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1. Dezember 2000

Guha-1993

 

123-155

Unübersehbar, wie die Umweltproblematik Medien und Öffentlichkeit zu beherrschen beginnt. Die Vorhersage Wolfgang Hildes­heimer's vor zehn Jahren angesichts der deutschen Wieder­vereinigungs­euphorie hat sich längst bewahrheitet: »Im Vergleich zu dem, was uns ökologisch erwartet, ist das hier belanglos.«

detopia-2021: Eine Quelle habe ich noch nicht gefunden, aber Hildesheimer äußerte sich mehrmals so; ähnlich auch Carl Amery und Rudolf Bahro.

Das Verhalten der Masse der Bevölkerung ist freilich höchst widersprüchlich. Von der Politik erwarten sie die Quadratur des Kreises: konsequenten Umweltschutz, nur darf er keine großen Opfer fordern, vor allem keine Verhaltensänderung. Die Leute hängen an tradierten Gewohnheiten, der Umdenkungs­prozeß trägt noch nicht. 

Es scheint, als habe das kollektive Gedächtnis die Mühsal und die Plackerei der vergangenen Jahrhunderte gespeichert. Nur nicht wieder so vegetieren müssen, signalisiert offenbar diese Angst, wie unsere Vorväter im 19. Jahr­hundert, als Lumpenproletariat. Daher wollen sie von dem erreichten Komfort nichts aufgeben. Es ist, als sollte siegreichen Eroberern zugemutet werden, die Beute wieder herauszurücken.

detopia-2019: so ähnlich auch bei sloderdijk 2011, in "das raumschiff..."

Energiesparen — ja. Aber nicht bei der Heizung, beim Kühlschrank, beim Bügeleisen, beim Fernseher, bei der Waschmaschine, beim Rasierer. Grüne Wälder — ja, aber nicht auf Kosten des Autos. Umweltschutz, natürlich, aber das System soll so bleiben, wie es ist. Es sei denn, die Industrie bringt bessere Produkte auf den Markt, dann macht man gerne mit. Dann darf es auch etwas teurer sein. 

Ein fatales, passives Verhalten.

Es gibt sie nicht, die globale, kollektive Vernunft, die weltweite Verbindlichkeit der Ethik. Die Vernunft der Individuen summiert sich zur Unvernunft des Kollektivs, die Frömmigkeit des einzelnen zur Bigotterie und zum Fanatismus der Massen. Daher wird nicht sein, was lebenserhaltend unumgänglich wäre: eine globale Kurskorrektur.

Hinter diesem harmlosen Begriff verbirgt sich als Konsequenz die erste zivilisatorisch-kulturelle Kehrtwende der Menschheit. Umkehr als Fortschritt, das ist noch keiner Generation zugemutet worden. 

Die Kultur­entwicklung als Teil der Evolution hat sich, wenngleich um Zehnerpotenzen rascher, zu immer komplexeren Strukturen herausdifferenziert. Nun soll eine Re-Evolution folgen. Die Natur kennt eine solche Rückwandlung nicht, bei keiner Art und bei keinem System. Sie ist unmöglich. Aus einem Huf kann kein Paarzeher werden, aus einer Lunge kein Kiemenatmer. Wenn sich ein Prozeß als Irrtum herausstellt, kann das Problem nur durch Aussterben gelöst werden.

Unser Wirtschafts- und Industriemodell, wie es sich in den letzten 150 Jahren herausgebildet hat, auf dem die gesamte Zivilisation und Kultur beruht, stellt sich aber immer unabweisbarer als Irrtum heraus. Die technische und ökonomische Entfaltung seiner Potenzen, für sich genommen und aus dem Zusammenhang gelöst höchste Rationalität, droht die Irrationalität des Gesamtsystems ins Ausweglose zu steigern. Die höchste Form der Irrationalität ist aber die Zerstörung der Lebensgrundlagen, also der Selbstmord.

Das Zivilisationssystem des Menschen befindet sich auf Kollisionskurs mit dem System der Natur. Da es aber selbst nur ein Untersystem der Natur ist, kann der Ausgang dieses Zusammenpralls nicht zweifelhaft sein: Was sich nicht mit dem Globalsystem der Natur und ihren Gesetzen verträgt, ist zum Untergang verurteilt. 

Paradoxerweise ist es gerade der gewaltige Erfolg des Zivilisationssystems, der es in Widerspruch zur Natur und zur Evolution bringt. Der Mensch hat die Balance bewirkenden und für Ausgleich sorgenden negativen Rückkoppelungssysteme umgepolt in positiv rückgekoppelte, auf unentwegtes Wachstum. Wachstum ist zum obersten Sachzwang geworden, der das System stabilisiert und aufrechterhält. Ohne Wachstum bräche es wieder in sich zusammen. Wachstum ist für das Industriesystem, was die Rotation für den Planeten ist. Aber nichts kann ad infinitum wachsen. Wachstum heißt Ausweglosigkeit, Auffressen der eigenen Voraussetzungen. Wie bei einem Heuschrecken­schwarm.

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Konrad Lorenz: Wir haben diese Weisheit der Evolution mit Hilfe unseres Verstandes außer Kraft gesetzt. Nichts und niemand hindert uns am Fressen. Da wir den Magen und das Verdauungssystem weggezüchtet haben, um die Effizienz zu steigern, können wir ungehindert fressen. Und uns vermehren. Sechs Milliarden Menschen: Wachstum. Ausschließlich positive Rückkoppelung. Grenzenlos. Ausweglos. Wofür? Wozu?

Kein Zweifel, daß die Politik überfordert ist. Im Grunde die Kameralistik zur Zeit Friedrich des Großen. Zur intellektuellen Unzulänglichkeit der Agierenden gesellen sich die System- und Strukturfehler. Das Schielen auf Wahlen, die Gefälligkeits­demokratie. Die Angst, die sachlich notwendige Entscheidung könnte die wahltaktisch falsche sein. Die Trägheit der Entscheidungsprozesse. Die Gefahren sind alle globale, die Politik bleibt national. Aber es gibt keine Globalpolitik. Wir brauchten eine Weltregierung, ein Weltparlament, eine Weltpolizei. Globale Handlungsfähigkeit. Aber — nicht daran zu denken. Das Notwendige ist Utopie, das Überflüssige real.

 

  4. Dezember 2000  

 

In diesem Jahr 85 Millionen Kubikmeter Holzeinschlag. Mehr als die doppelte Menge von 1989. Ursache: das Waldsterben. Dramatisches Absinken des Grundwasserspiegels überall in Deutschland. Trotz des Dauerregens und trotz der verheerenden Überschwemmungen. Der Wald verschwindet und kann das Wasser nicht mehr aufsaugen. Das gesamte südhessische Ried senkt sich ab. Bodenrisse, ganze Dörfer brechen ein. Germersheim vom Einsturz bedroht. Frankfurt verliert seinen wichtigsten Wasserspeicher. Wegen der versiegenden Quellen kündigt auch der Kreistag des Vogelsbergkreises den Wasserlieferungs­vertrag mit dem Frankfurter Umlandverband. Empörung natürlich in der Mainmetropole, diesem gefräßigen, durstigen, verschwenderischen Moloch. Wenn Frankfurt noch eine Freie Reichsstadt wäre und eine eigene Armee hätte, würde sie jetzt dem Vogelsbergkreis den Krieg erklären und ihn besetzen. Nur würden die Quellen dann noch rascher versiegen. Die SPD fordert als Konsequenz den Bau von Talsperren und Wasserspeichern.

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Die Technik des Wasser-Recyclings ist sträflich vernachlässigt worden.

Jeden Tag wird in Deutschland eine Tier- und eine Pflanzenart ausgerottet, weltweit sind es 80! Unwiederbringliche Verluste. Was in Jahrmillionen gewachsen ist, verschwindet über Nacht. Der Planet verarmt, er wird von Reichen geplündert.

 

7. Dezember 2000

Nordrhein-Westfalen erläßt ein Fahrverbot für Pkws an Wochenenden. Bis auf weiteres und gegen den Protest der EG-Kommission. Die Absicht, auch die Autobahnen zu sperren, wird am Einspruch der Bundesregierung scheitern.

Das Zivilisationssystem muß einen Domestikationseffekt auf den Menschen haben. Es verblödet ihn und stumpft ihn ab. Konrad Lorenz: Es »verhaustiert« ihn. Das Pkw-Wachstum ist längst an seine Grenzen gestoßen, es hat das Auto seines mobilen Effekts beraubt. Mit der Bahn geht es doppelt so schnell, im Berufsverkehr dreimal schneller. Der Stau ist zu einer neuen kommunikativen Erlebnisform geworden. 

Doch die Leute fühlen sich offenbar wohl bei dieser Art von Fortbewegung. Es stimmt ja gar nicht, daß die rasche Distanzüberwindung die Kaufentscheidung für das Auto bestimmt. Es ist das Gemeinschaftserlebnis! Mit vielen anderen die gleiche Lage teilen. Das vermittelt offenbar Geborgenheit. Im Stau ist man immer in einer bergenden Mitte, auch wenn man mit dem anderen nicht direkt kommunizieren kann. Hauptsache, er und die vielen anderen sind da! Wie ein zum Appell angetretenes Regiment. Und um diesen Preis der Treibhauseffekt!

In dem kleinen Deutschland jetzt 47 Millionen Pkws und sechs Millionen Laster! Acht Prozent des Weltbestandes auf so engem Raum. Wahnsinn!

 

9. Dezember 2000

Bereits der 50. Smogalarm für Frankfurt und das Rhein-Main-Gebiet in diesem Jahr. Sylvies Kränkeln wird sich wohl nicht mehr verlieren, es ist chronisch. Asthma, wie unzählige ihrer Altersgenossen. Eines der vielen Opfer, die bereits ihrer Lebenschancen beraubt sind, kaum daß sie geboren sind. Und es werden immer mehr.

