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Neujahr 2000   

Guha-1993

 

11-24

Ein gelungener Sylvester! Das Komitee »Fortschritt 2000« hat gute Arbeit geleistet. Die karnevals­erprobten Animateure mußten sich wohl nicht allzusehr ins Zeug legen. Die Leute wollten einfach fröhlich sein und ein Fest feiern. Wer erlebt schon eine Jahrtausend­wende! 

Selbst die Weltuntergangs­propheten, die sich in den letzten Jahren beträchtlichen Zulauf verschafft haben, wurden problemlos integriert, sofern sie sich blicken ließen, indem man sie kurzerhand als kauzige Typen nahm, die irgendwie dazugehören und zur Stimmung beitragen.

Fulminantes Feuerwerk im Kurpark! Andreas und Sylvie bekamen es schließlich mit der Angst zu tun, starrten aber atemlos in die Farbengewitter und nieder­regnenden Funkenbänder. Störend allerdings, daß man die Schäden des Orkans von Heilig Abend noch nicht völlig beseitigt hatte. Die Lichtkaskaden und Schattenreflexe ließen die in den Kurparkweiher gestürzte Eiche wie einen ertrinkenden Riesensaurier erscheinen, der noch zuckt.

Tina macht mir Sorgen. Sie war so still, als ob sie etwas bedrückte. Sylvies Krankheit geht ihr doch näher, als sie es sich eingestehen will.

Zum Lieblingsjahrhundert des letzten Jahrtausends ist in Deutschland das 19. gewählt worden. Kein Wunder, Befreiungskriege, 1871, Bismarck. Reichsgründung, heile Welt, die gute alte Zeit, die ständigen Hurras aus teutscher Brust. Die Franzosen entschieden sich für das 17. Ludwigs XIV., Mazarins, Richelieus, der drei Musketiere. Die Engländer zogen das 18. vor. Verständlich, denn sie begannen mit den Wellen der Meere auch die Welt zu beherrschen, obwohl sie Amerika verloren. Die Italiener begeistern sich für das 15., die ewige Sehnsucht der Südländer nach der Renaissance, der Wiedergeburt als römische Cäsaren. 

Das abgelaufene 20. Jahrhundert weit abgeschlagen auf dem letzten Platz.

Nur sechs Prozent der Europäer wollten in der Zeit gelebt haben, in der sie tatsächlich leben! Allein die US-Amerikaner finden das abgelaufene Jahrhundert »great«. Es war ja auch das amerikanische, beinahe jedenfalls. Wenn das Schillern wüßte!

In den Abendnachrichten wird ein Bergrutsch im Glötschnertal gemeldet. Die Nachrichten sind noch spärlich, immerhin hat die österreichische Regierung den Notstand ausgerufen.

3. JANUAR 2000

Die nächste Sturmwarnung für Hl. Dreikönige angekündigt. Die Realität des zweiten Jahrtausends holt uns wieder ein, greift nahtlos ins dritte hinüber. Alarmstufe 1 für die Nordseeküste. Die Regierung erwägt, Hamburg diesmal zu evakuieren. Man will nicht wieder 700 Tote in Kauf nehmen wie vor einem Jahr. Geübt haben die Hansestädter ihren E-1-Plan bereits zur Genüge. Wahrscheinlich ist die Stadt auf Dauer nicht zu halten, auch wenn man die Elbufer fünf Meter hoch aufschütten will. 

Die Luftwirbel über dem Nordatlantik werden von Jahr zu Jahr stärker. Amrum längst evakuiert, Sylt seit zwei Jahren unbewohnt, wie die meisten friesischen Inseln. Wie verlassene Wracks liegen sie in der See. Die meisten Halligen abgesoffen. Das Risiko ist zu groß geworden. Der nächste Tornado kann die Reste von Sylt ins Meer spülen. Nur Helgoland trotzt dem Blanken Hans wie eh und je.

Plötzlich wird deutlich, daß die gestörten Öko-Systeme keine technischen Lösungen mehr zulassen oder sie gar ins Gegenteil verkehren: Die neuen Deiche entlang der Elbmündung zum Schutz der Marsch zwängen den Strom ein und drücken das Wasser bei Sturmflut nur noch tiefer in die Stadt.

