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1. Januar 2020

Guha-1993

 

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Die Nacht hielt nur schweren Schlaf für mich bereit. Den Morgen mit Erleichterung begrüßt. Phänomenal, wie rasch der moderne Mensch apokalyptische Ereignisse wegsteckt. Nach wenigen Tagen schon pendelt sich die aufgewühlte Psyche wieder ein. Die raschen Wechsel und Veränderungen schaffen sich ihre eigene Stetigkeit, vor der das Gedächtnis allerdings versagt. Es kann nicht mehr festhalten und sich erinnern, nur noch in Lexikas und Kompendien nachschlagen.

Erinnerung braucht die Konstanz der Zeit, die Ruhe des sich nur allmählich Verändernden.  Ich könnte keines der drei wichtigsten Medien- oder außenpolitischen Ereignisse des Jahres 2017 aufzählen. Die letzten Jahre deuten an, daß dieses Jahrhundert eine Hochgeschwindigkeitsepoche werden wird.

Ein Wärmeorkan wie der letzte hätte die Menschen in früheren Epochen auch nach Jahren nicht zur Ruhe kommen lassen. Er hätte sich niedergeschlagen im kollektiven Gedächtnis der Generationen, in den Gebeten und Erzählungen der Alten, in Gedichten und in den Chroniken der Kirchbücher. Sie hätten ihn gedeutet und zu verstehen versucht. Eine Warnung Gottes? Eine Heimsuchung für sündige Verfehlung? Eine Prüfung für Gottvertrauen? Eine Gemeinheit oder ein Racheakt des Leibhaftigen? Man hätte sich an diesem Ereignis abgearbeitet. 

Heute bilden die Ereignisse eine Kette der Normalität. Wir verstehen sie, wenn auch nur physikalisch und nicht moralisch, und wir brauchen sie nicht zu deuten. Gott als Gesprächspartner fehlt. Nicht einmal der Leibhaftige steht mehr zur Verfügung.

Der Bundeskanzler hat sich alle Mühe gegeben, um mit seiner Neujahrsansprache Zuversicht zu verbreiten. Was bleibt ihm auch anderes übrig, als den Leuten einzureden, wir könnten die Umwelt wieder reparieren und auf den Stand der neunziger Jahre bringen. 

Die Fahrpläne hätten leider nicht eingehalten werden können, aber wir seien dabei, uns ihnen anzunähern. Das sei ermutigend. Wir müßten nur alle die Ärmel hochkrempeln und den Gürtel noch enger schnallen. Gemeinsam werden wir es schaffen. Die Durststrecke werde noch etwa zehn Jahre anhalten, meint der Kanzler, dann würden die ersten Anzeichen einer Gesundung der Umwelt sichtbar werden. Vorerst müßte noch die Hälfte der Staatsausgaben für den Umweltschutz ausgegeben werden.

Die neunziger Jahre. Wir sind bescheiden geworden. Schon damals kränkelte die Natur und schickte uns ihre Warnboten. Wie schnell aus einer miserablen Epoche die gute alte Zeit wird.

Die Wiederaufforstungsaktionen der letzten Jahre könnten insgesamt als Erfolg bezeichnet werden, meint der Kanzler. Etwa 60 Prozent der genetisch manipulierten Setzlinge — Erlen, Pappeln, Kiefern, Buchen und Fichten — schlügen an. 2,5 Millionen Hektar seien allein in Deutschland wiederaufgeforstet und renaturiert worden, in ganz Europa über 30 Millionen. Es bestehe Aussicht, die Erosionsprozesse in den Mittelgebirgen zu stoppen. In 30 Jahren, nach Ansicht des Kanzlers »eine realistische Perspektive«, würden auf den kahlen Kuppen wieder Wälder rauschen, so, wie wir Älteren sie noch in Erinnerung hätten. Die Wieder­aufforstung der Berghänge in den Alpen komme allerdings nur langsam voran. Die Schäden nach dem unerwartet raschen Absterben der Bergwälder vor 20 Jahren seien nur in mühseliger, zäher Arbeit zu beheben. Erst dann könne eine Rückführung der emigrierten Schweizer und Österreicher ins Auge gefaßt werden. Aber die europäische Solidarität wanke nicht.

Das Bundesstrukturhilfegesetz und das Bundesbauhilfegesetz hätten sich gleichermaßen bewährt. Jetzt seien 80 Prozent aller öffentlichen und privaten Gebäude »orkanresistent«. Die 700 Milliarden Mark, die das in den letzten zwölf Jahren gekostet habe, seien gut angelegt worden.

Besonders befriedigt zeigt sich Dannecker darüber, daß es trotz der bautechnischen und finanziellen Schwierigkeiten in überraschendem Maße gelungen sei, historische Bausubstanz zu erhalten. Vor allem die von ihren Fachwerkbauten geprägten Dörfer und Städte wie Rothenburg, Dinkelsbühl oder Quedlinburg seien zumindest »noch wiederzuerkennen«. Im nächsten Jahr würde damit begonnen, die Türme des Freiburger Domes und des Ulmer Münsters orkanresistent wiederaufzubauen, so wie es mit dem Kölner Dom nach der Katastrophe des Jahres 2000 auch gelungen sei.

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Wir, die jetzt lebende Generation, müßten nun einmal für die »Versäumnisse und Sünden« unserer Väter und Großväter bezahlen. Die Wechsel würden jetzt fällig. Es habe dabei keinen Zweck, zu jammern und sich der Resignation zu ergeben. Jetzt gelte es, die Ärmel hochzukrempeln.

Sorgen bereiten dem Kanzler — allerdings nicht nur ihm — die Mahdi-Bewegungen Mittel- und Nordafrikas, die jetzt zu einem »Zug nach Europa« aufgerufen haben. Berlin werde die Afrika-Hilfe um 20 Prozent auf 80 Milliarden Mark aufstocken und auch in Brüssel auf eine kräftige Erhöhung dringen. Die Vereinigten Staaten von Europa hätten eine besondere Verantwortung gegenüber dem schwarzen Kontinent. Allerdings müßten die Afrikaner ebenfalls ihren Beitrag leisten. Für das ungebremste Bevölkerungs­wachstum seien sie letztlich selbst verantwortlich und Europas Finanzmittel wegen der horrenden Umwelt­investitionen nicht unerschöpflich. Allein die Kosten für die Erhöhung der Deiche wegen des steigenden Meeresspiegels werden in den nächsten fünf Jahren noch einmal 260 Milliarden Mark verschlingen.

Dannecker wird froh sein, wenn er die VSE-Präsidentschaft im Juni an die Ungarn abgeben kann. Nicht auszudenken, wenn Hunderttausende oder sogar Millionen Afrikaner versuchen sollten, über Gibraltar nach Europa überzusetzen. Die VSE stehen bereits im Wortsinne Gewehr bei Fuß, um die drohende Invasion notfalls mit Waffengewalt abzuwehren. Eine Kontinental­wanderung, einmaliger Präzedenzfall in der Geschichte. Die Subtropen werden allmählich zur Wüste. Der Regen bleibt aus. In der Sahel-Zone ist der letzte Baum als Brennholz verheizt. Die hungernden Menschen drängen in die Äquatorial­zonen. Seit 14 Jahren erbitterte Kämpfe in Zaire, Kenia, Uganda, Nigeria. Und die Bevölkerung wächst unaufhaltsam weiter: fast zwei Milliarden Afrikaner, hungernd, verzweifelt, jeden Tag ein Kampf gegen den Tod. Die zu Beginn des Jahrhunderts gestarteten land- und forstwirtschaftlichen Projekte sind alle gescheitert. Was die Dürre nicht vernichtete, fiel der Verzweiflung der Massen zum Opfer.

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Afrika wird die Folgen der zivilisatorischen Fehlentwicklung und der Klima-Erwärmung als erstes und am schwersten büßen, obwohl es am wenigsten Schuld trägt. Immer Opfer der Weißen gewesen. 34 Millionen Hektar Land, so viel wie Deutschland, sind bereits abgesoffen. Um zu retten, was noch zu retten wäre, müßten in den nächsten zehn Jahren 1,3 Billionen Mark in Deichbauten investiert werden. Hoffnungslos. Nicht daran zu denken.

