1. Februar 2020
Guha-1993
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Dr. Weinröder hat mir nun auch diesen Schock versetzt: Er rät mir mit größtem Nachdruck zu einer Herztransplantation. Wir hätten doch alles ausführlich besprochen, so daß er davon ausgehen könne, daß meine Bedenken ausgeräumt seien. Die Probleme seien ja nun wirklich gelöst.
Ein Drittel der über 50jährigen lebe jetzt mit einem künstlichen Herzen. Das sei längst zur Normalität geworden, der Eingriff Routine und ohne Risiko. Dafür wäre die Gefahr eines Infarktes ein für alle Male gebannt. Die microprozessorgesteuerten »modernen« Herzen paßten sich jeder körperlichen Anstrengung an und verbesserten sogar die Leistungsfähigkeit. Vor allem aber könnten sie keinen Infarkt bekommen.
Ich brauche Zeit, um diese Vorstellung allmählich an mich heranzulassen. Künftig soll ein Apparat anstelle des Herzens in meiner Brust schlagen, funktionieren. Auch wenn sich meine Leistungsfähigkeit nicht minderte, der Gedanke ist grauenhaft: Was aus Fleisch und Blut ist, reduziert sich auf ein Funktionieren, tatsächlich auf eine bloße Pumpe. Werde ich mir künftig noch ein Herz fassen können? Was sollte mir noch zu Herzen gehen? Tina, Andreas, Sylvie — von Herzen lieben? Von welchem? Mit welchem ...?
Jetzt wie Hiob das Haupt verhüllen und sich stumm dem Schmerz überlassen. Wäre da nicht diese ohnmächtige Wut, die wilde Vergeltungsphantasien in mir aufwühlt! Die mich hindert, mich in das Unvermeidliche zu fügen. Die Lust, jetzt Bomben zu werfen. Diese Absurdität eines zivilisatorischen Systems, das sich längst verselbständigt hat und nun unterschiedlos alle frißt, ob sie es mitgestaltet oder bekämpft haben. Das System hat seine eigenen Zwecke, die nicht mehr die unseren sind. Es hat sich von uns emanzipiert und befreit wie ein Monster. Es folgt seinen eigenen Gesetzen, es beherrscht uns wie ein Drache, der blutigere Opfer fordert, als sich die schrecklichste Fabel je hätte ausdenken können. Die Zivilisation frißt ihre Kinder.
Tina ist rührend. Sie versucht, mir diese schweren Gedanken zu verscheuchen. Ich behielte mein Herz, auch wenn man mir das anatomische, den Muskel, herausnähme. Die Liebe, die Gefühle, die Freude seien überall im Menschen. Trostvolle Banalitäten, sie tun mir gut. Dennoch: »Was drängst du denn so wunderlich, mein Herz, mein Herz?«
3. Februar 2020
Ein Drittel des Bruttosozialproduktes geben die Industriestaaten mittlerweile für den Umweltschutz aus. Von den Staatsausgaben mehr als die Hälfte. Und es wird noch nicht reichen. Die Länder Europas werden die Steuern weiter heraufsetzen müssen. Die Bürger akzeptieren das, sie sind bereit, den Gürtel noch enger zu schnallen.
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Die Staatsverschuldung ist an ihre Grenze gestoßen. Wir löffeln aus, was uns die Altvorderen eingebrockt haben. Die Hypotheken der Vergangenheit werden noch weit in der Zukunft unsere Enkel und Urenkel drücken. Das Deprimierende ist nur, daß mit Geld und neuen Technologien die Schäden nicht mehr zu beseitigen sind. Wir können nur noch Flickschusterei betreiben. Verzögern, die kleineren Übel wählen. Es ist keine Technologie denkbar, die es ermöglichen könnte, das Ozonloch zu stopfen, indem das FCKW wieder eingesammelt würde. Die Lufthülle läßt sich nicht mehr filtern. Wir können nur noch auf einen positiven Irrtum hoffen: Vielleicht ist die Regenerationskraft der Natur doch stärker als angenommen. Vielleicht — hoffentlich — irren sich die Computer bei ihren Berechnungen. Vielleicht — hoffentlich — können die Ozeane mehr Kohlenstoff schlucken als angenommen.
Dennoch ist der Antrag der europäischen Grünen in Straßburg berechtigt, alle Vermögen ab drei Millionen Mark Schätzwert zu enteignen und eine Steuerprogression einzuführen, die das Netto-Einkommen auf 15.000 Mark begrenzt. Die Gefahr bedroht alle in gleicher Weise, das Damoklesschwert hängt über allen Köpfen, ob arm, ob reich. Jedes Vermögen ist mit Umweltschädigung erwirtschaftet worden. Angesichts gleicher Gefahr muß es aber absolute Solidarität geben. Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Und die Bedürfnisse müssen einer gesellschaftlichen Kontrolle unterworfen werden. Das Wecken künstlicher Ansprüche muß aufhören. Wie wenig Materielles brauchte der Mensch, um glücklich zu sein. Wann werden wir Immaterielles produzieren — Liebe, Zuwendung, Zärtlichkeit, Verlangen nach Kunst, nach dem Kreativen, die Entdeckung des eigenen Selbst?
Wenn wir uns auf dieses ethische Minimum nicht einigen können, werden wir diese Bedrohung, was immer sie bereithalten mag, nicht bewältigen.
Solidarität mit denen, die diese Katastrophe nicht zu verantworten haben, aber unter ihr schon jetzt am stärksten leiden: den Menschen in der Dritten Welt. Ausgeplündert von uns und ausgeplündert von ihren eigenen Eliten. Die verhängnisvollste, nie vertraglich fixierte Kumpanei, die es vermutlich je gab.
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In Bangladesh, am Amazonas, in Ägypten saufen die Armen ab. In der Sahelzone verdursten sie. In Indien verhungern sie. Die Reichen aber haben sich abgesetzt oder werden sich rechtzeitig absetzen, hier wie dort, um ihr Dasein in italienischen Villen oder französischen Schlössern zu genießen.
Wer soll diese menschliche Springflut eindämmen, wer sie ernähren, woher die Energie nehmen, um eine halbwegs menschliche Existenz zu ermöglichen? Seit 50, 60 Jahren wird vor der Bevölkerungsexplosion gewarnt. Die Stupidität der Katholischen Kirche war ja nicht einmal das schlimmste. Zwecklos, nach Ursachen zu forschen. Es kamen wohl viele hinzu. Heute könnte man die Menschen durch Impfung problemlos sterilisieren. Man müßte freilich Gewalt anwenden. Die Inder, die Afrikaner, die Indios krepieren lieber, als sich zwangssterilisieren zu lassen. Als Europäer ahne ich nur das Ausmaß der Verletzung, das man ihnen zufügen würde. Im Norden die Täter, im Süden die Opfer. Gut, daß sie beizeiten, seit Menschengedenken, gelernt haben, Leiden zu ertragen, klaglos, ohne zu rebellieren.
5. Februar 2020
Fast mit der Stoppuhr in der Hand verfolgt die Weltöffentlichkeit die »Produktion der Biomasse«, das Wachsen der gepflanzten Wälder. Doch ein Wald wächst nicht in einem Jahr. Und die Erfolge scheinen eher bescheiden zu sein, auch wenn es keine Alternative zur »Produktion von Biomasse« gibt. Die Biomasse soll das CO2 absorbieren. Den Berechnungen zufolge hätten zwei Millionen Quadratkilometer neue Wälder die Aufgabe, die Kohlenstoff-Konzentration in der Atmosphäre auf den Stand von 1980 zu bringen.
7. Februar 2020
Der Mensch denkt, Gott lenkt. Aber denkt der Mensch wirklich? Sind diese Kultur und diese Zivilisation wirklich dem Denken entsprungen? Hier haben schon andere ihre Zweifel angemeldet, am ehrlichsten einer der großen Denkmächtigen: »Ich glaube, daß der Versuch der Natur, ein denkendes Wesen hervorzubringen, gescheitert ist.« Max Born.
