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1. Mai 2020

Guha-1993

210-233

Tag der Arbeit. Der vierte Orkan dieses Jahres rast über Mitteleuropa hinweg. Alarm an der Nordsee- und Atlantikküste. Wieder ducken sich die Niederländer hinter ihre Deiche, beten die Friesen, daß die Bollwerke halten. Werke menschlicher Arbeit schützen vor dem Ergebnis menschlicher Arbeit.

Wir sind zu tüchtig, zu effizient, die Wirkungen unserer Arbeit: betriebswirtschaftlich glänzend, national ökonomisch zu kostspielig, gobalwirtschaftlich verheerend. Daher müssen wir uns jetzt gegen die Natur verschanzen.

Diese unentrinnbar-fatale Dialektik. 

Das wissenschaftlich-technische Zeitalter erzwingt eine chronische Debatte über das »Bildungssystem«. Was ist Bildung? Niemand vermag es zu definieren. Der kleinste gemeinsame Nenner: Bildung ist der Kanon an Kenntnissen und Fertigkeiten, die eine Orientierung innerhalb der technisch-wissenschaftlich gestalteten Kultur ermöglichen. 

Diese Kenntnisse sind zu vermehren, die Fertigkeiten zu steigern. Doch damit erhöht sich auch die Fähigkeit, die Natur und ihre Ressourcen effektiver und erfolgreicher auszubeuten. Bildung als Befähigung zur Erkenntnis? Zur Reflexion? Zur Ästhetik? Zur Weisheit? 

Das können wir uns nicht leisten, obwohl uns der Erfolg dieses Bildungssystems umbringt.

Tag der Arbeit. Was ist nur aus der Gewerkschaftsbewegung geworden? Wo blieb ihr gesellschaftsprägender Anspruch von einst? Wo gestaltet sie Zukunft mit? Einst ein respektables, oft gefürchtetes Gegengewicht zu den Unternehmen, heute — Papiertiger, die um Verbesserungen bitten und betteln. Höchste Zeit, daß sich die abhängig Beschäftigten neu organisieren.

7. Mai 2020  

Die Baumgrenzen sind in Europa in den letzen 25 Jahren um 320 Kilometer nach Norden gewandert.* Fichte, Buche und Eiche haben den Apennin und die Abruzzen fast gänzlich verlassen. Dafür am Bodensee und Niederrhein schon mannshohe Palmen und Agaven. Die Klimaänderung verläuft dreimal schneller, als in den neunziger Jahren berechnet. Es gibt die unberührte Natur nicht mehr, nirgendwo.

Die Vereinten Nationen setzen die Verhaftung des indonesischen Staatspräsidenten und des Wirtschafts­ministers durch. Endlich! Diese Typen, diese Verbrecher haben die letzten Regenwälder auf Borneo niederschlagen lassen — trotz der internationalen Proteste. Genauso mitschuldig freilich Japan und das Kartell der europäischen Holzimporteure, die die indonesische Regierung bestochen haben. Die indonesischen Regenwälder sind zu Lampions, Regenschirmen und Einwickelpapier verarbeitet worden. Sie verrotten — entsorgt — auf den Müllkippen Japans und Europas. 

* (d-2008:) Auch eine schöne Umschreibung für Waldsterben. 

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12. Mai 2020  

In Brasilien hat das Volk gesiegt! Regierung und Armeeführung nach Kolumbien geflüchtet. Massenexodus der Eliten. Jetzt muß Europa der neuen Volksregierung helfen, gegen die Bedenken der USA! Strukturreformen müssen durchgesetzt werden. Demokratisierung aller Bereiche, die Massen selbst über ihre Bedürfnisse entscheiden lassen, in Einklang endlich mit dem schwer getroffenen Land. Das Land ist reich, könnte trotz der katastrophalen Umweltschäden die 240 Millionen Menschen immer noch ernähren, aber es braucht Kapital, braucht Know-how. Europa muß die geschätzten 440 Milliarden Dollar Fluchtgelder enteignen und rücktransferieren, der Volksregierung zur Verfügung stellen als Startkapital. Jetzt wird sich zeigen, ob den schönen Worten auch Taten folgen werden. Die Regenwälder retten, Aufforstungsprogramme durchsetzen. Das Schicksal Brasiliens ist auch unser Schicksal. Hilfe ist Eigennutz, keine Großzügigkeit. Die Ausbeutung durch die Multis muß aufhören! Brasilien und der ganze lateinamerikanische Kontinent müssen aus den Verflechtungen der Weltwirtschaft herausgelöst werden.