Wenn ich an frühere Neujahrsansprachen denke! Damals schien die Welt noch in Ordnung. Schmidt und Kohl, wer kennt sie noch! Deutschland noch geteilt, stabile Ordnung, garantiert durch die Konstanz des Ost-West-Konflikts. Rüstung, klares Feindbild. Das Engagement gegen die Atomwaffen in den achtziger Jahren. Ich war damals gerade dem Kindesalter entwachsen, und doch schon voller Angst. Unsere Hoffnungen und Träume waren längst ins Wanken geraten und konnten auch in den Discos nicht fortgesponnen werden. Die Menetekel zeichneten sich bereits an der Wand ab: Waldsterben, Ozonloch, Klima-Erwärmung. Die Dickfelligkeit der Erwachsenen, die unsere Ängste nicht wahrhaben konnten oder wollten.

Wenn das Wettrüsten ausgestanden wäre, so hofften wir, dann... könnten wir uns endlich an die Gesundung des kranken Planeten machen. Aber da war es schon zu spät. Die Grünen, damals noch in den Kinderschuhen, regieren heute überall in Europa mit, ungeliebte Propheten, die Gott sei's geklagt mit ihren schwarzmalerischen Vorhersagen recht behielten. Jetzt pflegt das Volk seine Propheten wie einst der Schiffer den Ballast über dem Kiel. Vorhersagen, die eintreffen, haben so etwas Beruhigendes an sich. Sie sind kalkulierbar. Die Zukunft ist wieder berechenbar. Als ob nicht jeder ein Prophet sein könnte.

 

3. Januar 2020

Die Durchschnittstemperatur ist im letzten Jahrzehnt auf der Nordhalbkugel wieder um 0,6 Grad gestiegen. Dramatischer und rascher als erwartet, obwohl sich der CO2-Ausstoß stabilisiert hat. Seit 1990 ist es um 3,4 Grad wärmer geworden. Die Experten sind ratlos. Zum dritten Mal müssen die Prognosen korrigiert werden.

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Die Computermodelle können offenbar die Progressionsdynamik einiger entscheidender Faktoren in diesem komplizierten, synergetischen Netz immer noch nicht zuverlässig darstellen und berechnen. Aber ohne Computer, die künstliche Intelligenz, wären wir vollkommen hilflos. Wir hantieren also mit unzulänglichen Instrumenten und mit einer Vorstellungskraft, die die Komplexität der Natur ohnehin nicht erfassen kann.

Aber was nutzen die Prognosen angesichts des Unabänderlichen? Der Meeresspiegel ist um 64 Zentimeter gestiegen. Was nutzt die Vorhersage, wann er den ersten Meter erreicht haben wird? Nichts! Er wird weiter steigen, das wissen wir, das steht fest, unabänderlich. Schätzungsweise sind erst zwei Prozent des Eises an den Polkappen geschmolzen, und wahrscheinlich wird sich das Klima in den nächsten 100 Jahren noch auf 5,6 bis 6,4 Grad erwärmen. Das ist der Worst case, auf den sollten sich diejenigen einstellen, die glauben, überleben zu können, wo und wie auch immer.

Im Garten die ersten Veilchen. Auch die Narzissen und Tulpen werden wohl aufbrechen. Ihnen tut die Wärme wohl. Ein kurzer Herbst, und dann beginnt schon der Frühling. Das Jahr besteht fast nur noch aus Frühling und Sommer.

Das kurz gewordene Warten auf die ersten Frühjahrsorkane.

Andreas beim Kofferpacken. Morgen muß er wieder in Berlin sein, das Examen steht vor der Tür. Er ist mit Verbissenheit bei der Sache, glaubt, als Molekularbiologe mithelfen zu können, die Welt buchstäblich noch in letzter Sekunde zu retten. Die Art, wie seine Generation diese schier erdrückende Herausforderung annimmt, imponiert mir. Sie resigniert nicht, sie kämpft um ihre Zukunft und um diesen Planeten. Sie will überleben. Vielleicht hat sie eine Chance. Aber Milliarden haben diese Chance nicht. Neun Milliarden Menschen, zwei Drittel zuviel.

Der indische Subkontinent versteppt unaufhaltsam, ein Fünftel bereits Wüste. Vor dreißig Jahren viele schöne Programme: jährlich fünf Millionen Hektar aufforsten, Nahrung und Brennholz, kombinierte Land- und Forstwirtschaft. Aber die gesellschaftlichen Strukturen änderten sich nicht, die Landreformen blieben aus, blieben Programm, blieben Versprechen.

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1,7 Milliarden Inder holzten die letzten Bäume ab. Von einst 60 Millionen Hektar Wald gerade noch 6 Millionen übrig. Der berühmte indische Dschungel mit seinen Tigern ist verschwunden. Der letzte Monsunregen vor vier Jahren ertränkte das Land, spülte Milliarden Tonnen Muttererde fort. Der jahrtausendealte Lebensspender erwies sich als Todesbote. Nun bleibt er ganz aus. Im letzten Jahr dürften 100 Millionen Inder verhungert sein. Der Subkontinent kann schätzungsweise nur noch 200 Millionen ernähren — aber es sind fast zwei Milliarden da! Massenhaftes Sterbepotential. Das große Sterben beginnt erst, wie bei einem Heuschreckenschwarm, der das Land kahlgefressen hat. Wo die Industriezivilisation zusammenbricht wie in Indien, sind wir wieder den unerbittlichen Naturgesetzen ausgeliefert, die für den Ausgleich sorgen.

Andreas will sich der Züchtung schnell wachsender, ertragreicher Pflanzen widmen, die außerdem ihren Stickstoffbedarf aus der Luft gewinnen. Die ersten Wälder aus geklonten Kiefern, Douglastannen und Platanen spenden bereits Schatten. Sie wachsen doppelt so schnell, mit angezüchteter Pfahlwurzel gegen die Stürme. Aber ein Baum sieht aus wie der andere, wie preußische Kadetten in Reih und Glied.

Die Genetik, in den achtziger und neunziger Jahren noch erbittert bekämpft, ist zu einem Hoffnungsträger geworden. Wenn es ums Überleben geht, ändern sich auch die ethischen Postulate und das moralische Bewußtsein. Die Natur und die von ihr in Jahrmilliarden entwickelten Lebensformen müssen den Bedürfnissen der Industriezivilisation angepaßt werden. Umgekehrt geht es nicht mehr. Die Sachzwänge!

Es handelt sich um Verzweiflungsakte, und Andreas weiß das. Man müsse sich, da die Realität nun mal nicht zu ändern sei — schließlich habe seine Generation die Welt so vorgefunden, wie sie ist —, auf den Wettlauf mit der Zeit einlassen und die Herausforderung annehmen. Es bleibe nichts anderes mehr übrig, als jede Chance, die Wissenschaft und Technik bieten, entschlossen zu nutzen. Es könne ja nicht mehr viel schlechter werden. Er und seine Altersgenossen wollten auch leben, mit möglichst wenig Ängsten.

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Der Wettlauf mit der Zeit, den uns die Computer vorschreiben, sieht so aus: Innerhalb der nächsten 50 Jahre müssen 500 Millionen Hektar Land aufgeforstet werden, gleichzeitig muß sich die Menschheit halbieren. Die neuen Waldflächen sollen mittels der Photosynthese das überschüssige Kohlendioxyd aus der Luft ziehen, außerdem die Rückstrahlung der Sonnenenergie absorbieren. Auf diese Weise könnte der Temperaturanstieg abgebremst und sogar umgekehrt werden.

Die große Unbekannte freilich ist, ob das erwärmte Klima nicht bereits dazu beiträgt, die Atmung der Pflanzen zu beschleunigen. Dann wäre die Photosynthese gestört: statt Sauerstoff würden gerade Kohlenstoffe freigesetzt.