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Die Chance der Flucht besteht daher nicht mehr. Man kann nicht mehr aussteigen. Wohin man auch flüchtete, man wäre schon eingeholt. Raumschiff Erde! 22 Milliarden Tonnen giftiger Gase. In einem Jahr!

Morgen werden wir in ganzseitigen Zeitungsanzeigen der Großindustrie lesen können, was alles für den Umweltschutz getan werde und daß man selbst die horrendesten Kosten nicht scheue. Die übliche Reaktion auf Smogalarme. Der Mensch steht nun mal im Mittelpunkt. Die Statistiken werden belegen, daß die Schadstoffemissionen allenthalben minimiert worden seien. Neueste Technologie, Fortschritt, Kreativität, modernes Denken, Verantwortungsbewußtsein.

Nur: Die Summen wachsen. Das Wachstum frißt alles wieder auf. Die Zinsen steigen schneller als die Tilgungsraten. Und meine kleine Sylvie hat Asthma.

Mir geht's auch nicht besser. Seit einigen Wochen Hyperventilation. Ein Zwang zum Luftholen. Außerdem ein Ziehen im linken Arm. Das Kunstherz soll ja jetzt risikolos funktionieren. Besser gar als das Original. Mikroprozessorgesteuert. Die Transplantation ist angeblich ein harmloser Eingriff. In Japan entwickeln sie jetzt gar eine Kunstlunge, der angeblich die Schadstoffe nichts anhaben können. Bald wird zum Überleben der künstliche Mensch erforderlich sein.

 

11. Dezember 2000

Weihnachten droht, unaufhaltsam. Die Wechsler und Händler sind alle längst wieder im Tempel des Herrn. Aber diesmal treibt sie niemand hinaus. Was haben sie aus diesem Fest gemacht! Verkitscht und heruntergewirtschaftet. Das diesjährige Weihnachts­geschäft hat sich aber schlecht angelassen. Der Handel wartet auf einen Auslöser, der ihm die Hoffnung wiederbringt. Der Erlöser selbst ist nur für die fünf Millionen Arbeitslosen, drei Millionen Sozialhilfeempfänger, eine Million Obdachlosen, zwei Millionen Unfallopfer, drei Millionen Drogensüchtigen — ist nur für das elende Drittel der Gesellschaft in diese Welt geschickt worden. Für diejenigen, die ständig zu kurz kommen. Für die Versager. Sie dürfen mit ihrem Erlöser Weihnachten feiern.

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12. Dezember 2000

Der »Sonnengesang« des Franz von Assisi. Irgendwie auch ein Versager, allerdings ein freiwilliger. Daher versteht ihn niemand, diesen schwärmerischen Dummkopf.

Gelobt seist Du mein Herr,
durch Bruder Wind und Luft,
durch wolkig und heiter und jegliches Wetter,
durch das Du Deinen Geschöpfen
Gedeihen gibst.

Gelobt seist Du, mein Herr,
durch Schwester Wasser;
gar nützlich ist sie
und demütig und köstlich und keusch.

Gelobt seist Du, mein Herr,
durch Bruder Feuer,
durch den Du die Nacht uns erleuchtest,
und schön ist und fröhlich
und gewaltig und stark.

Gelobt seist Du, mein Herr,
durch unsere Schwester Mutter Erde,
die uns ernährt und erhält,
vielfältige Frucht trägt
und bunte Blumen und Krauter.

Gelobt seist Du, mein Herr,
durch jene, die aus Liebe zu Dir vergehen,
die Schwäche tragen und Trübsal.
Selig, die harren in Frieden.
Du, Höchster, wirst sie einst krönen.

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Gelobt seist Du, mein Herr,
für unseren Bruder, den leiblichen Tod;
ihm kann kein Mensch lebendig entrinnen.

 

Auch dazu also ist der Mensch fähig. Aber nur als Ausnahme. Naivität, Kindlichkeit, Sensibilität, Entsagung, Gottesfurcht, Liebe — die höchste Stufe des Bewußtseins, das sich als Teil der Schöpfung begreift und erlebt. Hinter diesen simplen Zeilen, innig, aber ohne jede Sentimentalität, wie sie auch ein Kind zuwege brächte, verbirgt sich ein fast gewalttätiger Gegenentwurf zur menschlichen Existenz heute. Diese Größe und Stärke, sich zu reduzieren, alles beiseite zu schieben, was den anderen, den viel zu vielen, das Leben erst lebenswert macht. Um dadurch ein Leben erst zu erlangen, von dem wir keine Ahnung haben, außer vielleicht der, daß es das wahre sein könnte. Muß man erst die unmenschliche Größe eines Franz von Assisi aufbringen, um nicht mit der Schöpfung in Widerspruch zu geraten? Dann freilich wäre die Zukunft hoffnungslos. Wenn dieser Bettelmönch der wahre Mensch sein sollte, in dem sich die Idee des Menschen verkörpert, wäre offenkundig, daß wahres Menschentum nur als Ausnahme existiert. Die Regel hieße: »der Mensch«, ein Irrläufer der Natur.

Die drei Landstreicher, die mich jeden Morgen am Bahnhof aus übernächtigten Augen gleichmütig mustern, sind dem Franz viel ähnlicher als ich. Wenn ich die scheinbar kaputten Typen ansehe, spüre ich meine Sorgen und Ängste wie einen schweren Rucksack. Als ich neulich einem von ihnen, dem Beinamputierten, fünf Mark gab, nickte er nur. Ich zögerte, weiterzugehen, weil ich ein Dankeschön erwartete. Da sagte der zahnlose, struppige Kerl: »Heute wird wieder ein schöner Tag.« Dabei fror er in seinen vollgepißten Jeans. Ich aber merkte, daß es tatsächlich ein schöner Tag werden würde. Und dann erinnerte mich der stinkende Alte an die Lilien auf dem Felde, die nicht säen und nicht ernten.

Dem Ordnungsamt sind die Landstreicher ein Dorn im Auge, weil sie schon mal eine Rotweinflasche stehen lassen, für die es kein Pfand gibt. Dennoch, je ärmer einer ist, desto wirksamer schützt er die Umwelt. Die Landstreicher produzieren keinen Giftmüll und verschwenden keine Energie. Wer lebt auf wessen Kosten?

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Der Gesetzgeber sollte eine progressive Umweltsteuer erheben. Die Umweltzerstörung entspricht proportional dem Einkommen. Was für Individuen gilt, gilt auch für soziale Gruppen und darüber hinaus für Staaten. Die Dritte Welt, nahezu vier Fünftel der Menschheit, bezahlt die Verschwendungssucht und den Raubbau der Industrienationen letztlich mit ihrer intakten Umwelt.

Die Weisheit des Indianers :»Als die Erde mit all ihren Lebewesen erschaffen wurde, war es nicht die Absicht des Schöpfers, daß nur Menschen auf ihr leben sollten. Wir wurden zusammen mit unseren Brüdern und Schwestern in diese Welt gesetzt, mit denen, die vier Beine haben, mit denen, die fliegen, und mit denen, die schwimmen. Alle diese Lebewesen, auch die kleinsten Gräser und die größten Bäume, bildeten mit uns eine große Familie. Wir sind alle Geschwister und gleich an Wert auf dieser Erde.«

Die »Danksagung der Irokesen« könnte von Franz von Assisi stammen, sein »Sonnengesang« von einem Irokesen. Der Irrtum im Selbstverständnis des »zivilisierten« Menschen begann, als jemand auf die Idee kam — und sie auch niederschrieb —, wir seien das Ebenbild Gottes, dem das Recht zustehe, über alle Kreatur zu herrschen, weil sie ihm untertan sei. Diese Hybris war der Beginn der Entfernung von Gott, denn sie ist eine Projektion des Größenwahns. Es ist das tragische Privileg des Menschen, jeden Unsinn zu glauben und Gedachtes für realer zu halten als die Realität. Die Glaubenswahrheit ist bar jeden Zweifels. Der Glaubensirrtum, daß der Mensch die Krone der Schöpfung sei, ist ihr folgenschwerstes Problem.

Max Born: »Es scheint mir, daß der Versuch der Natur, ein denkendes Wesen hervorzubringen, gescheitert ist.« 

Ein denkendes Wesen hat die Natur hervorgebracht, dennoch ist der Versuch — mit uns — gescheitert. Das Denken ist in den Kontext der Natur nicht integrierbar; es ist ihm fremd geblieben. Es fehlt diesem Denken an »praktischer Vernunft« (Kant), also an ethischem Bewußtsein. 

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Das Denken schuf eine gefräßige, wachsende, wuchernde Industriezivilisation und beseitigte alle Faktoren, die auf Gleichheit und Balance drängen. Dadurch wurde die höchste Weisheit der Evolution verletzt: das Maß. Wachstum und Verbrauch als Grundgesetz der Industriezivilisation sind potentiell ohne Maß, dürfen gar kein Maß haben, denn Maß bedeutet Stillstand, Nullwachstum, Krise. Die Weisheit der Evolution wird zur Dummheit der Industriekultur. Mit dem Denken setzte die Vertreibung aus dem Paradies ein. Noch eine Weile, und sie ist abgeschlossen und endgültig.

Max Borns Schrift »Die Zerstörung der Ethik durch die Naturwissenschaften« verhallte ungehört. Nie hat ein Natur­wissen­schaftler, einer der größten, das menschliche Dilemma unbarmherziger, verzweifelter und doch mit so inbrünstigem Glauben an die Vernunft beschrieben. Alles, was die Naturwissenschaften an technischer Realität ermöglichen, wirkt destruktiv, bedroht die Natur, setzt die Gesetze der Evolution außer Kraft und entfremdet letztlich den Menschen von sich selbst. In einem System, das ohne Wachstum nicht existieren kann, wird Maß zur gefährlichen Untugend und Maßlosigkeit des Verbrauchs zur höchsten Tugend, zum rationalen Verhalten. 