 

17. Mai 2020

Das Europaparlament lehnt es ab, wieder eine intensive, auf Chemikalien gestützte Landwirtschaft zuzulassen. Man könne den Hunger in der Welt nicht dadurch bekämpfen, daß die Umwelt in den Erzeuger­ländern zerstört wird, heißt es aus Straßburg.

Nach Ende der diesjährigen Aussaat werden 34 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche in den VSE nach den Methoden des integrierten Pflanzenschutzes bebaut. Ein erster Schritt, endlich, längst überfällig. Kartoffeln und Getreidesorten sind genmanipuliert, schädlingsresistent und raschwachsend, Stickstoff freisetzend, selbstdüngend. Statt Chemikalien Pilze und Bakterien für die Schädlings- und Unkrautbekämpfung. Gezielter Einsatz von Nützlingen gegen Schädlinge, ohne diese auszumerzen. Auch Schädlinge sind nützlich!

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Sorgfältige Beachtung für die Entstehung vernetzter Biotope. Der Acker soll als Ökosystem behandelt werden. Der Einsatz von chemischen Pestiziden und Herbiziden soll auf 20 bis 30 Prozent gesenkt werden. Statt dessen Bio-Herbizide. Das verringert die Investitionskosten erheblich, und die Bauern verdienen mehr, auch wenn der integrierte Pflanzenschutz die Erträge — noch — um etwa 20 Prozent vermindert.

Das aber ist der lebenswichtige Anteil, den wir in die Dritte Welt liefern, um den Hunger zu lindern. So weit sind wir also: Jede Lösung wird fragwürdig, weil sie gravierende Nachteile hat. Die Alternative verschwindet, damit auch die Chance des radikalen Wandels.

Tina nach der Korrektur der Klassenarbeit ziemlich deprimiert. Die Klasse nahm das neue Unterrichtsfach Umweltschutz zwar begeistert an, hat aber erhebliche Probleme, aktiv mitzuarbeiten. Passive Mentalität trotz großer Bereitschaft, Informationen aufzunehmen. Zum Thema »Regional handeln, global denken — Umweltschutz fängt zu Hause an« wußten zwei Drittel kaum etwas zu sagen.

Die integrative Kraft des Systems. Wenn schon nicht Zustimmung, dann wenigstens resignative Hinnahme.

 

24. Mai 2020

Verzweiflung bei den Winzern im Rheingau: Für den Riesling wird es zu warm. Die Rebenblüte ist abermals kümmerlich ausgefallen. Der Riesling verabschiedet sich — nach 1500 Jahren. Mit ihm eine Kultur. In Zukunft also Rüdesheimer Chianti. Prost! Dafür bald der »Rauentaler Baiken« am Hardanger Fjord?

 

30. Mai 2020

Die verheerenden Erdrutsche in den kolumbianischen und peruanischen Anden halten an. Grausige Erinnerung an damals vor 20 Jahren, an die Katastrophe in den Alpen. Die Gletscher schmelzen, als kochten unter ihnen Vulkane. Der El Nino hat sich offenbar etabliert, er wird zum Golfstrom der südlichen Halbkugel.

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Der Humboldt-Strom ist fast verschwunden, ganz nach Süden in die Antarktis abgedrängt. In dieser warmen Brühe kaum noch Fische. Und mit dem Fischer ein traditioneller Beruf ausgestorben. In Lima jetzt schon ganzjährig Nebel. Feuchtheißes Waschküchenklima, das die Hänge der Kordilleren hinaufkriecht. Die Götter der Inkas sind geflüchtet vor dem weißen Mann.

Gleichzeitig freilich eine böse Entdeckung: Die Höhen- und Bergwälder der Anden haben ihr Wachstum eingestellt, regenerieren sich schon seit 20 Jahren nicht mehr. Auch dieser Tod kommt aus dem Norden.
     Der Amazonas überflutet jetzt fast 20 Prozent der Fläche Brasiliens.

 

4. Juni 2020

Langes Gespräch mit Sylvie und Clemens. Erschütternd. Hatte plötzlich eine paranoide Vision. Es standen tatsächlich Kinder um den Tisch, schemenhaft, die Kinder der beiden, die stumm zuhörten und uns traurig anblickten. Ich aber wußte ihre Traurigkeit nicht zu deuten: Waren sie traurig, weil sie nicht zur Welt kommen durften — oder weil sie zur Welt kommen sollten?

Clemens nahm keine Rücksicht auf Sylvie, die sich in Hustenkrämpfen wand — und ich hielt ihn nicht ab. Er sah in mir so etwas wie einen Hauptgegner und versuchte, sie von mir fortzuzerren: Ihre Zukunftsangst sei Ergebnis meiner fatalen Skepsis, der Zweifel eines überinformierten Journalisten, der mit seinem Pessimismus anderen ihren Lebensmut und ihren Lebenswillen raube. Ich hätte mein Leben gelebt und meine Zukunft hinter mir, das täte ihm aufrichtig leid, aber ich sollte den Hoffnungen der nachfolgenden Generation mit etwas mehr Verantwortung gegenübertreten, ihr Recht auf Zukunft respektieren.