Der brutale Widerspruch: Die rasch wachsende Zahl der Menschen vor allem in den armen Ländern der Dritten Welt nutzt jeden Quadratmeter Land für die Nahrungsbeschaffung. Außerdem werden schon kniehohe Sträucher zu Brennholz gemacht. Die Bodenerosion ist verheerend, jährlich schwemmt der Regen 300 Milliarden Tonnen Mutterboden in die Weltmeere. Dreimal mehr, als die Natur — der Rest der Natur — produzieren kann. Auf den Philippinen bewirkt schon ein harmloses Gewitter riesige Erdrutsche. Ein Drittel der Inseln ist nicht mehr bewohnbar.

Ethik und Genetik. Genethik? Gen-Ethik? Das ist heute kein Thema mehr. Die Jungen kennen nur noch die Nüchternheit des Überlebenwollens. Wer könnte es ihnen auch verdenken! Ethik ist zum Luxus geworden, die Genetik der Strohhalm, an den wir uns klammern. Der Wettlauf mit der Zeit ist ohnehin kaum noch zu gewinnen. Die letzte Schlacht hat die traditionelle Ethik mit der Züchtung der Schiege und des Bovequus verloren. Eigentlich ist es eine Konstruktion. Das Rinderpferd wird der Fleischlieferant der Zukunft sein. Genügsam, rasch wachsend und — das wichtigste: methangasarmer Dung! 

Vor 30 Jahren hätte es noch ob dieses perversen Eingriffs in die natürliche Skala der Arten einen Aufschrei gegeben. Heute betrachtet der Genetiker einen Organismus nicht als »separate, selbständige Einheit«, sondern als eine Anordnung von Befehlen innerhalb des Computer­programms mit der Bezeichnung Desoxyribonukleinsäure. Es ist unmöglich, gegenüber einer solchen Anordnung noch Ehrfurcht vor dem Leben zu empfinden.

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In den Augen der Forscher müssen die Befehle ständig neu geordnet und verbessert werden, bis sie einen Zustand höchster Effizienz erreicht haben. Was effizient ist, entscheidet ausschließlich der Mensch. »Unsere Kinder werden der Überzeugung sein, daß ihre genetischen Schöpfungen weit höher stehen als jene, die ihnen Modell gestanden haben. Sie werden die ganze Natur als eine berechenbare Sphäre betrachten, sie werden alles Lebendige als temporäre Programme umdefinieren, die zensiert, überarbeitet und umgeschrieben werden können.« Jeremy Rifkins Vorhersage ist gerade 35 Jahre alt, auch wenn die Jungen eher aus Angst handeln und unter dem Zwang, zu reparieren, was noch reparabel ist.

Dennoch, die Ethik hat versagt! Was wir brauchten, wäre ein weltweiter Konsens der praktischen Vernunft, der sich in rigorosen, verbindlichen Gesetzen niederschlüge. Alle Rufe nach solchen Gesetzen — insofern wäre die Freiheit des Handelns gewahrt —, aber sie kommen nicht zustande, also regieren die Sachzwänge weiter und damit die Unfreiheit. Aber ob Ethik oder Gesetze — sie zeigen die »Unbehaustheit« des Menschen, offenbaren, daß er aus dem Zusammenhang der Natur herausgefallen ist. Braucht ein Tier Ethik oder Gesetze? Die Freiheit des Menschen, gegen die Naturgesetze verstoßen und sie verletzen zu können, ohne aber in der Lage zu sein, sie aufzuheben, markiert die Totalität seiner Unfreiheit.

 

4. Januar 2020

Andreas abgereist, voller Tatendrang. Sein aggressiver Optimismus ist aber doch auch zum Teil sublimierte Angst. — Wie anders dagegen Sylvie: in sich gekehrt, nachdenklich, am liebsten allein. Ihre chronische Bronchitis und der strikte Zwang zu Diät wegen ihrer neurodermitischen Allergie hat sie menschenscheu gemacht. Wäre sie noch 20 Jahre früher geboren, ihr fehlte nichts. Sie ist eines der vielen Millionen Opfer der Umweltzerstörung, der leichthin dargebrachte Preis für überflüssigen Wohlstand. Man hat ihr die Luft zum Atmen vergiftet. Wenn jeder Tag zum schmerzlichen Kompromiß wird, zu einem Willensakt.

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Die Sünden der Väter werden heimgesucht. Wenn es nur bis ins dritte und vierte Glied wäre. Erstaunlich, daß die Jungen ihre Großvätergeneration nicht verfluchen, obwohl deren Verbrechen zum Himmel schreien, da nicht wiedergutzumachen. Irreversibel. Deprimierend jedoch, wie einsichtslos diese Großvätergeneration ist, bar jeden Schuldgefühls, obwohl sie es in der Hand gehabt hätte, das Schlimmste doch noch zu verhüten, trotz des geschädigten Erbes, das auch sie schon übernahm. Den Jungen heute ist es unfaßbar — verständlicherweise —, wie sie damals, in den achtziger und neunziger Jahren, sehenden Auges, in Kenntnis der Gefahren, im Besitze aller Zahlen und Fakten, konfrontiert mit den ersten Katastrophen als schier unübersehbare Warnungen, ungerührt fortfahren konnten, diesen Planeten weiter zu ruinieren. Dieses einzigartige Biotop in der kalten Öde des Weltalls. Nirgendwo Vergleichbares in der galaktischen Unendlichkeit. Alle Schecks haben sie auf die künftigen Generationen ausgestellt, diese Betrüger. Und die müssen sie jetzt einlösen. Büßen für die Gier der Altvorderen.

Ich könnte es verstehen, wenn die Jungen mit den Alten so umsprängen, wie es einst bei den Eskimos Brauch war: sie ohne Nahrung in ein Boot setzen und ins offene Meer stoßen. Ohne Wiederkehr.

Sylvie! Sie muß ihr Musikstudium beenden! Wenn ihr etwas helfen kann, dann die Musik, das hat sie instinktiv schon als Kind begriffen. Wenn aller Trost fehlschlägt, die Musik hält solchen bereit. Freilich nur für den, der ihn hören kann.

 

5. Januar 2020

Ich habe ja starke Sympathien für sie, gleichwohl sind sie mir irgendwie lästig: an jeder Straßenecke die Bußprediger, Umdenker und Weltuntergangs­propheten, einige bereits mit dem aggressiven Gestus eines Savonarola. Sie haben im Grunde recht, andererseits gehört keine allzu große prophetische Gabe mehr dazu, unsere Zukunft in düsteren Farben zu malen. Buße — die Aufrufe kommen 50 Jahre zu spät.

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Wofür sollen die Jungen Buße tun? Sie sind für das Desaster nicht verantwortlich. Freilich müssen sie büßen für die Fehler der Großväter. Und die Älteren büßen umsonst. Buße hätte nur einen Sinn, wenn Umkehr noch ein gangbarer Weg wäre. Wenn die zu büßenden Taten noch korrigierbar wären. Buße tun und büßen müssen, ein Unterschied wie zwischen Vergebung und Rache.

Doch Zulauf haben sie. Ihre Meditationszentren in der B-Ebene der Hauptwache und am Hauptbahnhof sind stets gefüllt. Das Geschäft mit der Angst blüht, denn das Bedürfnis nach Buße und Strafe ist groß. Eintauchen in den archaischen Mystizismus einer strafenden, fordernden Gewalt, die Trost für den bereithält, der sich unterwirft und aufgibt. Das entlastet die Seele und bewahrt vor Resignation. 

In den christlichen Gotteshäusern predigen sie dagegen den leeren Bänken. Die Kirchen hatten ihre Chance, die Schöpfung zu bewahren. Sie haben sie vertan und damit die Menschen verloren.

Das Versagen der christlichen Kirchen und Religionen! Sie haben ihr Pfund verplempert. Fast widerstandslos haben sie zugesehen, wie dieser Planet, diese einzigartige Perle im Universum, ruiniert wurde. Sie haben den Menschen nicht verstanden, sie haben seine Natur als Sünde verdammt, aber sein gesellschaftliches Tun als Gott wohlgefällig glorifiziert. Mit ihren leibfeindlichen Moralgesetzen und ihrer naturwidrigen Leistungsethik haben sie ihren Teil dazu beigetragen, den Menschen erst sich und dann konsequenterweise der Natur zu entfremden. Damit aber auch von Gott, denn Gott offenbart sich auch in der Natur. Vielleicht ist er die Natur. 