Die Schlagzeilen der Presse »Kündigt sich neue Katastrophe an?« notabene falsch. 

Katastrophe heißt Wendung, Umkehr, Umdrehen, das Unerwartete. Die Katastrophen der letzten Jahre signalisieren aber eine künftige Normalität. Daher sind sie entweder keine Katastrophen oder die Normalität wird allmählich katastrophal. Auf jeden Fall keine »Natur-Katastrophe«, sondern Menschenkatastrophe. Katastrophen des Menschen. Der Mensch als Katastrophe?

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7. JANUAR 2000

Sprachloses Entsetzen: Hamburg! Die 1000jährige Freie und Hansestadt. Hamburg am Rande des Untergangs. Muß die Stadt aufgegeben werden? Das Inferno des 6. Januar 2000 hat sie leckgeschlagen wie ein altes Schiff. Die Flut acht Meter über Normal Null, Windgeschwindigkeiten um 320 km/Std., gewaltiger und gewalttätiger noch als die, die vor neun Jahren über Bangladesh wüteten. Der Hafen ein Trümmerhaufen, verwüstet, abgesoffen. Autos, Kräne und Lagerhallen fortgerissen oder zu Schrottbergen aufgetürmt und bis in die Straßen von Altona und St. Pauli geschleudert. Schiffe rammten Häuser und trieben auf den Straßen. Die Stadt, die vom Meer lebte, in vermeintlich sicherer Entfernung, ein Raub des Meeres.

Auch der Michel eingestürzt. Das Wahrzeichen als Menetekel! Dank der Teilevakuierung hält sich die Zahl der Opfer offenbar in Grenzen. Aber der Überblick fehlt. Gewißheit ist nur, Hamburgs Zukunft ist verloren. Das Tor zur Welt ein Einfallstor entfesselter Gewalten, deren überdimensionierte Wucht kein Computermodell berechnet hat. Die vage Ahnung von unbekannten Entwicklungen, die sich nicht in Simulationsmodellen darstellen lassen, die ergo nicht geschehen dürften. Die Angst der Kreatur vor dem Unbekannten, das hilflos macht.

Die Kastanie vor meinem Haus ist umgeknickt, liegt stumm und starr quer über der Straße. An die 120 Jahre wird sie wohl standgehalten haben. Bis gestern. Heute wieder Sonne, italienisch-blauer Himmel, kein Lüftchen regt sich. Die Natur spielt Katz und Maus. Wie zum Hohn. Das Erlebnis wird zum Alptraum, löst den Schock nicht auf. Nicht das Ausmaß der Schäden oder die Zahl der Opfer schockieren, sondern das schier grenzenlose Ausmaß der Gewalt, das so fremd wirkt und daher so unerbittlich. Wie der Racheakt eines tief Verletzten, der keine Gnade kennt.

Die sich aufdrängende Ahnung, daß die Grenzen der Gewalt noch nicht erreicht sind, noch längst nicht.

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8. JANUAR 2000

Das Bewußtsein kann das Geschehene nur allmählich aufnehmen. Unmöglich, eine Falschmeldung, ein Irrtum: Sylt endgültig verschwunden, von der See verschluckt, als hätte es dieses kleine Paradies nie gegeben. Amrum um ein Drittel geschrumpft, abermals. Unvermeidliche Beute wie die anderen Inseln. Nur noch Reste von Juist und Texel. Borkum amputiert. Das friesische Watt eine Beute der See, für immer verloren. Die Reconquista der See, Rückeroberung. Der Blanke Hans lauert jetzt ganz dicht an der Küste. Sprungbereit. Ob er mit den bestehenden Dämmen und Deichen ferngehalten werden kann, ist die bange Frage. Die Inseln und das Watt wirkten wie Wellenbrecher.

Daß die großen Deiche im großen und ganzen diesmal noch gehalten haben, ist kein Wechsel auf die Zukunft. Sind ja erst in den 90er Jahren verstärkt worden, in Voraussicht des Unabwendbaren. Zwar nur ein Kurieren an Symptomen, verschafft aber der ganzen norddeutschen Tiefebene eine Atempause. Man ist schon für Atempausen dankbar.

