Start     Weiter

  1. November 2000  

Guha-1993

 

100-123

Allerheiligen. Wie lange noch wird es dauern, bis die Lebenden die Toten beneiden? Bis die Lebenden die Toten verfluchen? »Sagt an, was ist, was gilt ein Menschenleben, was die Menschheit vor dem Weltengeist, wenn der wilde Tod aus den Geweben ihres Daseins so die Fäden reißt...?« Kunersdorfer Elegie.

Das Bewußtsein hat sich mit dem Tod nicht arrangieren können. Es kann ihn nur verdrängen. Die vorübergehend wirksamste Art der Verdrängung des Todes ist — das Töten selber. Wer tötet, hat scheinbar Macht über den Tod.

Rührt daher das Zerstörerische in unserer Kultur? Jedes ausgerottete Leben ein unbewußter Triumph? Die Zerstörung der Natur ein sieghafter Rausch?

 

   2. November 2000  

Südfrankreich, Sizilien, Süditalien, Griechenland — der Versteppungsprozeß Südeuropas schreitet voran, unübersehbar, unerbittlich. Eine uralte Kulturlandschaft — die Wiege Europas — zerbröckelt, wird Staub. Seit Jahren kein Regen, statt dessen Sandstürme, Waldbrände, leere Brunnen, Durst. Und Verzweiflung.

Am 1. Januar tritt in Italien das Verbot der Binnenmigration in Kraft. Dann werden sie wohl bei Neapel eine Mauer quer durch den Stiefel ziehen müssen, um die in den Norden drängenden Sizilianer und Kalabresen aufzuhalten. In der Lombardei schlagen sie ihnen schon die Schädel ein. Italien bricht in zwei Hälften auseinander.

Die Bürde aber muß die EU übernehmen. Sie wird ihre Verfassung ändern müssen. Wir können die Südeuropäer nicht aufnehmen. Wohin mit ihnen? Die Niederlassungsfreiheit in Europa stößt an ihre Grenzen, im Wortsinne. Grundrecht hin, Grundrecht her. Die Römischen Verträge haben eine solche Entwicklung nicht vorhersehen können. Um des Friedens in Resteuropa willen muß die Niederlassungs­freiheit aufgehoben werden. Bedauerlich, aber unumgänglich, sonst drohen Aufstände. Die Fremdenfeindlichkeit nimmt erschreckende Ausmaße an.

Albanien, Serbien und Makedonien haben den Wasserverkauf an Griechenland und Italien eingestellt. Jetzt ist guter Rat teuer. Rom erwägt, Eisberge heranzuschleppen. Der Plan ist möglicherweise realisierbar. Die EU dagegen will mit umgebauten Tankern Wasser aus Skandinavien herbeischaffen. Die EU-Kommission gibt erste Planungen für riesige Wasserpipelines aus Süddeutschland und Österreich nach Italien in Auftrag. Auch wenn dies seine Zeit braucht, wäre es eine raschere Hilfe als der Bau von Entsalzungsanlagen, der aber aus Perspektivgründen gleichwohl verstärkt wird. Die Brunnenbohrerei bringt nicht mehr viel. Immer tiefer, immer weniger.

Doch wenn es nicht regnet, bleibt alles vergeblich. Das Land wird durch künstliche Bewässerung nur versalzen.

 

5. November 2000

Die Brennerbahn wieder geöffnet, obwohl die Verbauungsmaßnahmen an einigen Berghängen noch nicht abgeschlossen sind. Die Brennerautobahn bleibt noch gesperrt.

101/102

6. November 2000

Die Trinkwasserprobleme im Ruhrgebiet und im Raum Magdeburg werden immer akuter. Wie bei uns im Rhein-Main-Gebiet. Die Belastung mit Schwermetallen kann mit den herkömmlichen Methoden der Aufbereitung nicht mehr auf ein vertretbares Risiko gebracht werden. Obwohl sie in den letzten zehn Jahren die Höchstwerte immer wieder heraufgesetzt haben. Die Gefahrengrenze ist endgültig erreicht. Nichts geht mehr, außer die Leute krepieren zu lassen. Was vor allem die Kinder tun. In Sachsen-Anhalt und in einigen Gegenden Thüringens hat die Kindersterblichkeit den Stand von 1850 erreicht. Fortschritt 2000!

Die Evakuierung der Gegend um Bitterfeld und Aue ist nunmehr abgeschlossen. Die Schäden waren irreparabel. Das Grundwasser ist eine chemische Brühe. Das Gebiet wird eingegrenzt und sich selbst überlassen. Stacheldraht, Eiserner Vorhang. Ein Biotop wider Willen. Mal sehen, was die Natur daraus macht. Sie soll heilen, was der Mensch zerstört hat.

 

7. November 2000

Stadtluft macht frei — das war einmal. Die Ärzte schlagen Alarm, die Sterblichkeitsrate steigt bedrohlich. Die Main-Metropole hat mittlerweile die kürzeste Lebenserwartung aller hessischen Gemeinden. Vor allem betroffen - natürlich - die Kleinkinder. Jeder vierte Säugling leidet an Krupp-Husten und chronischer Bronchitis. Jeder dritte kommt mit Neurodermitis zur Welt. Fast jedes sechsjährige Kind hat überhöhte Benzolwerte im Blut.

Besonders »belastet« die Brüste der stillenden Mütter. Dioxin, das Ultragift. »Freude trinken alle Wesen an den Brüsten der Natur«. Schiller, Beethoven, Ode an die Freude.

Die Redaktion stellte bei der Geschäftsführung den Antrag, aus Frankfurt fortzuziehen. Die Blutwerte der Beschäftigten des Druck- und Verlagshauses sind besorgniserregend. Blei und Benzol. Im Sommer atmen wir Ozon ein. Die Kündigungen nehmen zu. Aber wohin? Das Druckzentrum liegt in Neu-Isenburg, dort ist es nicht viel besser.

102


Außerdem fliegt alle zwei Minuten ein Düsen-Jet über die Dächer. Die optisch und akustisch gesteigerte Vorstellung, ununterbrochen von oben mit Gift berieselt zu werden, ist unerträglich. Die Tatsache, daß das Gift aus den Straßenschluchten der Großen Eschenheimer Straße in die Redaktionsräume dringt, freilich nicht minder.

Zum Teufel, so kann es doch nicht weitergehen! Dürfte es nicht, aber Geschäftsführung und Betriebsrat wissen keine Lösung. Und die Stadt weigert sich, die Straße zur Fußgängerzone zu machen. Der Verkehr braucht die Nord-Süd-Achse. Der Verkehr verbraucht uns.