Mehr Verantwortung zeigen! Das saß. Seltsamerweise setzte ich mich nicht sonderlich zur Wehr, der Anflug von Zorn erstarb rasch. War ziemlich ratlos, konnte mir Clemens' exaltierte, aber irgendwie doch kraftvolle, leidenschaftliche Argumentation nicht erklären: Verdrängung und Überoptimismus aus nicht eingestandener Angst?

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Oder elementarer Lebenswille, der seine Bestätigung in künftigen Kindern sucht? Diese Bestätigung würde freilich auch uneingestandene Angst erfordern. Aber was soll dieses Diagnostizieren: Der Junge meinte es ernst, er formulierte das, was seinem Leben Sinn geben könnte.

Sylvies Krankheit und die Krankheit so vieler Kinder, das wachsende Risiko der Neugeborenen wollte er nicht gelten lassen. Jede Generation habe ihre Probleme und müsse mit ihnen fertigwerden. Sie werde sie aber niemals lösen können, wenn sie sich selber aufgebe. 

Ob wir uns im klaren seien, was der Verzicht auf Kinder, auf Nachkommen bedeute? Das freiwillige Todesurteil der Gattung Mensch. Der kollektive Selbstmord. Gerade ich, der ich immer wieder evolutionstheoretisch argumentiere, müßte eigentlich wissen, daß dies ein beispielloser Akt in der gesamten Natur wäre. Keine Art habe sich jemals freiwillig aufgegeben, die Arterhaltung sei — meinen eigenen Worten zufolge der einzige Zweck der Evolution.

Der freiwillige Verzicht auf Nachkommenschaft aufgrund von Zukunftsangst und Pessimismus sei auch nicht zu vergleichen mit den Sterilisationsmaßnahmen in der Dritten Welt. Die geplante Begrenzung der Bevölkerungsexplosion sei ein Akt der Notwendigkeit, also der Vernunft. Bedauerlich, daß er gegen den Protest der Betroffenen durchgesetzt werden müsse, aber gerade dieser Protest sei eine gesunde, kreatürliche Reaktion. Es sei ein Unterschied, ob man einen wuchernden Baum zurückstutze, der sonst an Platzmangel einginge, oder ihn eingehen lasse.

Im übrigen — und das wiederholte Clemens immer wieder, fast mit Erbitterung, ja Verzweiflung, wüßten sie beide ja noch gar nicht, ob sie überhaupt Kinder bekommen könnten, wegen des bevorstehenden »Impfeingriffs«, wie er formulierte.

Seltsam, daß Sylvie dieses Argument nicht aufgriff. Ihr Protest war statt dessen still und tonlos. Während er mich an den Rand meiner Fassung brachte, schüttelte Clemens nur unentwegt den Kopf. Sie habe sich oft gewünscht, nicht geboren worden zu sein. Ja, sie habe uns, ihren Eltern, insgeheim sogar oftmals den Vorwurf gemacht, nicht an sie, die noch Ungeborene, gedacht zu haben. Wir hätten ja die Risiken gekannt. Schon damals sei fast ein Fünftel aller Kinder krank zur Welt gekommen, heute mehr als die Hälfte. Bei drei Kindern sei das Risiko fast schon Gewißheit. Nur die Liebe, die sie erfahren habe, und die gemeinsame Zeit mit ihrem Bruder hätten letztlich ihre Vorwürfe allmählich verstummen lassen.

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Dennoch sei ihr Leben ein vielfältiges Verzichten gewesen, nicht nur der Verzicht auf Gesundheit, sondern der Verzicht auf alles, wofür Gesundheit Voraussetzung ist. Und das sei viel, so viel, daß es sich ein Gesunder nicht vorstellen könne. Es sei der Verzicht auf den Alltag des Normalen, des nicht Erinnert-Werdens durch die Krankheit. Es möge ja sein, daß ihr die Krankheit Bereiche erschlossen habe, die als Selbsterfahrung und Erfahrung mit der Welt wichtig seien, es sei vielleicht auch richtig, daß sie weniger Zukunftsangst habe als andere, Gesunde, weil sie irgendwie weniger zu verlieren habe, aber er, Clemens, müsse doch verstehen, daß es über ihre Kräfte ginge, wenn sie ihre Erfahrungen an eigenen Kindern noch einmal nacherleben müßte.