Dennoch das große Zittern in den Niederlanden, wie in einer belagerten Festung. Die Deichbrüche bei Harlingen und Bierum lassen für Leuwaarden und Deifzjil das Schlimmste befürchten. Sogar Groningen in Gefahr. Zwei Drittel der Niederlande liegen unter dem Meeresspiegel! Was sich in Hamburg erst andeutete, droht auch Holland: Das Meer greift nach einem Stück europäischer Kultur. Holt sich wieder, was ihm gehörte. Unausdenkbar, wenn dieser Teil herausgebrochen werden sollte! Die 24 Milliarden Gulden für das neue Deichbauprogramm werden nicht ausreichen. Die See setzt zum Sturm an.

Westeuropa vom Ministerrat der EU zum Katastrophengebiet erklärt. Dienstverpflichtung der Arbeitslosen zur Schadensbeseitigung durch die nationalen Regierungen wie geplant. Auch die Streitkräfte im Einsatz. Die große Defensive im Krieg gegen die Natur. Im Krieg der Natur gegen uns? Wer ist Aggressor und wer Verteidiger?

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Die norddeutschen Wälder: Kleinholz. Erdfest und sturmverwachsen ...

Im Glötschnertal notabene bisher 324 Tote geborgen. Die Nordwand des Stifzerkogels war niedergegangen und hatte Gschwand sowie St. Görgen begraben. Eine Fußnote angesichts der Tragödie an der Nordseeküste.

 

8. JANUAR 2000, abends

Wieder die Suche nach Gründen und Zusammenhängen. Wie war das möglich? Was geht hier vor? Banale Fragen. Offenbar wird der Mensch von einer unbewußten archaischen Aggressivität gegen die Natur angetrieben, die sich aus seiner Angst erklärt. Das erwachende Bewußtsein muß eine fatale Folge gehabt haben: Es entfremdete den Menschen von der Natur, weil er sich einerseits als Subjekt zu begreifen begann, das von seiner Umwelt geschieden ist, andererseits aber blieb ihm diese Umwelt fremd und rätselhaft und unbegreiflich. Über Jahrmillionen hinweg. Und wie reagierte das Bewußtsein auf die vielen Wunder, die auf- und niedergehende Sonne, den wandernden Mond, den Wechsel der Jahreszeiten, Blitz und Donner, das Wachsen und Vergehen, wie vor allem auf Geburt und Tod? Mit Angst und dem Gefühl der völligen Hilflosigkeit, des totalen Ausgeliefertseins. Angst – über Jahrmillionen hinweg erlebt! Die Natur als ständige Bedrohung, der man das kümmerliche Dasein abtrotzen mußte, von unzähligen Gefahren umstellt. Sie war der Feind, gegen den man sich behaupten mußte, wollte man überleben. Man mußte Verbündete suchen – Geister und Götter –, die einem beistanden, weil sie mächtiger waren als die Natur und über sie gebieten konnten.

Der Mensch ist ein Geschöpf der Angst, ein letztlich psychotischer Fall. Sein Bewußtsein kann sich nicht nur künftige Gefahren vorstellen, er kann sie sich auch erfinden: böse Geister und Götter, die ihn verfolgen, wenn er sie nicht gnädig stimmt. Er kann aber auch sich selbst zum Feind erklären, der den Göttern, seinen Göttern, mißfällt und bestraft werden muß, wenn er nicht gehorsam ist. Psychose und Neurose – die Normalität des Menschen.

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Seine Angst hat der Mensch der Natur offenbar nie vergessen und nie verziehen, jedenfalls nicht der abendländische. Sie auszuforschen und zu enträtseln, um sie zu bändigen, zu unterdrücken, zu verformen, verändern, sich dienstbar zu machen und zu beherrschen, um in ihre Regelkreisläufe einzugreifen – das bereitet ihm Lust, weil er sich als der Stärkere und Überlegenere fühlen kann. Er kostet seine Omnipotenz aus. Ecce homo! Der Kampf gegen die Natur als Voraussetzung für die Transzendierung des Menschseins.