Der chronische Krankenstand in der Redaktion liegt mittlerweile bei 25 Prozent. Seit ich da bin, also seit sieben Jahren, hat nur eine Kollegin die Pensionsgrenze erreicht: Frizzi Doermer. Elf Kollegen starben in den Sielen. Unbehagliche Vorstellung, unentrinnbar und hilflos in einem Teufelskreis zu stecken. Gift in der Luft, hoher Krankenstand, Streß und Hetze, Ärger, den man dann an der Familie abreagiert — bis man selber auf der Nase liegt.

Die Wissenschaft solle dazu dienen, läßt Brecht seinen Galileo sagen, das mühselige Los des Menschen zu erleichtern. Statt dessen wird das Los immer mühseliger, schießen überall die Risiken ins Kraut. Schleichende Vergiftung, schleichende Angst. Man lernt allmählich, in sich hineinzuhorchen. Die Angst macht jeden zu einem traurigen, harlekinhaften Narziß. Der aber ist ein Clown. Die Sensibilität der Ökophobie.

 

8. November 2000

Sylvie heute morgen ins Sanatorium. Das Kind trägt das Kainsmal unserer Zivilisation. Es wird Unschuldigen aufgedrückt. An diesem kranken Kind zeigt sich die ganze Stupidität dieser Gesellschaft. Der »Fortschritt« ist determiniert, niemand kann ihn aufhalten, bestenfalls verwalten und etwas korrigieren. Als säßen wir in einem Boot, das immer schneller auf die Stromschnellen zuschießt. Und die Insassen rudern auch noch.

103


An der Krankheit meines Kindes und an meiner Angst wird mir klar, daß sich dieses System längst verselbständigt hat, ohne Rücksicht auf die Opfer, deren Zahl tendenziell unbegrenzt ist, bis sie alle erfaßt hat. Dieses System entwickelte sich selbst dann noch fort, wenn es die ganze Menschheit zum Opfer hätte. Wir sind nur noch Marionetten und Handlanger — Zauberlehrlinge. Nicht wir beherrschen das System mehr. Selbst wenn die Katastrophe zur Gewißheit würde, ließe sich nichts mehr grundsätzlich ändern. Das System ist zu kompliziert und wuchert, muß unaufhörlich wuchern — und unserer sind zu viele. Die viel zu vielen Nietzsches.

Die da Hoffnung predigen, trügen sich und andere.

 

9. November 2000

Untersuchungen des sexualwissenschaftlichen Institutes der Universität Hamburg belegen, daß die sexuelle Aktivität der Deutschen in den letzten Jahren deutlich abgenommen hat. Damit werden Studien aus den USA, Großbritannien und Italien bestätigt. Libido und sexuelle Appetenz seien signifikant geringer, vor allem bei der jüngeren Generation. Die Partner, zumal verheiratete, verhielten sich zunehmend passiv und initiativlos. Gleichzeitig sei eine deutliche Motivationsverschiebung zu beobachten: Die Aufnahme sexueller Beziehungen erfolge vorwiegend aus Abenteuerlust und Wunsch nach Ablenkung, weniger aus Gründen der Sympathie, Zuneigung oder gar Liebe. Wegen des rapide nachlassenden sexuellen Interesses verliere die Ehe als Institution vollends die soziale Bindewirkung. Sexuelle Anarchie und teilweise sexueller »Asozialismus« drohten zur Norm zu werden. Trotz Aids, des großen Tabus.

Sorgen bereitet den Wissenschaftlern das Ansteigen der Perversionen und der sexuellen Gewalt. Der Reizcharakter der Sexualität müsse offenbar verstärkt werden, um überhaupt noch Appetenz zu wecken. Auf gut deutsch: Den Leuten vergeht die Lust an Sex, und wenn, dann wird er wie eine Droge konsumiert, die aber zunehmend stärker dosiert sein muß.

Die Hamburger Wissenschaftler nennen zwei Gründe: Die Verwertung der Sexualität als Anreiz für Konsumentscheidungen sei allmählich langweilig geworden, zumal es längst keine Tabuschranken mehr gebe und sexuelle Betätigung mehr oder weniger zu einer Frage des Appetits geworden sei.

104


Zum anderen aber liege die nachlassende Lust an der Lust in der wachsenden, wenngleich noch unbewußt bleibenden Angst. Jedoch nicht in der Angst vor Aids.

Wer hätte das gedacht, daß »die zunehmend unsicher werdenden Zukunftsperspektiven aufgrund der umweltbedingt als unaufhaltsam und unvermeidlich gehaltenen Verschlechterung der allgemeinen wie individuellen Lebensbedingungen« den Leuten so ins Glied fährt!

»Der Omnipotenz suggerierende Standard der gesellschaftlichen Organisation« führe einerseits zu Gefühlen individueller Ohnmacht und Hilflosigkeit, werde andererseits aber als aggressive Bedrohung der Umwelt erlebt und damit als Bedrohung des eigenen Selbst. »Bislang als verläßlich geltende Parameter für Interpretation und Verständnis der Natur als Umwelt des Menschen, ihrer Prozesse und Abläufe« seien ins Wanken geraten, unterlägen zumindest wachsenden Zweifeln. Tradierte und vertraute Verhaltensweisen sowie Einstellungen gegenüber Umwelt und Gesellschaft würden fragwürdig.

Hinzu komme ein »dramatischer Kompetenzverlust der politischen Institutionen« und eine »mangelnde Glaubwürdigkeit der in der Wirtschaft Handelnden«. Nicht einmal der Wissenschaft werde mehr zugetraut, technische Lösungen für die sich abzeichnenden Gefahren zu entwickeln. »Die von Wissenschaft und Technik konzipierten bzw. angebotenen Problemlösungskapazitäten halten in den Augen der Befragten mit den sich summierenden Problemen nicht mehr Schritt. «Widersprüchliche Interpretationen führender Vertreter der Wissenschaft hinsichtlich der sich offenkundig rasch ändernden Umweltbedingungen, ihrer Ursachen und Konsequenzen — sie reichen von Beschwichtigung bis zu Katastrophenalarm — trügen zum Autoritätsverlust der Wissenschaft bei und ließen teilweise den Verdacht ihrer Korrumpierbarkeit aufkommen.

Die Wissenschaftler konstatieren auf der anderen Seite ein steigendes religiöses Bedürfnis, das sich aber vorwiegend aus Angst speise, teilweise auch aus Schuldgefühlen, da sich unbewußt jeder irgendwie mitschuldig und mitverantwortlich fühle.