Jedenfalls: Wie kann der Mensch die Natur verstehen, wenn er sich selber fremd bleibt? Der Zusammenhang zwischen der Zerstörung der Erde und dem Mangel an Zärtlichkeit und Liebe unter den Menschen ist evident. Eine Wahrheit, die manchem schlecht bekam, der sie aussprach: Leonardo Boff, Eugen Drewermann.

Gnothi seautón — »Erkenne dich selbst«. Jahrhundertelang stand es an der Stirnwand des Apollon-Tempels zu Delphi eingemeißelt. Es war vergeblich.

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Als die Erkenntnis dämmerte, daß wir noch längst nicht das Ebenbild Gottes und auch nicht die Krone der Schöpfung seien, sondern das Missing link für die Idee des Menschen, wie sie vielleicht in einer Million Jahre verwirklicht hätte werden können, war es zu spät. Der Defekt der Evolution ist der ungelöste Widerspruch zwischen Bindung, Freiheit und Verantwortung. Die Vernunft konnte ihn nach der Entwicklung des Bewußtseins nicht mehr korrigieren. Der Fehler der Evolution ist also, Bewußtsein ermöglicht zu haben. Der fatale Sprung von Komplexität in eine neue, bis dahin unbekannte Qualität, in die Freiheit. Die Experimente der Evolution können grausam sein. Wenn eine Art sich als lernfähig erweist und sich den Milieubedingungen anzupassen vermag, überlebt sie, mögen die Opfer auch schrecklich sein. 

Der Mensch hat sich als nicht lernfähig erwiesen, obwohl er die Aufgabe und sogar die Lösung kannte. Paradoxerweise haben ihn daran seine Freiheit und technische Intelligenz gehindert, freilich auch seine blinde Gier. Bedürfnisbefriedigung wird aber nur in Verbindung mit Freiheit zur Gier. Der Mensch wollte eher die Milieubedingungen der Natur ändern als die Bedingungen seiner Zivilisation. Das ging schief. Jetzt bleibt tatsächlich nichts anderes mehr übrig, als die Milieubedingungen zu ändern. Jetzt erst hat die Vertreibung aus dem Paradies begonnen! Die Evakuierung läuft auf vollen Touren.

Die Erbsünde plagt uns erst seit hundert Jahren. Meine Verzweiflung, als 1994, oder war es bereits 1991, den Müttern untersagt wurde, ihre Babies zu stillen, weil die Muttermilch mit Dioxin vergiftet sei. Damals wurde mir klar, daß uns nicht mehr zu helfen sei, vor allem deshalb, weil es niemanden sonderlich aufgeregt hat. Alles blieb stumm, nahm diese Ungeheuerlichkeit hin. Kein mahnendes Wort von einer Kanzel, kein Leitartikel in einer Zeitung, kein Kommentar im Fernsehen. Die Politiker hüteten sich, auch nur einen Mucks von sich zu geben. Das heiße Eisen nur nicht anfassen. Als wären dioxinverseuchte Mutterbrüste ein notwendiges Opfer der Wohlstandsgesellschaft, ein selbstverständlicher und bezahlbarer Preis. Mir erschien es als Menetekel für die Verderbtheit dieser Kultur. Doch auch kein Schriftsteller oder Dramatiker griff dieses Thema auf. Dabei: welch ein Thema!

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Statt dessen wurde den Müttern empfohlen, Gummipfropfen auf die Brustwarzen zu drücken, damit die Säuglinge »wenigstens in den Genuß der wichtigen entwicklungspsychologischen Wirkung des Saugens an der Mutterbrust« kämen.

Wo aber blieben die Mütter, die Frauen? Warum haben sie keine Revolution gegen dieses perverse Ergebnis patriarchalisch-männlicher Kulturgestaltung entfacht? Sich nicht im Namen des Lebens gegen eine Kultur des Todes, eine nekrophile Zivilisation, aufgelehnt? Gibt es ein größeres Übel, das einer Revolution bedürfte? 

Nur in einigen Minderheiten verkörperten sich Lebenstrieb und Vernunft des Menschen als Art. Doch ihr Protest hatte keine Chance, gehört zu werden. Als vor 18 Jahren die Konservativen und Liberalen abgewählt wurden, war es zu spät. Im übrigen: Wenn Wahlen etwas verändern würden, wären sie ohnehin längst verboten.

 

7. Januar 2020

Die Reproduktionsfähigkeit des Phytoplanktons in den Weltmeeren läßt seit über 20 Jahren bedrohlich nach, vor allem in den arktischen Gewässern. Die pflanzlichen Einzeller werden vom UV-Licht geschädigt. Die Photosynthese wird gestört. Die Ozonhülle ist zu schwach und schwächt sich noch weiter ab. Schätzungsweise befinden sich noch rund 30 Millionen Tonnen FCKW in der Stratosphäre, das entspricht über einer Billion Tonnen Kohlenstoffen. Die tödliche Hinterlassenschaft des 20. Jahrhunderts.

Die Vereinten Nationen schlagen Alarm. Wenn das Phytoplankton weiter in der dramatischen Weise abnimmt, werden alle Versuche, das Weltklima zu stabilisieren, vergeblich sein. Wer hätte das gedacht: Das Phytoplankton übertrifft an Masse alle Pflanzen auf dem Festland um das Doppelte. Es bindet daher auch doppelt so viel Kohlendioxyd wie alle Bäume, Sträucher und Gräser zusammen. Der bisherige Verlust von rund 10 Prozent an Phytoplankton hätte dieselbe Wirkung, als hätten wir ein Fünftel aller Pflanzen vernichtet. Da können wir uns die globalen Wiederaufforstungsaktionen sparen. Diesen Wettlauf können wir nicht gewinnen.

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Die Genetik soll die pflanzlichen Einzeller, vor allem die Blaualge, gegen das ultraviolette Licht resistent machen. Aber noch kein Wissenschaftler hat eine Vorstellung davon, ob dies überhaupt möglich sein könnte. Die Lungen der Erde atmen in den Weltmeeren und sind Einzeller.

Doch wenn das Phytoplankton stirbt, folgt ihm unweigerlich das Zooplankton als erstes Glied der Nahrungskette nach. Dann werden die Fische aussterben, die Meeressäuger, die Seehunde und See-Elefanten, die Pinguine und Seevögel. Die Meere, in denen das Leben vor knapp drei Milliarden Jahren geboren wurde und von wo aus es an Land kroch, würden zu toten Gewässern. Und das Sterben griffe auf das Land über.

Mich fröstelt. Für einen Augenblick lockt mich wieder die Vorstellung, mich einfach zurückzulehnen und alles um mich her als die gewaltigste und faszinierendste Tragödie zu betrachten, die sich denken läßt. Der ganze Planet eine riesige Bühne, Akteure und Publikum sind eins, die Kulissen sind echt, sind unsere Lebenswelt. Auch der Tod ist echt, er wird nicht nur gemimt. Gegeben wird das Stück »Aufstieg und Fall des Menschengeschlechts oder der kleine Irrtum der Evolution«. Drehbuchautoren sind die besten Köpfe der Menschheit — Wissenschaftler, Erfinder, Entdecker, Philosophen, Unternehmer, Politiker. Alles Männer. Schöne, neue Welt. 

Am Ende brauchte das Drehbuch keine Autoren mehr, es begann sich selbst fortzuschreiben. Die letzten Akte mit dem infernalischen Höhepunkt entstehen von alleine. Auch auf Dramaturgen und Regisseure kann seit 20 Jahren verzichtet werden. Das Publikum muß mitspielen, ist sogar der Hauptdarsteller. Die Tragödie gestaltet sich selbst, unerbittlich konsequent, streng auf die dramaturgischen Regeln achtend. Und kein Deus ex machina ist zu erwarten.

Nietzsche muß die Tragödie, die wir derzeit als hilflose und doch tatkräftig agierende Zuschauer erleben, vorweggeahnt haben. »In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der <Weltgeschichte>: Aber doch nur eine Minute.