Der oberste Daseinszweck des Zivilisationsmenschen ist seine Rolle als Verbraucher, Dasein rechtfertigt sich als Konsum und Verschwendung. Die Entfremdung des Menschen von sich selbst liegt im Erfolg des Systems, ihm auszureden, daß es Maß gebe, Zufriedenheit, Gesättigtsein, Befriedigung, materielle Wunschlosigkeit, Alternativen zur Lebensgestaltung jenseits des Konsums, Möglichkeiten für Glück ohne Verbrauch an Gütern, Wachstum an Geist und Gefühl und Kunst. Der freiwillige Verzicht auf Konsum kennzeichnet den Outsider wie der erzwungene den Versager. Dem erzwungenen Verzicht und den unfreiwilligen Versagern predigt man freilich Zufriedenheit und Bescheidenheit als Tugenden, damit sie nicht aulbegehren und renitent werden.

Kein Wunder, daß Warner wie Erich Fromm nicht verstanden wurden. Da Fromm am ursprünglichen, von der Evolution angelegten Entwurf des Menschen festhält, muß er den Erfolgstypus der Industriezivilisation als marktorientierten »unproduktiven Charakter« bezeichnen.

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Soviel Dialektik kann sich nur ein Schwärmer, ein Idealist, ein Moralist leisten. Dennoch korrespondiert sie mit der These der Evolutionstheorie, daß der Erfolg der Industriezivilisation diesen Planeten zerstören wird, mithin die höchste auf dieser Erde -wahrscheinlich im gesamten Kosmos - denkbare Form des Mißerfolgs darstellt. Zivilisationsgesetze kontra Naturgesetz, zivilisatorischer Erfolg kontra evolutionären Erfolg. Die Einzigartigkeit des Menschen bewirkt seinen Untergang.

Tina spielt Mozart, das Klavierkonzert in Es-Dur. Die Klänge tanzen durch die Räume. Diese Mischung aus heiterer Oberfläch­lichkeit und suggestiver Tiefe, Freude und Wehmut, Ankunft und Abschied. Schade, daß er so wenig für meine Flöte geschrieben hat. Er hielt dieses Instrument für einen Bastard, der keinen Ton rein durchhalten könne. Die beiden Flötenkonzerte warf er in wenigen Tagen aufs Papier, weil ihn ein holländischer Kaufmann bedrängte und er Geld brauchte. Die prosaische Nüchternheit des Genies.

 

13. Dezember 2000

Die »Reformbewegung Fröhliche Kirche« gewinnt innerhalb der EKD an Zulauf. Die Christen sollten mit Zuversicht in die Zukunft blicken, denn Gott meine es gut mit uns. Die ständige Negation der auch von Gott, ja zuvörderst von ihm, gestalteten gesellschaftlichen Verhältnisse entspreche nicht christlichem Geist. Mehr Glauben tue not.

Im übrigen solle sich die Kirche nicht nur und ausschließlich um die Zukurzgekommenen und Modernisierungs­verlierer kümmern, sondern sehr viel stärker um die Leistungsträger der Gesellschaft, den Mittelstand und die Eliten, um diejenigen also, die Gesellschaft in Gottes Auftrag mitgestalteten. Kirche sei für alle da. In der Vergangenheit sei sie zu einseitig auf die sozial Schwachen fixiert gewesen. Mühselige und Beladene finde man in allen Gesellschaftsschichten.

Irgend etwas ist da zwischen den Seligpreisungen der Bergpredigt und Calvin absichtlich mißverstanden worden. Fühle mich stark an die SPD erinnert. Scharpings Rede in Tutzing: Endlich wegkommen von dem Image, als sei man die Partei der Verlierer.

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   14. Dezember 2000 

Dringlichkeitsplan der Bundesregierung: 3674 Müllkippen und Deponien müssen sofort saniert werden, davon 2016 auf dem Gebiet der »neuen« Bundesländer. Die Kosten werden sich auf 186 Milliarden Mark für die nächsten fünf Jahre belaufen. Die Industrieverbände winken ab, sie wollen sich an den Kosten nicht beteiligen. Schließlich hätten sie die Entsorgung nur nach gesetzlichen Vorschriften betrieben.

Nach einer vorläufigen noch geheimen Studie der Enquetekommission Grundwasser sollen/müssen 31 Wasser­einzugsgebiete gesperrt werden, weil das Quellwasser verseucht ist. Die Höchstwerte der Schadstoffbelastungen liegen teilweise um das 50fache über der Norm. Es wurden chemische Verbindungen analysiert, die es in der Praxis der Produktion gar nicht gibt. Es handelt sich um neue, »spontane« Reaktionen. Wie es heißt, sollen sich einige der neuen Verbindungen aus Stoffen zusammensetzen, die vor mehr als 80 Jahren deponiert worden waren. Jetzt tauchen sie im Grundwasser auf und sind alle ausnahmslos hoch toxisch.

Das hieße, daß es nach Beseitigung der Schadstoffquelle noch mindestens 80 Jahre dauern würde, bis sich das Grundwasser wieder regeneriert hätte. Der Zyklus der Grundwasserkreisläufe erstreckt sich aber bis zu einem Zeitraum von 750 Jahren. Da kommt noch einiges auf uns zu, und auf unsere Nachkommen.

 

15. Dezember 2000

Die französische Küstenwacht fängt wieder 117 sizilianische Boat people ab. Ausreisestopp jetzt auch für Korsen. Auf der Insel beginnt das Wasser zu versiegen. Paris wäre nunmehr froh, wenn es die widerspenstigen Insulaner Anfang der neunziger Jahre losgeworden wäre.

 

16. Dezember 2000

Wieder ein Alarmruf aus dem Nahen Osten: Die Grundwasserreserven gehen zur Neige. Selbst die einfallsreichen Israelis sind mit ihrem Latein am Ende.

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Die bewässerten Felder beginnen zu versalzen. Die UNO hat bisher mit viel Mühe eine militärische »Lösung« des Wasserproblems verhindert. Aber wie lange noch — und wie sähe eine solche »Lösung« aus?

Auch bei uns muß es bald wieder regnen, sollen die Schäden nicht irreparabel werden. Das Waldsterben beschleunigt sich wieder. Das Thermometer sinkt nie unter 20 Grad. Die Magnolienblüte ist schon vorbei, der Rhododendron in voller Pracht.

 

17. Dezember 2000

Acht Kernkraftwerke stehen mittlerweile abgeschaltet in der deutschen Landschaft. In den USA sind es 16, in Frankreich elf, in Rußland 24. Niemand weiß noch, wie sie abreißen und wie sie entsorgen. Geschweige denn wo. Nach dem Scheitern des Pilotprojektes Niederaichach wagt sich keiner mehr an den Abriß eines AKWs. So viele Opfer will man nicht wieder riskieren. Aber das Risiko ohne Abriß, ohne Beseitigung dieser strahlenden Ruinen? Die Unionsparteien und die Industrie wollen sie zubetonieren. Einsargen. Denkmäler einer zivilisatorischen Sackgasse.

 

18. Dezember 2000

EU-Kommission und Europaparlament schränken den Einsatz von Düngemitteln auf die Hälfte ein. Was es nicht alles gibt: Diese Chemikalien tragen nicht nur zur Verseuchung des Wassers bei, sondern auch zur Luftverschmutzung und wahrscheinlich sogar zum Waldsterben. Sie merzen Kleinlebewesen, Mikroorganismen und Pflanzen aus, die sich in den Wäldern allein nicht halten könnten, sondern weite Flächen als Lebensraum brauchen, die aber für den Wald unabdingbar wichtig sind. So zwingt uns die Natur, über den Begriff des »Schädlings« neu nachzudenken. In der Natur gibt es keine Schädlinge, sondern nur Existenz­berechtigungen, Funktionen und Notwendigkeiten.

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Nur der Mensch ist ein Schädling, jeden Tag erweist es sich mit der Ausrottung von 80 Tier- oder Pflanzenarten. Dies bringt kein Tier zuwege, keine Tierart hat je irgendeine andere ausgerottet. Der Begriff »Schädling« ist, wie der »Nützling«, die übelste Form des Anthropo­zentrismus.

Chemische Industrie und die Bauernverbände protestieren, wie erwartet. Sie haben aber einen starken Verbündeten — die Vereinten Nationen. Europa dürfe nicht als agrarisches Überschußgebiet ausfallen, zumal sich das Ernährungsproblem in der Dritten Welt verschärfe. Indien, Afrika! Aber für dieses Jahr besteht bereits ein Exportstopp. Europa hat selber Schwierigkeiten, sich zu ernähren. Die Überschwemmungen dieses Frühjahres waren verheerend. Das Wintergetreide fast völlig vernichtet. Futtermittel sind knapp, der Viehbestand dezimiert.

Allmählich gelangen wir an eine fatale Wegscheide: Jede Maßnahme hat nur noch negative Folgen, jeder Weg führt nur noch in Sackgassen. Das wäre dann das Ende jeglichen Bemühens um Lösungen. Immer nur das kleinere Übel wählen heißt auf Dauer: das große Übel schaffen.

Der Dritten Welt helfen unsere Agrarexporte auch nicht mehr. Ihr helfen nur noch Revolutionen, die die landwirtschaftlichen Strukturen und Besitzverhältnisse umkrempeln. Noch wäre genug Nahrung zu produzieren, wenn die Bauern und Kleinpächter die Kontrolle über die agrarischen Ressourcen übernähmen. Dann sänken auch die Geburtenraten. Die Not gebiert die vielen Kinder, vielleicht ein unbewußter Reflex, die Art zu erhalten, gerade dann, wenn die Not und die Gefahr am größten sind. Der Großgrundbesitz und seine Monostruktur müssen verschwinden. Und Lebensmittel statt Non-food-Products. Ohne billigen Tee, Kaffee oder Kakao werden wir leben können, aber die Inder nicht ohne Reis, die Afrikaner nicht ohne Getreide, die Südamerikaner nicht ohne Bohnen und Mais. Das große Sterben in Indien und Mexiko, die Millionen unterernährter und geistig zurückgebliebener Kinder.