Und schließlich: Sie wünsche ihm, ihrem geliebten Clemens, nicht die Zweifel, die Selbstvorwürfe, die Sorgen und die Ängste, die ihre Eltern um sie auszustehen gehabt hätten. Sie verstünde Clemens' Wunsch nicht nur, sie werde selbst von tiefer Sehnsucht nach Kindern geplagt, was er ja auch wisse. Nichts sei in seiner Perversität schmerzlicher, als wenn sich der Mutterinstinkt gegen diesen Wunsch entscheiden müsse, gerade weil er so stark sei.

Ich fragte Sylvie, ob es nicht leichter wäre mit dem Ertragen des Risikos, wenn ihr künftiger Mann und Lebenspartner so ohne jeden Selbstzweifel und so aufrichtig Kinder wünsche. Man könne ja mögliche Erkrankungen bereits intra-uterin feststellen und dann weitersehen. Ziemlich hilfloser Einwand, aber letztlich führte er weiter. Sylvie bat um ein Ende des Gesprächs, weil sie neu darüber nachdenken wollte.

Ist der Graben zwischen den beiden unüberbrückbar? Tina teilt meine Sorge nicht, daß Sylvie zeitlebens unglücklich werden würde, wenn sie ein krankes Kind zur Welt brächte. Liebe und Fürsorge würden letztlich alle Zweifel verjagen, so wie es ja auch bei uns der Fall gewesen sei. Oder könnte ich mir vorstellen, es gäbe Sylvie nicht?

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Nein, natürlich nicht, aber geht es um mich, um uns? Tief betroffen von der überfallartigen Ehrlichkeit Sylvies, als sie von ihrer Verzweiflung unseretwegen sprach. Sie wäre gegenüber ähnlichen Vorwürfen eines ihrer Kinder ungleich sensibilisierter, und der Vorwurf eines Kindes wäre gerade ihr gegenüber ungleich gewichtiger: »Wer, wenn nicht du, hätte es nachempfinden können. Müssen?«

Es dämmert, die erste Amsel hat bereits den neuen Tag ausgerufen, der zweite Herold schon geantwortet.
  Wer mir jetzt einen Rat geben könnte.

 

12. Juni 2020  

 

Die Vereinten Nationen appellieren unter dem Druck der USA und der VSE an die zentral- und nordafrikan­ischen Staaten, den Elendsmarsch auf Europa endlich zu stoppen, ihn zumindest nicht mehr zu unterstützen. Das Unternehmen sei aussichtslos und werde nichts bewirken, außer daß sich die Zahl der bereits 30.000 oder 50.000 Verhungerten und Verdursteten vervielfache.

Eine der Spitzen des Zuges hat Timbuktu erreicht, der andere quält sich von Süden her durch Algerien und Marokko Richtung Tanger. Die täglichen Satellitenfotos zeigen die Gruppen und Grüppchen, die diese endlosen Trecks bilden, sich aber unerbittlich und mit einer unheimlichen Kraft vorwärtsschleppen, die letzten Ressourcen aus sich selbst und aus dem Land ziehend, durch das sie kriechen. 

Die fundamentalistischen Regime Algeriens und Libyens haben sich bereit erklärt, die halbe Million Menschen mit Lastern durch die Wüste und über den Atlas nach Tanger zu transportieren. Sie weisen den UN-Appell zurück, denn das Anliegen der Massen sei gerecht. Allah wolle es so. Die Europäer hätten den afrikanischen Kontinent zerstört und ihn unbewohnbar gemacht, da sei es nur recht und billig, daß sie die Entwurzelten auch aufnehmen.

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Die islamischen Mullahs wenden sich an die christlichen Lateinamerikaner, ihrem Beispiel zu folgen und ebenfalls nach Norden zu marschieren, über den Rio Grande in die Vereinigten Staaten und weiter nach Kanada. Heimat sei nicht nur ein Stück Land, man müsse auf ihm auch leben können, um die Gräber der Väter zu pflegen und Kinder großzuziehen.

Ein beispielloser Protest! Noch nicht dagewesen in der Geschichte. Die Invasion des Elends. Unbewaffnete Bettler rüsten zum Sturm auf die waffenstarrenden Paläste der Reichen. Marokko und Tunesien machen gute Miene zum bösen Spiel, was bleibt ihnen auch anderes übrig. Es wäre ein Wunder, wenn sie dieses Drama als Staaten unbeschadet überstünden.

Die Vereinten Nationen gespalten, handlungsunfähig. Sie repräsentieren ja fast ausschließlich die Eliten in der Dritten Welt, denen vor den eigenen Völkern graut. Das Beispiel Brasilien hat es erneut ans Tageslicht gebracht. Was sich als Anspruch der Dritten Welt manifestiert, ist das Bestreben der Eliten, ein möglichst großes Stück vom globalen Kuchen zu ergattern. Die eigenen Völker sind ihnen egal. Das Elend hat zwei Ausbeuter: die eigenen Eliten und uns, die Reichen der Ersten Welt.