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Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben. So könnte jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben, wie kläglich, wie schattenhaft, wie gleichgültig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt. Es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war. Wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben.«

Wie grausam wahr! Denkt man sich die Erdgeschichte als einen Tag, so existiert das Wesen Mensch zehn Sekunden. Der Homo sapiens mit seinem Intellekt Bruchteile einer Sekunde. Verstand und Bewußtsein leuchteten nur kurz auf— wie ein Blitz, wie eine Idee. Dafür die Hunderte von Millionen Jahren währende Vorbereitung? Das soll der Endzweck der Schöpfungsgeschichte sein?

»Im Menschen ist so viel Entsetzliches — die Erde war zu lange schon ein Irrenhaus.« Von Nietzsche, dem kranken, leidenden Visionär geht eine fast masochistische Faszination aus. Er hat für sich den Zustand, den das »kranke Tier« geschaffen hat, vorweg durchlebt und durchlitten und ist an ihm zugrunde gegangen. Werden wir ihm folgen müssen?

  

9. Januar 2020, mittags 

Die VSE erwägen, die Straße von Gibraltar mit einem Staudamm abzusperren, gekoppelt mit einem Kraftwerk. Anders sind viele Küstenstädte und Landstriche, allen voran das Nildelta mit Alexandria und Kairo, nicht mehr zu retten. Das Schicksal Alexandrias dürfte besiegelt sein, der steigende Meeresspiegel hat die Stadt bereits unter Wasser gesetzt. 250.000 Hektar des fruchtbaren Nildeltas gelten als unwiederbringlich verloren. Die Landkarte des Mittelmeerraumes verändert sich.

Der Gibraltar-Damm wäre das gewaltigste Bauprojekt der Menschheitsgeschichte, die Kosten astronomisch. Ein technisch-wissenschaftlicher, organisatorischer und finanzieller Kraftakt ohne Beispiel. Das Gelingen erscheint vielen Experten äußerst fraglich, dennoch weist diese Idee den einzig möglichen Ausweg aus der sich anbahnenden Katastrophe für den Mittelmeerraum, einer der Wiegen der Kultur.

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Allerdings dürfte auch ein Staudamm keinen Regen herbeizaubern, um die mittlerweile 800 Wasser-Entsalzungs­anlagen zu entlasten. Der Nil hat in den letzten zehn Jahren 15 Prozent seiner Wassermenge verloren. Selbst in den Tropen Inner-Afrikas regnet es zu wenig. Dafür ersaufen die Küstenzonen. Die Klimaerwärmung hat die Temperaturunterschiede zwischen dem Meer und dem Festland nivelliert — von verheerenden Ausnahmen abgesehen, wenn die polaren Kaltluftfronten Wirbelstürme entfachen, die wie wild gewordene Stiere durch die Subtropen jagen.

 

9. Januar 2020, nach Mitternacht

Herbert K. s Geburtstag ausgelassen gefeiert, bis in den frühen Morgen. Die Runde saß gemütlich im Garten, ein warmer Südwest animierte dazu, den Wein im Glase nicht allzulange zu belassen. Eine Lust, zu sehen, wie meine Tina aufblühte, die unbestreitbare Tatsache genießend, ein Mittelpunkt des fröhlichen Treibens zu sein. Habe sie von jeher um die Fähigkeit beneidet, während des Sprechens, gleichsam intuitiv, witzige Einfälle zu produzieren, von denen sie dann selbst überrascht wird und die sie sich selber mit eruptivem, hellem Lachen dankbar quittiert. Ich dagegen brauche immer erst fünf Whisky, ehe mir der erste präsentierbare Witz einfällt.

Herbert K. stellte allen Ernstes die These auf, daß früher lustiger und unbeschwerter gefeiert worden sei als heute. Man müsse sich nur die Bilder eines Breughel ansehen, mit seinen vor Lachen berstenden, im Tanz sich die Glieder ausrenkenden Bauern. 

Es habe trotz der kaum noch vorstellbaren Armut eine Kultur des Frohsinns gegeben, die sich kaum noch finde, weil die Außenwelt mit ihren komplexen, kaum noch lösbaren Problemen in die Privatsphäre eindringe. Zwar habe diese Attacke des Draußen nicht zu einer sichtbaren Tristesse geführt, weil man — übrigens ebenfalls ganz im Gegensatz zu früher — sein Unglück nicht zeigen dürfe, wohl aber zu einer unübersehbaren Überdrehtheit. Man hat lustig und fröhlich zu sein, weil das Fitneß signalisiere. Darin zeige sich das unbewußte Bemühen, die Außenwelt fernzuhalten. Feiern und Feste heute seien ein Beschwörungsritual und hätten etwas vom Pfeifen im Walde an sich, um die Angst nicht zuzulassen.

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Wie stets sprach Herbert K. mit leiser, etwas mühsamer, aber Aufmerksamkeit fordernder Stimme, wie sie einem Bibliothekar und Bücherwurm angemessen ist. Noch während er an seiner These bastelte, staute sich in Tina sichtbar der Widerspruch, der dann auch mit Herberts letztem Wort hervorbrach. Das Fest oder die Feier sei ohne die ängstigende Mühsal des Alltags gar nicht denkbar, sie habe darin gerade ihre Ursache. In grauer Vorzeit, als der Mensch die Natur noch nicht begriffen und sie ihm in ihrer Übermacht vielfältige Angst eingejagt habe, sei das Feiern gleichsam erfunden worden, nicht nur als religiöses Ritual, sondern auch eines elementaren Bedürfnisses wegen. 

Sich fallenlassen, sich dem Augenblick der Freude überlassen, sei eine angeborene Eigenschaft, die auch an Tieren zu beobachten sei. Das Bedrohliche der Alltagsexistenz zu vergessen sei nicht gleichzusetzen mit Verdrängen. Die bettelarmen Indios auf dem bolivianischen Altiplano beispielsweise — und dabei berief sich Tina auf mich als Zeugen — feierten die ausgelassensten, fröhlichsten Feste, trotz oder gerade wegen ihres unsäglich mühseligen Alltags. Und eben Breughel. Dem entspräche die Beobachtung, daß die Feste und Feten bei denen am langweiligsten seien, denen die Mühsal des Alltags fremd ist.

Dieses tiefsinnige Intermezzo harmonierte dennoch mit der Unbeschwertheit des Festes. Vielleicht hatte Herbert K. es nur eingefügt, um sich versichern zu lassen, daß die Kultur des Feierns in seinem Hause in voller Blüte stehe. 

 

10. Januar 2020

Nach genau 22 Jahren bin ich wieder Pkw-Besitzer! Wir sind sehr beeindruckt von unserem Gefährt, vor allem Sylvie, die sich an die alten Benzin-Dreckschleudern kaum noch erinnern kann. Wasserstoff- und Solartechnik, wie die Flugzeuge. Zumindest für die Flugzeuge war diese Technik schon vor 35 Jahren ausgereift, aber die Öl-Konzerne, die Fluggesellschaften und die Industrie haben sie hintertrieben.

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Die Treibstofftanks hätten mehr Platz benötigt und die Maschinen hätten nicht so hoch fliegen dürfen wegen des Ausstoßes an Wasserdampf. Die Rentabilität der Gewinnmaximierung stand auf dem Spiel. Nach der Rentabilität der Umwelt fragte niemand. Die Rentabilität von damals müssen wir heute teuer bezahlen.