Der unselige Francis Bacon: Wissen ist Macht, Naturwissen ist Macht über die Natur. Die Natur versklaven, sie foltern wie ein Tier. Der Aufklärer und Rationalist in eins mit den frommen Mythologen: Machet euch die Erde Untertan, und ihr werdet sein wie Gott. Der Anthropozentrismus, die Naturferne der griechischen Philosophie, des Judentums und der Bibel, die die Natur, die unbelebte und belebte, zum bloßen Material und Menschenbesitz degradierten. Immerhin weigerten sich Aristoteles und Platon, ihr Wissen über die Natur zu werfen wie ein Netz, mit dem man ein Tier einfängt. Das Wissen sollte kontemplativ sein, kein technisch-praktisches. Sollte zu einem sittlichen Leben führen, zu Erkenntnis und Demut. Hätten die Griechen ihr Wissen technisch umgesetzt und ökonomisch verwertet — alles wäre vermutlich ausgestanden. Es gäbe uns nicht mehr.

Jetzt erst dämmert uns, daß wir über kein beherrschbares Opfer verfügen, sondern selbst unser eigenes Opfer sind. Der Rücksichts­losigkeit gegen die Natur entspricht die Rücksichtslosigkeit des Menschen gegen den Menschen. »Jede Lehre, die den Menschen nicht in die Natur einordnet, sondern gegen die Natur stellt, stellt durch sich selbst zugleich den Menschen gegen den Menschen«. Eugen Drewermann. Homo homini lupus. Wieviel doch erkannt und niedergeschrieben und archiviert, aber nie verstanden wurde!

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8. JANUAR 2000, Mitternacht

Den ganzen Abend mit Sylvie und Andreas gespielt. Tina lag auf der Couch und las, beobachtete uns aber schmunzelnd. Schließlich die unvermeidliche Gute-Nacht-Geschichte. Erzählte – zum wievielten Male? – vom Raben Ralf, der als Küken aus dem Nest gefallen war, weil er noch nicht fliegen konnte, und den ich mit nach Hause nahm und aufzog. Als er ein richtiger schwarzer, glänzender Rabe geworden war, begleitete er mich jeden Morgen zur Schule, auf meinem Ranzen hockend. Und war die Schule aus – schwupp –, kam er aus dem Baum im Schulhof herabgestürzt, krächzte vor Freude – und vor Hunger. Der zahme Ralf hatte leider nie gelernt, selbst für seine Nahrung zu sorgen. Dafür aber verteidigte er mich, wenn mich einer der großen Jungen verhauen wollte. Er hat aber nicht mit dem Schnabel nach ihm gehackt, sondern sauste wie ein Pfeil ganz dicht an dem Schurken vorbei und – wehe! – wenn er ihn mit den Flügelspitzen streifte. Das tat so weh wie ein Peitschenhieb. »Und dann?« pflegt Andreas atemlos zu fragen, obwohl er die Geschichte vom Raben Ralf fast auswendig kennt. Aber er gibt sich zufrieden, daß die Fortsetzung morgen folgen soll.

 

10. JANUAR 2000

Wieder heftige Debatte in der Redaktion über unsere künftige Berichterstattung und die Bewertung der ökologischen Problematik. Die Mehrheit neigt dazu, den Weisungen des Nationalen Umweltsicherheitsrates nicht mehr zu folgen. Schluß mit den Beschwichtigungen und Verharmlosungen! Der Öffentlichkeit muß endlich reiner Wein eingeschenkt werden, die Fakten lassen sich ohnehin nicht mehr verharmlosen und schon gar nicht aus der Welt schaffen. Dem Patienten – uns allen – muß seine lebensbedrohliche Lage deutlich vor Augen gestellt werden, damit er sich für eine riskante Operation, die aber gleichwohl seine einzige Chance ist, entschließt. Das bedeutet, den Lesern, also Bürgern und Wählern, muß klar gemacht werden, daß sie harte Opfer bringen müssen. Erst wenn sie sich dieser Bereitschaft sicher sein können, werden die Politiker den Mut zum Handeln aufbringen. Denn die wissen ja längst, daß es so nicht weitergehen kann.