Nach vertraulichen Informationen überlegen die VSE, die in Tanger und anderen nordafrikanischen Häfen liegenden Schiffe vorab zu versenken, um ein Übersetzen nach Gibraltar oder nach Sizilien zu verhindern. Grauenhafter Gedanke, daß die mit Menschen vollgepferchten Schiffe auf See torpediert würden.

Renaissance der alten NATO als Weltpolizei, um die Interessen der Industriestaaten zu sichern. Die Vereinten Nationen, unsere bewährten Handlanger, werden der Aktion ohne Zweifel wieder das Alibi verschaffen und den »Oberbefehl« übernehmen, damit guten Gewissens geschossen werden kann. Und die Bundeswehr: Wird auch sie wieder mitmachen, wird sie auch unter einer sozialdemokratisch-grünen Regierung wieder schießen? Kommt der große Konsens, den die Angst gebiert? Europa, das gemeinsame Vaterland, fühlt sich bedroht, ein Feind ist aufgetaucht, wenn auch ohne Waffen. Aber hungrige Massen können ein schlimmer Gegner sein. Hunger ist eine wirksame Waffe, wenn nichts mehr zu verlieren ist.

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60.000 Mann der Task Force nach Südspanien verlegt, 35.000 nach Sizilien und Malta, dazu Marine-Einheiten und Luftwaffe. Spanien und Italien, die »das Problem« auch allein lösen könnten, legen verständlicherweise Wert auf eine gemischte Truppe, an der sich auch die Osteuropäer zu beteiligen hätten. Sie wollen sich die Hände nicht allein schmutzig machen. Die Verantwortung für das möglicherweise unvermeidliche Gemetzel wollen Madrid und Rom nicht alleine tragen.

 

16. Juni 2020

 

Der »Krieg« in Europa bereits in voller Schärfe entbrannt. Die Fronten sind unübersichtlich, verlaufen quer durch homogene Parteien und Organisationen. Interessantes psychisches Phänomen: einige hunderttausend halb verhungerter Schwarzer stürzen Europa in tiefe Bedrohungsängste, Angst vielleicht vor einer großen, gerechten Vergeltung. Die Vergeltung könnte darin bestehen, daß sie uns zwingen, das Werk doch zu vollenden und sie auch physisch zu töten. Die drohende Unmittelbarkeit der Tat, das Blut Wehrloser, Unbewaffneter zu vergießen, schreckt uns. Die Millionen Opfer, die der Reichtum Europas gekostet hat, waren eine indirekte Konsequenz, insofern mußten sie nicht wahrgenommen werden.

Die Rechtsradikalen und Nationalisten rufen schon zur großen Abwehrschlacht auf. Zehntausende werden sich als Freiwillige melden, um das fremde, schwarze, dreiste Pack ins Meer zu werfen und wie Ratten zu ersäufen, Linke, Liberale und Grüne gleich mit. Warum beschwören Krisensituationen immer wieder die Gefahr des Faschismus herauf? Warum statt des Disputs und der geistigen Auseinandersetzung der rasche Ruf nach der starken Faust? Im Zeitalter der totalen Kommunikation, der unbegrenzten Verfügbarkeit über Information. Weil sie Entscheidungen nicht ersetzen. Die gesellschaftliche Realität ist zu komplex und undurchschaubar geworden, Forrester, Galbraith, Hayek haben recht. Unbegreifbare Realitäten aber schaffen Angst — und Angst verlangt nach der Tat.

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Unsere intellektuellen Kapazitäten und unser sinnlich-emotionales Sensorium bewältigen die gesellschaftliche Realität nicht, unser evolutionärer Entwicklungs­standard genügt nicht mehr, die Welt zu managen, die wir selber geschaffen haben. Wir stehen vor der gesellschaftlichen Realität wie der Frühmensch vor der unbegriffenen Natur: hilflos. Aber auch die Natur bleibt Unbegriffen, fremd, feindlich, »fremdenfeindlich«. Wir haben sie nicht in den Griff bekommen. Unsere Informationen setzen uns instand, zu verstehen, warum dieser Planet stirbt, sie haben uns aber nicht befähigt, dies zu verhindern.

Das Zeitalter der totalen Information und unbegrenzten Kommunikation gebiert als logische Folge die Irrationalität als Massenphänomen. Orientierung und damit zielgerichtetes Handeln bedürfen der Erkenntnisfähigkeit, nicht der totalen Information.