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Die Zivilisation entspringt nicht nur dem Denken, sondern mehr noch dem Wollen des Menschen. Und in das Wollen fließen so viele »denkfremde« Antriebskräfte ein, daß ein brisantes, irrationales Handlungsgemisch entsteht. Rücksichtslosigkeit, Egoismus, Selbstsucht, Neid, Konkurrenz — eine leistungsfähige Dynamik, der das »reine« Denken fremd ist. Ihr ist auch die Natur fremd.
Die sich entwickelnden Dürrezonen in den Breiten von 5 bis 35 Grad trocknen die alten Wälder aus. In Indien, Pakistan und Bangladesh kann auch die Polizei nicht verhindern, daß die Setzlinge, kaum daß sie ausgeschlagen haben, gleich wieder zu Brennholz werden.
Das langfristig Schlimmste aber ist die rapide sich verstärkende UV-Strahlung. Sie bremse das Pflanzenwachstum um 30 Prozent, teilte World Watch gestern mit. Wahrscheinlich bereits zwölf Prozent des Phytoplanktons in den arktischen und antarktischen Gewässern zerstört. Die feinen Eiweißzellen werden verätzt, wie mit einer Lötlampe. Herrgott! Das entspräche 24 Prozent Vernichtung der Biomasse auf dem Festland!
Es wird wohl nichts mit der raschen Vermehrung der Biomasse. Die Temperaturerwärmung steigert tatsächlich die Atmung der Pflanzen, beschleunigt vor allem den Abbau organischer Stoffe. Der Anstieg der Kohlenstoff-Konzentration geht also weiter. Eine Verringerung wäre nur durch Drosselung der Emissionen möglich.
Wahrscheinlich wird uns nur noch die Gentechnik helfen, wenn überhaupt. Egal, um welchen Preis, Hauptsache, diese Menschheit bekommt noch einmal den Kopf aus der Schlinge. Japanische Wissenschaftler sehen eine Chance, genetisch manipuliertes Phytoplankton zu entwickeln, das sich wesentlich rascher vermehrt und vor allen Dingen weitgehend resistent ist gegen UV-Strahlung.
Wenn sich die »Produktion von Biomasse« in den Weltmeeren mit dieser Methode um 50 Prozent steigern ließe — in dieser Größenordnung bewegen sich die Erwartungen —, wäre »eine entscheidende Schlacht im Kampf gegen den Treibhauseffekt gewonnen«. Dann würden die Meere den Überschuß an Kohlenstoff schlucken.
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Der militärisch-euphorische Ton paßt gut. Unentwegt müssen wir gegen die Natur Schlachten schlagen. Erst an der Produktionsfront und zur Verteidigung des Lebensstandards, jetzt, um das nackte Überleben zu retten.
Nur, wer stopft das sich vergrößernde Ozonloch? Wer beschwört die Sonne, ihr aggressives Licht zu dämpfen? In Australien und Neuseeland grassieren unter dem Vieh seit Jahren schwere Augenkrankheiten. Man kann nicht jeder Kuh eine Brille verpassen.
Sah gestern im Fernsehen einen uralten Schinken: »Raumschiff Galactica antwortet nicht«. Beschuß von außen, Explosionen im Innern, die Mannschaft zerstritten und bekämpft sich selbst, die Vorräte gehen zur Neige. Am Ende verliert sich das Raumschiff in den Weiten des Weltraums. Exakt unsere Situation im Raumschiff Erde.
11. Februar 2020
Den ganzen Tag über für mein geplantes Buch im Redaktionsarchiv gearbeitet. Es fällt mir schwer, mein eigenes Daseinsgefühl vor 30 Jahren nachzuerleben. Die politischen Themen und Probleme, die damals die Öffentlichkeit bewegten und die Schlagzeilen beherrschten, sind Nebensächlichkeiten geworden oder gar völlig verschwunden. Der Zerfall der Sowjetunion, der Bürgerkrieg in Jugoslawien, die militärische Abrüstung, die Kämpfe des deutschen Vereinigungsprozesses, die Stasi-Spitzel-Skandale, Europa und Maastricht, der Streit um Steuern und Wachstum, der Golfkonflikt, der Nahe Osten — das Leben damals erscheint mir im nachhinein als bunt und abwechslungsreich, die farbige Palette des Traditionellen, mit der die Menschheit seit jeher ihre jeweilige Gegenwart gemalt hat. Alle diese Krisen und Konflikte haben auch die Geschichte gestaltet. Was für eine sorglose Zeit, als Natur und Umwelt noch auf den »bunten« oder vermischten Seiten der Zeitungen erschienen — wenn überhaupt. Ihre Katastrophen waren eher Unterhaltung, Abwechslung. Tempora mutantur et nos mutamur cum illis.
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Wie sich die Zeiten ändern — aber haben auch wir uns geändert? Dennoch bleibt nur der Blick zurück im Zorn: Diese Blindheit und intellektuelle Unzulänglichkeit aller, die damals irgendwie und irgendwo etwas zu sagen hatten, »Verantwortung trugen«. Aus heutiger Sicht unfaßbar. Wohin haben sie die Verantwortung getragen? Was ging nur in den Köpfen der Menschen von damals vor? Wie konnten Journalisten nur so blind sein? So unbedarft, so professionell-routiniert die falsche Politik vermitteln? Wir Heutigen werden es wohl niemals begreifen können!
Schon damals war doch offensichtlich, daß Wohlstand und Lebensqualität nicht mehr identische Faktoren waren, daß sie nicht mehr zusammenfielen, keine Synonyma mehr waren, sondern zu immer schärferen Gegensätzen wurden. Jeder — zumindest jeder Journalist — hätte doch begreifen müssen, daß Steigerung des Wohlstands Beeinträchtigung der Lebensqualität bedeutete und — dementsprechend — Erhalt von Lebensqualität Einschränkung des Wohlstands. Wir haben uns damals für Wohlstand und gegen Lebensqualität entschieden.
Heute, kaum eine Generation später, beherrscht die Natur das gesamte politische Geschehen (und wir Journalisten tun so, als hätten wir es immer schon gewußt). Die Existenz der Menschheit ist auf sie hin ausgerichtet, alles Handeln orientiert sich an ihr. Eine Zwangsintegration des Menschen in seinen Ursprung, die aber den Widerspruch nicht mehr zu mildern vermag, weil sie zu spät kam. Mensch und Natur bleiben Antagonisten. Der Mensch hat sich wie ein Feind aufgeführt und die Natur zum Feind werden lassen. Jetzt gibt es keine Versöhnung mehr. »Der Planet schlägt zurück« — Titel einer Seminarreihe der Wiesbadener Volkshochschule: Hat sich mir eingeprägt, »treffende« Metapher, stammt aus den achtziger Jahren. Die Archive bergen eine entsetzliche Wahrheit.
13. Februar 2020
Im letzten Jahr wurden in Europa 15,23 Millionen Asylbewerber registriert, 2,61 Millionen wollten sich in Deutschland niederlassen. 96 Prozent von ihnen bereits an den Grenzen als Armutsflüchtlinge ausgesondert und zurückgeschickt.
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Brüssel beklagt die immensen Kosten der Repatriierung, für die in Zukunft die Fluggesellschaften aufkommen müssen, wenn die Einreisenden keine ordnungsgemäßen Papiere haben.
Große Probleme nach wie vor mit der EU-Einwanderung aus Griechenland, Süditalien und der Türkei. Ehe die Leute verdursten, packen sie halt die Koffer.
Fremdenfeindlichkeit und Ausländerhaß besorgniserregend. Fast jeden Tag Anschläge und Tätlichkeiten. Die Kulturnation Europa. Die multikulturelle Gesellschaft? Statt dessen archaische Durchbrüche von Haß aufgrund von Angst, die Fremden könnten uns etwas wegnehmen. Teilen wollen sie. Heißt das wegnehmen? Vielleicht. Aber ist es nicht berechtigt? Zwecklos, der Angst und dem Haß komplexe Sachverhalte vermitteln zu wollen.
14. Februar 2020
Ich kann es nicht fassen! Aber alle anderen sind ebenfalls sprachlos, beglückt, entsetzt, verwirrt, hin- und hergerissen: Die sensationellste Nachricht des Jahres, des Jahrzehnts, die es je gegeben hat! Das Unerhörte, Undenkbare ist eingetreten: Der Weltsicherheitsrat, nachdrücklich unterstützt von den VSE, Japan, Kanada, Australien und Neuseeland, setzt in den Vereinten Nationen die sofortige Zwangssterilisation in allen Mitgliedsstaaten der UNO durch.