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Mag sein, daß es im 12. und 14. Jahrhundert und 1712 ähnliche Sturmflutkatastrophen gegeben hat wie in den letzten Jahren, aber nicht in dieser Häufung und nicht mit dieser Regelmäßigkeit wie im vergangenen Jahrzehnt. 16 der letzten 20 Jahre waren Extremjahre. Die Presse muß die Menschen aufrütteln, muß das Ausmaß der Bedrohung schonungslos beschreiben. Dazu ist sie da! Die Verantwortung für die Zukunft, für Kinder und Enkel, für die künftigen Generationen muß endlich wahrgenommen werden – mit allen Konsequenzen. Dieses System hat so viel zerstört, sogar Bewußtsein und Verantwortung. Es schafft sich seinen eigenen Typus Mensch. Ein fatales und fatalistisches In-den-Tag-Hineinleben.

Roß und Reiter sind jetzt zu nennen, also Ursachen und Verursacher. Das Paradigma des Politischen hat sich gewandelt: Nicht mehr nur Gipfeltreffen und Politikerstatements sind Politik und gehören auf die Nachrichtenseiten, sondern die ökologische Frage. Die Existenzfrage, die auf den bunten, vermischten Seiten »aus aller Welt« abgehandelt wird.

Natürlich ist jedem bewußt, daß dies Akzeptanzprobleme aufwerfen und somit gefährlich sein könnte. Gleichgültigkeit und Fatalismus können leicht in Massenhysterie umschlagen. Die Angst ist ja da, sie wird nur verdrängt. Und Panik entsteht aus verdrängter Angst. Die Presse kann gesellschaftliche Autorität nicht ersetzen, allenfalls schwächen oder stärken. Berechtigter Einwand, daß aus unkontrollierten Angstreaktionen heraus der Ruf nach Verantwortlichen und ergo Schuldigen laut werden könnte. Dann wäre das Desaster personifiziert, einige Opfer gefunden – und nichts gewonnen. Die Suche nach Sündenböcken hat noch stets ein Problem verschleiert. Erst kürzlich die einträchtige Warnung der Kirchen und Arbeitgeberverbände vor einer Hexenjagd auf »Umweltsünder«.

Aber gibt es denn nicht auch Kollektivverantwortung oder gar Kollektivschuld? Habe erhebliche Zweifel. Verantwortung und Schuld bemessen sich nach dem Handeln des einzelnen. Natürlich hat fast jeder einzelne, also die meisten, von diesem System profitiert, von Wohlstand und Wachstum.

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Jeder ist also Teil dieses Systems, daher ein unvermeidlicher Naturzerstörer: als Autofahrer und Energie­verbraucher, als Konsument und Müllproduzent. Jeder hat dieses bequeme System legitimiert. Insofern ist jeder und sind wir alle Verursacher und Schuldige, die Informationen ignoriert und die Zeichen der Zeit zu spät erkannt haben, Gefangene der von uns selbst geschaffenen Sachzwänge. Niemand kann sagen, er habe nichts gewußt. Wenige können sagen, sie hätten etwas getan.

Aber wer könnte dem System schon entrinnen? Muß nicht jeder ein Naturzerstörer sein und seinen Beitrag zur Existenz­vernichtung leisten, ob er will oder nicht? Und eine Zeitung, die ihren Lesern kollektive Verantwortung für das Umweltdesaster zuwiese, wäre bald weg vom Fenster. Der Widerspruch, die emotiven und kognitiven Dissonanzen halten die intellektuelle Einsicht in Grenzen.

Die These von Kollektivverantwortung und Kollektivschuld deckt das Problem zu, da sie keine Lösung ermöglicht. Alle Systeme, in der Natur wie in der Gesellschaft selbst, sind hierarchisch strukturiert, unverzichtbares Organisationsprinzip der Evolution. Entsprechend wird zu Recht Verantwortung von unten nach oben delegiert. In der Spitze konzentriert sich Verantwortung. Also ist auch die Spitze verantwortlich. Fatalerweise ist es bei der Moral umgekehrt, sie nimmt gegen die Spitze hin ab. Das ist das Problem der Macht, obwohl Verantwortung ein Eckstein jeder Moral ist. Wer einen Menschen tötet, ist ein Mörder, wer einen Krieg vom Zaun bricht, ein Staatsmann, sofern er ihn gewinnt. Wer seine Autobatterie in den Wald wirft, wird, zu Recht, hart bestraft. Wer beiträgt, den ganzen Wald mit saurem Regen und Abgasen zu zerstören, zählt womöglich zu den erfolgreichen, Arbeitsplätze schaffenden Unternehmern, denen Denkmäler gesetzt werden. Moral und Ethik haben einen Gradienten! Sie werden nach oben hin schwächer. Daher ist es auch mit der Verantwortung nicht weit her. Im alten Athen haben sie Feldherren geköpft, wenn diese keine Fortune hatten. Und im republikanischen Rom wußten die Verantwortlichen, daß sie dazu da waren, den Staat vor Schaden zu bewahren. Videant consules, ne quid detrimenti capiat res publica. Verantwortung! Sollen die Verantwortlichen zusehen, daß Staat und Gesellschaft gut über die Runden kommen.