Unser kleiner WS-141 schnurrt dahin wie eine große Katze. 55 PS, 125 km/Std., das reicht. Der Preis ist freilich happig. Aber man gönnt sich ja sonst nichts. Wird das Auto wieder zum Statussymbol wie im letzten Jahrhundert? Die Industrie ist optimistisch und voller Vertrauen in eine »neue automobilistische Zukunft, die auch wirklich eine Zukunft hat«. Diesmal sollen wir auf der richtigen Straße fahren. Ich habe da meine Zweifel. Wird jetzt wieder ein Run losbrechen, der in wenigen Jahren wieder jede Mobilität zum Stillstand bringt? Die letzten zehn Jahre fast ohne Auto waren doch recht angenehm. Wie viele Tausende verdanken diesem Umstand Leben und Gesundheit, ohne es zu ahnen. Vielleicht auch ich, wir. Unbegreiflich: Fast 20 000 Verkehrstote vor knapp 50 Jahren in der alten Bundesrepublik. Nahezu eine halbe Million Verletzte. Jedes andere derart unsichere Verkehrssystem wäre gemieden worden wie Pest und Cholera. Doch am Steuer des eigenen Autos zu sterben ist herrlich ... Das elektronische Verkehrsleitsystem soll jetzt das Schlimmste verhüten. Mit der Freiheit der Automobilisten von einst wird es ohnehin vorbei sein. Außerhalb der Städte bestimmt die Elektronik den Verkehrsfluß. Wahrscheinlich wird es aber gerade deshalb schneller vorangehen, wenn die freie Fahrt für freie Bürger elektronisch reglementiert wird. 

 

11. Januar 2020

Nach langer Zeit wieder Gäste, ein paar Freunde, Kollegen. Allgemeine Reflexion darüber, weshalb diese Art der Kommunikation so nahezu vollständig zum Erliegen gekommen sei. Fortsetzung des Themas vom letzten Samstag bei Herbert K. Bernhard B. hat einen allgemeinen Strukturwandel und obendrein das Fernsehen als verantwortlich ausgemacht.

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Die modernen Arbeitsweisen und die Kommunikationstechnologien vereinzelten den Menschen. Man könne heute alles per Bildschirm erledigen: Man arbeitet am Bildschirm, kauft per Bildschirm ein, erledigt seine Bankangelegenheiten, kommuniziert mit Geschäftspartnern und Freunden, ruft alle Arten von Informationen ab, sogar von Bibliotheken, Museen und Auskunftsdateien. Man habe die ganze Welt am Bildschirm, sogar den Psychologen und Seelentröster, wenn es sein muß. Bernhard B. gibt zu, daß er ab und zu auch von den Rendezvous-Dateien Gebrauch mache, wenn er sich mal alleine fühle und den Abend mit einer flotten Biene verbringen wolle. Kurzum, so schlimm fände er das Alleinsein gar nicht, es sei halt ein »Paradigmenwandel«, der auch sein Gutes habe: Man lerne sich selbst erfahren, man entdecke sich selbst und seine Möglichkeiten, auch die kreativen.

Sonja Röder konnte diesen »abstrusen Narzißmus« überhaupt nicht verstehen. Sie hielt dagegen, daß die Menschen mit ihren Ängsten nicht mehr fertig würden, weil sie mit ihnen nicht mehr umgehen könnten. Früher habe man seine Ängste und Schwierigkeiten im Kreis der Großfamilie oder auch im Freundeskreis bewältigt. Heute werde einem dies als Schwäche ausgelegt. Man müsse nach außen hin als stark und dynamisch erscheinen, alles im Griff haben. Dies hätte jedermann und jede frau bereits so verinnerlicht, daß er Ängste nicht einmal mehr vor sich selber zulassen dürfe. Es handele sich um eine Zivilisations­neurose der Leistungsgesellschaft, die leider auch die Frauen ergriffen und zu Opfern gemacht habe. Auch die Kommunikationsfähigkeit der Frau gehe verloren, das partriarchalische System habe die Frau integriert und feiere einen seiner größten Triumphe.

Große Nachdenklichkeit nach Sonjas Einwand.

 

12. Januar 2020

Noch in diesem Jahr sollen die ersten funktionierenden Teilstücke des Staudammsystems in den Alpen fertig sein und in Betrieb gehen. Vor allem das Schmelzwasser im Frühjahr muß irgendwie reguliert werden, sollen Süddeutschland und die Po-Ebene wieder bewohnbar werden.

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Nach dem Absterben der Bergwälder läuft das Wasser ungehindert in die Täler ab. Neuartige rotierende, sich selbst erneuernde Filter sollen das angeschwemmte Erdreich abhalten.

Die Alpen! Einst ein Paradies zu jeder Jahreszeit. Hier trug die Natur stolz ihren Hermelin. Transzendierung menschlicher Sehnsucht nach Größe und Erhabenheit, staunenswerte Symbiose von Mensch und Umwelt. Heute eine Todesregion. Die Katastrophe des Jahres 2000. Das Entsetzen von damals, als die Hänge auf einmal in die Täler zu rutschen begannen, ist noch gegenwärtig. Die Erinnerung holt die Bilder in Sekundenschnelle vor die Augen. Millionen Tonnen Gestein und Schlamm, zu rasenden Lawinen oder unerbittlichen Muren komprimiert, fielen über Städte und Dörfer her. In einer Nacht, fast wie auf Kommando, nach wochenlangen Regenfällen. Die Ohnmacht des omnipotenten technischen Zeitalters. Der Schock, die tagelang verstörten Gesichter. 

Das Menetekel scheuchte die Leute in die Kirchen und lehrte sie wieder beten. Aber kein Gott hatte diese Katastrophe als Strafe geschickt, sie war »anthropogen«, Menschenwerk, gegen das sich die verwundete Natur in schmerzhaften Zuckungen aufbäumte wie in Notwehr. Die überlebenden Älpler hat es in die ganze Welt verstreut. Ein technisch-wissenschaftliches Zeitalter, das die Prognose bis zur Perfektion entwickelt hat, konnte das sich anbahnende Unheil nicht erkennen, das sogar die Blinden gefühlt haben.

Mit einem Schlag wurde Italien damals von Europa abgekoppelt und lag plötzlich am Rande der Welt, nur mit dem Flugzeug erreichbar. Und wie haben sie zuvor die ob der automobilen Transport- und Transitflut verzweifelten Österreicher und Schweizer drangsaliert. Noch mehr Pkw-, noch mehr Lkw-Kolonnen, noch mehr und breitere Straßen, längere Tunnels. War das damals die Wende? Wurde tatsächlich die Umkehr eingeleitet? War dieses epochale Ereignis die vierte narzißtische Kränkung, zumindest für die Europäer?

 

14. Januar 2020

Bestürzende Nachrichten aus Südostasien und Brasilien. Obwohl seit Jahrzehnten vorhergesagt und daher nicht überraschend, schreckt es einen doch: Bangladesh ist wohl nicht zu retten.

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Das Land wird unaufhaltsam ein Raub des Meeres. Die verzweifelte Anstrengung von Millionen Menschen, Dämme gegen die steigenden Fluten zu errichten, ist zum Scheitern verurteilt, auch wenn mehr als 2000 niederländische und deutsche Experten zur Verfügung stehen. Die letzte Sturmflut vor einer Woche — kaum noch Notiz davon genommen — riß fast die Hälfte der Dämme mit sich fort. Was an fruchtbarem Boden nicht fortgespült wurde, versalzt und verdirbt. Wieder Zehntausende von Todesopfern. Über 100 Millionen Menschen leben auf diesem leckgeschlagenen, sinkenden Schiff. Wo sollen sie hin? Indien und Birma haben längst ihre Grenzen gesperrt. Sie lassen keine Maus durch, zumal sie ebenfalls mit dem unaufhörlich steigenden Meer zu kämpfen haben — das Gangesdelta, Kalkutta, nur eine Frage der Zeit. Alles ist nur noch eine Frage der Zeit. Die Unendlichkeit der Zukunft wird zu einem Morgen oder Übermorgen. Bangladesh ist ein riesiges Gefängnis, das von Jahr zu Jahr schrumpft.

Noch nie hat jemand mit größerem Recht und moralisch legitimierter Hilfe gefordert als der Staatspräsident von Bangladesh, dieser zum Untergang verurteilten Nation: Wer denn diese globale Katastrophe verursacht habe? fragte er schon letzten Herbst vor der UNO die reichen Industrienationen. Natürlich, wer denn sonst. Und wer müsse im nachhinein deren kurzes, kaum ein Jahrhundert währendes Luxusleben bezahlen? Die Dritte Welt und zuvörderst Bangladesh. Wenigstens jetzt sollten sich die Industriestaaten zu ihrer Verantwortung bekennen und denen, die unschuldig sind am Ruin des Planeten, beispringen.