105


»Jeder ist Autofahrer, Energieverbraucher oder Müllerzeuger und trägt daher zur Umweltzerstörung bei, damit zur Gefährdung seiner Existenz und der seiner Mitmenschen.«

In den letzten Jahren habe sich eine »Öko-Phobie« entwickelt: Zukunftsangst wegen der Umweltzerstörung mische sich mit Schuldgefühlen und einer sich gleichzeitig festsetzenden Überzeugung, nichts mehr tun zu können, der Entwicklung hilflos ausgeliefert zu sein. Die globalen Prozesse ließen sich nicht mehr von der Privatsphäre fernhalten, deren »Kapazität an Verdrängungsleistung« schwinde. Die heile Welt ist ins Wanken geraten. Muß dies ein Nachteil sein?

Für die Wissenschaftler offenbar schon, denn aus diesem Grund nähmen auch die psychischen Erkrankungen zu - und die Selbstmordfälle. Die wachsende, gesellschaftlich vermittelte Angst beeinflusse zunehmend auch das Verhalten der Individuen in der Privatsphäre, die sich trotz der öffentlichen Propaganda als »Raum für autonome Entscheidungen« nicht mehr durch spezifisches Freizeitverhalten von der öffentlichen Sphäre abgrenzen lasse. Beide Sphären ließen sich nicht mehr trennen, wie das noch in den Jahrzehnten nach dem Krieg der Fall gewesen sei. Apathie und Abstinenz zeigten sich nunmehr auch in der Gestaltung der Privatsphäre und der Freizeit, vor allem in der Gestaltung der Partnerbeziehungen. Dadurch sei der einzelne immer weniger in der Lage, Sexualität als Zugang zum emotionalen und personalen Bereich eines Partners zu erleben, um dem Gefühl der eigenen Einsamkeit und des Ausgeliefertseins zu entgehen.

Gehöriger Schrecken nach dieser Studie. Wie steht es mit uns, mit Tina und mir? Einige dieser Symptome kann ich auch in unserer Beziehung erkennen. Wir hatten versucht, unseren privaten Bereich wie eine heile Welt abzugrenzen. Was meine Rolle als Journalist betrifft, so ist es mir auch ganz gut gelungen. Wenn die Gartentür hinter mir ins Schloß fällt, ist mir egal, was draußen vorgeht. Dennoch läßt sich dieses Draußen nicht abwehren.

106


Die Angst läßt sich nicht wie ein Mantel an die Garderobe hängen oder wie ein Auto in die Garage stellen. Und mit unserer Sylvie sind wir mit dem Draußen enger verbunden, als uns lieb sein kann. In dem kranken Kind zeigt sich die kranke Gesellschaft — und die kranke Natur.

Sexualität erzeugt Leben, sie ist der Lebenstrieb. Als die Evolution vor unendlichen Zeiten begann, beim Tiermenschen diesen Trieb von seiner Beschränkung auf eine schmale Paarungszeit zu befreien, und damit Sexualität als lebenslang, jederzeit wiederholbares Erlebnis ermöglichte, leitete sie die Menschwerdung ein. Ohne Sexualität keine dauerhafte Partnerbindung, keine Familie, keine Liebe, keine Menschwerdung. Sexualität ohne Liebe - natürlich, aber Liebe ohne Sexualität ist nur Freundschaft oder Verhaltensform von Gestörten. Dieser stets präsente, Unruhe stiftende Trieb vervielfältigte und differenzierte die emotionalen Fähigkeiten des Menschen und zwang ihn zu sozialem Verhalten, anders hätte er jede Gruppe gesprengt und ein Überleben unmöglich gemacht. Erst die Sexualität hat die Psyche, die Seele entstehen lassen und damit auch den Kulturmenschen geboren, von dem das Kirchendogma gar behauptet, er sei das Ebenbild Gottes.

Aber wie ist derselbe Mensch mit dieser Sexualität umgegangen! Es hat sie über Jahrtausende hinweg denunziert, abgewertet, dem Tierischen (grotesk, denn das gerade nicht) zugeordnet, dann vermarktet und verwertet. Jetzt schwächt er diese Potenz durch die Angst, die er sich erzeugt. Damit zerstört er seine Kulturfähigkeit und seine Seele. Eine Sexualkultur haben wir nie entwickeln können, daher blieben die Lebenstriebe immer verwundbar und der Todestrieb in jeder Epoche präsent, mit der Gefahr, übermächtig zu werden. Heute stärker denn je. Aber wäre denn eine Sexualkultur im Zeitalter von Aids überhaupt möglich? Ist der aggressive Sex-Konsum nicht ein Ausdruck von Panik, zumindest Resignation? Oder psychischer Verwahrlosung...?

107


12. November 2000

Viel öffentliche, geradezu dankbare Aufmerksamkeit finden zur Zeit jene, die uns die alarmierenden Wetterveränderungen der letzten Jahrzehnte als Launen der Natur erklären wollen und zu diesem Zweck weit in die Geschichte zurückblättern. Alles schon mal dagewesen. Hat nicht die »Mandränke« 1172 die Nordseeküste fortgerissen und nur die friesischen Inseln übriggelassen?

Diese Katastrophe habe sogar ihr Gutes gehabt, denn sie habe uns das Wattenmeer geschenkt, eine ökologische Einzigartigkeit (die sich die See bei der letzten Sturmflut freilich fast vollständig wiedergeholt hat). Und die Stürme von 1708, 1711 und 1724, die Tausende das Leben gekostet haben. Entfesselte Elemente schon damals, die Natur zeigte schon immer ein Janusgesicht. Denn 1637 und 1684 blühten die Kirschbäume schon Ende Februar, wie heuer, und niemand habe sich aufgeregt. Im Gegenteil, die Leute hätten gestaunt und Gedichte gemacht wie über ein Wunder.

Das waren Ausnahmen. Die Natur blieb alles in allem berechenbar. Heute droht die Unberechenbarkeit als Regel. Das ist der Unterschied.

Andere Experten reden uns ein, die Phase der Zwischeneiszeit sei noch nicht abgeschlossen, das Klima erwärme sich, weil sich die Erdachse immer noch aufrichte. Das sei ein determiniertes planetarisches Geschehen, das man nicht beeinflussen könne. Aber es gäbe Abhilfemaßnahmen: Aufforstung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln und Kräften.

Aus den USA kommt der Vorschlag, Ruß und Staub in die oberen Schichten der Atmosphäre zu bringen, da er die Sonnen­einstrahlung reflektiere. Die Wirkung wäre vergleichbar den großen Vulkanausbrüchen, beispielsweise den Eruptionen des Pinatubo auf den Philippinen im Jahre 1991, die das Weltklima deutlich abgekühlt hätten. Allerdings sei die ausgestoßene Asche nicht hoch genug gewirbelt worden, so daß kein längerfristiger Effekt erzielt worden sei. Man könnte die erforderlichen 10 bis 20 Millionen Tonnen Staub mit Atombombenexplosionen in Wüstengebieten in die Stratosphäre bringen.