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Heute undenkbar. Wer sind »die Verantwortlichen«? »Korporative Akteure«, sagen die Soziologen, anonyme Vorstände von Konzernen und Verbänden. Sie treffen Entscheidungen, deren Risiken sie nicht überblicken, für deren Schäden sie nicht einstehen können – und brauchen. Das individual-ethische Prinzip der Verantwortung reduziert sich auf Gefährdungshaftung, aber auch die ist begrenzt: Für Bophal, für Seveso mußten die Konzerne nicht das ganze Ausmaß des Schadens beheben, auch wenn sie dabei über die Klinge hätten springen müssen. Was hätte es auch gebracht außer Arbeitslose. Und auch Tschernobyl mußten die Betroffenen selber, bis zum letzten Kind, zu Ende leiden. Eine Million Tote – und das Sterben hält an, 14 Jahre danach.
      Es gibt keine Verantwortung mehr. Nur noch Risiken, also Anarchie.

 

13. JANUAR 2000

Die Toten werden an der heimgesuchten Küste eingesammelt wie abgefallene Früchte. Ihre Zahl läßt sich noch nicht überblicken. Auch das Ausmaß der Schäden kann noch niemand schätzen. 30 Milliarden, 100 Milliarden?

Seit ich auf der Welt bin, wird über Umwelt geredet, wird gewarnt. Unsere Zukunft, der ökologische Umbau! Die Verantwortung vor den kommenden Generationen. Worthülsen, Standardgerede, Phrasen. Meine Ängste als Zwölf- und Dreizehnjähriger wurden nur übertroffen von der Angst vor einem Atomkrieg. Wir glaubten damals, in einem Atomkrieg sterben zu müssen, ausgelöscht von Pershing-Raketen und Marschflugkörpern. Hatten uns mit dieser Angst arrangiert. Die Ängste meiner Generation haben sie in vielen Expertisen untersucht und analysiert und publiziert – aber letztlich in den Wind geschlagen. Sie dienten wohl nur der eigenen Beruhigung: Die Welt ist eben so. Mit der Bombe leben.

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Meine Generation ist eine Generation der Angst, der gesellschaftlich vermittelten, der kollektiv für den einzelnen erzeugten. Dieser Angst ist nicht Herr zu werden. Angst essen Seele auf. Wahrscheinlich sind wir deshalb so diszipliniert, so hilflos und wehrlos. Wahrscheinlich übernehmen wir deshalb so kritiklos die Hinterlassenschaft unserer Eltern, weil sie uns neben ihrer Angst auch ihre Verdrängungstechniken hinterlassen. Tradition ist nicht nur Inbesitznahme des kulturellen und materiellen Erbes oder Akzeptanz des Normenkatalogs, sondern auch Anpassung, mehr noch aber Verdrängung der erlittenen Angst. Würden sich die Erwachsenen ihrer Ängste als Kinder erinnern, würden sie eine andere Welt schaffen, in der sich ihre Kinder nicht mehr ängstigen müßten. Ich fürchte, wir werden unsere Kinder so gut »erziehen«, daß sie die Tradition fortsetzen werden, wo doch nur noch ein Traditionsabriß helfen könnte. Also eine Revolution.