Regierungen, die sich weigern, müssen mit einem Stopp jeder Entwicklungshilfe und obendrein mit einem Wirtschaftsboykott rechnen. Sterilisiert werden in den Industriestaaten jeder dritte Mann und jede vierte Frau im Alter von 18 bis 30 Jahren, in den Entwicklungsländern jeder und jede zweite von 12 bis 35. Geimpft wird allerdings jeder — die eine Hälfte wird wirkungsloses Placebo-Serum sein. Die Konflikte bei jedem Versuch, eine Auswahl zu treffen, wären andernfalls unkalkulierbar. Natürlich soll auch vermieden werden, daß sich die Nicht-Sterilisierten finden können und zusammentun. Da keiner von sich und dem anderen weiß beziehungsweise wissen soll, ob er zeugungsfähig ist, wird sich die Sterilisationswirkung erhöhen.
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Internationale Kommissionen sollen garantieren, daß die Auswahl der zu Sterilisierenden absolut willkürlich und strikt nach dem Zufallsprinzip erfolgt. Nicht einmal die Ärzte sollen wissen, welche der Impfstoffpistolen und Ampullen wirksam sind und welche nicht. Eine soziale Auslese zugunsten der oberen gesellschaftlichen Schichten soll es nicht geben.
Organisation und Durchführung der Impfaktion wird in jedem Land der Dritten Welt der Armee obliegen. Wo die Streitkräfte nicht ausreichen wie in Costa Rica oder auf den Pazifischen Inseln, werden UNO-Truppen diese Aufgaben übernehmen.
In der Begründung der UNO-Resolution heißt es, das Bevölkerungswachstum sei außer Kontrolle geraten (welch eine Erkenntnis — jetzt!), die Ressourcen des Planeten Erde, seine morphologischen und geologischen Strukturen sowie ökologischen und biologischen Systeme seien auf eine so hohe Zahl von Menschen nicht eingestellt. Die Grenzen der Belastbarkeit seien längst überschritten. Alle Versuche, die Kinderzahl pro Familie zu begrenzen, sei es mit behördlichem Zwang, sei es durch Aufklärung, seien samt und sonders gescheitert.
Da man die Öko-Systeme nicht beliebig erweitern und die Ressourcen nicht vermehren könne, müsse das Bevölkerungswachstum »zurückgeschraubt« werden, um die Zukunft des Menschen zu sichern. Die Spitzen der Religionsgemeinschaften und Führer der Massenorganisationen werden aufgefordert, die unabweisbare Notwendigkeit dieser in der Geschichte der Menschheit einmaligen Aktion mit Verständnis aufzunehmen und sie unter Einsatz ihrer Autorität den Menschen zu vermitteln. Die Menschheit drohe sich selbst zu zerfleischen, wenn es nicht gelänge, ihre Zahl bei 2,5 bis maximal drei Milliarden zu stabilisieren, was im übrigen mehr als 120 Jahre dauern würde.
Die schweren Konflikte an den Grenzen Bangladeshs zu Ostbengalen, im chinesisch-russischen Grenzgebiet oder jüngst der Masseneinfall von Brasilianern nach Argentinien vor drei Jahren, der zu einem barbarischen Krieg zwischen beiden Staaten geführt habe, seien erste und bedenkliche Anzeichen dafür, daß Verzweiflung, Hunger und Elend die Völker veranlasse, über einander herzufallen.
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Die Menschheit müsse sich ohne Ansehen von Rasse und Kultur, Religion und politischem System, arm oder reich, als Schicksalsgemeinschaft verstehen.
Bin einerseits so erleichtert, fast glücklich und euphorisch über diesen längst überfälligen Schritt, andererseits zutiefst erschrocken und deprimiert. Wieder zahlen die Massen der unterentwickelten Länder den höheren Preis. Die Opfer der Zerstörung des Planeten sollen, werden und müssen jetzt den entscheidenden Beitrag zur Regulierung der ihnen angetanen Schäden leisten. Jetzt nimmt man ihnen auch noch ihren einzigen Reichtum weg, die Kinder! Die Armen und Ausgebeuteten sind immer die Dummen, sie zahlen die Zeche der Reichen!
Aber bliebe ein Ausweg? Gäbe es eine andere Lösung? Wie anders ließe sich der Zusammenbruch des Zusammenlebens auf diesem Planeten vermeiden? Bleibt denn nicht nur Zwang, notfalls Gewalt, da alle anderen Versuche der Geburtenbeschränkung, von sozialen Sanktionen wie in China bis zu Aufklärungsaktionen und kostenloser Verteilung von Verhütungsmitteln in Indien und Afrika, gescheitert sind?
Dennoch: Wie hoch wird der Preis sein? Diese Deprivation an Selbstwertgefühl der Zwangssterilisierten! Die Fähigkeit, ein Kind zu gebären, gab jeder Frau trotz des unsäglichen Elends noch ein Fünkchen Lebenssinn, das Bewußtsein, ein Kind zeugen zu können, jedem Mann ein Quentchen Selbstachtung. Was sollte es — tragischerweise — in Millionen Slums denn sonst geben, um sich als Mensch zu erfahren? Jetzt nimmt man ihnen auch noch diesen Rest an Menschsein, und auch noch mit Gewalt.
Setze wenig Hoffnung in die Zusage der Industriestaaten, mit allen Kräften dazu beizutragen, um etwaige negative Folgen zu begrenzen. Befürchtet wird ein Zusammenbruch sozialer Reaktionen, die Auflösung der Familien- und Gemeinschaftsstrukturen, die sich im Laufe von Jahrhunderten und Jahrtausenden herausgebildet haben. Massenaufstände und Revolutionen sind ebenso in Rechnung zu stellen wie — nach ihrer »erfolgreichen« Niederschlagung — Massenselbstmorde und tiefe Lethargie.
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Die Menschen werden sich von ihrem Gott oder ihren Göttern und vom Schicksal verlassen fühlen. Die, die es trifft, werden fragen: »Warum ich? Warum mein Partner?« Jeder wird sich und den anderen verfluchen — oder um sein Privileg beneiden. Was wird das Schicksal von Frauen sein, die keine Kinder zur Welt bringen? Werden die Männer nicht an anderen Frauen den Nachweis zu erbringen versuchen, daß sie zeugungsfähig sind? Oder von ihnen diesen Nachweis fordern? Und was dann? Ein Kampf um zeugungsfähige Partner? Ausgrenzung der Sterilisierten als Ballastexistenzen ohne Daseinsberechtigung? Neue Klasse der Parias? Auflösung der Ehe, Auflösung der Familie? Anarchie? Chaos?
Welch eine Barbarei, ein schauriger Beweis für die These, daß der Homo sapiens sapiens ein Irrläufer der Evolution ist.
Andererseits — hätte man die Entwicklung treiben lassen sollen? Hätte man die Lösung der Evolution abwarten sollen, die sie für wuchernde Populationen bereithält — Dezimierung durch Selbstausrottung, durch Krankheit und Hunger? Die Schrecken der Aids-Seuche, die Afrika und Südostasien entvölkerte, sind noch unvergessen. Die Gnadenlosigkeit der Natur und ihres Funktionsgesetzes, der Evolution, ist dem Bewußtsein und der Ethik nicht zuzumuten. Der Mensch ist redundant geworden, und das Redundante, Überflüssige, Überzählige, Vielzuviele verliert an Wert. Es wird billig. Der Wegwerfmensch.
Besonders makaber, daß nun die Streitkräfte der jeweiligen Staaten diese »Operation« planen und unter Kontrolle halten sollen (nicht freilich in Europa und Nordamerika, denn wir sind ja zivilisiert). Wer sonst? Besser Menschenleben verhindern, als Menschenleben vernichten.
17. Februar 2020
Ich schäme mich, ein Europäer zu sein. - Eruptionen des Protestes in Afrika, Asien, Lateinamerika, Bürgerkriegszustände in Pakistan, Indien, China und selbst noch in dem immer kleiner werdenden Bangladesh, kaum daß der UNO-Beschluß bekannt wurde. Die Impfaktion soll erst in sechs Monaten anlaufen, und schon schießt das Militär die Proteste zusammen.
