte beschworen werden soll), wiederholt sich bei der Nachrüstung diese irrationale, gesundem Menschenverstand kaum faßbare Argumentation.
Unter dem Aspekt „auftragsbezogene Abschreckung" wäre die Nachrüstung nicht notwendig, vielmehr vollkommen überflüssig, weil die NATO mit den britischen, französischen und amerikanischen Raketen und Sprengköpfen ein so gewaltiges Potential an Mittelstreckenwaffen hat, daß die UdSSR als lebensfähiger Industriestaat restlos vernichtet werden könnte.
Diese Waffen sind aber größtenteils seegestützt, d. h. auf U-Booten stationiert, die sowjetischen SS-20, SS-4 oder SS-5 dagegen sind landgestützt. An landgestützten Raketen hat die NATO aber tatsächlich „nichts Gleichwertiges". Also fühlt man sich im Westen, vor allem in der Bundesrepublik bedroht, weil ja „keine Lücke im Abschreckungsspektrum" auftreten darf. Daher soll mit landgestützten Raketen (Pershing-II) und Marschflugkörpern (Cruise Missile) „nachgerüstet" werden, um die Sowjets in Verhandlungen zu veranlassen (NATO-„Doppelbeschluß"), ihre landgestützten Raketen auf „ein möglichst niedriges Niveau" abzubauen. Angenommen, die Sowjets lassen sich darauf ein, obwohl Franzosen, Briten und Chinesen bereits erklärt haben, sie fühlten sich von diesem Problem nicht berührt, dann folgt daraus zwingend, daß sie ihrerseits bei den seegestützten Atomwaffen nachrüsten dürfen.
Wo also liegt der Effekt dieses Streits? Nirgendwo, denn für die Betroffenen ist es egal, ob ihnen eine see- oder landgestützte Atomrakete auf den Kopf fällt.
Was aber heißt "möglichst niedriges Niveau"?
Angesichts der horrenden Übertötungskapazitäten (Overkill) auch bei den taktischen und euro-strategischen Atomwaffen — d.h., ein Bruchteil würde die Bundesrepublik vernichten — ist es unsinnig, den Abbau von Overkill als Beitrag zur Sicherheit ausgeben zu wollen. Das kann gut an einem Beispiel illustriert werden: Ein Mensch, der nicht entrinnen kann und von einer Maschinenpistole bedroht wird, braucht vor der 20., 30., 40. oder 60. Kugel im Magazin dieser Waffe keine Angst zu haben; sie schrecken ihn nicht ab. Angst muß er vor der ersten oder vielleicht noch zweiten Kugel haben, denn die würden ihn töten. Die 30. Kugel tötet nicht mehr, sie trifft nur noch eine Leiche.
Genauso verhält es sich bei den Atomwaffen: Solange es ein Potential gibt, das die Existenz der Bundesrepublik bedroht, ist das „möglichst niedrige Niveau" eine sinnlose Kategorie, die unsere Sicherheit nicht vergrößert. Wenn der MP-Schütze 30 Kugeln aus seinem Magazin nimmt (und umgekehrt, denn die Bedrohung ist gegenseitig), so ist für die Sicherheit der wechselseitig Bedrohten nichts gewonnen.
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Die Ausweglosigkeit der (atomaren) ,,Sicherheits"-Politik ist so offenkundig, daß die Bundesregierung zu eklatanten Widersprüchen greifen muß. Um das Argument zu „entkräften", die geplanten Nachrüstungswaffen stellten eine so große Bedrohung für die UdSSR dar (ein SPD-Sicherheitspolitiker namens Helmut Schmidt sprach einst von einer „unerträglichen Provokation"), daß ein Entwaffnungsschlag, der uns vernichten müßte, wahrscheinlich würde, behauptet sie in der Broschüre „Aspekte der Friedenspolitik" (Seite 59): „Ein Angriff gegen die NATO in Europa ist auch ein Angriff gegen die USA. Ein Angreifer müßte deshalb mit dem Einsatz aller Mittel der Allianz rechnen - einschließlich der nuklearen Interkontinentalwaffen der USA". Ein stolzes Wort voll Bündnissolidarität.