Auch Irrationalität und Massenwahn bringen freilich konsequente Verhaltensmuster und Handlungsziele hervor. »Schlagt sie zusammen!«-Aufruf eines NSDAP-Plakates von 1932: klare, eindeutige, Identifikation stiftende Aussage. Wenn der Faschismus dieses Mal wieder siegen sollte, dann wird er in ganz Europa triumphieren. Dann wird sich die weiße Rasse Platz schaffen auf dieser Erde, dann wird ein brutaler, banaler Polit- und Sozialdarwinismus alles ersticken, was seit Buddha, Sokrates, Christus und Kant an Orientierung für menschliches Handeln zu geben versucht wurde. Der unheimliche Rückfall in das Verhalten der Jägerhorde: entweder wir oder sie. Also sie! Pardon wird nicht gegeben. Aber ist dies verwunderlich? Diesem Trieb verdankt sich schließlich der Mensch selbst. Mord und Totschlag waren die stärksten Stimuli für die Menschwerdung. Jetzt wird sich das Recht des Stärkeren durchsetzen — und das gehört uns. Aber das wird diesmal nicht genügen.

Das grausame, ungerechte Paradox: Es ist der Weiße, der sich an die Bedingungen der Natur nicht anpassen konnte. Aber er wird der letzte sein, der verschwindet, zuvor wird er die zum Verschwinden bringen, die sich hätten anpassen, die hätten überleben können. So war es immer seit den Kreuzzügen. Viele Siege, am Ende aber die Niederlage.

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22. Juni 2020

 

Die Zensur für Umweltdaten bleibt weiterhin im VSE-Raum bestehen. Wir Journalisten dürfen zwar unseren Code behalten, der uns Zugang zu den Datenbanken erlaubt, aber veröffentlichen dürfen wir nur von Brüssel gefilterte Informationen. Statt INAUM-1 eben INAUM-2. Die Veröffentlichung dieses Tagebuches würde mir zehn Jahre Gefängnis einbringen (sofern ich einen Verleger fände).

INAUM-1 entnehme ich, daß sich die Prognose von George Woodwell aus den späten achtziger Jahren zur Gewißheit erhärtet: Die Klimaerwärmung hat die Atmung der Pflanzen beschleunigt, so daß sie mehr Kohlendioxyd freisetzen als durch die Photosynthese verbrauchen. Das mache sich vor allem in den nördlicheren Breiten bemerkbar, wo der Schock der Erwärmung stärker ist. Theoretisch könnte zwar die absterbende Vegetation der nördlichen Breiten durch besser angepaßte tropische und subtropische Pflanzen ersetzt werden, aber die Unmengen verfaulenden Holzes, verbunden mit einem früheren und häufigeren Abwurf der Blätter, setzten in einem bislang weit unterschätzen Maße CO2 frei, vermutlich 45 Milliarden Tonnen pro Jahr — die dreifache Menge des Ausstoßes von 2011, dem Rekordjahr der Luftverpestung. 

»Ich vermute, daß durch die Erwärmung der Erde auch der Zerfall organischer Materie beschleunigt wird«, schrieb Woodwell vor 35 Jahren. Und er prophezeite weiter, daß sich immer Wissenschaftler in genügender Zahl finden werden, die schlüssig nachweisen, daß das Baumsterben nicht auf die Luftverschmutzung zurückzuführen sei, sondern — leider — auf den Borkenkäfer. Sowie es ja auch eine Erfindung der linken Weltverbesserer sei, zu behaupten, die Menschen in der Dritten Welt stürben Hungers, wo sie doch, wie aus den Statistiken zweifelsfrei hervorgehe, an Ruhr, an Würmern und anderen ansteckenden Krankheiten dahingerafft würden. Nur daß für diese Krankheiten der Hunger die Ursache ist, so wie für den Borkenkäfer die Luftverschmutzung und Erderwärmung — und diese letztlich auch für den Hunger —, unterschlagen sie. Auf so primitive Art und Weise lassen sich auch die Medien für dumm verkaufen — und die Politik greift diese Scheinargumente begierig als Entlastung auf.

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24. JUNI 2020

Das produzierende Gewerbe und die Touristik werben nicht mehr mit der Sonne. Deren Image hat sich drastisch verschlechtert. Keine sonnengereiften Früchte mehr, die Sonne ist nicht mehr im Wein, die Waschmittel verzichten auf »Sonnenstrahlkraft« und die Urlaubsflüge »in die Sonne« werden eingestellt.

Da der Ozonschild uns die aggressive Sonnenstrahlung nicht mehr vollständig vom Leib halten kann, fällt die Sonne als Kronzeuge und Gütesiegel für die Werbung aus. Wer möchte schon bei ihrer Erwähnung an Hautkrebs denken müssen. »Die güldene Sonne, voll Freud und Wonne...« Franz von Assisis »Sonnengesang«. Die Antiquiertheit des Menschen.