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Die Verzweiflung der Massen — der Menschen — über das, was ihnen zugemutet werden soll, die Beraubung ihrer Zeugungsfähigkeit, ihrer Kreatürlichkeit und damit also ihres Menschseins, übertrifft alle Befürchtungen, jedenfalls in den Industriestaaten, wo man sich diesen existentiellen Eingriff tatsächlich nur als »Operation«, als chirurgischen Eingriff, als technisch-rationale Maßnahme vorgestellt hat.
Unzählige Opfer in Rio, Lome, Bogota, Nairobi und Kairo, Karatschi, Bombay und Kalkutta, Neu Dehli und Haiderabad, Dakka, Bangkok und Singapur, Peking und Shanghai. Der Süden ist im Aufruhr! Die Sicherheitskräfte nahmen weder auf Frauen und Schwangere Rücksicht, noch auf Kinder.
Teile der indischen Armee rebellieren, umsichgreifende Meuterei auch unter Einheiten der chinesischen Streitkräfte. Die Regierungen von Kenia, Uganda und Tansania widerrufen ihre UNO-Verpflichtung mit Hinweis auf die Millionenverluste durch Aids in den letzten Jahrzehnten.
Wer jetzt seiner Chronistenpflicht genügen muß, um diese Barbarei zu notieren und aktenkundig zu machen! Der Fluch der Vergangenheit muß und wird jetzt eingelöst werden. Letztlich baden wir aus, in Blut, in einem Meer an Verzweiflung, was unsere Väter uns hinterlassen haben.
19. Februar 2020
Wo hatte das alles nur seinen Anfang? Es gab viele Anfänge und Ursachen, einen erst neulich entdeckt: 1988 forderte ein Experte aus dem Hause Siemens in einem Aufsatz »Festlegen eines als tolerierbar anzusehenden Limits der Klimaerwärmung durch eine anerkannte Expertengruppe«. Und die »Experten« der früheren Kernforschungsanlage Jülich taten es dem Siemens-Experten gleich:
»Sehr langfristig könnte ein Management des klimatischen Systems durchaus als ein Instrument zur Sicherung der menschlichen Lebenssphäre betrachtet werden. Dies könnte aber nur dann ein positiver Beitrag zur Entwicklung der Menschheit sein, wenn eine globale politische Vernunft die Eingriffe lenkt.«
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Es hat sie also gegeben, die »Experten«, die Hazardeure, die bei klarem Verstand, dennoch als Schwachsinnige die Vernunft bemühend, mit dem Globus gezündelt haben, weil sie sich vom »Management des klimatischen Systems innerhalb eines tolerierbaren Limits« der Klimaerwärmung Vorteile und gute Geschäfte in klingender Münze versprachen. Der Rest der Welt war ihnen egal. Kurzfristiger Profit auf Kosten der künftigen Generationen — auf Jahrtausende hinweg.
Und dieses epochale Verbrechen bleibt ungesühnt. Die Verbrecher sind tot oder tattrige Greise, in Ehren ergraut. Man wird sie in Frieden sterben lassen, obwohl sie an krimineller Konsequenz und Monstrosität jeden Auschwitzhenker übertreffen.
Ihre Söhne und Enkel aber zwingen jetzt die Elenden in der Dritten Welt, die an dem Desaster unschuldig sind, den Preis zu bezahlen, indem sie sich einer entwürdigenden Behandlung unterwerfen müssen, die in der Geschichte der Menschheit ihresgleichen sucht. Kein Tyrann hat je versucht, Unterworfenen die Zeugung von Kindern zu untersagen. - Die Menschheit als Schicksalsgemeinschaft? Daß ich nicht lache!
22. Februar 2020
Sylvie und Clemens wollen heiraten! Freue mich unendlich für sie, auch wenn ich einen feinen Stich verspürt habe. Trennungsangst? Unsere Beziehung reicht in nicht reflektierbare Tiefen, ich weiß es. Schuldgefühle wegen ihrer Krankheit, wegen des Mißlingens eines idealistischen Wunsches?
Egal, meine Zweifel, daß die Verbindung dieser beiden nicht von Dauer sein würde, kann ich also vergessen. Habe dem Burschen eigentlich immer die Reife zugetraut, zu erkennen, was für eine wunderbare Frau er mit Sylvie bekommt. Auch wenn sie krank ist. Gerade deshalb.
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24. Februar 2020
In den Tundra-Gebieten Sibiriens, Nordeuropas und Kanadas stirbt die Tierwelt immer rascher aus. Schwere Schädigungen des Erbguts, Schwächung des Immunsystems, Krankheiten, Erblinden. Das ultraviolette Licht der Sonne ist gnadenlos, es knackt die DNA-Moleküle in den Zellkernen, zerstört das Eiweiß, verätzt die Augen. Robben, Seekühe, der Eisbär verabschieden sich. Aber wie!
Lappen, Eskimos und Jakuten haben ihre Rentierherden verloren. Sie haben sie geschlachtet. Dagegen das gottserbärmliche Verrecken der hilflosen, der hilflos gemachten Kreatur in der »freien« Wildbahn. Und die Gänse und Enten ziehen jedes Jahr in den arktischen Sommer, nur um sich den Tod zu holen.
Was Sherwood Rowland vor 20 Jahren als Drohung gemeint hat, erscheint mir als Hoffnungsschimmer: »Die Natur wird überleben. Aber fraglich ist, welche Rolle der Mensch noch in der Natur spielen wird.« Man müßte einen Bedingungssatz formulieren: »Damit die Natur überleben kann, darf der Mensch keine Rolle mehr spielen.«
Aber soll denn der Mensch, die Menschheit — ich, du, wir — für die Stupidität einiger Chemiekonzerne und ihrer Manager büßen? »Die Behauptung daß es ein Ozonloch gebe, ist reine Fiktion«: ISC Chemicals UK, 1988. »Es gibt derzeit keine Ozonkrise, die eine gesetzliche Regelung erfordern würde«: DuPont, 1988.
War damals schon zu spät. Doch die fetten Milliardengewinne waren in Wahrheit die Wechsel auf die Zukunft, die jetzt gezogen werden. Die kommenden, noch ungeborenen Generationen in den Umweltdiskurs einbeziehen. Schöne Idee, stammt von 1986.
26. Februar 2020
Der Orkan über den britischen Inseln fordert in einer ersten Bilanz nahezu 1200 Todesopfer. Unter den gesunkenen Schiffen auch die »Helena«. Unverantwortlich von der Reederei, in dieser Jahreszeit bereits Vergnügungsfahrten vor die Felsküsten Norwegens zu unternehmen.
Gestern brach der bisher größte Eisberg in Grönland ab. Aufklärungssatelliten vermaßen ihn mit 210 Kilometer Länge und 74 Kilometer Breite. Er dürfte etwa 800 Meter hoch sein — über dem Meeresspiegel. Ein bizarres, in Grün, Blau und Weiß schimmerndes Gebirge, größer als Malta, treibt gelassen gen Süden. Rund 112.000 Kubikkilometer gefrorenen Wassers. Wieder so ein Menetekel. Aber atemberaubend.
Die Medien vermitteln das Ereignis als grandioses Naturschauspiel, was es ja letztlich auch ist. Eine Tragödie ist auch ein Schauspiel. Noch tragischer freilich, eine Tragödie, in der man selbst als Hauptdarsteller agiert, nicht als Tragödie zu erkennen.
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2. März 2020
Nach drei Monaten wieder europaweite Demonstrationen. Millionen auf der Straße, vielerorts Ausschreitungen und Verwüstungen. Angst und Verzweiflung können sich nicht mehr anders artikulieren, da sie den politisch und gesellschaftlich Verantwortlichen längst nicht mehr vermittelbar sind. In Paris und Rom Einsatz von Militär, die Champs-Elysees verwüstet, elf Tote, Hunderte Verletzte. 19- und 20jährige Soldaten oder Polizisten dreschen auf 19- und 20jährige Demonstranten ein. Die üblichen besorgten Aufrufe der Staatsregierungen und des Europaparlaments zur Besinnung und Mäßigung. Die übliche Hilflosigkeit des Staates, der Politik.