Der unvergeßliche Schock damals in den Slums von Kalkutta. Ich stieg über sterbende Menschen hinweg, unfähig zu einer Geste des Mitleids. Warum jagen sie die Großfarmer und Latifundistas nicht zum Teufel!

Freilich, mit Schwachsinnigen und Apathischen, Opfern des Hungers, kann man keine Revolution machen. Es fehlen die revolutions­bereiten Massen, trotz der vielen Leute.

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21. Dezember 2000

Sturmwarnung. Das große Zittern beginnt wieder. Kühle Polarluft mischt sich mit der Warmluft des Zentralatlantik. Die Temperatur­schwankungen sind extrem wie noch nie. Schon wieder ein Negativrekord! Die Windgeschwindigkeiten haben im statistischen Durchschnitt um 30 Prozent zugenommen, die Stärke um die Hälfte — binnen 50 Jahren!

Und es gießt in Strömen. Die Flüsse quellen sofort über, obwohl der Boden ausgedörrt und staubtrocken ist. Das kranke Land kann das Wasser nicht halten.

Nun ist es amtlich: Die Durchschnittstemperatur hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten um 2,1 Grad erhöht. Erwartet worden waren 0,2 bis maximal 0,3 Grad, was auch schon eine Katastrophe gewesen wäre. In hundert Jahren also 2,6 Grad plus. Entsprechend rasch schmelzen die Gletscher und die Polkappen ab. Der Meeresspiegel ist um 32 Zentimeter gestiegen. Viele Experten zweifeln die Daten an: So schnell könne, auch bei Annahme des schlechtestmöglichen Falles, die Entwicklung nicht verlaufen sein. Aber was schert das Klima die Ansicht der Experten.

Wissenschaft ist der Versuch, die Welt mit Theorien zu begreifen. Nur: Die Welt hält sich nicht daran. Die Natur hat sich der Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit durch den Menschen entzogen. Noch immer sind ihre Subsysteme, geschweige denn sie als Ganzes, als Biosphäre, komplexer, als die leistungsfähigsten Großcomputer zu fassen vermögen. Und sollten sie einmal ein Simulationsmodell als Annäherungswert darstellen können, werden wir das Modell nicht verstehen, weil es zu schwierig ist.

Professor Arthur Collins glaubt, die Temperaturen hätten sich sogar noch schneller über dem Nordatlantik und Europa erhöht, wenn die kühlen Wassermassen des abschmelzenden Polareises nicht den Golfstrom allmählich nach Süden abdrängten, vor allem seinen nördlichen Arm, der an Irland und Schottland vorbei ins Eismeer reicht.

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Das kalte Wasser des ablaufenden Grönlandeises verändere die Meeresströmung ganz deutlich. Die See zwischen Irland und Schottland habe sich im letzten Jahrzehnt um 1,8 Grad abgekühlt. Dadurch habe sich die Bildung der Wetterzyklen nach Süden in das Gebiet der Azoren verlagert, wobei sich aber die Temperaturgegensätze der Luft verschärft hätten. Denn gleichzeitig erwärme sich der südliche Arm des Golfstromes. Dies werde dazu führen, daß sich die Gewalt und die innere Dynamik von Stürmen und Orkanen noch verstärken. Collins schließt Windgeschwindigkeiten von erheblich über 350 Stundenkilometern nicht mehr aus.

Auch anderswo beginnen sich die Meeresströmungen zu verändern. »El Nino« im Südpazifik traf bereits zum dritten Mal hintereinander mit voller Wucht — buchstäblich — auf die peruanische Küste und drängt den kühlen Humboldtstrom ab. Das »Christkind«, hübscher Galgenhumor, hat alle Fische vertrieben und die Fischer an den Bettelstab gebracht. Dafür toben in Südchile nahezu wöchentlich Orkane in nie gekanntem Ausmaß.

In unseren Breiten interessiert das kaum jemanden. Das bißchen internationale Solidarität, das es früher bei Katastrophen dieser Art gegeben haben mochte, ist nun auch dahin. Unsere Sorgen sind uns näher, wir haben selber alle Hände voll zu tun. Dennoch ein fataler Trugschluß. Denn »El Nino« und die Orkane in Südchile hängen mit unseren Überschwemmungen, mit der Dürre in Sizilien, mit unserem Waldsterben, mit dem Gift in der Muttermilch, mit dem Hautkrebs in Australien, mit den wuchernden Wüsten aufs engste zusammen. Es ist ein und derselbe Ursachenkreislauf, der immer wieder und unerbittlich zurückführt auf den Verursacher, die Industriezivilisation, und die Unfähigkeit des Menschen, die Natur zu begreifen, dafür aber sich trotz erwiesener Unzulänglichkeiten zu überschätzen. Die Krone der Schöpfung, das Ebenbild Gottes, ist drauf und dran, diese Schöpfung zu ruinieren.

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22. Dezember 2000

Jetzt drehen wir durch! Ein Blutsonntag. Die Nacht der langen Messer! Welch eine Tragödie! Die erneute Attacke der radikalen Umweltschützer gegen das Auto endete in einem Desaster: 14 Erschlagene. Die Demolierung von zwei Millionen Autos fordert einen schaurigen Preis. Der Aufschrei der gerechten Empörung, der durch das Land hallt, ist jetzt gesättigt mit tiefer Befriedigung, denn 14 »Täter« blieben auf der Strecke. Die Bürgermilizen waren wachsam. Lynchjustiz: in Frankfurt alleine drei Gelynchte. Der kurze Prozeß ohne viel Federlesens. Über 700 Schwerverletzte. Den Banditen müsse das Handwerk gelegt werden, endgültig, ruft der Volkszorn und trifft auf viel, auf sein Verständnis. Notwehr! Etwa 1200 Verhaftungen.

In den Redaktionsstubenwerden jetzt wütende Kommentare verfaßt, sie werden morgen zu lesen sein. Rundfunk und Fernsehen speien Empörung. Die Mienen der Kommentatoren staatstragend, die Stimmen pädagogisch unerbittlich:

Die berechtigten Anliegen des Umweltschutzes erforderten das Argument der Vernunft und der Überzeugung, mit der Gewalt des Faustrechts gehe es nicht. Der Rechtsstaat, die Demokratie, die wehrhafte Demokratie! Erst die sozialistischen Gewalttäter der siebziger und achtziger Jahre, jetzt die fanatischen Umweltschützer. Die radikale Minderheit. Dem Umweltschutz Bärendienste geleistet, die Gefaßten der gerechten Strafe zuführen. Zwecks Abschreckung, ein für alle Male. Die Täter sind keine Opfer, sondern selber schuld. Opfer sind die Täter.

Widerlich, zum Kotzen, deprimierend. Das Hätschelkind dieser Industriekultur muß geschützt werden, koste es, was es wolle. Und es kostet die Zukunft, schon die unserer Kinder. Freuds Hoffnung in die »leise Stimme der Vernunft« — Automobilklubs und Pkw-Hersteller rufen fast zum Bürgerkrieg auf.

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22. Dezember 2000, Mitternacht

Mitternacht, wieder etwas beruhigt, trotz der inneren Vibration. Tina konfrontierte mich mit der Frage, meinen Job in der Redaktion aufzugeben, um frei zu sein. Wir würden schon durchkommen. Freier Schriftsteller? Wo sollte ich denn publizieren? In den Heftchen und Flugblättern der Ökobewegung für ein Vergelt's Gott? 

Freilich, diese ständigen Kompromisse des »seriösen« Journalismus, das Sowohl-als-Auch, das Einerseits und Andererseits. Das Vortäuschen von Alternativen und Perspektiven. Das Einebnen der Widersprüche, das Wiegenlied der Vernunft. Alle großen Journalisten dieses Jahrhunderts waren Radikale, unerbittliche, zornige, auf die öffentliche Meinung pfeifende Einsame, »Unseriöse«: Karl Kraus, Maximilian Harden, Alfred Polgar, Carl von Ossietzky, den sie umbrachten, Kurt Tucholsky, der sich das Leben nahm, Egon Erwin Kisch, den die Barbarei des Ersten Weltkriegs an den Rand der Verzweiflung trieb und zum Kommunisten machte.

Mag sein, daß die Ökobewegung mit Provokationen wie dem »Carfighting« über die Stränge schlägt, mag sein, daß die Toleranzgrenze überschritten, der Bogen überspannt ist, die Normen verletzt sind. Aber was besagt dies? Daß das normengerechte Verhalten nicht mehr genügt, weil die Natur ihre eigenen Normen hat. Wer überleben will, muß sich diesen Normen anpassen. Das ist eine Vorbedingung der Vernunft, aller Vernunft, denn gegen die Natur gibt es keine. Und das Automobil ist eine Norm des Menschen, aber ein Feind der Normen der Natur. Daher ist es ein Feind der Vernunft.

Die Gelynchten des gestrigen Sonntags sind Märtyrer, denn das Auto ist ein libidinöses Objekt, wie es Sexualpartner, Götter oder Glaubensinhalte auch sind. Sie werden geliebt. Daher kann es keine kommunikative Verständigung geben: Eine banale rationale Einsicht wird nie eine Glaubensüberzeugung erschüttern oder ein sexuell-libidinös besetztes Objekt entwerten. Man tötet nicht aus Einsicht, sondern aus Glaubens­überzeugung, also aus Haß. Es wird noch viele Märtyrer geben.