Die Natur hat sich ins Gespräch gebracht. Doch auf welchem Niveau!

108


14. November 2000

Der Rhein nur noch ein Rinnsal, ebenso Elbe und Weser; tiefster Wasserstand seit Beginn der Messungen. Durch den Main kann man waten, die Lahn ist verschwunden. Die Donau bei Regensburg ein Bächlein. Nord- und Ostsee erhalten eine Verschnaufpause. Trinkwasser-Notstand. Rationierung.

Welche Gegensätze in einem Jahr! Bis in den Juli hinein Regen, wochenlange Sintfluten. Warum ist die Lage plötzlich so prekär, wo ist denn das Grundwasser geblieben? Es hat schließlich schon längere Trockenperioden gegeben, 1976 und 1983. Monatelang nur Sonne, ich erinnere mich genau.

Ja, damals! Das werden wir künftig noch oft sagen: damals. Nostalgie. Damals hielt der Wald noch das Wasser zurück, damals war das Ökosystem des Waldes noch halbwegs intakt, zwar schon krank, aber noch in der Lage, das Wasser zu speichern. Jetzt läuft das Wasser ab wie über eine asphaltierte Straße. Die »Grundwassertanks« füllen sich nicht mehr.

 

16. November 2000

Gestern der 100.000. Aids-Tote. In Frankfurt. Zwei Millionen Deutsche sind HIV-infiziert, tragen den Tod in sich. Und noch immer keine Aussicht auf ein rettendes Serum. Wieder wird das Omnipotenz-Gefühl des Zeitalters bedroht und in Frage gestellt wie durch Unheil und Seuchen im Mittelalter. Da mußte das elektronische Kommunikationssystem alle seine Möglichkeiten aufbieten und sich in den Dienst der Panikprophylaxe stellen. Aids gibt es nicht mehr — als elektronische Nachricht. Diese Informationsware ist aus dem Regal genommen worden! Seit 1998 die Datenbanken von der aktuellen Fortschreibung der Seuchenentwicklung »gesäubert« worden sind und die Medien sich in der Berichterstattung zurückhalten, hat sich die Beunruhigung in der Öffentlichkeit merklich gelegt.

109


Was keine Nachricht ist, gibt es als Faktum nicht. Auf diese Weise kann man alle Risiken, die unsere Zivilisation massenhaft hervorbringt, verschwinden lassen, und es entsteht, durch den kleinen Trick des Informationsentzuges, eine heile Scheinwelt.

Die Konsequenzen dieses nekrophilen Zeitalters müssen von den Betroffenen im todesstillen Kämmerlein bewältigt werden.

Wenn einem der Partner als Allegorie des Todes erscheint? Wenn die Lust, die den Menschen zwar nicht in den Himmel des Christengottes, so doch in den Olymp der Götter transzendiert, die Zerstörung des Lebens in sich birgt? Ist die gegenwärtige sexuelle Libertinage der Amor fati Nietzsches? Die Lust am Untergang. Doch alle Lust will Ewigkeit...

 

17. November 2000

Morgen Tag des Baumes. Jeder Bürger soll einen Setzling pflanzen. Arbeitsfrei. Für Deutschland macht das 80 Millionen Bäume — in 50Jahren! Die Fichten-, Buchen- und Koniferen-Setzlinge sind genetisch behandelt und geklont, sie sollen angeblich den sauren Boden gut vertragen und das Schwefeldioxyd abbauen. Nur müßte es in den nächsten Tagen wieder einmal regnen.

Geklonte Wälder, die jüngste Errungenschaft der Gentechnik. Ziemlich grauenhafte Vorstellung für einen Bayerwäldler: Ein Baum wird aussehen wie der andere. Dieselbe Höhe, dieselbe Form, dieselbe Anzahl Äste. Jedes Waldstück wie das zur Parade angetretene königlich-preußische Wachregiment. Wieder ein Beispiel für das, was Konrad Lorenz als Milieureduktion bezeichnet hat: die Entdifferenzierung der Umwelt, der kulturellen wie der natürlichen, zugunsten von Spezialisierung.

Die Spezialisierung des Menschen? Fressen, Unterhaltung und — allerdings immer weniger — Sex. Wie bei den Haustieren. Selbstdomestikation.

110


18. November 2000

Unser Bäumchen gepflanzt! Großer Spaß für Andreas und Sylvie. Die Setzlinge sahen aus wie vom Fließband. Dennoch lag etwas Ermutigendes in der Aktion, auch wegen des Gemeinschaftserlebnisses. Es waren schließlich nicht genügend Bäumchen vorrätig und einige tausend Pflanzwillige kehrten unverrichteter Dinge wieder um. Trotzdem! Große Entschlossenheit bei allen spürbar, ihr Scherflein für die Rettung des Waldes beizutragen. Gottlob durften die Bäumchen nicht in Reih und Glied gesetzt, sondern mußten asymetrisch und durcheinander gepflanzt werden, im Abstand von einein Meter. Das sähe später einmal schöner aus, meinten die Förster. Später werde man den Wuchs der Bäume »individuell« beeinflussen, um den Klonungseffekt etwas zu verwischen. Arme Natur, sie meinen es so schrecklich gut mit dir.

 

21. November 2000

Wenn die Mentalität der Kalifornier die der übrigen Menschheit widerspiegeln sollte, können wir einpacken. In einer Volksbefragung haben sie mit Mehrheit abgelehnt, daß ihr Staat eine Umweltschutzpolitik entwickelt, die den Einsatz krebserzeugender und Geburtsfehler auslösender Pestizide verhindert, die den Ausstoß des Treibhausgases Kohlenmonoxyd und die Verwendung des Ozonkillers FCKW reduziert. Bin fassungslos, auch wenn Industrie- und Bauernverbände ein Powerplay losgelassen hatten, das »Big Green«-Paket zurückzuweisen. Kann Gehirnwäsche so durchschlagend erfolgreich sein?

Frage mich, was ich als Journalist denn soll.

 

22. November 2000

Dramatische Konkurswelle bei den Verlagen. Es werden keine Bücher mehr gekauft. Der Bildschirm, der Computer, die Glotze. Die Lesekultur verabschiedet sich endgültig, still und leise. Die Entäußerung des »modernen« Menschen, Entfremdung von sich selbst. Die innere Sammlung, das Beisich-selbst-Sein mit einem Buch, einer ganzen Welt, wird offenbar als Isolationsfolter erlebt.