4. März 2020
Nun selbst erlebt, was ich bisher nur vom Hörensagen kannte: Hagel! Das Rhein-Main-Gebiet verwüstet. Unübersehbare Schäden, schreckliche Opfer, trotz pausenloser Warnungen. Etwa 100 Flugzeuge auf Rhein-Main demoliert. Schrott. Die elektrischen Anlagen zerschlagen. Häuserfronten wie mit schweren MGs beschossen. Pro Quadratmeter 80 Kilo Eis, die »Hagelkörner« groß wie Gänseeier.
Das Unheil kündigte sich an — wie ein faszinierendes Schauspiel. Nachtschwarze, überschwere Wolken mit fahlgelben Rändern schwebten in lähmender Stille aus Nordwesten heran, wie überladene Bomber im Tiefflug, die kurz vor der Bruchlandung alles an verheerender Fracht abwerfen, um wieder durchzustarten. Die einschlagenden Hagelbomben erzeugten ein prasselndes Geräusch, als demolierten Betrunkene eine Gastwirtschaft.
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Bereits die sechste Hagelkatastrophe dieses Jahres in Deutschland. Im März! Der Schaden geht in die Milliarden. Die Suche nach den Toten. Die schauerliche Zurichtung der Verletzten. Keine Zeit für das tote und verletzte Wild, die hilflos verendenden Vögel.
6. März 2020
Die Grünen und die sozialistischen Fraktionen des Europaparlaments schlagen eine radikale Veränderung der Wirtschaftsstruktur vor. Statt Marktwirtschaft »korrektive Planwirtschaft«.
Die Marktwirtschaft könne immer nur für Konsum und für einen wie auch immer zu definierenden Wohlstand sorgen, nicht aber für Lebensqualität, da die Natur für sie keinen Marktwert habe. Ob in ihrer klassischen oder in der keynesianischen Theorie — sie brauche zu ihrem Funktionieren geradezu »eine ökonomisch optimale ökologische Katastrophe«. Die Schäden nahmen die marktwirtschaftlichen Theoretiker zwar zur Kenntnis, behandelten sie aber nicht als Thema der Werttheorie. Jeder Versuch einer »Internalisierung der externen Effekte« sei gescheitert: Die Einbeziehung der Kosten für die Umweltschäden in das marktwirtschaftliche System zum Zwecke der Schadensvermeidung sei Illusion geblieben. Den Schutz der Umwelt müsse der Staat durchsetzen. Die Umweltgesetzgebung der letzten 30 Jahre habe zwar schon zu erheblichen Eingriffen des Staates in die Marktwirtschaft geführt und die Investitionsentscheidungen der Unternehmen erheblich begrenzt, doch reiche dies noch längst nicht aus. Die Einführung von Umweltdelikten habe zwar den Katalog der Straftatsbestände enorm ausgeweitet, doch sei dies solange ungenügend, solange 80 Prozent der Waren nur mit umweltschädigenden und die Lebensqualität vermindernden Produktionsverfahren herstellbar seien. Das gelte auch für eine Reihe von Dienstleistungen wie beispielsweise den Lkw-Verkehr.
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Die Fraktionen verweisen auf eine Schweizer Studie, der zufolge von 60 ermittelten Sozialindikatoren 48 die Lebensqualität beeinträchtigten. Da die materiellen Grundbedürfnisse der Menschen in den reichen Industriestaaten längst befriedigt und die Märkte gesättigt seien, werde seit Jahrzehnten Unnötiges produziert, das die Umwelt schwer belaste. Man müsse darüber hinaus — der Antrag ist ja wahrhaftig der Sprung über den eigenen Schatten! — zwischen betriebswirtschaftlichem und volkswirtschaftlichem Nutzen unterscheiden. »Betriebswirtschaftliche Effizienz, die sich als Unternehmensgewinn niederschlägt, darf nicht länger Maßstab für volkswirtschaftlichen Erfolg sein. Da es auch in einer sozialen Marktwirtschaft nicht möglich ist, weil den in Wettbewerb stehenden Unternehmen nicht zumutbar, statt der kurzfristig berechenbaren Kosten eines Produkts auch dessen Folgekosten zu erfassen, um den volkswirtschaftlich tatsächlichen Preis festzusetzen, muß die Wirtschaftsstruktur so verändert werden, daß der Schutz der Umwelt nach Sicherung der materiellen Grundbedürfnisse absolute Priorität erhält. Die Zunahme des nach bisherigen Kriterien definierten Bruttosozialprodukts ist seit zirka 50 Jahren volkswirtschaftlich schädlich. Aus der Sicht der marktwirtschaftlich orientierten Wirtschaftstheorie und -praxis ist das Prinzip der Maximierung von Produktion und des Verkaufs rational, aus der Sicht der Erhaltung der Lebensbedingungen der Menschheit ist dieses Prinzip irrational.«
Das wird einen Aufstand geben! Die Lobbyisten aller Länder werden sich vereinigen und eine schlagkräftige Abwehrfront bilden! Hoffentlich begreifen die Bürger, was mit diesem Antrag ausgesagt ist: die Mehrheit der obersten politischen Autorität Europas gesteht ein, daß es um Kopf und Kragen geht, um die nackte Existenz, zumindest der nächsten Generationen.
Ich hatte die Hoffnung bereits aufgegeben, daß eine politische Instanz von Gewicht noch die Energie finden würde, das fatalistische, von viel Gejammere und hektisch-halbherzigen Maßnahmen begleitete, aber ungebremste Dahintreiben tatsächlich wenigstens zu verlangsamen. Immerhin haben Grüne und Sozialisten im Europaparlament die Mehrheit, dazu in 14 der 20 VSE-Staaten. Daher könnte etwas daraus werden, wenn sie nicht von der eigenen Courage abgeschreckt werden.
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Nur müßten halt auch die USA mitmachen, die Japaner, die Asiaten, vor allem die Chinesen. Es müßte doch möglich sein, die Vernunft auch auf der globalen politischen Ebene zu organisieren. Die Probleme sind doch auch global!
Will mir die euphorische Stimmung nicht mit Zweifeln selbst verderben. Fürchte, daß sich Ernüchterung früh genug einstellen wird. Tina war jedenfalls baß erstaunt, als ich sie zur Begrüßung hochhob und kräftig im Kreise schwenkte. Dabei wurde uns beiden bewußt, wie selten solche Ausbrüche spontaner Freude geworden sind! Unser Bestreben, das Draußen von unserer Beziehung fernzuhalten, gelingt halt nicht immer. Sie als Lehrerin und ich als Journalist schleppen unsere Alltagserfahrungen vom Arbeitsplatz in die vier Wände. Wahrscheinlich unvermeidlich.
Dennoch mit großem Behagen im »Alten Rosenstock« zu Abend gespeist und eine epikureische Andacht mit zwei Flaschen »Winkeler Domdechaney« zelebriert. Tina schmollte (»typisch Mann«), weil sie sich anschließend ans Steuer setzen mußte...
8. März 2020
Deprimierendes Medien-Echo auf den Antrag der Grünen und Sozialisten im Europaparlament! Daß die Wirtschaftslobby, die Liberalen und Konservativen aufschreien würden, war zu erwarten gewesen. Aber daß auch die Medien, die ständig nach wirksamerem Umweltschutz rufen und vorgeben, die Menetekel und Zeichen der Zeit erkannt zu haben, die einmalige, vielleicht auf absehbare Zukunft letzte Chance dieses Planes nicht erkennen, stimmt hoffnungslos. Natürlich, auch meine Zunft ist nur ein Abbild der Gesellschaft, wie konnte ich das, wenn auch nur für einen Moment, vergessen haben; natürlich, sie repräsentiert die verschiedenen Interessen, war nie eine Einheit, sollte es grundsätzlich auch nicht sein.