Das aber bedeutet, daß das Hauptargument für die Nachrüstung entfällt, weil uns die USA nach wie vor mit ihren großen Waffen schützen würden. Der Nuklearschirm der USA wäre also noch intakt. Das aber darf beim Gottseibeiuns nicht sein, daher schreibt die Bundesregierung in ihrer Broschüre auch, ein Angriff der Sowjets gegen Westeuropa wäre ohne Nachrüstung durchaus denkbar, weil dann die USA gezwungen wären, „sofort mit interkontinental-strategischen Waffen zu antworten, was - angesichts interkontinental-strategischer Parität - wenig glaubhaft ist". Also braucht man Mittelstreckenwaffen.
Doch damit ist der Widerspruch noch nicht komplett.
Die Bundesregierung anerkennt nämlich, daß die Sowjets eine Mittelstreckenwaffe als eine strategische Waffe betrachten, weil sie unter der Verantwortung der USA ihr Territorium bedroht (Seite 57). Sie würden daher im Kriegsfall Ziele in den USA angreifen, falls im Kriegsfalle eine Pershing-II von deutschem Gebiet aus in der UdSSR explodiert. Das aber heißt wiederum, daß für die USA das Dilemma bzw. Risiko bei den Mittelstreckenwaffen das gleiche ist wie bei den Interkontinentalraketen. Der US-Präsident wird bei einem Angriff gegen Westeuropa eine Pershing oder eine Cruise Missile nicht leichteren Herzens zum Abschuß gegen die Sowjetunion freigeben als eine Titan oder Minuteman-III. Er eröffnete so oder so den strategischen Holocaust. Gibt er eine Pershing-II frei, dann könnte er ebensogut eine Minuteman-III freigeben, die Nachrüstung wäre also abermals nicht notwendig. Schreckt den US-Präsidenten aber das strategische Risiko, d.h. die Aussicht der Vernichtung der USA, dann wird er eine Pershing-II wie eine Minuteman-III erst bei unmittelbarer Bedrohung der USA freigeben, nicht jedoch zur „Verteidigung" Europas.
Dann aber ist die Nachrüstung endgültig sinnlos.
Die Indizienkette dafür, daß die Behauptungen und Aussagen der offiziellen Sicherheitspolitik „vielfach falsch, widersprüchlich, irreal, zuweilen bar jeder Vernunft" sind, ließe sich noch lange fortsetzen. Damit wäre auch die These belegt, daß unsere Sicherheitspolitik auf einer Psychose beruht: Das Auftürmen immer neuer und immer mehr Waffen trägt schon längst nicht zur Sicherheit bei, sondern vergrößert im Gegenteil die Unsicherheit, das Vernichtungsrisiko. Overkill-Kapazi-täten sind außerdem völlig bedeutungslos, weil sie nicht mehr abschrecken (sowenig wie der 40. Schuß im Magazin einer MP). Daher wird auch der Begriff „Überlegenheit" sinnlos. Wer mehr Atomraketen hat, ist dem anderen nicht „überlegen", wenn dieser ihn auch mit wenigen Waffen noch mehrfach vernichten kann. Das Zählen von Raketen und Sprengköpfen oder die Unterscheidung, ob sie see- oder landgestützt abgefeuert werden, ist absolut bedeutungslos — für die Vernunft. Für den Psychotiker jedoch stellt dies alles ein ungeheures Problem dar. Albert Einstein muß diese „intellektuelle und moralische Unzulänglichkeit" (Thomas Mann) gemeint haben, als er sagte: „Die Entfesselung des Atoms hat alles verändert, mit Ausnahme des menschlichen Denkens". Man könnte es auch mit einem leicht abgewandelten Tucholsky-Zitat ausdrücken: „Wie Klein-Fritzchen sich unsere Sicherheitspolitik vorstellt — so ist sie auch".
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