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Die Einsicht der Ökobewegung wird von Angst angetrieben, einer Realangst freilich, die sich rational begründen kann. Die Schwäche der rationalen Wahrheit: Sie setzt sich gegen die soziale Wahrheit nur mühsam durch, nur um den Preis von Opfern.

700 Millionen Pkws auf dieser Welt, Tendenz rapide steigend, und jeder bläst in einem Jahr sein Gewicht an CO2 in die Luft. Die Zuwachsraten übersteigen die Bemühungen um schadstoffärmere Motoren bei weitem.

Die Einsicht ist nicht zu vermitteln, daß die Evolution das Auto nicht vorgesehen hat und das Öko-System daher nicht auf es eingestellt ist. Doch es hat den Anschein, als wolle man das Öko-System zwingen, das Auto zu tolerieren und zu integrieren. Die stupide Konfrontation der Kultur gegen die Natur wird hier am augenscheinlichsten.

Für die Annahme dieser Wahrheit protestiert die Minderheit der Umweltschützer. Einsicht schafft Unlust und bewirkt Abwehr, weil sie zur Individualität zwingt. Wo einer reflektiert und nachdenkt, verläßt er die wohlige Sicherheit der Massennormen und des Über-Ich. Er sieht sich mit persönlicher Verantwortung konfrontiert und mit seinem Gewissen.

Der Widerspruch der zur bloßen Formalität geschrumpften Demokratie im Zeitalter der Massenkultur. Ihre Idee setzt voraus, daß die Mehrheit eher als die Minderheit in der Lage sei, das Richtige zu erkennen oder eine Fehlentwicklung zu korrigieren. Das erweist sich als Irrtum. Rationale Wahrheit und Vernunft ist kein Privileg der Mehrheit, eher eines der Minderheit. Daher ist das Verhalten der Mehrheit vernunftwidrig. Der formalen Organisation und Institutionalisierung der demokratischen Idee ist es nicht gelungen, heute weniger denn je, die Vernunft der Minderheiten zu integrieren. Sie läßt ihr zwar theoretisch die Chance, mehrheitsfähig zu werden, aber die gesellschaftlich-politische Praxis sieht anders aus. Dort wird sie zwischen den Mühlsteinen der widerstreitenden Interessen zermahlen und — bestenfalls — zum Kompromiß gepreßt, der dann als »eigentliche« Vernunft gepriesen wird.

Die soziale Wahrheit kann nur relativ sein. Doch die Evolution und die Natur sind keine Relativa, sondern Absoluta, weil sie auf Gesetzlichkeiten beruhen, die der Mensch nur akzeptieren und anwenden, nicht aber verändern kann.

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Daher sind die Naturgesetze absolut: Man kann mit ihnen keine Kompromisse schließen. Das Gravitations­gesetz oder der zweite Hauptsatz der Thermodynamik lassen sich nichts abhandeln, ebensowenig die noch längst nicht verstandenen chemophysikalischen Zusammenhänge, die das globale Klima in seiner fragilen Balance halten.

Wir verwechseln die Toleranzbreite der Natur und die Reaktionsträgheit ihres Öko-Systems mit Kompromiß­fähigkeit und mit unbegrenzter Belastbarkeit. Die Toleranzspanne ist aber lediglich ihre Regenerationsfähigkeit. Sie kann Schäden ausgleichen und Wunden schließen, die ihr der Mensch antut. Doch nicht unbegrenzt. Aber eine Wachstumskultur kann keine Grenzen akzeptieren. Dabei sind Grenzen und Begrenzungen die unabdingbaren Voraussetzungen für das Funktionieren eines jeden Systems und für die Einheit des Ganzen. Die unbegriffene evolutive Vielfalt der Natur als Gesamtorganismus wurde nur möglich, weil jeder Art und jedem System Grenzen gezogen sind.

Die Kultur ist uns zur zweiten Natur geworden. Daraus ziehen wir den Schluß, als sei diese zweite Natur ebenso absolut wie die erste, als seien die Gesetze der Industriezivilisation und ihrer Ökonomie gleichwertig den Naturgesetzen. Der tragischste Irrtum unserer Kultur! Die verabsolutierten ökonomischen und zivilisatorischen Gesetze relativieren die unveränderbaren Naturgesetze nur in der Vorstellung des Menschen. Gäbe es intelligente Wesen irgendwo im Kosmos, sie müßten Mitleid haben über so viel Unvermögen der Erdbewohner, die Voraussetzungen ihrer Existenz zu erkennen und nach ihren Bedingungen die Kultur zu entwickeln.

Die Verabsolutierung der Zivilisationsgesetze wird mit Sachzwängen verwechselt, die freilich teilweise auf fatale Art objektiv geworden sind. Eine unaufhaltsam wachsende Menschheit bedarf einer wachsenden Ökonomie. Die Selbstentfremdung des Menschen von sich selbst bedarf des wuchernden Konsums. Die Grenzen sind in der Tat längst überschritten. Alea iacta est. Jeder Versuch, um der Vernunft, daß heißt der Selbsterhaltung willen, hinter sie zurückzukehren, wäre nur noch um den Preis unvorstellbarer Katastrophen möglich.

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Eine Reduktion des verhängnisvollen Wachstums um des Erhalts des Ökosystems wegen hätte die sofortige Reduktion der Menschheit zur Folge. Vier Fünftel der Menschheit sind überflüssig, sind Ballastexistenzen. Wer wollte das verantworten, vor allem: wer wollte sich dazuzählen?

Strukturwandel? Paradigmenwechsel? Es geht darum, die Relativität der Gesetze, auf denen unsere Industriezivilisation beruht, zu erkennen und den objektiven Naturgesetzen anzupassen, denn die Naturgesetze sind stärker. Eine Konfrontation mit ihnen ist sinnlos, sie führt in die Katastrophe.

Eine Minderheit hat dies erkannt. Ihr Kampf gegen die Stupidität der Mehrheit symbolisiert den Antagonismus der objektiven Naturgesetze mit den relativen Gesetzen des ökonomischen Systems. Es ist der Antagonismus der dem Menschen möglichen objektiven Wahrheit gegen die soziale Wahrheit. Nur ist die soziale Wahrheit immer stärker. Glaube und Überzeugung sind einfach, sie stiften Kollektivität. Einsicht ist schmerzlich, sie individualisiert. Freuds Hoffnung, daß sich am Ende doch »die leise Stimme der Vernunft« durchsetzen werde, trügt bislang. Und sollte sie sich durchsetzen, droht sie, zu spät zu kommen.

Die Verletzung der breiten Toleranzgrenze der Naturgesetze, des Spielraums für menschliche Kreativität, zieht eine unerbittliche Konsequenz nach sich: die Irreversibilität, das Nicht-mehr-ändern-Können, das Zuspät. So geraten wir zwischen die Mühlsteine doppelter Sachzwänge. Was immer als Lösung angestrebt werden sollte, es wäre falsch.

Wenn sie jetzt die Umweltschützer und Autodemolierer verhaften, verhaften sie letztlich die Vernunft, die sich in ihrer Angst und in ihrer Verzweiflung radikalisiert hat.

 

23. Dezember 2000

Es schneit seit zwei Tagen, ein starker Wind jagt die tiefhängenden, drohend schwarzen Wolken röhrend über das erbleichende Land. Die Temperatur dabei weit unter dem Gefrierpunkt, der Luftdruckmesser bis zum Anschlag gefallen. Jede Stunde Sturm­warnungen. Habe ein flaues Gefühl im Magen. 

Georg Christoph Lichtenberg: »Die Physik der Atmosphäre ist Weltgeschichte.« 
1778! Werden wir wieder Zeugen eines weltgeschichtlichen Aktes?

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Weihnachten 2000

Beide Türme des Kölner Doms eingestürzt, der eine begrub den Hauptbahnhof unter sich. Lähmendes Entsetzen mauert das Land ein. Angesichts dieses Menetekels der Gottesferne verblassen die Verwüstungen des Orkans. Die Ankunft des Heilands wird zum Jüngsten Gericht. Die Krippe von Bethlehem ist leer. Und am Kreuz ist nicht der Gottessohn gestorben, sondern wir werden daran hängen. Wir bereiten unsere Selbstkreuzigung vor.

Es ist, als seien die Elemente der Natur explodiert. Europa liegt unter meterhohem Schnee begraben, Eiseskälte, minus 16 Grad. Ein Blizzard von infernalischer Wucht. Das stundenlange Wüten hatte etwas Sadistisches, Unbarmherziges an sich, wie unverhohlene Rachsucht, Vergeltungsdrang, Zerstörungslust. Der unerbittliche Beweis des Stärkeren.

Und jetzt diese antiquierte weihnachtliche Stille. Grabesstille. Die Fenster im Parterre sind zugeschneit, kein Gedanke, die Haustüre zu öffnen. Der Schnee und die gute Isolierung des Hauses halten die Temperaturen auf einem erträglichen Niveau. Stromausfall. Vollständig von der Außenwelt abgeschnitten, das totale Gefängnis. Vom Arbeitszimmer aus der Blick in eine fremde Welt: weite, weiße, glitzernde Flächen, in denen Häuser und Bäume stecken, als sollten sie erstickt werden. Darüber wölbt sich ein tintenblauer Himmel. Die Schneewehen reichen teilweise bis an die Dächer. Der Nordhang des Schläferkopfs - bis vorgestern noch dicht bewaldet - sieht aus wie zur Skipiste geschoren. Die Fichten und Buchen sind zusammengebrochen und begraben. Auch in den Wäldern auf der Platte riesige weiße Leintuchflächen.

Sylvie und Andreas blinzelten mit offenen Mündern auf diese veränderte Welt hinaus, erstaunt und stumm vor Angst. Das leuchtende Weiß schmerzt in den Augen. Tina versucht, ihnen zu erklären, was da in der Nacht geschehen sei.