Aber in diesem Falle, in dieser Existenzfrage ja nicht einer Gruppe, eines Volkes, einer Denkrichtung, einer Glaubensgemeinschaft, einer Kultur, eines Kontinents, sondern der Menschheit, da fiele der Presse die Aufgabe zu, die Vernunft zu organisieren und zu artikulieren, den neuen kategorischen Imperativ: »Handle so, daß die Maxime deines Handelns die Existenzbedingungen auf dem Planeten Erde nicht gefährden!« Statt dessen diese Wenn und Aber, die letztlich zur Desorientierung beitragen.
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Dabei war der Antrag der Grünen und Sozialisten keineswegs das Optimum des Notwendigen! Nach wie vor eine anthropozentrische Sichtweise: Die Lebensgrundlagen des Menschen sollen gesichert werden, es geht um unsere Lebensqualität. Die Natur wird nicht um ihrer selbst willen geschützt, sie steht keineswegs im Mittelpunkt, sondern immer noch der Mensch. Die Schöpfung ist auch hier keineswegs Selbstzweck. Wir sollen die Natur schützen, weil sie kaputtgeht, also wegen uns. Dieser große Rest an anthropozentrischer Hybris muß noch überwunden werden!
Die Medien werden dazu aber am wenigsten beitragen, sie sind keine gestaltende Kraft mehr, waren es wohl auch nie. Der Selbstanspruch, durch rationale und kompetente Kritik Fehlentwicklungen vorherzusehen oder beizutragen, sie zu korrigieren: lächerlich! Nie eingelöste Selbstüberschätzung! Und dieses Versagen wird auch noch verfassungsrechtlich geschützt. Billiger hätten sich die Herrschenden nicht absichern können, freie Hand zu behalten. Die Zensur ist überflüssig.
14. März 2020
Bürgerkrieg in Brasilien voll entflammt. In Sao Paulo stürmten Hunderttausende aus den Favelas die Innenstadt und nahmen mit, was nicht niet- und nagelfest war. Polizei und Militär machtlos. In Rio steht die Innenstadt in Flammen. Auch die Supermärkte in den Vororten geplündert.
Der Kampf wird sich aber auf dem Land entscheiden. Aufgebrachte Campesinos und Wanderarbeiter sollen in Minas Gerais und im Norden Hunderte von Haziendas besetzt und die Besitzer vertrieben haben. Der Militärkommandant von Recife weigert sich, seine Truppen auf die rebellierenden Massen schießen zu lassen. Massendesertionen. Teils grausame Exzesse: Gefangene Pistoleiros bei lebendigem Leibe verbrannt. Exzesse? Waren die Lebensbedingungen dieser Menschen etwa kein Exzeß? Sind die absaufenden Küstenzonen, ist die versalzende Amazonasmündung, in die der steigende Atlantik einbricht, kein Exzeß?
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Bin sehr neugierig, wie rasch und unbürokratisch der flüchtende Geldadel in den EG-Staaten, wo er seine Milliarden deponiert hat, politisches Asyl finden wird. Die schwerreichen Ausbeuter bereiten ja auch keine Schwierigkeiten, weder werden sie auf den Arbeitsmarkt drängen noch mit dem Ankauf von Villen den Wohnungsmarkt belasten. Im Gegenteil, sie werden die Konjunktur fördern, wenn sie einen Teil ihres Reichtums hierzulande investieren. Sie werden daher auch keinen Ausländerhaß schüren. Mit anderen Worten, sie werden uns willkommen sein!
Stechen in der Brust, Ziehen im linken Arm. Wieder steht eine Nacht ohne Schlaf bevor. Das alte Herz.
20. März 2020
Die Nachrichten aus Brasilien alarmieren die einen, die anderen stimmen sie hoffnungsvoll. Die EG-Regierungen sind »ernsthaft besorgt«, die USA »warnen«. Paradoxerweise hat ihr Druck auf die brasilianische Regierung, um die Rodung der letzten Reste des tropischen Regenwaldes am Amazonas zu stoppen, den Ausbruch der Revolution beschleunigt. Die ausgepowerten Campesinos, von den Pistoleiros der Großgrundbesitzer verjagt oder erschossen und um ihre Parzelle gebracht, konnten nicht mehr in den Urwald ausweichen, um sich ein Stückchen Land zu erschließen. So stieg der soziale Druck im Kessel, der jetzt explodiert.
Frühlingsanfang, dem Kalender zufolge. Anfang welchen Frühlings? 24 Grad, feucht-warm, die Rosen in voller Blüte wie schon seit Jahren. Für die Jüngeren normal, wir Älteren aber vermissen den »wahren« Frühling, die Jahreszeit des raschen Erwachens, der aufspringenden Knospen, des erst zögernden, dann unaufhaltsamen Aufbrechens von Lebenswillen. Die Zeit der neuen, herben, unbekannten Düfte, die Zeit der Sehnsucht.
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26. März 2020
Das Europaparlament nimmt das »Gesetz zur strukturellen Umwandlung der freien Marktwirtschaft in eine gesellschaftlich gestaltete korrektive Planwirtschaft« an. Die Mehrheit aber zu knapp, die Umbauphase — zehn Jahre — zu lang. Viele Sozialdemokraten bekamen kalte Füße, war nach dem Presse-Echo und dem Aufschrei der Lobby zu erwarten. Kompromisse, als ob man mit der Natur Kompromisse schließen könnte! Die kennt keine Kompromisse, sie ist kein Verhandlungspartner.
Die Hoffnung minimiert sich auf die Möglichkeit, daß dieses Samenkörnchen doch noch Wurzeln schlagen wird, auch wenn es längst zwölf geschlagen hat. Immerhin ist eine alternative Idee geboren, die einzige, die einen Ausweg weist.
Deprimierend, daß erst die Rechtsradikalen die Mehrheit für den Antrag gesichert haben. Dies entwertet ihn nahezu total! Grauenhafte Koalition. Hat man das nicht vorhersehen können?
Wenigstens wird die FR die Rede des SPD-Abgeordneten Pierre Fornallaz dokumentieren: statt immer mehr umweltschädigenden Wohlstand durch überflüssige materielle Güter — Lebensqualität »erzeugen«. Neben sauberer Luft, reinem Wasser und giftfreiem Boden sollte das Wirtschaftssystem freie Zeit produzieren, damit der Mensch auch und gerade seine — bislang vernachlässigten — »immateriellen Bedürfnisse« befriedigen könne. Zeit hätten wir im Überfluß, wenn wir sie nicht mit unnötiger Arbeit und mit Konsum totschlügen. Freiheit für Selbstverwirklichung statt Gelderwerbs- und Konsumzwang und: Freizeitverbrauch! »Die empirisch-positivistische und analytische Denkart, die sich hauptsächlich aus dem naturwissenschaftlichen Weltbild der letzten Jahrhunderte ergibt, hat die Entfaltung des Menschen behindert. An dem Tag, an welchem der letzte Mensch auf dieser Erde sein Leben aushauchen wird, werden die Computer aller Wirtschaftsorganisationen höchste betriebswirtschaftliche Gewinne ausweisen. Spätestens an diesem Tag wird feststehen, daß diese Gewinne kein Maßstab für Lebensqualität waren!«
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Auch solche Gedanken können also noch gedacht und ausgesprochen werden! Unter »immateriellen Bedürfnissen« versteht Fornallaz »die Vielfalt des Lebens erfahren«, »Entfaltung schöpferischer Schaffenskraft«, »Überwindung der Fesseln des heutigen Weltbildes«, »Öffnung zur Transzendenz«. Zu ergänzen wäre: Hinwendung zum Mitmenschen, Liebe geben und nehmen, Gefühle entdecken, Freunde suchen, kommunizieren, helfen, gegen Unrecht ankämpfen, sich für humane Zwecke engagieren. Statt sich mit immer mehr Information und Wissen zu begnügen: nach Erkenntnis streben und über Erkenntnis hinaus nach Weisheit. Öffnung zur Transzendenz. Qualität satt Quantität.
Doch sind wir nicht schon der unproduktive Charakter Erich Fromms? Orientiert am Haben und nicht am Sein? Der Typus Mensch, den das System braucht, um sich zu erhalten und zu reproduzieren? Egoistisch, hart, rücksichtslos, leistungsstark, fleißig, unternehmensfreudig, risikobereit, zielorientiert, effizient, informiert, qualifiziert. Der gefühlskalte Fachidiot. Wird uns die Kraft der Erkenntnis noch zuwachsen?
