Nachwort 1990
356-357
Wesentliches braucht zum Nachwort 1985 nicht hinzugefügt zu werden — mit einer wichtigen Ausnahme: der unserem ökologischen Materialismus entsprechenden Interpretation der Ereignisse 1989/90. Gewiß, sie sind nicht weltbewegend in unserem Sinne. Sie betrafen und betreffen einen geringen Prozentsatz der Menschheit und des bewohnbaren Planeten. Dennoch: potentiell (und das heißt: bei ehrlicher Anstrengung) sind sie von einiger Wichtigkeit für unser Anliegen.
Der Zusammenbruch der Zweiten Welt (so läßt sich das Wichtigste dieser Ereignisse zusammenfassen) ist nicht der Sieg des Kapitalismus oder der Freien Marktwirtschaft, sondern der Tod eines dramatischen Konflikts, der die entwickelte Welt seit hundertfünfzig Jahren beschäftigte: der Konflikt zwischen zwei verfeindeten Konfessionen der Wirtschafts-Religion. Belege über die Ähnlichkeit, ja die fundamentale Gleichheit der beiderseitigen Katechismen sind in diesem Buch viele zu finden.
Das Dogma, das die Konfessionen dieser Religion überwölbt, ist die Anbetung der Produktions-Bedürfnis-Produktions-Spirale. Diese Spirale ist für beide Konfessionen die zentrale Offenbarung der menschlichen Geschichte; und wenn heute ein Amerikaner* behauptet, mit dem Zusammenbruch der Zweiten Welt ende die Geschichte, so illustriert dies nur die hohe transzendente Macht, die man dieser Spirale einräumt.
In Wirklichkeit endet die Geschichte so schnell nicht, den Gefallen tut sie uns nicht. Prompt zum Ende des Ost-West-Konflikts wird die erste ernsthafte Manifestation des künftigen Nord-Süd-Konflikts geliefert: der Konflikt am Golf. Wir werden noch viele und äußerst schmutzige Fortsetzungen dieses Serien-Dramas erleben.
Was unser engeres Anliegen betrifft, die Entfaltung der ökologischen Perspektive in den Herzen und den Strukturen: sehr viel weiter sind wir nicht, dergleichen geht verzweifelt langsam, zumal wenn handfeste Interessen-Strukturen im Wege stehen. Und der Konsument kauft in zunehmendem Maße Autos.
Andererseits: vielleicht wird noch vor Erscheinen dieses Buches die eine oder andere Offenbarung stattfinden. So etwa der absolute und totale Müllnotstand: der Taschenrechner, furchtlos bedient, läßt ihn unbedingt erwarten. Vielleicht die Wasser-Katastrophe: ist das Grundwasser einmal verseucht, wird es Jahrzehnte dauern, ehe es wieder genießbar wird — vorausgesetzt, wir finden den Mut und die Mittel dazu.
Vielleicht auch wird der ökologische Zustand Mittel- und Osteuropas es verhindern, daß der geplante Triumph der sogenannten Freien Wirtschaft auf den Ödnissen von der Elbe bis zum Amur stattfinden kann. Vielleicht haben wir schon die Kurve genommen, die uns (noch) die Sicht auf den Niedergang verstellt hat. Die Optionen sind erfreulich offen. Den famosen Lenkern unserer Geschicke allerdings dürften sie samt und sonders nicht gefallen ...
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München, Allerheiligen 1990, Carl Amery
*Buch von F. Fukujama, ca. 1994