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Sie fassen es nicht. Am Ende fängt sich die Aufmerksamkeit der beiden an einer Kohlmeise, die nervös und offenbar immer noch verwirrt zwischen den Dornen des Kletterrosengestrüpps herumturnt. Das einzige Lebewesen weit und breit! Er rührt uns an, dieser kleine, zähe Vogel. Unbegreiflich, wie er dieses Inferno hat überstehen können. Tina streut ein halbes Päckchen Müsli-Körner auf ein Teebrett und drückt es auf die Spitze der Schneewehe, die fast bis an das Fenster reicht. Nach und nach finden sich einige der gefiederten Gesellen ein, doch es sind ihrer nur wenige. Aber es wird ein recht munteres Treiben.

Die geniale Idee des Christus-Mythos, den Gottessohn auf die Welt kommen zu lassen, damit er für die Unzulänglichkeit des Menschen sterbe und so die unfertigen, daher widersprüchlichen Hälften des menschlichen Seins versöhne. Wer immer sich diesen Mythos ausgedacht haben mag, er hat mehr geahnt und war der Wahrheit viel näher als die späteren professionellen Interpreten. Das Töten und Essen des zur Welt gekommenen Gottes, die Eucharistie - ein uralter Mythos der frühesten Jäger- und Pflanzerkulturen, ein Archetypus der Religionen. Osiris, Dionysos, Christus. Abgeltung für die Schuld, um des Erhalts des Lebens willen töten zu müssen. Die Angst vor der menschlichen Aggressivität ritualisiert sich als Akt der Befreiung von Schuld im Töten und Verspeisen des sich als Opfer anbietenden, gleichzeitig vergebenden Gottes. Denn Opfertod und Wiederauferstehung des von Menschenhand Getöteten bewirken neues Leben, dessen sich der Mensch in Maßen bemächtigen darf.

In jedem Menschen wiederholt sich der Antagonismus der Industriezivilisation und der Natur, die doppelte Genesis. Das Ergebnis ist der sich selbst entfremdete, neurotische Charakter, der leibhaftige Widerspruch. Die Evolution hat nicht bedacht, daß die Faktoren, die zur Menschwerdung beitrugen, zu einem sich selbst verstärkenden Regelkreislauf werden würden, der nur ökonomistisch-industrielle Wucherung hervorzubringen vermag. Der Mensch ist im evolutionären Sinne halbfertig und im religiösen daher unversöhnt und unerlöst. Dennoch hat er seinem Schöpfer das Werk aus der Hand genommen. »Laß mich mal, Alter, ich kann es besser.«

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Über den Fortgang und das Ergebnis der zweiten Menschwerdung entscheidet er, der Mensch, nicht die Evolution und auch kein metaphorischer Schöpfer. Und der ließ es zu, er mutete dem Menschen zu, das Werk zu vollenden, in seinem Sinne: den Widerspruch zu versöhnen, Verstand und Trieb, Bewußtsein und Unbewußtes, Geist und Körper, Vernunft und Wollen, Sollen und Sein in Einklang zu bringen. Die Voraussetzungen wären gegeben: die Freiheit des Wollens.

Die Verfasser des Christus-Mythos müssen dies geahnt haben. Es lag nahe, die Gebrochenheit und Unfertigkeit des Menschen als Sünde zu interpretieren. Selbstverschuldete Unmündigkeit. Noch näher kamen sie der Wahrheit, als sie eine Ursache für dieses Dilemma im Griff nach der Frucht am Baum der - falschen - Erkenntnis sahen: sich als Krone der Schöpfung zu wähnen, als Vollendete, ehe die mühselige Arbeit an sich selbst vollendet war. Die Idee der Versöhnung des Menschen mit Gott durch Töten und Essen des Gottes, der mit seinem Opfertod zur Grundlage des Lebens wird, ist nichts anderes als die Vorstellung der Versöhnung des Menschen mit der Evolution. Phylogenese und Ontogenese, Natur und Kultur, Körper und Geist, Leib und Seele, Trieb und Bewußtsein wären harmonisiert. Der sechste Schöpfungstag dauert also noch an, doch jetzt ist es der Mensch, der über sein Gelingen entscheidet. Und es sieht nicht gut aus.

Der Blick aus dem Fenster macht es klar: Angesichts der unaufhaltsamen Zerstörung der Schöpfung durch den Menschen hat keine Institution so versagt wie die christlichen Kirchen, nicht einmal die Industrie und Unternehmensverbände. Sie haben das Wort mehr schlecht als recht verwaltet und im übrigen den Christus-Mythos nicht verstanden. Denn die Unversöhntheit des Menschen mit der Evolution ist auch ein Unversöhntsein mit Gott. Gott ist umsonst gestorben. Die gesamte Industriezivilisation steht in Konfrontation mit der Schöpfung, also mit Gott, 120.000 oder gar 150.000 Arten sind schon ausgerottet, jeden Tag verschwinden 80! Und das Ausrotten von Menschenhand geht unaufhörlich weiter und wird immer schneller. Die Schöpfung schrumpft - unter den Augen Gottes. Das haben die Verfasser der Genesis und des Christus-Mythos als Sünde und Gottessferne verstanden.

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Wenn ich in ohnmächtiger Angst aus meinem Fenster auf die weiße Sintflut blicke, wird mir klar, daß die Chance einer Versöhnung weiter entfernt ist denn je. Vielleicht unwiederbringlich vertan. Der sechste Schöpfungstag bricht ab. Die Offenbarung des Weihnachtsfestes 2000.

2. WEIHNACHTSTAG 2000

Immer noch Stromausfall. Wir sind zurückgeworfen auf einen vorindustriellen Standard. Sogar noch weiter zurück: Wir können nicht einmal Feuer machen, um zu kochen oder zu heizen. Immer noch unter 10 Grad. Was machen die Menschen in schlecht isolierten Wohnungen? Fernsehen und Rundfunk sind tot, Kommunikation mit der Außenwelt nur über Funktelefon. Wenigstens das ist geblieben. Erfahre von der Telefonansage und von Freunden, daß Feuerwehr, Polizei, Rotes Kreuz und Technisches Hilfswerk mit Hubschraubern und Skiern unterwegs seien. Der Notstand soll ausgerufen sein.

Einige Hunderttausend stecken irgendwo auf den Straßen in ihren Autos, begraben von meterhohem Schnee, erschlagen von umgestürzten Bäumen. Das gesamte technische Rettungsinstrumentarium versagt. Nicht einmal die Planierraupen oder die Panzer der Bundeswehr kommen voran. Vereinzelt rattert ein Hubschrauber im Tiefflug über uns hinweg. Bescheidenes Signal, daß man sich um Hilfe bemüht. Fast die einzige Möglichkeit. Die Rotoren wirbeln den Schnee auf, so daß die Retter auf die Dächer der eingeschneiten Autos springen können.

Welch grauenhafte Schicksale werden sichtbar werden, wenn dieses Leichentuch fortgezogen wird. Aber was werden die Folgen sein, wenn dieses Schneegebirge in drei, vier Tagen zu schmelzen beginnt? Ein plötzlicher Wärmeeinbruch, und das Inferno gebiert ein zweites, womöglich noch schrecklicheres. Wir werden wie Ratten ersaufen. Durch das Land werden alles zermalmende Ströme toben, Brücken, Straßen, Gleise mit sich fortreißend, die gesamte Infrastruktur Europas wird vernichtet, in wenigen Tagen. Nicht daran denken!

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Der ungestüme Drang zu beten. Der Griff nach dem Strohhalm. Seltsam, wie schmerzhaft die eigene Existenz zu Bewußtsein kommen kann. Ich lasse Tina nicht los und sie mich nicht. Die Vergewisserung der Anwesenheit des anderen ist Vergewisserung der eigenen Existenz. Den anderen nur berühren, der zitternde Pulsschlag ist an jeder Stelle zu spüren. Angst steigert Liebe. Liebe schwächt Angst.

Sylvie und Andreas liegen auf dem Bauch und spielen mit unbegreiflicher Konzentration. Sie führen Selbstgespräche und schaffen sich ihre eigene Realität. Dieses Nichtbegreifenkönnen provoziert, tröstet aber auch. Die Tanne aus Hartpappe (und täuschend ähnlich) strahlt im Glanz der Kerzen, die fast das ganze Haus heizen.

Der Weihnachtsbaum, ein absurd gewordenes Symbol, überholt von der Wirklichkeit. Seine Zeit ist zu Ende. Nach knapp 300 Jahren hat er als Zeichen der immergrünen Hoffnung ausgedient. Er ist längst zum Symbol des Sterbens geworden. Gefühlsduselige, makabre Nostalgie, dieses Hoffnungssymbol in recyclebarer Plastik und Pappe zu retten. Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum, du bist so rasch ausgestorben.

Wenn ich Sylvie und Andreas beim Spielen zusehe, wird mir die Elterngeneration zum Rätsel. Jetzt, da sie sich allmählich aufs Altenteil zurückzieht, wird deutlich, daß sie sich so verhalten hat, als wäre sie die letzte auf Erden. Aufgewachsen im Zweiten Weltkrieg oder in den Jahren danach, hatte sie alle Chancen, eine bessere Welt zu schaffen, frei von Krieg und Angst und Not und Elend der Welt der Großväter. Eine Welt der gesellschaftlichen und internationalen Solidarität. Aber die Söhne von damals haben sich von ihren Vätern die pathologischen Gesetze der Raubzivilisation und Wegwerfgesellschaft aufdrängen lassen. Die Schätze und Ressourcen dieses Planeten werden geplündert, um sie rasch wieder als giftigen Müll zu »entsorgen«, das heißt zu verdrängen. Müllverdrängung oder das Gesetz der Entropie, das Wort der Physik für Tod! Der grüne Baum stirbt auch für bunte Verpackungen und Einwickelpapier, Servietten und Schneuztücher.