Seltsam, daß wir computergläubigen Informationsfetischisten die Informationen, die wir über die Natur haben, ignorieren.
1. April 2020
Geburtstag. Schon 53! Wo ist die Zeit geblieben? Wieviel bleibt noch? Der Gedanke an die Ende des Jahres anstehende Herztransplantation ist nicht zu verscheuchen. Gerade heute nicht. Mein ganz privater Tribut für das Produzieren von Wohlstand. Allerdings kein freiwilliger Preis. Bezahlt wird mit Lebensqualität. Mit meinem ganz realen Alltag bestätige ich die Theorie — und Hunderttausende mit mir. Mitläufer, Gestalter und Getäuschte. Aber doch auch Mitschuldige!
Dennoch ein schöner Tag. Sie haben mich mit einem Ständchen geweckt, Tina, Sylvie und Andreas. Mozarts »Im Frühlingsanfang«, eine jener musikalischen Köstlichkeiten, die sich in der Realität des 21. Jahrhunderts längst überlebt haben:
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»Erwacht zu neuem Leben, steht vor mir die Natur, und sanfte Lüfte wehen durch die verjüngte Flur... « Eigentlich ein Zynismus. Einst war der April der aufregendste Monat im Jahr. Voller Hoffnung und Sehnsucht. Trotz aller Rückschläge ging es aufwärts, unvermeidbar irgendwohin aufwärts, denn die Tulpen und Magnolien ließen sich durch nichts aufhalten.
Andreas drängte es dann, den Vater an seiner erworbenen Kompetenz teilhaben zu lassen. Der Junge geriet rasch ins Schwärmen, sein Studium hat ihn gepackt. Die Hoffnung, die eine verängstigte Menschheit vorab in die Gentechnik und Molekularbiologie investiert hat, wirkt bei den jungen Studenten als gewaltiger Motivationsschub: Man könne das Wachstum der Pflanzen schon heute verdoppeln, in Bälde sogar verdreifachen, und die meisten Nutzpflanzen obendrein auf kargen, bisher nicht oder nicht mehr nutzbaren Böden prächtigst gedeihen lassen. Ganz ohne Düngemittel, weil sie ihre Nährstoffe selbst produzieren. Die Genetik mache es möglich, kahlen Karst in rauschenden Forst zu verwandeln. An seinem Institut seien Gene von Disteln und Bohnen mit Erfolg in das Genom von Getreide- und Gemüsepflanzen eingebaut worden. Bald werde sich der Trend umkehren: Das Kohlendioxyd in der Atmosphäre werde abnehmen. Gleichzeitig werde man die Ernährungsbasis in der Dritten Welt sichern.
(Ich) Ließ dem Jungen den Glauben. Den braucht er, auch wenn mich diese etwas unreflektierte Überzeugung doch leicht irritierte. Aber was soll ich ihn mit meiner Skepsis entmutigen. Vielleicht, hoffentlich! wird es tatsächlich so kommen. Die »gen-ethischen« Debatten sind vorbei. Die Genetik ist zum Strohhalm geworden, an den wir uns klammern. Geklonte Wälder, neue, fremdartige Pflanzen — Hauptsache, es wird Nahrung produziert gegen das große Sterben und Biomasse, die Kohlendioxyd schluckt.
Und der zivilisationsresistente Mensch! Mag auch der Preis für den erbgesunden — für den erbgenetisch reparierten — Menschen uns »Damaligen« zu hoch erscheinen, für die Jungen ist es nostalgischer Romantizismus, daher kein Thema.
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Mit der heutigen pränatalen Genomanalyse hätte es keinen Kant, keinen Hölderlin und Nietzsche, keinen Dostojewski und keinen Gustav Mahler gegeben. Sie wären alle als potentiell Kranke in fötalem Zustand abgetrieben worden. Leid und Schmerz sensibilisieren, die unerfüllbare Sehnsucht nach dem Normalzustand wird in Kreativität verwandelt. Das Abnorme und Kranke, wie hat es die Kulturentfaltung bereichert und vorangetrieben! Dagegen die triste Norm des Gesunden. Wie respektlos und unästhetisch. Ganz Gegenwart.
Sylvie wird mit ihrem Klavierspielen das System weder optimieren noch reparieren. Aber sie bietet Freude, die Fornailaz'sche Lebensqualität, jenen, die ihre Musik hören. Zum Beispiel mir. Kein Hüsteln und kein schweres Atmen, wenn sie spielt, kein Griff zum Luftspray. Ein kleines Wunder, wohl der entrückenden Konzentration zu danken, wie sie einem als heilende Kraft nur die Musik abverlangen kann.
Wenn die Kunst nur die Gebrechen der Welt heilen könnte! Der Selbstanspruch als ständig angebotene, aber nicht genutzte Möglichkeit. Alle Kunst entspringt dem ästhetischen Sensorium des Menschen, das sich aber aus der Natur entwickelt hat. Sie sagt, was harmonisch ist, was mit sich selbst eins ist, also was sein soll. Was aber sein soll, ist gleichzeitig das Gute. Platon nennt es die Idee.
Die Häßlichkeit der gestalteten Realität zeigt indes die Ferne von der Idee, mithin vom Guten, also von der Natur: statt Wälder Nutzholz, statt Tierhaltung Fleischproduktion, statt Bildung Wissen, statt Erkenntnis Information, statt Architektur umbauter Raum, statt Reisen Tourismus, statt Freizeit Freizeitverbrauch, statt Kunst Unterhaltung, statt Bedürfnisbefriedigung Konsum, statt Lesen Fernsehen; sogar die Zeit wird zu Geld und das Leben zum sinnlosen Zweck. - Platons Idee?
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11. April 2020
Die Justiz bekommt die Umweltkriminalität einfach nicht in den Griff. In den VSE jährlich 120 000 Fälle von Gewässerverschmutzung und 100.000 Fälle umweltschädigender Abfallbeseitigung.
Aber nur in einem Viertel der Fälle wird Anklage erhoben. Die meisten Verfahren enden mit lächerlich geringen Geldbußen, Haftstrafen werden fast stets zur Bewährung ausgesetzt. Dabei werden, wie sich aus den Urteilsbegründungen und den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen ergibt, vier Fünftel dieser kriminellen Delikte bewußt oder sogar geplant begangen, in Kenntnis der Strafbarkeit und im Wissen um die Folgen.
Die widerrechtliche »Entsorgung« 100 Tonnen hochgiftigen Sondermülls wird so »hart« bestraft wie der Diebstahl eines Fahrrades: Geldstrafe, höchstens sechs Monate auf Bewährung. Angemessen wäre die Gleichstellung einer solchen Tat mit einem Tötungsdelikt, ergo mindestens acht Jahre Gefängnis.
Aber gäbe es denn eine Lösung, die nicht der Quadratur des Kreises gleichkäme? Letztlich sind alle diese umweltfreundlichen Vorschriften und Gesetze Augenauswischerei und Selbsttäuschung, solange dieses Industriesystem auf diese Unzahl gefährlicher Stoffe nicht verzichten zu können glaubt. Zwei Drittel aller Unternehmen, vor allem mittelständische, müßten Konkurs anmelden, wollten sie alle Auflagen des gesetzlichen Umweltschutzes erfüllen und damit die Kosten in die Kalkulation aufnehmen. Das System ist darauf angewiesen, daß Luft, Wasser und Boden, also die Existenzgrundlagen des Planeten, kostenlos, zumindest billig zur Verfügung stehende Produktionsfaktoren sind. Es existiert immer noch kein Verfahren, die Kosten ihres Verbrauchs und ihrer Zerstörung zu berechnen und auf die Preise für die Produkte umzulegen. Geschweige denn die Kosten, die von den künftigen Generationen zu bezahlen sein werden! Auf deren Kosten wir leben.
16. April 2020
Die kommunalen Gartenämter beginnen wieder mit der kostenlosen Abgabe von Samen oder Setzlingen des Riesenknöterich. In unserem Wohngebiet ist die Anpflanzung obligatorisch, nachdem im letzten Jahr im Boden unzulässig hohe Dosen an Schwermetallen, vor allem Quecksilber, festgestellt worden waren.