111


23. November 2000

Was seit Jahren befürchtet worden war, steht jetzt fest: Die Gegend östlich von Mailand muß geräumt werden. Böden und Grundwasser sind dermaßen verseucht oder verstrahlt, daß menschliche Existenz unmöglich geworden ist. Trotz zehnjähriger Bemühungen der Italiener und der EU, diesen Landstrich in der Po-Ebene zu retten, ist die Evakuierung unvermeidlich. Die Lebenserwartung auf 56 Jahre reduziert, die Krebsraten zehnmal höher als anderswo. Leukämie! Die Kindersterblichkeit auf dem Stand von 1760 im Schaumburg-Lippe'schen: Nach 12 Jahren ist die Hälfte eines Jahrgangs tot. Ein italienisches Tschernobyl oder Cattenom im Zeitraffer. Dennoch sträuben sich die Leute mit Händen und Füßen, ihre vergifteten Ortschaften zu verlassen. Blut-und-Boden-Romantik des 21. Jahrhunderts.

In Frankfurt a. M. wird die Sanierung des »Monte Scherbelino« 300 Millionen Mark kosten. Der Müllberg ist wie eine Giftspritze, ein riesiger Tropf, aus dem unaufhörlich Gift ausläuft.

Die EU überlegt, die gefährlichsten Altlasten an den tiefsten Stellen des Atlantik und Pazifik zu versenken. Mehrere hundert Millionen Tonnen. Die Spezialcontainer aus Kunststoff sollen erst ab einer Wassertiefe von 3000 Metern aufplatzen. Das sei dann nicht mehr gefährlich. Inspiriert wurde diese Idee vom Vorschlag der deutschen Regierung, die strahlenden Uranabraumhalden von Aue im Meer zu versenken, da sie anders nicht zu entsorgen seien. Eine Endlagerung dort, woher sie stammen, nämlich in den Bergwerken, ist angeblich nicht möglich.

Die unlösbare Milchmädchenrechnung: Die Giftmüllproduktion beschleunigt sich mit dem allgemeinen Wachstum. Dann aber das Paradox: Ihre Beseitigung läßt das Bruttosozialprodukt steigen, stimuliert wieder Wachstum. Ein Ende ist nicht in Sicht, eine Lösung nicht zu erwarten. Das Recycling hat Grenzen.

112


Selbst wenn der Müll der letzten hundert Jahre in die Meere gekippt würde — in 30 Jahren würde dieselbe Menge angefallen sein. Dann in 20 Jahren, denn Wachstum muß sein. Irgendwann in absehbarer Zukunft: die chemische Transformation des Planeten in eine Giftmüllhalde. Der Endsieg des Industriezeitalters, einer der kürzesten Epochen der Menschheit.

Die Korrumpierbarkeit der Wissenschaft auch diesmal deprimierend. Gekaufte Kreaturen, jedenfalls die meisten der »Experten«. Angeblich können die Weltmeere eine Billion Tonnen hochgiftiger Abfälle problemlos »schlucken«. Bei ausgewogener Verteilung würde auch die Tiefseefauna nicht nennenswert geschädigt, und wenn, würde dies die Nahrungsketten und Regelkreisläufe in den Oberflächengewässern nicht tangieren. Alles in allem könnte das Entsorgungsproblem für die nächsten hundert Jahre gelöst werden. Behaupten Experten.

Der chemo-physikalische Kreislauf der Ozeane ist noch kaum erforscht. Mehr Rätsel als gesicherte Erkenntnisse. Dennoch sollen irreversible Fakten geschaffen werden. Das alte, verhängnisvolle Muster. Das ist keine Wissenschaft, sondern pervertierte Theologie: Hoffnung und Glauben, daß es gutgeht, zumindest solange die Tätergeneration am Leben ist. Nach uns die Sintflut.

Es ist zu befürchten, daß diese Überlegung der EU realisiert wird. Der Müll steht uns ohne Zweifel bereits bis zum Halse.

In der Natur gibt es keinen Abfall, nur wertvollen Rohstoff. Alles Ausgeschiedene oder Abgestorbene wird wieder verwertet und für neues Leben gebraucht. Kreislauf, Gleichgewicht, Recycling!

 

24. November 2000

Franz Kafka hätte unsere Situation nicht grotesker schildern können: Überall tun sich Sackgassen auf, absehbare Ausweg­losig­keiten, Endstationen, obwohl der Zug der Zeit mit unverminderter Geschwindigkeit dahinrast.

Der Chef der Frankfurter Feuerwehr weigert sich, brennende Gebäude zu löschen, es sei denn auf ausdrückliche Weisung des Oberbürgermeisters oder des hessischen Innenministers.

113


 In den »modernen« Gebäuden ist so viel hochgiftiges Material verbaut, daß mit dem Löschwasser jedesmal eine unkalkulierbare Umweltkatastrophe heraufbeschworen wird. Diese ist ungleich folgen­schwerer und damit teurer, als wenn das Gebäude abbrennt. Die sprunghaft ansteigende Zahl von Brandopfern ist nicht dem Feuer zuzuschreiben, sondern den Chemikalien. Neun von zehn Opfern bei Bränden ersticken an giftigen Dämpfen. Die Frankfurter Feuerwehr schlägt daher vor, den Erwerb von Gasmasken obligatorisch zu machen. Vor allem in Gaststätten.

Die Brandkatastrophe im Restaurant »Zum alten Dichter« wird Frankfurt noch lange beschäftigen. Die 23 Opfer sind sämtlich erstickt, die meisten hatten sich gar nicht von ihren Tischen erhoben, die giftigen Dämpfe überraschten sie, noch ehe sie das Feuer in der Küche und im Treppenhaus wahrgenommen hatten. Teppichböden, Gardinen und Tischdecken aus Kunststoff, Leime, Lacke, Damm-Materialien und Furniere dioxinhaltig, Verpackungsmaterial aus Kunststoff, Plastik, Chemie. Anschließend löste das Löschwasser ein Fischsterben im Main bis nach Rüsselsheim aus. Man wunderte sich, wo die Fische alle noch herkamen.

Früher galten die Alchimisten als mit dem Teufel im Bunde. Den Zeitgenossen war es unheimlich, daß da einige in ihren Giftküchen nach Gold suchten und die Elemente vermischten. Heute sind aus den Alchimistenküchen ganze Industrien geworden, die zwar kein Gold produzieren, aber goldene Gewinne. Was der König Midas anfaßte, wurde Gold, was wir anfassen wird Chemie, Gift und Profit.

Alle menschlichen Hervorbringungen sind auf eine gefährliche Weise ambivalent und widersprüchlich, ein ungeklärtes Sowohl-als-Auch. Sie spiegeln eine ungeklärte, ambivalente Entwicklungsstufe der Evolution des Menschen wider. Seit sie ihm reflektierendes Denken und Bewußtsein verliehen hat, ist seine Welt geteilt, widersprüchlich und zweideutig: Gut und Böse, Gott und Teufel, Leib und Seele, Geist und Materie, Idealismus und Empirismus, Stammesgeschichte und Erziehung. Kein anderes Lebewesen könnte in Widerspruch zur Umwelt existieren, denn die Ambivalenz ist das Merkmal des Unfertigen.