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Wie besessen hat diese Generation gearbeitet, aufgebaut, Werte geschaffen, Erfolg gehabt - und gleichzeitig zerstört. Erfolg ist Zerstörung. Kultur kontra Evolution.

Die geschichtliche Aufgabe, die auf die Generation von Sylvie und Andreas wartet, ist, die Tradition der Generationenkette zu zerreißen. Und wir sollten ihr dabei helfen. Die wirksamste Form des Umweltschutzes: Keine Kinder mehr in die Welt setzen, die Menschheit reduzieren auf ein ökologisch erträgliches Maß. Die Menschheit muß sich selbst entsorgen; überflüssige Biomasse. Die wirksamste Abfallentsorgung ist die Müllvermeidung.

 

27. Dezember 2000

Strom - endlich! Rundfunk und Fernsehen funktionieren wieder. Die Isolation war allmählich unerträglich geworden. Kommunikation stellt Gemeinschaft her, auch wenn im Internet noch heilloses Durcheinander herrscht. Man ist doch nicht allein auf der Welt, die anderen sind auch noch da! Auch Entsetzen und Angst einen. Die schrecklichsten Informationen sind besser als die Ungewißheit. Das Ausmaß des Desasters wird vorstellbar, wenn auch nur allmählich. Etwa zwei Millionen Autos waren an Heiligabend unterwegs gewesen, trotz der Warnungen und der sich abzeichnenden Katastrophe. Etwa 800.000, so schätzen Polizei und ADAC, blieben stecken und wurden eingeschneit. Erst die Hälfte ausgegraben, über 200.000 Tote geborgen. Bisher! Und nur in Deutschland.

Die größte Katastrophe, die Europa je heimgesucht hat, seit es kulturelle Zeugnisse und Anhaltspunkte gibt. Sogar die Erdrutsch­katastrophe in den Alpen dürfte überboten worden sein. Die Natur hält Schritt mit unseren Produktionsrekorden.

Was ist nur los mit mir? Warum berühren mich diese Zahlen so wenig? Das statistische Ausmaß dieses Desasters geht mir nicht unter die Haut. Begreife ich es nicht? Läßt mich meine Phantasie im Stich? Oder habe ich mich innerlich bereits auf diesen unheimlichen Prozeß eingestellt? Anpassung durch Angstabwehr. Adaption an die Apokalypse als Anpassung an den Prozeß künftiger Normalität? Dieser Anpassungsprozeß dauert immerhin schon 30 Jahre.

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Funk und Fernsehen geben praktische Ratschläge für das Überlebenstraining. Einer der praktischsten: Tote möglichst ins Freie legen. Die Behörden weisen auf die Dringlichkeit sofortiger Benachrichtigung hin. Hubschrauber würden Plastiksäcke in erreichbarer Nähe oder auf Hausdächern absetzen. Seuchengefahr, trotz der eisigen Temperaturen.

Halten telefonischen Kontakt zu unseren Nachbarn. Thönnessens Vater ist an einem Herzinfarkt gestorben, das Dach bei Danneckers ist eingedrückt worden.

Die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten wird nachgeholt. Da sie Tage zuvor aufgezeichnet wurde, wirkt sie grotesk und lächerlich, wie Hohn. Der erste Mann des Staates wünscht uns eine besinnliche Weihnacht. Innere Einkehr, Nachdenken über die Grenzen, die dem Menschen gesetzt seien. Das Machbare dürfe nicht mehr unreflektiert gemacht werden. An die Menschen in der Dritten Welt denken, an die geschundene Natur denken. An uns denken, vor allem, damit wir uns weiterentwickeln, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Nachdrückliche Empfehlung, bewußt Maß zu halten und Spaziergänge in die Natur zu unternehmen. Augen offen halten für die Schäden und zu unserem Tun in Beziehung setzen. Reflektieren! ruft uns der Bundespräsident zu. Jeder einzelne müsse sich seiner Verantwortung bewußt werden. Der Staat könne nicht alles leisten. Bewußtsein und die grundlegenden Normen seien ein gesamtgesellschaftlicher Prozeß, in den sich jeder einzelne einzubringen habe. Sie könnten nicht vom Staat entwickelt und vorgegeben werden. Wenigstens auf diesem Gebiet müsse die allgemeine Versorgungserwartung durchbrochen werden. Der Staat dürfe die Bürger nicht auch noch mit Verhaltensnormen versorgen. Er könne nur dann seiner Aufgabe gerecht werden, wenn der Wille zu Veränderung und Reform von den Bürgern ausgehe. Nur dann könne der Antagonismus sich widerstreitender Interessen durchbrochen werden.

Makabare Symbolträchtigkeit: Die Realität ist dem Reden und Denken von Politikern immer ein Stück voraus.
   
Übrigens — die Bundesregierung hat den Notstand ausgerufen. Bereits am 25. Dezember.

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28. Dezember 2000

Erfüllt sich jetzt der bittere Rest? Wärmeeinbruch, fünf Grad über Null, Südwind. Tauwetter. Die Schneemassen drohen sich in ein Meer zu verwandeln. Wenn es jetzt auch noch regnen sollte...? Die Natur spielt verrückt, weil wir sie ihrer Vernunft beraubt haben, ohne selber Vernunft zu besitzen.
Mein Kreislauf stottert und drückt mich nieder. Das Atmen fällt schwer. Gefühl der Übelkeit.

 

29. Dezember 2000

Den Tag mit ängstlichem Warten zugebracht. Das Fernsehen zeigt keine Bilder von der Situation draußen. Notstandsrecht, Panik soll vermieden werden, Zensur. Ist es so schwer, sich Autos vorzustellen, die der tauende Schnee langsam freigibt? Wer sollte überlebt haben? Die zahllosen Erfrorenen. Wo sind alle die Flugzeuge geblieben, die über Europa von dem Blizzard überrascht wurden oder nicht landen konnten? Über 400 steckengebliebene Züge, mehrere von ihnen offenbar entgleist. Was ist mit den Passagieren? Wie überlebt man drei Tage bei 16 Grad minus?

Die Meteorologen haben offenbar die Daten nicht richtig deuten können. Sie haben zwar gewarnt, aber dieses Ausmaß des Desasters war schlicht nicht vorstellbar. Sie haben sich trotz der Daten und Fakten auf die bisherigen Erfahrungen verlassen: Selbst die schrecklichste Katastrophe hielt sich in einem noch vorstellbaren Rahmen. Sind wir jetzt Zeugen eines noch nicht dagewesenen klimatischen Prozesses? Wie konnte es möglich sein, daß in acht Stunden drei Meter Schnee auf die Erde stürzen - und bei dieser Kälte?

An den Paterrefenstern kann man sehen, wie der Schnee langsam absinkt. Das Gefühl, in einem auftauchenden U-Boot zu sitzen.

Der Keller muß abgesoffen sein. Das Dach der Garage wird allmählich wieder sichtbar.

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30. Dezember 2000

Es regnet nicht, noch nicht, und die Temperaturen steigen nicht über fünf Grad. Ein gnädiges Geschick scheint Nachsicht zu haben. Tina und ich sind mit den Nerven am Ende. Wir verabreden, uns gegenseitig auf Halluzinationen hinzuweisen, wenn der eine glaubt, solche am anderen wahrzunehmen.

Ich kann mich des Eindrucks nicht mehr erwehren, daß es ein denkendes Wesen gibt, das uns eine letzte Warnung hat zukommen lassen. Die Eskalation dieser Warnungen ist unverkennbar. Sie wurden immer eindringlicher, inständiger, fast flehentlich, dann immer härter, immer grausamer, immer brutaler, immer umfassender. Dennoch wirken diese Warnungen dosiert, als folgten sie einer pädagogischen Absicht. Tina meint, das wären keine Halluzinationen, sondern eine Form von Sensibilität. Vielleicht hat ein so kluger Kopf wie James Lovelock doch recht: Die Erde als ein Gesamtlebewesen. Die Mutter Gaia. Aber ist sie auch eine liebende Mutter oder nur eine unerbittlich korrekte? Immerhin, Geduld hat sie bisher mit ihren ungeratenen Jüngsten in reichlichem Maße gezeigt.

 

31. Dezember 2000

Sylvester. Das Tauwetter hält an, aber gewissermaßen abgebremst und kontrolliert. Überall zwar »Land unter«, aber kein Absaufen, wie es zu befürchten gewesen wäre. Der Kelch geht vorüber, der bittere Rest muß - noch - nicht getrunken werden. Zwischen den Büschen die ersten Schneeglöckchen. Letztes Jahr hatten sie gefehlt, jetzt wirken sie wie Verkünder einer frohen Botschaft: alles in Ordnung, alles normal. Kein Grund zur Aufregung. Hurra, wir leben noch!

Der Schrecken der letzten Tage sitzt tief. Das Trauma lastet bleiern über dem Land. Die totale Ohnmacht der Industriezivilisation ist vorgeführt worden, unter Ausnutzung aller ihrer organisatorischen und technischen Mittel taugt sie im Moment nur dazu, die Masse der Toten zu beseitigen und die Verletzten halbwegs zu versorgen. Doch die Grenzen des Machbaren sind erreicht.

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Ein Gefühl des Abgestumpftseins, Ergebnis aus Angst und Ohnmacht. Jeder ist sich selbst der Nächste. Wie es Hegel bereits wußte: Jeder ist sich selbst alles, der andere ist nichts. Dieses uralte moralische Urteil über den Menschen hat ihm die Betrachtung der bürgerlichen Ökonomie vermittelt, in der nur das Gesetz herrsche, der Verstand, nicht aber die Vernunft. Die bürgerliche Gesellschaft als ein Tierreich, das sich zerfleischen würde, wenn ihm nicht die Vernunft in Gestalt des Staates übergestülpt würde. Doch da irrte er gleich doppelt: Tiere zerfleischen sich nicht, und der Staat kann nicht mehr an Vernunft organisieren, als die Summe der Bürger besitzt. Das aber ist zu wenig.