Bedauernswerter Mensch, bedauernswertes Volk! Das Aussprechen banaler Wahrheiten hilft nichts mehr. 4000 Kilometer Deiche lassen sich beim besten Willen nicht aus dem Boden stampfen. Die Industriestaaten sind überfordert. Sie müssen an sich denken, obwohl der Untergang Bangladeshs ihren eigenen einläuten wird. Es ist zu spät.

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In Brasilien nützen auch Deiche nichts. Der steigende Meeresspiegel drückt die riesige Amazonasmündung ins Landesinnere, das unlösbare Problem aller großen Flußmündungen (das auch Hamburg und Bremen bald zu spüren bekommen werden). Das Amazonasbecken wird sich in einen riesigen Meeresbusen verwandeln, das Salzwasser wird die Vegetation absterben lassen. Die Lungen der Erde bekommen die Wassersucht — mit denselben Folgen: ersticken. San Salvador, Bahia, Recife — bald verloren.

Mein Blutbild immer noch miserabel. Das Blei und Benzol bauen sich kaum ab. Oft tagelange Müdigkeit. Ich verkörpere buchstäblich den technischen Fortschritt. Bezahlen werde ich ihn allerdings alleine. Das Gift der Industriegesellschaft wird in lebendigen Leibern entsorgt.

 

15. Januar 2020

Die Weltgesundheitsorganisation ist besorgt wegen der dramatischen Schwächung des menschlichen Immun­systems. Es nähmen nicht nur die verschiedensten Krankheiten weltweit zu, vor allem in den Großstädten, ihr Verlauf erweise sich auch bei bislang relativ harmlosen Infektionen als zunehmend risikoreich. Das Immunsystem funktioniere nur noch bei einer relativ optimalen Lebensweise, eine stabile psychische Konstitution eingeschlossen. Die Immunologen neigen in ihrer Mehrzahl der These zu, daß diese offenbar chronisch werdende Schwächung der Abwehrkräfte des Menschen mit der Umwelt­verschmutzung zu tun hat. Dem »täglichen Bombardement« mit Chemikalien verschiedenster Art — aus dem Wasser, dem Boden, der Nahrung, der Luft — so der Direktor der WHO, sei das menschliche Immunsystem offenbar auf Dauer nicht gewachsen.

Entsetzt sind Ärzte über die Beobachtung, daß bereits Neugeborene mit einem defekten Immunsystem zur Welt kämen. Das erkläre den drastischen Anstieg der Kindersterblichkeit, der bislang einzig mit Außenfaktoren wie unsauberer Luft in Zusammen­hang gebracht worden ist. Bislang gehe man davon aus, daß die Föten diese Immunschwäche während der intrauterinen Entwicklung im Mutterleib »übernehmen«, der Defekt also noch nicht »genetisch fixiert«, vererbbar sei. Dieses wäre eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes. WHO-Chef Birger Solberg appelliert mit dramatischen Worten an die Regierungen der UNO-Mitgliedsstaaten, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die »Lebensqualität« zu verbessern. Ohne ein intaktes Immunsystem könne schließlich niemand überleben, weder das Individuum noch die Art »Homo sapiens«. — Da liegt der Gedanke nahe: Ist etwa auch AIDS auf diese Ursachen zurückzuführen?

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17. Januar 2020

Regen, unaufhörlich stürmisches Wetter. Während Nordafrika und der Mittelmeerraum verdursten, ersaufen wir. Der Zusammen­prall kalten und warmen Wassers nördlich der Azoren bewirkt eine tobende Waschküche, die ungeheure Wolken­massen produziert, die von den Sturmwinden aber nicht nach Nordafrika, sondern nach Europa gejagt werden. Nordskandinavien und die Eismeerküste Rußlands leiden bereits wieder an Regenmangel. Kasachstan und Usbekistan werden allmählich und unaufhaltsam zur Wüste. Die alten Pläne leben wieder auf, Ob und Jenissej nach Süden umzuleiten. Aber Rußland sperrt sich, nicht ohne Grund. Was vor 40 Jahren schon ökologischer Wahnsinn gewesen wäre, könnte heute nicht richtig sein. Oder doch? Weil das kleinere Übel?

Eine Studie der Deutschen Meteorologischen Gesellschaft und der Deutschen Physikalischen Gesellschaft verheißt für die Zukunft einen kleinen temporären Trost: Über den nördlichen Breiten wird die Durchschnittstemperatur nicht weiter steigen, sondern sich auf dem jetzigen Stand einpendeln. Der Grund ist das Abdrängen des Golfstromes nach Süden durch das kalte Wasser des abschmelzenden Polareises. Möglicherweise wird sich aus diesem Grund auch der Meeresspiegel vorerst nicht in dem befürchteten Ausmaß weiter erhöhen, da das kalte Wasser ein geringeres Volumen hat. Dieser Schwebezustand soll etwa 50 Jahre anhalten. Diese Zeitspanne sei die letzte Frist, die Klimaerwärmung zu stabilisieren und den Prozeß des Treibhauseffektes umzudrehen, denn über den Polen ist es trotzdem noch viel zu warm.

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Sollte allerdings eine Klimawende gelingen, was niemand zu hoffen wagt, wäre dies das Ende des bisherigen Europa: Europa würde vereisen, weil der Golfstrom nicht wieder in unsere Breiten umgeleitet werden könnte. So oder so, die Wahl zwischen Scylla und Charybdis. Wir haben keine Chance, doch nutzen wir sie!

Dafür stehen nach Ansicht der beiden Gesellschaften im Wesentlichen nur zwei Möglichkeiten zur Verfügung: Den Kohlen­stoff­ausstoß weltweit auf zwei Milliarden Tonnen zu begrenzen und jährliche Wiederaufforstung von mindestens 40.000 Quadratkilometern Fläche. Grundvoraussetzung sei allerdings eine drastische Reduzierung der Bevölkerungszahl. Mit gegenwärtig neun Milliarden Menschen ließen sich diese Ziele unter keinen Umständen realisieren. Langfristig dürfe die Menschheit zwei Milliarden nicht übersteigen, da andernfalls die Existenzgrundlage — Energie und landwirtschaftlich nutzbarer Boden — nicht gesichert werden könne, es sei denn auf Kosten der Umwelt. Die dann eintretenden Folgen seien aber nunmehr bekannt. Ein Teufelskreis.

Eine große Unbekannte mußte die Studie offen lassen: Die Wirkung der im letzten Jahrhundert produzierten rund 30 Millionen Tonnen FCKW, die gegenwärtig in der Stratosphäre ihre Wirkung tun und das Ozon zerstören — und das noch für rund 90 oder gar 150 Jahre! Der Ozonabbau entwickelt sich sehr unterschiedlich. Sollte sich die negativste Annahme, der Worst case, erfüllen, werden die Strukturen der Weltzivilisation — sofern man von einer solchen sprechen kann — viel rascher und gründlicher zerschlagen als befürchtet.

Diese Perspektiven verdüstern die ohnehin triste Gegenwart. Süddeutschland, aber auch die Po-Ebene, werden allmählich unbewohnbar, Passau und Ulm, das Innenviertel und der Gäuboden kurzfristig nicht zu halten sein. Längerfristig sind auch Augsburg und die Lechebene bedroht. Regensburg evakuiert seinen nördlichen Teil Stadtamhof. Die Mauer, die die Stadt schon vor 40 Jahren gegen das Hochwasser gebaut hat, erwies sich als wirkungslos. Aus den baumlos gewordenen Alpen werden jedes Jahr 180 Millionen Tonnen Erde und Sedimente angeschwemmt.

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Daher werden auch die Staudämme mit ihren Kreiselfiltern auf lange Sicht nichts nützen: Sie werden mit der Zeit einfach zugeschüttet und laufen über. Man muß in den Alpen die künstliche Verbauung energischer vorantreiben, um zu retten, was eventuell noch zu retten ist. Egal, welche Pflanzen man nimmt, wenn sie sich nur an den Berghängen halten können. Jeder Italienreisende und selbst der hartgesottenste Lkw-Fahrer hat ein beklemmendes Gefühl, wenn er die Alpen durchquert. Vor allem die Leblosigkeit ringsum. Starres Gestein. Aus den Geröllmassen ragen die toten Stämme wie Gerippe. Einst waren es Wälder, die das Leben ermöglichten.