 

15. JANUAR 2000

Seit neun Jahren verweigern die Regierungen der Welt, die UNO-Charta zu ratifizieren, in der den Kindern das Erbe einer intakten Umwelt als ein Menschenrecht versprochen wird... Wir Journalisten könnten die Verantwortlichen schon beim Namen nennen, und es wären viele. Aber es fehlt uns der Schneid. Wir trauen uns nicht. Kollektive Verantwortung, das ist bequem und tut keinem weh. Dabei kann man so schön moralisch und unverbindlich schwadronieren wie über kriminelle Individuen.

 

16. JANUAR 2000, abends

War da etwas? Zum Lachen, mehr noch: Difficile est satiram non scribere: Der UNO-Generalsekretär kritisiert die prominenten Mitglieder des Sonderrates für die »Dekade zur Verhinderung von Katastrophen« wegen ihrer de facto wirkungslosen Arbeit. Unbemerkt von der Weltöffentlichkeit werkelt seit zehn Jahren eine UNO-Organisation dahin, mit einer lebenswichtigen, wahrhaft globalen Aufgabe. Niemand hat etwas davon gewußt. Harte Worte des Generalsekretärs: »Wir sind mit der Umsetzung der Ziele, die sich die Dekade gesetzt hat, nicht schnell genug vorangekommen!«

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Das walte Gott! Abdul Asis Cohene hat ein »weltweit sinkendes Interesse am Katastrophenschutz« ausgemacht. Wie das? Seit 1991 hat die Natur rund 9000mal zugeschlagen. Allein die Stürme und Fluten richteten einen Schaden von 2,5 Billionen Dollar an. 54 große Versicherungsgesellschaften gingen pleite, Schäden in risikoreichen Klimazonen werden kaum noch abgedeckt – und dennoch »weltweit sinkendes Interesse am Katastrophenschutz«?
     Unglaublich, unfaßbar! Allgemeine Resignation? Masochismus? Globale Lust am Untergang? Nietzsches amor fati?

 

16. JANUAR 2000, Mitternacht

Der Mensch ist ein Gruppenwesen, seine Verantwortung reicht nicht über die Gruppe hinaus. Verantwortung über die Gruppe hinaus kann nur delegiert werden, allerdings mit Erwartungsdruck, dann muß sie von der Spitze in Gestalt von Plänen, Vorschlägen, Gesetzen und Verhaltensweisen zurückkommen. Also Taten. Verantwortung jenseits der Gruppe – der gegen die Gruppe – erfordert ein Höchstmaß sowohl an Intelligenz als auch an Ich-Stärke. Dann aber müßte er verantwortlich handeln, als Individuum. Verantwortlich ist, wer zwischen Alternativen mit jeweils klar erkennbaren Folgen entscheiden kann; wer Einsicht in Zusammenhänge hat – oder haben könnte, wenn er wollte. Wessen Entscheidungen andere mitbetreffen.

Aber besteht denn diese Einsicht noch? Die technisch-wissenschaftliche, organisatorisch komplexe Massenzivilisation überfordert das Individuum, sie löscht Individualität aus. Verantwortung wird nicht mehr möglich. Die Handlungsketten, die eine Entscheidung auslöst, sind zu lang und zu komplex, Fehler und Konsequenzen weder einzukalkulieren noch zu vermeiden. Das ethische Prinzip der individuellen Verantwortung muß versagen, es widerspricht obendrein dem angeborenen Verhalten, sofern es über die Gruppe hinausreichen soll. Es ist ein Produkt der Intelligenz und der Kultur, nicht der Evolution. Kants kategorischer Imperativ ist der biologisch-psychischen Ausstattung des Menschen fremd.

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Mit ihm ließe sich in der Industriegesellschaft nichts mehr entscheiden. Vernunft ist ein philosophisches Konstrukt – wie das Gebot der Feindesliebe. Oder bestenfalls Teleologie, ein Ziel der Evolution in weiter Ferne.

Heiß diskutierte Frage heute morgen in der Redaktionskonferenz, ob denn Hinz und Kunz dieselbe Verantwortung für das Umweltdesaster trügen wie beispielsweise Hoechst-Chef Professor Walter Hauckh, der vor zehn Jahren, Regierungs- und EU-Beschlüsse mißachtend, die Jahresproduktion der FCKW bei seinen Auslandstöchtern erhöhen ließ und den Export steigerte, obwohl er die schädlichen Folgen für den Ozon-Abbau öffentlich einräumte? Auch wenn er jetzt pensioniert ist, bleibt er verantwortlich und mitschuldig. Er hatte die Verantwortung, die ihm delegiert war, mißbraucht. Er wäre zu benennen. Einer von Unzähligen.