114


Daher ist auch jede Hervorbringung des Menschen ambivalent, mithin die Kultur und Zivilisation als Ganzes. Mit jedem seiner Produkte, angefangen vom Steinmesser bis hin zum Forschungslabor und zum intelligenten Computer, transzendiert er sich einerseits zur Vollkommenheit, weil er das kreative Prinzip der Evolution nachahmt: Erfahrung und Idee, Tradition und Experiment.

Aber woher rühren dann Ambivalenz und Widerspruch und damit die gefährliche Negation des Menschen als Art? Warum mit dem Steinmesser nicht nur Tiere enthäuten und Felle schaben, sondern den Artgenossen töten? Warum nicht mit dem Forschungslabor die Mühsal der menschlichen Existenz erleichtern, sondern den Planeten in eine Müllkippe verwandeln? Warum mit dem Computer die Vereinsamung des Daseins fördern - oder die Zerstörungswirkung der Waffen bis zur absoluten Perfektion steigern? Wenn man das wüßte! Das Rätsel Mensch.

Wahrscheinlich ist der Ausgangspunkt der Selbstreflexion falsch: Wir sind zwar die höchstentwickelte Art, aber nicht die Krone der Schöpfung und auch nicht das Ebenbild Gottes, sondern das größte Problem der Natur. Das auf der höchstentwickelten Stufe unvollkommene Wesen. Das Missing link, dem noch einige hunderttausend Jahre fehlen, um. die futuristische Eigenschaft des Denkvermögens mit den ererbten Unzulänglichkeiten zu koordinieren.

 

25. November 2000

Das Wachstum in der EU hat sich im letzten Jahr erfreulich gesteigert und wird sich auch in diesem Jahr kräftig steigern. Etwa 5,3 Prozent Plus werden es sein, das zeichnet sich schon jetzt mit Gewißheit ab. Der Trend wird im nächsten Jahr anhalten und auch Deutschland erfassen. Es boomt kräftig. »Erfolgreicher Schritt ins neue Jahrtausend«, verkündet die Bundesregierung und sieht ihre Politik »voll und ganz bestätigt«. Und dann die übliche, schon längst ritualisierte Selbsttäuschung, die Ängste und Zweifel vertreiben soll: Nur mit kräftigen Wachstumsraten ließen sich die Umweltprobleme bewältigen. Denn Umweltschutz sei nun mal teuer. 

115


Das Kapital und sein System feiern ihre — unbestreitbaren — Erfolge und ihre Logik: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Wenn man die Späne beseitigt, ist die Werkstatt wieder sauber. Nur kann man die Späne nicht mit dem Hobel beseitigen.

Polen wird ab Juni nächsten Jahres keinen Sondermüll aus Deutschland mehr übernehmen. Die vor 12 Jahren geschlossenen geheimen Sonderverträge werden nicht erneuert. Die Grundwasserverseuchung ist nicht nur rings um die Sondermüllkippen alarmierend. Im Trinkwasser von Krakau finden sich Spuren von Chemikalien, die auf der Sonderdeponie Bielowicze lagern. 217 Kilometer entfernt!
Auch aus Nigeria und Kamerun betrübliche Nachrichten. Kein Sondermüll mehr aus Deutschland.
Aber unser schönes Wachstum für nächstes Jahr? Die Kalamität wächst sich zum Notstand aus. Die chemiefressenden Bakterien lassen noch auf sich warten.

 

26. November 2000

Sollten meine Enkel in 30 oder 40 Jahren diese Aufzeichnungen nachlesen, werden sie den Eindruck haben, als hätten die scheußlichen Ereignisse dieses Jahr 2000 wie eine lineare Kette durchzogen, eines nach dem anderen. Dieser Eindruck wäre falsch. 

Es ist, als wäre ein Netz über uns geworfen, und jedes dieser Ereignisse ist nur eine Masche in diesem Netz. Sie sind daher alle präsent, jeden Tag, sie summieren sich zu einem Netz mit unendlich vielen Maschen. Die Sprache kann ja nur Lineares ausdrücken, eines nach dem anderen. Sie ist der Wirklichkeit nicht angemessen. Sie verhindert Erkenntnis.

Aber das Netz, das alles gehalten hat, das Kleinste wie das Größte, ist gerissen. Die Wegwerfgesellschaft stößt mit der Einsicht zusammen, daß auch dieses Netz weggeworfen wurde, nur daß es sich nicht ersetzen und nicht reparieren läßt. Jetzt das große, steinerne Gewicht der Angst, das einem am Halse hängt und sich in jedem einzelnen reproduziert, millionenfach, milliardenfach. Verdrängen wird langsam unmöglich.

116


Die Gnade des Verdrängenkönnens, eine Form des Wunsches nach Ungeschehenmachen, wenigstens für eine Weile, ist aufgebraucht. Ab jetzt statt dessen die Tortur, der Wahrheit ins Auge sehen zu müssen, ihr nicht ausweichen zu können, zumal wenn sich immer noch Hoffnung regt. Hoffnung oder das Greifen nach Strohhalmen? Es ist nicht zu entscheiden. Ich weiß es nicht!

Die Wahrheit, wie sie mit uns spielt, indem sie sich verwandelt. Unser Trilemma: die rationale Wahrheit, die empirische Wahrheit, die soziale Wahrheit. Die rationale Wahrheit sagt mir, daß wir die lebensfeindlichen Strukturen unseres Industriesystems nicht mehr ändern können, daß es zu spät sei, daß der Tanker trotz des Kommandos »Volle Fahrt zurück« die Klippen rammen werde. Die empirische Wahrheit ist überfordert, sie hat derlei noch nicht erfahren. Sie sagt »vielleicht«. Die Tür fällt aber nicht ins Schloß.

Die soziale Wahrheit umarmt alle die, die nichts wissen können oder wollen, und hüllt sie in den Mantel der Konvention und des Zeitgeistes ein. Sie ist der Zeitgeist — und sie hat die Mehrheit. Wahr ist, was niemand bezweifelt oder in Frage stellt. So einfach ist das mit der dreifachen Wahrheit. Und so schwierig mit der einfachen.

 

26. November 2000

 

Die Zahl der Selbstmorde steigt dramatisch an (also doch das Wirken der rationalen Wahrheit, vermutlich auch der empirischen). Vor allem Jugendliche sind rasch bereit, das Leben abzuschütteln. Nach der Drogenwelle und der Freigabe des Rauschgifts jetzt dieser Protest, direkt und ohne Umschweife. Der kurze Prozeß mit sich selbst. 