Die Gewißheit, die dieses Jahr gebracht hat: Wir haben keine Katastrophenereignisse erlebt, wir erlebten Katastrophenprozesse. Die beiden Lebenswelten des Menschen, Zivilisation und Natur, ohne die er nicht existieren kann, sind aufeinandergeprallt. Die Einheit des Seins ist auseinandergebrochen. Ein planetarischer Widerspruch, Fehlentwicklung der Evolution. Aber die Evolution korrigiert ihre Fehler erbarmungslos: Was sich ihr nicht anpassen kann, läßt sie aussterben. Franz von Assisi kam der Wahrheit am nächsten:

Nicht vor Gott, dem strengen Vater, wohl aber vor der Evolution, der Mutter, sind alle Lebewesen gleich, die Amöbe wie der Mensch. Für alle gelten die gleichen Gesetze: Existenz nur im Kontext mit der übrigen Schöpfung, nicht gegen sie. Bei Unfähigkeit zu einem solchen Verhalten ist auch die Sanktion für alle gleich: Verschwinden, Aussterben.

Haben wir den Rubikon überschritten? Ist Umkehr noch möglich? Oder gibt es kein Zurück mehr? Die Hoffnung, diese Zivilisation mit ihren wuchernden Produktionssystemen könne sich noch reformieren und der Natur anpassen, erweist sich von Tag zu Tag und immer rascher als Irrtum. Es gibt kein Sowohl-als-Auch, sondern nur ein Entweder-Oder. Entweder zurück zur Natur, oder... Entweder die Sachzwänge der Gesellschaft oder die Sachzwänge der Biosphäre. Die Chancen für einen Kompromiß sind vertan. Die beiden Lebenssphären sind nicht mehr miteinander auszusöhnen.

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Die Zivilisation kann nicht mehr umweltfreundlich, nicht einmal umweltverträglich reformiert werden.

Jean-Jacques Rousseau, der Schwärmer. Er konnte nur die moralisch-anthropologische Wahrheit formulieren: Wissenschaft und Kultur verdürben den Menschen als sittliches Wesen. Die biologisch-physikalische Wahrheit kam zu spät: die Unvereinbarkeit der Industrie­zivilisation mit der Komplexität der Natur. Zur Zeit Rousseaus wurden die Weichen gestellt. Die Menschheit entschied sich für den falschen Weg.

150 Jahre lang war es eine Tragödie: Der Mensch konnte die Folgen seines Tuns nicht erkennen. Es war leichter, Fabriken und Maschinen zu bauen, als die vernetzte Komplexität der Natur zu begreifen. Aber seit 50 Jahren ist aus der Tragödie eine Narrenposse geworden. Jetzt wissen wir, daß wir auf den Abgrund zulaufen. Doch wir laufen weiter und nennen diese Mechanik Fortschritt. Was in einer Milliarde Jahren entstanden ist, wird in 200 Jahren zerstört. Eine grandiose Leistung auch dies! Nur - die Biosphäre wird sich regenerieren, aber ohne uns. Das ist ihre Voraussetzung.

Die Menschheit, der Mensch? Es war der Mann, der das ökologische Desaster geschaffen hat. Die Frau fehlte ja bei der Gestaltung der Welt. Die Industriezivilisation ist die technische Realisierung des Patriarchats. Eine entsinnlichte Raubzivilisation, die alle männlichen Tugenden widerspiegelt: Wagemut, Unternehmergeist, Rationalität, Logik, Zupacken, Aggressivität, Einreißen, Zerstören, Stärke, Machtbewußtsein, eigene Schwäche und andere Schwache eliminieren, Ausbeutung, Hierarchie, Gehorsam, Befehl, Unterdrückung, Tapferkeit, Zähnezusammenbeißen, Gefühle verachtend, Kampf, Ausschalten, Töten.

Das phylogenetische Erbe des Mannes, das durch die Sozialisation nicht gemildert werden konnte! Die Selbsttäuschung der sozialen Utopie. Die zweite Menschwerdung der Ontogenese ist gescheitert. Der banale Irrtum Sigmund Freuds: Es liegt kein Vatermord vor, der die Söhne schuldbewußt hätte aufs Knie sinken lassen, um den Erschlagenen in den Rang eines Gottes zu erheben. Kein Ödipuskomplex, es verhielt sich umgekehrt: Der Mann hat die Mutter ermordet! 

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Als er vor 10.000 Jahren seinen Zeugungsbeitrag entdeckte, hat er die Mutter, das mütterliche Prinzip entmachtet, vor deren ungeheuren, autonomen Kreativität er jahrmillionen-lang sich demütig staunend gebeugt hatte. Die Erkenntnis muß ein Triumph des männlichen Narzißmus gewesen sein:

Die Frau und Mutter bringt das Leben nicht selbst und eigenständig aus sich hervor, sondern nur dank des männlichen Samens, den sie zuvor empfangen haben mußte. Der Sexualakt, bis dahin ein zweckfreier Akt der puren, sinnlich-sinnlosen Lust, wurde dem planenden Gestaltungswillen des Mannes unterworfen. Er entschied, ob und wann Nachwuchs gezeugt werden sollte - auch gegen den Willen der Frau. Ist es ein Zufall, daß diese triumphale Entdeckung zusammenfällt mit der Seßhaftwerdung, mit Ackerbau und Viehzucht, mit dem eigentlichen Beginn der Kulturentwicklung? Der Mann war fortan die Krone der Schöpfung, die Frau nur Gefährtin, Geführte, Anhängsel, Besitz, Mittel zum Zweck. Mater, das Material. Die Sprache hat es konserviert.

Die Entmachtung und psychische Tötung der Frau und Mutter wurde in männlichem Analogieschluß auf die Natur übertragen: Die Mutter Natur war nur Dienerin, Gebärerin, willenlos Ausführende eines starken Willens. Ihre Besamer waren potente Götter-Männer und Gottväter. Das Patriarchat schuf sich seine Kosmogonie nach der vermeintlichen Potenz des Mannes.

Die Entmachtung und Tötung der Mutter wurde die innere Triebkraft des Kulturprozesses. Die Mutter Natur, Gaia, sank zur Hure des Mannes herab, wurde ausbeutbares Objekt, Ressource. Nun zeichnet sich der epochale Sieg des Mannes über die Mutter ab: Gaia liegt im Sterben. Aber sie wird nicht sterben. Wir haben uns überschätzt.

Und damit der Sieg des Mannes auch perfekt und unvermeidlich sei, wiederholt ihn jeder heranwachsende Junge in seiner Pubertät und nimmt ihn vorweg: Er löst sich von der Mutter - vom Vater gezwungen und aus Angst vor ihm -, reißt sich von ihr fort, verstößt sie, tötet sie in Gedanken aus Schuldgefühlen wegen des lustvoll phantasierten Inzests. Ohne diesen Muttermord kann ein Junge in einer patriarchalischen Welt kein richtiger Mann werden, er könnte keine Beziehung zu einer Frau aufnehmen.

Nur die Zurückweisung der Mutter, das ist Wärme, Zärtlichkeit, Gefühl, Spontaneität, Sanftheit, Fürsorge, Sprache, Emotionalität, garantiert, daß er die männlichen Tugenden übernehmen kann. Daß er töten lernt, zerstören. Ihre Väter töten die Söhne nicht, im Gegenteil sie identifizieren sich mit ihnen, den starken Aggressoren, die die Mütter besitzen und sie ihrem Willen unterwerfen.

Jetzt sind diese Väter dabei, uns um unsere Zukunft zu betrügen. Der Kulturprozeß muß umgedreht werden, indem sich die Söhne nicht mehr mit dem Vater identifizieren, sondern mit der Mutter. Die Mutter verinnerlichen, sie zumindest leben lassen. Das hieße, den Defekt, den die Evolution am Manne verschuldete, zu korrigieren. Die männlichen Tugenden zerstören, nur die weiblichen, mütterlichen können die Kultur noch erhalten. Wären Frauen in der Lage gewesen, eine Kultur zu schaffen, die Gaia, die Natur, zerstört? Die die Grundvoraussetzungen für Gebären und Leben vernichtet? Die Muttermilch vergiftet?

Staatstrauer, die Fahnen auf Halbmast. Kein Sylvesterrummel wie noch vor einem Jahr. Die Animateure sind verstummt. Für die Kinder hält das Fernsehen einen uralten Märchenfilm bereit, Schneeweißchen und Rosenrot. Sylvie und Andreas verfolgen gebannt das dramatische Geschehen. Am Ende wird sich der Bär in den Prinzen zurückverwandeln. Heile Welt.

Die Jahre zuvor pflegte ich um diese Zeit das Voß'sche Sylvesterlied zu schmettern: »Des Jahres letzte Stunde ertönt mit ernstem Schlag! Trinkt Brüder, in die Runde, und wünscht ihm Segen nach! Zu jenen grauen Jahren entschwand es, welche waren. Es brachte Freud und Kummer viel und führt' uns näher an das Ziel.« Statt dessen spielte ich zwei Bach-Sonaten, Tina begleitete mich auf dem Spinett. Beruhigend, dieser naive Glaube an Gott, der aus jedem Takt aufklingt. Als es Mitternacht wurde, schliefen die Kinder auf dem Teppichboden. Tina umarmte mich schweigend.

Wieder Sturmwarnung. Stündlich wiederholt. In den Morgenstunden soll niemand sich im Freien aufhalten. Neujahrsanfang! Prosit!

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