 

26. JUNI 2020

Mainzer Medientage, einmütiger Ruf nach Abschaffung von INAUM-1. Fort mit der Öko-Zensur durch Brüssel! Wir wollen wieder den Flugzeugabsturz vermelden dürfen und nicht berichten müssen, daß heute wieder alle Flugzeuge bis auf eines erfolgreich gelandet seien. Den Absturz wieder Absturz nennen und nicht »finale Landung« sagen müssen. Die Medien hätten schließlich eine andere Funktion als die des Tanzorchesters auf der »Titanic«, das Wiener Walzer spielte, während das Schiff sank.

Resolution einstimmig angenommen, mal sehen, wie sich Verleger und Intendanten verhalten werden. Vermutlich wird sich wenig ändern, denn das Publikum, die Leser, Zuschauer und Hörer, wollen die Wahrheit über den genehmigten, unvermeidlichen Rahmen hinaus nicht lesen, sehen, hören. Das Genehmigte ist ja schon schlimm genug und zerrt an den Nerven. Verdrängung, sonst wäre das Leben unerträglich, im übrigen hoffen, daß alles sich irgendwie einrenken werde, zumindest solange man am Leben ist. Danach die Sintflut. Öko-Zensur als Psychohygiene.

Zweifle allerdings, ob das Orchester auf der sinkenden »Titanic« die Passagiere wirklich beruhigen oder gar ablenken konnte. Immerhin soll es eine Panik verhindert haben.

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28. JUNI 2020

Wieder ein solcher Hagel-Überfall. War aber nicht so schlimm wie der vom 4. März.
     Mit Kollegen aus Brasilien im Börsenkeller zu Abend gegessen. Famose Stimmung. Ließ mich von der Unbeschwertheit der Südländer anstecken. Nach der Revolution in ihrem Land sehen sie die Zukunft weniger trist, sind im Gegenteil hochmotiviert, die Probleme anzupacken. Eine Revolution brauchte man.

 

30. JUNI 2020

Baden mit nacktem Oberkörper an den Nord- und Ostseestränden verboten. Erlaß Brüssels mit sofortiger Wirkung. Hautkrebs, Augenkrankheiten, allgemeine Gefährdung des Immunsystems. Wieder das Gefühl, als beschreibe eine lakonische Meldung das Ende einer Menschheitsepoche. Es wird nie mehr so sein wie früher. Nicht nur das Baden mit nacktem Oberkörper ist unwiederbringlich dahin, sondern das »Es« ist dahin: Alles. Fast alles.

 

3. JULI 2020

Als habe die Welt ein Keulenschlag getroffen: Die Karibikstaaten erwägen, ihre staatliche Souveränität aufzugeben und sich faktisch aufzulösen. Die Verwüstungen der letzten Hurrikane — »Ronald« tobte vor 14 Tagen als neunter Wirbelsturm über Westindien hinweg — ließen eine geordnete Staatlichkeit nicht mehr zu. Die Schäden könnten auf Dauer nicht mehr beseitigt werden, die Staaten seien überfordert und am Ende ihrer Möglichkeiten. Die Ressourcen reichten für eine dauerhafte Regeneration nicht aus. Kuba, Jamaika, die Dominikanische Republik, Haiti und die Bahamas wenden sich an die UNO sowie die Organisation Amerikanischer Staaten um Hilfe.

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Die »Bruderstaaten« sollen eine Aufnahme der Menschen aus der Karibik ins Auge fassen, da eine menschliche Existenz in dieser Region nicht mehr möglich sei. Die landwirtschaftliche Produktion sei nahezu zum Stillstand gekommen, da die Strukturen auf dem Land weitgehend zerstört seien und für einen Wiederaufbau keinerlei Perspektiven bestünden. Aber auch See- und Flughäfen seien auf Dauer nicht mehr benutzbar. 

Der Tourismus sei faktisch schon vor zehn Jahren zum Erliegen gekommen. Die paar tausend Perverse, die des Thrilling wegen in die Karibik kämen, um einen richtigen Orkan als Freizeitspaß zu erleben, fielen nicht ins Gewicht und wögen die Verluste nicht auf. Man müsse davon ausgehen, daß die Wirbelstürme zu einer Dauererscheinung geworden seien, unabänderlich aufgrund der dramatisch sich wandelnden Luftdruckverhältnisse über dem Atlantik. Die Lage sei katastrophal und hoffnungslos. Die Regierungen verfügten nicht mehr über die Fähigkeit, der sich häufenden Unruhen und Plünderungen Herr zu werden. Die Instabilität drohe zum Chaos auszuarten. Somit sei das wichtigste Merkmal staatlicher Souveränität entfallen.