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Wohnen seit Jahren auf Gift, enthalten in Schlacke und Bauschutt aus den achtziger Jahren. Für drei Jahre wird der Garten mit Riesenknöterich wuchern.
Wer hätte das gedacht: der Riesenknöterich, eine Wunderpflanze! Er ist mir wie ein guter Kamerad ans Herz gewachsen, seit ich um seine Fähigkeit weiß, giftige Schwermetalle aus dem Boden zu ziehen. Als würde er sich opfern wie ein Winkelried, denn anschließend muß er als Sondermüll beseitigt werden. Der Riesenknöterich, dein Freund und Helfer. Er läßt etwas von der zähen Regenerationskraft der Natur ahnen — für die Zeit nach uns.
19. April 2020
Der Supereisberg treibt westlich von Island vorbei Richtung Süden. Forschungsstationen von 12 Staaten haben sich auf ihm eingerichtet. Erste Meßergebnisse zeigen, daß sich die Fließgeschwindigkeit des Grönlandeises in den letzten Jahrzehnten verdreifacht hat. Dieses Eis hätte erst in 70 bis 90 Jahren ins Meer gelangen dürfen, und dann zu wesentlich kleineren »Portionen«. Klimaerwärmung, Treibhauseffekt. Einer der vielen Beweise treibt also jetzt westlich von Island, und auf ihm sitzen Forscher, die redundante, überflüssig gewordene Ergebnisse sammeln. Quod erat demonstrandum.
21. April 2020
Der Rechtsradikalismus nimmt offen faschistische Züge an. Er ist drauf und dran, den Konservativismus als politisch-geistige Bewegung aufzusaugen. Wären heute Staatswahlen in Deutschland, bekämen die Rechten ein Drittel der Stimmen, in Europa gar noch mehr. Frankreich, Spanien, Italien, aber auch Polen und Ungarn! Dieses Übel schwärt zäh seit 30 Jahren und droht nun offen auszubrechen. Es wird wieder heiß in Europa, wir werden uns warm anziehen müssen.
Gestern krochen die Ratten offen aus ihren Löchern: »Führers Geburtstag«. 75 Jahre ist es her, daß Gröhaz sich entleibte, doch der größte Henker aller Zeiten lebt und spukt fort, vergiftet auch dieses Jahrhundert. Man darf sich wieder offen zu ihm bekennen.
207/208
Er wird zum Mythos, die Zeit heilt nicht nur Wunden, sie mildert auch das Verbrechen. Die Epoche verlangt nach der Gewalt als Lösung für alle Probleme, die die Vernunft nicht zu lösen vermag. Gewalt als Lösung und — wohl noch mehr — mystische Erlösung aus Angst und Ohnmacht des unbewältigten Alltags, der zur Drohung gewordenen Zukunft. Und die Flüchtlinge werden zur Allegorie für diese Bedrohung. Die Faschistische Internationale, die Europa wirklich eint, also auch emotional und »geistig« und weltanschaulich? Ein Alptraum, der immer realistischer wird.
Noch ein kurzes Weilchen, und wir haben europaweit Zustände wie in der Weimarer Republik. Durchsatz an rechtsextremistischer Ideologie besonders bei der Polizei und an den Hochschulen besorgniserregend.
25. April 2020
Sylvie sehr bedrückt, fast verzweifelt. Sie weinte. Clemens möchte Kinder haben — und sie hat ihm diesen Wunsch abgeschlagen. Vorerst jedenfalls. Die Zukunft der beiden bricht über sie herein. Es ist nicht mehr ihre Zukunft, kein Mensch hat mehr seine eigene gestaltbare Zukunft, über allen Zukunftsplänen - und Träumen - lastet das gemeinsame Erbe, unversöhnlich. Clemens' Wunsch ist so verständlich wie Sylvies Ablehnung berechtigt. Emotionalität, im Uralten verwurzelt, gegen Rationalität, Reflex der Moderne. Sollte einer von beiden nachgeben, wird er unglücklich sein. Und damit beide, als ob sie sich gleich trennen würden. -- In dieser Existenzfrage wird kein Kompromiß mehr geduldet.
28. April 2020
Antrag Frankreichs im Europaparlament, den Umweltschutz als Staatsziel der Vereinigten Staaten von Europa zu definieren und in der Präambel der Europäischen Verfassung an die Würde des Menschen zu koppeln. »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie beruht auf einer intakten Natur als Existenzgrundlage allen Lebens. Schutz dieser Existenzgrundlagen und damit der Würde des Menschen ist oberstes Ziel allen politischen Handelns der Vereinigten Staaten von Europa.«
Großartig! Nach dem Beinahe-Super-GAU von Clermont-Ferrand vor zwölf Jahren und der eingesargten Altlast des Superphenix haben sie auch in Paris endlich begriffen, daß die Natur sogar die Grande Nation nicht braucht, wohl aber die Grand Nation die Natur. Wie üblich war der Preis für diesen Lernfortschritt verheerend hoch. Muß sich jedesmal ein Tschernobyl ereignen oder ein Zusammensturz der Endlagerstätte wie in Uralogorsk, ehe eine Lektion begriffen wird?
Was ist vernünftiges Verhalten? Für den Biologen und Evolutionstheoretiker ist die Antwort klar: Vernunft ist das Vermögen eines Lebewesens, sich in Einklang mit der Natur zu verhalten. Für den Indianer gibt es das Wort »Tier« nicht, sondern nur »vierbeinige Völker« — und das »zweibeinige Volk«, den Menschen. Alle Lebewesen sind eine Familie. Daher kann sich ein Tier nur vernünftig verhalten, es ist vernunftgesteuert. Auch wenn diese Vernunft determiniert ist, also ohne Freiheit. Aber was hat die Willensfreiheit gebracht?
Der Mensch hat diese Freiheit — als Preis für die Entfremdung von der Natur? Von der Vernunft der Natur? Freiheit als Widersacherin der Vernunft? Was aber wäre die Vernunft der Kultur? Handeln gemäß ihren Normen, ihrer Sitten und ihrer Ethik? Auch dieses Handeln wäre determiniert, eine Pflicht. Wo bliebe die Autonomie des Individuums, freiwillig und nach eigener Erkenntnis das Vernünftige zu tun? Kants Kategorischer Imperativ: »Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.« Autonomie ist, das Sittengesetz anzuerkennen, weil wir es uns selber geben und es selber wollen. Der selbstbestimmte Wille ist nach Kant die Absicht der Natur. Die praktische Vernunft.
Brillant, aber ein Zirkelschluß. Denn der Mensch hat zwei Naturen, eine biologische und eine kulturelle. Und wenn die in Widerstreit miteinander liegen, helfen der Kategorische Imperativ und das Sittengesetz nicht weiter.
Ausländerfeindlichkeit in Zeiten dumpfer Angst und psychischer Überforderung ist als Revierverteidigung biologische Vernunft, sie widerstreitet der kulturellen. Ökonomisches Erfolgsstreben ist kulturelle Vernunft, sie widerstreitet der ökologischen. Wenn ich also Ausländerfeindlichkeit und Erfolgsstreben ablehne, handle ich sowohl gegen die biologische als auch gegen die kulturelle Vernunft, gleichwohl vernünftig. Gibt es etwas, was höher ist als alle Vernunft? Eine dritte, eine Metavernunft, eine negative oder transzendentale?
Aber es gibt ja die biologische Vernunft: Liebe, Solidarität, Nähe, der Wunsch, glücklich zu sein. Und auch die kulturelle Vernunft: die Mühsal des Menschen zu lindern, Kreativität, Erkenntnis, Schönheit, Ästhetik. Somit wäre Vernunft dort zu erkennen, wo sich die biologische Vernunft und die kulturelle entsprechen. Dann aber brauchten wir keine Öko-Ethik.
Das Dilemma des Menschen: Die biologische Vernunft ist auf vielfältige Weise in der Kultur unzweckmäßig geworden, und die kulturelle Vernunft hat sich gegenüber der biologischen immer wieder geirrt, weil das Normensystem und damit der Konsens über das sittlich Gute eine Kategorie der Geschichte sind. Es kann daher den Kategorischen Imperativ nicht in der Kantischen rationalen Form geben.
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