Die Bundesregierung zeigt sich alarmiert - wie üblich. In Berlin müßten eigentlich ständig die Alarmglocken schrillen, so oft sind die dort alarmiert. Wieder diese Konjunktur für Beratungsgremien, Gutachter, Experten, Konferenzen und Hearings - beruhigende Zeichen des Alarmiertseins. Die aktuelle Stunde im Bundestag brachte freilich wenig Erhellendes. Das unsäglich hilflose Gestammel der Konservativen und Liberalen: Leistung lohne sich doch heute mehr denn je, und die Herausforderungen der Zukunft müßten gerade die Kräfte der Jüngeren mobilisieren.

117


Uns stünden alle Mittel und geistigen Fähigkeiten zur Verfügung, auch und gerade am politischen Willen fehle es nicht. Man dürfe vor den Problemen nicht kapitulieren, müsse sie vielmehr als Herausforderungen begreifen. Nur so könne man ihrer Herr werden. Dies aber sei schon immer die vornehmste Aufgabe der Jugend gewesen.

Alte Wahrheiten, die der Fortschritt ad acta und ins Archiv der Geschichte abgelegt hat.

Die Suizidrate, soviel läßt sich auch ohne Expertise schlüssig behaupten, ist ein verläßlicher Indikator für die schwindende Zukunft und die abgestorbenen Hoffnungen. Und für das Versagen der älteren Generation, damit der Tradition. Diese Form des Traditionsabrisses ist schlimmer als jede Revolution, schlimmer auch als die grassierende und sich steigernde Jugendkriminalität. Passive und aktive Gewalt, die Kehrseite ein und derselben Medaille. Beide Seiten signalisieren das Bedürfnis nach Widerstand.

Und wie makaber: Diese jungen Leute, die sich jetzt so zahlreich und irgendwie nüchtern, ohne viel Federlesens davonmachen, haben vor zehn Jahren noch ihre Eltern gewarnt. Unvergeßlich eine Fernsehsendung mit Fünf- bis Zwölfjährigen (Sommer 1989?), die ihre Zukunftsängste so klar artikulierten, als hätten sie sich von Geburt an mit diesen Fragen befaßt (was gar nicht einmal ausgeschlossen ist. Sylvie muß sich auch damit befassen). Jedes dieser Kinder flehte geradezu um Zukunft und das Leben. Offenbar umsonst.

Wie werden Andreas und Sylvie mit mir reden? Wie werden sie reagieren? Werden sie ebenfalls diese »Lösung« ... ? Wir wollen und müssen zulassen, daß sie die Welt so erfahren, wie sie ist. Wir könnten es gar nicht verhindern. Nur, das Fernsehen, die Gesellschaft insgesamt, erlaubt keine kindgemäße Welterfahrung mehr. Wie sollte es auch, wo in den Städten wäre kindgemäße Welterfahrung noch möglich? Die Kinder fühlen sich als ohnmächtige Zwerge in einer nur für die Erwachsenen, für Leistungsträger und Konsumenten geschaffenen Welt. Dieses Trauma des Kindseins bleibt.

»Zur Welt kommen« - nur noch ein biologischer Vorgang. Sie kommen alle in eine kaputte Welt, des wichtigsten Menschenrechts beraubt, des Rechts auf eine unbeschädigte Welt.

118


Werden sie diesen Betrug einmal einklagen? Und wie?

Die meisten werden sich anpassen. Nur die Sensibelsten werden protestieren, notfalls mit ihrem Leben. Tina und ich sind jetzt froh, daß wir unserem dritten Kind dieses Zur-Welt-Kommen verwehrt haben. Es ist uns dankbar! Herbert Marcuses Rat an die Jugend, sich zu verweigern, aktiv, im handelnden Protest! Eine Subkultur schaffen als vorweggenommene Alternative zur miserablen Welt der Alten. Macht kaputt, was euch kaputt macht, macht wenigstens nicht mit! Schneidet die Tradition durch, laßt euch nicht einbinden und einfangen, gebt diese Ellenbogentradition, die alles ruiniert, den Menschen, das Tier, die Natur, nicht weiter, damit ihr sie nicht erleiden müßt und sie euch nicht zu Krüppeln macht!

Heute ist das die Generation der Großväter. Angepaßt und integriert wie jede Generation vor ihnen. Einige sind ausgebrochen, die man als Terroristen wahrnahm, nicht als Verzweifelte, die vielleicht das falsche Signal setzten, ob als Terrorist, als Selbstmörder oder als apathischer Konsument. Der Revolutionär ist Optimist, er muß an die Zukunft glauben. Daher wird es keine Revolution mehr geben. Wir können beruhigt sein. Oder doch nicht?

Der einzige Zweck, den die Evolution dem Leben gegeben hat, ist die Weitergabe des Lebens. Damit hat das Leben noch keinen Sinn. Aber selbst dieser Zweck ist fragwürdig geworden. Wir sind, so Nietzsche, die viel zu Vielen, milliardenfache Redundanz, eine überflüssige Biomasse. Ihr Exkrement ist diese Zivilisation. Jeder Mensch, schon das Neugeborene, trägt dazu bei, diese Welt zu ruinieren. Weil er Verbraucher ist. Naturverbraucher. Der Zweck der Genesis, der einzige, den sie kennt, hat sich in einen Fluch verwandelt.

Der Sinn des Lebens. Evolution und Natur kennen kein Ziel, dem sie zustrebten, und keine Teleologie. Der Sinn des Lebens kann nur eine gesellschaftliche Konvention sein, eine soziale Wahrheit. Nur der Gläubige kann Sinn finden, und nur ein Glauben stiftet Sinn. Die uralte Frage nach dem Sinn des Lebens lenkt nur ab von der Frage nach dem Glück. Die Evolution kennt zwar auch kein Glück, aber doch Zufriedenheit. Wenn unsere Katze satt ist, wird sie zur Allegorie des Wohlbehagens, sorglos und total sich der Gegenwart überlassend, ohne Vorstellung von der Zukunft, in Übereinstimmung mit sich und der Umwelt.