Man muß Namen nennen, muß Pranger aufstellen, darf sich nicht auf anonyme Institutionen und Verbände berufen. Wer hat denn den Beschluß des EU-Parlaments von 1997, den Autoverkehr drastisch zu begrenzen, hintertrieben? Natürlich die Automobil-Industrie, die Mineralölwirtschaft, das Kfz-Handwerk, die Automobilclubs, die CDU/CSU; doch dann bleibt die Verantwortung der »korporativen Akteure« anonym wie diese selbst. Nein, es waren die Herren Rauter, Hennes, Kuenhausen, Beringer, Stammler, Brohl usw. Man muß Namen nennen, auch wenn klar ist, daß es sich nur um »Charaktermasken« handelt, um austauschbare Figuren. Mag sein, daß sie ihren Sachzwängen unterworfen sind, daß sie auch wider bessere Einsicht handeln müssen, für ihre Partikularinteressen und gegen die kollektive Vernunft.

Aber was, wenn sie verantwortlich gemacht würden? Haftbar für den angerichteten Schaden? Bestraft? Was wäre gewonnen? 

Kollektive Verantwortung gibt es nicht – das Sittengesetz Kants gilt nur für das Individuum – und endet am Horizont der Gruppe. Der Versuch, das Maß an Verantwortung den gestiegenen Risiken anzugleichen und sie in der hierarchischen Spitze einer Gesellschaft zu organisieren, ist gescheitert. 

Für die Entwicklung der technischen Zivilisation ist niemand verantwortlich, weder für ihre Risiken noch für ihre Gefahren.

Kein Individuum, kein Kollektiv. Keine Regierung, kein Vorstand. Weil sich die Risiken nicht mehr kompensieren lassen. Sie werden zu Gefahren. Sachzwänge! Die Eigendynamik der technischen Zivilisation, die letztlich nicht zu steuern war, weil sie keinen Zweck hatte, geschweige denn einen Sinn. Wo aber keine Verantwortung ist, da gibt es keine Steuerung und keine Gefahrenvorbeuge. Nur noch Anarchie. 

Hat die Menschheit trotzdem noch eine Chance?

Ergebnis der Redaktionskonferenz: Wir werden den Druck verstärken, energischer für den Umweltschutz eintreten. Die Routine des Blattmachens wird geändert. Umweltthemen kommen auf die erste Seite und haben Priorität als Aufmacher. Entsprechendes gilt für die Kommentierung. Was ist schon eine Gipfelkonferenz inkompetenter Regierungschefs gegen das Waldsterben und die Vergiftung unserer gesamten Lebenswelt?

Anordnung der Geschäftsführung: Alle Beschäftigten des Druck- und Verlagshauses sind gehalten, mit öffentlichen Verkehrs­mitteln zur Arbeit zu kommen. Das Monatsticket bezahlt der Verlag. Für die Außenredaktionen werden Fahrräder und Elektromobile angeschafft. Die Seite »Auto – Motor – Sport« soll eingestellt werden. Der Widerspruch wäre unerträglich. Immerhin! Schon das Fünkchen Konsequenz ermuntert, tröstet fast. Ein Weniges von dem Prinzip begriffen: global denken, lokal handeln. Verantwortung!

17. JANUAR 2000, mittags

Immer noch spülen die Nordseewellen täglich Tote an den Strand. Der Krisenstab in Berlin berät die Lage pausenlos. Die Deiche sollen noch höher werden. Der Vorschlag wird erwogen, die Elbe in die Ostsee umzuleiten, damit sie sich bei Sturmflut nicht mehr staut und das Hinterland ertränkt. Hamburg! Geologen sollen die Realisierungschancen und die Konsequenzen prüfen. Die Holländer wollen Wellenbrecher vor den Friesischen Inseln sowie der Rhein- und Scheide-Mündung verankern. 

Es wird teuer. Die offenen Rechnungen des letzten Jahrhunderts werden präsentiert.

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