 

23. Januar 2020

Die vielen Niederschläge setzen die Verseuchung des Trinkwassers fort. Sie schwemmen die Chemikalien der immer noch unzähligen Müllkippen in den Boden, der obendrein noch schwer an dem giftigen Unsinn der landwirtschaftlichen Düngung trägt. Ganz Europa ist eine einzige Müllkippe. Die Institute registrieren fortlaufend neue, unbekannte chemische Reaktionen und Substanzen. Und da sich alles Leben aus dem Boden ernährt, trägt jedes Lebewesen das Gift in sich. Vom Regenwurm bis zur Milchkuh, vom Fisch bis zum Menschen. Bis zu mir. Scheußliche Vorstellung, daß sich in meinen Geweben Schwermetalle, Dioxine und sonstiges undefinierbares Giftzeugs befinden. Kein Wunder, daß die Lebenserwartung sinkt, obwohl die Medizin Triumphe feiert. Außer Hirn und (noch) Lunge ist der Mensch bald substituierbar.

Doch vorerst muß für weite Gegenden des Ruhrgebiets, Niedersachsens, Brandenburgs, Sachsens, Sachsen-Anhalts und auch Frankfurts Trinkwasser aus Skandinavien eingeführt werden. Die Sanierung der Müllkippen wird wohl ein ungelöstes Problem bleiben. »Wir müssen damit leben«, heißt es für gewöhnlich, wobei den meisten der unfreiwillige Zynismus dieser Sentenz nicht deutlich wird. Die Frage müßte lauten: Wie lange können wir damit leben? Der einzelne nicht sehr lange, die Gesellschaft mindestens Jahrzehnte, wahrscheinlich Jahrhunderte — mit Grenzwerten, die ständig nach oben korrigiert werden. Aber was ist mit der Kumulation der Grenzwerte?

Dafür gibt es keinen Grenzwert. Im Vergleich zu unseren Urgroßvätern tragen wir etwa 60 chemische Substanzen in unserem Körper. Ein Wunder, daß wir überhaupt noch leben. Die damals wären unweigerlich gestorben. Wir hingegen passen uns an wie Ratten — bis zu einem gewissen Grade.

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24. Januar 2020

Alarm der Universitäten Hamburg und Edinburgh. Was sich bereits seit 35 Jahren abzeichnet, ist flächendeckend zu beobachten: Männliche Tiere — Fische, Frösche, Lurche und Schwimmvögel — verlieren ihre Zeugungsfähigkeit, weil sie verweiblichen. In landwirtschaftlich genutzten Chemikalien seien zuviel Ostrogen-Substanzen enthalten, obwohl Östrogen als Molekül nicht nachweisbar sei. Eine ähnliche Wirkung auf den Mann müsse angenommen werden.

 

25. Januar 2020

Große Aufmachung in den Medien: Einer UNO-Studie im vergangenen Jahr zufolge konnte der weltweite CO2-Ausstoß erstmals stabilisiert werden. Erstmals seit Beginn der Industrialisierung ein Erfolg, das wuchernde Wachstum im Energieverbrauch durch Verbrennen fossiler Stoffe zu stoppen. Begrenzung als Fortschritt! Ein verhaltenes Aufatmen sei uns vergönnt, auch wenn nicht verdrängt werden sollte, daß der Kohlenstoffausstoß im Vergleich zum Richtwert von 1990 hätte halbiert werden müssen. Statt dessen liegt er um 75 Prozent höher. Über zwölf Milliarden Tonnen Kohlendioxyd werden jedes Jahr in die Luft geblasen, drei Milliarden sollten es sein. Fortschritt! Auch der Grenzwert von 450 ppm Kohlenstoff in der Atmosphäre ist längt überschritten. 1990 galt es als das absolute Maximum, um den Anstieg der Klimatemperaturen auf zwei Grad begrenzen zu können. Die Messungen ergeben 520 ppm. Die Folgen kann sich jeder ausdenken.

Die Folgen! Der jetzt langsam auftauende Permafrostboden im Norden Kanadas und in Sibirien wird jedes Jahr zwei bis drei Milliarden Tonnen Methangas freisetzen.

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Aus den erweiterten Reisanbaugebieten quellen jährlich 500 Millionen Tonnen Methan. Und wenn die Ozeane zusammenbrechen sollten, weil das ungefilterte UV-Licht das Phytoplankton eliminiert, sieht es vollends zappenduster aus. Dann ist die größte Filteranlage für Kohlenstoff kaputt — und niemand wird sie reparieren können.

Wir sind in lauter Teufelskreise verstrickt. Die künftigen Generationen werden ihre Vorväter verfluchen. Sie werden ihre Gräber schänden und ihre Namen aus den Geschichtsbüchern tilgen — und hoffentlich wird ihre ohnmächtige Wut sie nicht noch tiefer in Verzweiflung stürzen.

»Wenn es uns nicht gelingt, den Eltern und Politikern heute schon die Dringlichkeit der Probleme vor Augen zu führen, setzen wir das Grundrecht unserer Kinder auf Gesundheit und eine intakte Umwelt aufs Spiel.« Eine Stimme aus dem Jahre 1987. Vorwort zum Bericht der UNO-Kommission für Umwelt und Entwicklung. Wer hätte sie gehört? Damals, als es noch Zeit war!

Erst vor sechs Jahren haben die USA, der größte Verschmutzer der Erdatmosphäre, ihre Kohlenstoffemissionen stabilisiert, erst vor vier Jahren die Republiken der früheren Sowjetunion. Vor zehn Jahren die Europäer. Die spielen sich jetzt als die energischen Saubermänner auf und zwangen die Inder und Chinesen, den Bau von Kohlekraftwerken einzustellen. Und man kann diese Heuchelei noch nicht einmal anklagen, denn es zählt nur der Effekt. Hauptsache, dieser Wahnsinn wird gestoppt, egal wie und von wem und mit welchen Mitteln.

Wie lange es freilich dauern wird, bis die Chinesen ihre 350 Millionen Benzin- und Dieselautos aus dem Verkehr ziehen und die Inder ihre 200 Millionen, weiß niemand. In China haben sich die deutschen Hersteller eine goldene Nase verdient, in Indien vorwiegend die Japaner. Gleichzeitig taten sich die Regierungen in Berlin und Tokio viel darauf zugute, Vorreiter beim Umweltschutz zu sein. Zu Hause mit relativem Erfolg, nur: Es ist egal, wo auf diesem Globus die Luft verdreckt wird, ob in China oder in Deutschland. 

Es spielt keine Rolle. Sterben muß jeder allein, überleben kann man nur gemeinsam. Die Ausfuhr von Automobilen in diesem Ausmaß war schlimmer als der gesamte Rüstungs- und Waffenexport. Die UNO-Kommission für Umwelt und Entwicklung 1987: »Die Erde ist eins, die Welt nicht. Wir leben alle in ein und derselben Biosphäre. Und doch übt jede Gemeinschaft und jedes Land wenig Rücksicht beim Kampf um das Überleben und den Wohlstand.«

Das verzweifelt Makabre an unserer Lage sind die Dokumente. Sie weisen schwarz auf weiß aus, daß unsere Väter und Großväter wußten, was sie ihren Kindern und Enkeln antun. Daß sie das Risiko kannten, sich der Gefahren bewußt waren. Aber sie dachten eben: »Nach uns die Sintflut.« Die Einstellung gewissenloser Verbrecher.

Tatsächlich: Alle Verbrechen der Menschheitsgeschichte wiegen nichts im Vergleich zu diesem einen globalen, das sich freilich aus unzähligen zusammensetzt.

28. Januar 2020

14 Stunden wütete der Orkan. Die Schäden halten sich in Grenzen. Die Flutgefahr an den Küsten bleibt das größte Problem. Der gestiegene Meeresspiegel steigert natürlich die Wucht der Sturmfluten. Übrigens auch die Produktionsausfälle. Die tobenden Elemente erzwingen jedesmal eine unfreiwillige Arbeits­niederlegung.

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