119


Der Mensch kann Glück erleben, er könnte auch Glück schaffen. Ist Glück Wunschlosigkeit, wie Freud meinte? Oder der Moment der Ekstase? Könnt' ich zum Augenblick sagen, verweile doch, du bist so schön. Glück mag privat erlebt werden, ist aber keine Privatsache, sondern gesellschaftlich vermittelt, ja »produziert«. Glück ist — und war es über Jahrmillionen hinweg — Gemeinschaftssache. Vor seiner Menschwerdung konnte der Hominide nur in der Gruppe glücklich sein. Als Individuum, als Vereinzelter, war er gefährdet, preisgegeben, ausgeschlossen. Glück ist auch Kommunikation mit anderen. Das Bedürfnis nach Gruppe auch heute stark wie eh und je, vor allem bei der Jugend. Doch die technische Massenzivilisation schafft lauter einzelne und Einsame. Im Auto - allein. Am Arbeitsplatz - allein. Vor dem Bildschirm - allein. Jeder ist letztlich ein Single.

Die soziale Utopie: Wenn Hunger und Elend beseitigt wären und die Würde des einzelnen vor dem Zugriff der Herrschenden sicher, dann wäre das Glück zum Greifen nahe - gesellschaftlich vermittelt. Und frei von Angst sein. Das war einmal. Auch das Glück ist relativ. Glücklich ist nur, wer weiß, ahnt oder fürchtet, daß der Moment der Bedürfnisbefriedigung nicht von Dauer und nicht garantiert ist. Nur wenn das Glück Mangel bleibt, kann es erfahren werden. Die Dauer der Wunscherfüllung schafft Überdruß, die Freude wird vertrieben. Der Mensch ist biopsychisch ein Mangelwesen, niemals Konsument. Das Glück des Verdurstenden wegen des Schluckes Wasser. Das Elend des Säufers. Das Glück des Verhungernden am Stück Brot. Das Elend des Prassers. Das Glück derer, die Fesseln zerreißen. Das Elend der Libertinage. Das Glück an der Freiheit des anderen, das Elend des Gewalttätigen. Epikur! Doch wie haben sie es dem Philosophen des Glücks gedankt — im Vergleich zu den vielen Sünden- und Bußpredigern.

Vermutlich gab es keine Generation vor uns, die so unglücklich war wie die jetzige. Der Preis für den chronischen Konsum, die primitivste aller Süchte, ist Glück, die Fähigkeit, glücklich zu sein. Diese Leistungsgesellschaft braucht den Typ, der auf Glück verzichtet, sie braucht den harten, kalten, konsumierenden, emotional unproduktiven Charakter. Sie braucht den Sadomasochisten. Sie bräuchte Erich Fromm.

120


27. November 2000

Die Protestaktionen in Süditalien und auf Sizilien kommen einem Aufstand gleich. Das artet in Aufruhr aus. Gestürmte Rathäuser, verwüstete Ämter, blockierte Straßen, besetzte Gerichte, brennende Polizeiwachen. Die ersten Schüsse, die ersten Toten. Seit Wochen Massenstreiks. Anarchie, jede Ordnung zusammengebrochen. Der Süden fühlt sich verraten und verkauft und obendrein gedemütigt. Die Regierung in Rom zieht Truppen zusammen, um den Aufruhr niederzuschlagen.

Die Europäische Union verweist auf ihr beschlossenes Wassertransportprogramm. Der erste Aquatanker wird in sechs Wochen nach Stavanger auslauten. Insgesamt werden in Kürze 10 Millionen Bruttoregistertonnen an Tonnage zur Verfügung stehen. Im nächsten Jahr soll die erste Wasserentsalzungsanlage in Reggio Calabria die Süßwasserproduktion aufnehmen. Neun Tonnen Wasser pro Sekunde.

Korruption und Mafia haben das Ihrige zu der sich abzeichnenden Katastrophe beigetragen. Sie haben ein Supergeschäft mit der Not gewittert und den Kürzeren gezogen, freilich erst jetzt. Hunderte von Millionen an EU-Mitteln sollten für die Erneuerung der Bewässerungsanlagen, für neue Brunnen und vor allem Wasserspeicher sorgen. Der größte Teil in den Kanälen der Korruption versickert.

Aber Europa kann nicht zusehen, wie der Süden ausdörrt. Den Griechen geht es nicht besser. Die Wüste greift nach Europa, sie ist ein Kind dieser Zivilisation. Frankreich und die ehedem jugoslawischen Staaten verstärken die Küstenwacht, um süditalienische Boat people aufzugreifen. Sogar Albanien schottet sich ab. Alle EU-Staaten weisen die Süditaliener zurück.

Rom protestiert in Brüssel und verweist auf die EU-Charta: Freizügigkeit. Das Vereinte Europa! Gewiß, aber nicht so. Dieser Belastungsprobe kann die europäische Idee nicht standhalten.

121/122

Wohin mit 20 Millionen Süditalienern? Welchen Anlaß hat Europa, sich einem Emigrantenstrom unvorstellbaren Ausmaßes zu öffnen, wenn die Italiener ihrer nationalen Verantwortung nicht gerecht werden und ihre eigenen Landsleute aussperren? — Nördlich von Neapel entsteht ein Eisener Vorhang. Europa kann keine Völkerwanderungen mehr verkraften. Sorry, die liebenswerten Kalabresen und Sizilianer! Wir sind geschiedene Leute.

 

29. November 2000

Die süditalienischen Regionen einschließlich Siziliens und Sardiniens haben sich von Rom losgesagt und einen eigenen Staat ausgerufen (was Rom gar nicht so ungelegen kommt). Appelle der Verzweiflung an die UN und die EU, rasch zu helfen. Aber wie? Vieh verdurstet oder wird notgeschlachtet, die Landwirtschaft vernichtet. Dem Durst folgt der Hunger. Die EU-Vorräte sind erschöpft. Wenn nicht bald Regen fällt, werden die Schäden irreparabel sein. Eine Rekultivierung würde schon jetzt Jahre dauern. Jeden Sonntag schleppen sich die Bittprozessionen über das glühende Land und betteln um Regen. Der Papst läßt wissen, daß er seit fünf Wochen in Castelgandolfo bete. Den katholischen Himmel bevölkern zwar unzählige Heilige und Nothelfer, aber gegen Menschenwerk sind auch sie machtlos.

Alle Welt bedauert die Südländer. An Hilfsbereitschaft fehlt es nicht, an Beteuerungen noch weniger, doch niemand weiß eine Lösung.
Am Ende wird Europa sie aufnehmen müssen. Denn zusehen, wie Millionen in nächster Nachbarschaft vor die Hunde gehen, wäre der Offenbarungseid der europäischen Idee, die Bankrotterklärung der Humanität.

 

30. November 2000

Kanada und die GUS-Staaten erklären sich bereit, die Einwanderungsquote zugunsten der Süditaliener zu erhöhen. Die Vereinigten Staaten lehnen ab. Ihr Mittelwesten und Kalifornien dörren ebenfalls aus. Wann werden die Amerikaner nach Kanada drängen?

123

 # 

 

 ^^^^ 

www.detopia.de