Daher sei jetzt die Solidarität der internationalen Staatengemeinschaft gefordert. Die Regierungen der karibischen Inselstaaten erwarteten, daß sich die UNO und die OAS anders verhalten würden als Frankreich, das sich geweigert habe, Auswanderungswillige von den Französischen Antillen aufzunehmen, obwohl es sich um ein französisches Departement, also Staatsgebiet, handele.

Entsetzen in aller Welt. Trotz der verstörten Kommentare — lastendes Schweigen in jedem Winkel der Erde. Die ersten Staaten kapitulieren! Ein Präzedenzfall und — wie oft habe ich die Formulierung in diesem Tagebuch schon gebrauchen müssen: ohne Beispiel in der Geschichte der Menschheit! Ein Teil der Menschheit, vielleicht der fröhlichste, unbeschwerteste, gibt sich auf. Resigniert. Das Ende der Geschichte wird jedermann vor Augen geführt. Die Zukunft hat uns eingeholt.

Und dennoch, der bitterste Rest ist noch nicht getrunken: Wenn der letzte Staat auf diese Weise kapituliert haben wird, wird sich gleichwohl nichts geändert haben. Man kann wohl ein anderes Plätzchen im Raumschiff Erde suchen, aber man kann es nicht verlassen.

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Trotz allem, wenngleich dumpfen Gefühls, mit Sylvie die lange geplante Dampferfahrt in den Rheingau gemacht. Die Weinberge, mit metallbedampftem Plexiglas überdacht, das die Sonnenstrahlung reflektieren und die Temperaturen um jene drei bis vier Grad senken soll, die für den Riesling zuviel sind. Fremdartiger, absurder Anblick.

Das graue, kahle Gemäuer der Burgruinen, die hohlen Fenster wie blinde Augen. Kaum vorstellbar, daß hinter diesem toten Stein alle »unsere« Gefühle von Menschen durchlebt und durchlitten worden sind. Mit sehr viel Gier und sehr viel Angst. Aber außer diesen Ruinen ist nichts auf uns überkommen. Die, die dort oben oder unten in den Tälern gelebt haben, sind einfach verschwunden, haben anderen Generationen Platz gemacht. Leidlich gute Erblasser! Wir dagegen werden nicht verschwinden. Wir bleiben den nachfolgenden Generationen präsent, als Usurpatoren und Zerstörer ihres Erbteils. Wir machen ihnen mit unserem Abgang noch lange nicht Platz.

Kurz vor dem zur Hälfte evakuierten St. Goarshausen machte der Schiffer wieder kehrt. Schnaufend nahm es der weiße Kahn mit dem immer noch zornigen Rhein auf, der im Frühjahr länger als sonst gewütet hat. Rüdesheim, Bingen, Assmanshausen, Bacharach — der Strom hat die Bewohner schon längst von seinem Ufer die Hügel hinaufgescheucht, Vater Rhein ist feindlich und abweisend geworden und kein Freund des Menschen mehr, als den ihn die alten Lieder noch preisen. Dreimal im Jahr pflegt er aus seinem viel zu eng gewordenen Bett zu springen, um das Land ringsum zu ersäufen. In Mannheim, Ludwigshafen und Duisburg versuchen sie, ihn mit starken Mauern zu bändigen, doch schon ab Xanten bleibt nur noch die Kapitulation. Gegen den Blanken Hans konnten sich die Niederländer vorerst noch mit ihren Deichen halbwegs schützen, gegen den »Feind« in ihrem Rücken sind sie die nächsten zehn Jahre noch machtlos.

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Sylvie genoß die Fahrt, die frische Brise tat ihr offenkundig gut. Sie stand ganz vorne am Bug und ließ sich den war men Wind durchs Haar streichen. Wie es früher am Rhein war, kennt sie nur aus alten Liedern, Stichen und Fotos. Daher stören sie auch die auf Stelzen gelegten Uferstraßen und Bahngleise nicht sonderlich. Die Pfalz bei Caub steht nun doch schon ständig bis zu den Knien im Wasser. Als der Dampfer an Rüdesheim vorbeistampfte, milderte die Abendsonne den metallenen Kitsch der Germania. Anlegen in Wiesbaden-Schierstein bei Dunkelheit. Tina holte uns ab. Dann einen guten Fisch gegessen.

 

6. JULI 2020

Nach dem ersten Schock: Die Weltgemeinschaft versichert die Karibikstaaten in einer feierlichen Erklärung in New York ihrer uneingeschränkten Solidarität und sagt ihnen umfassende Hilfe zu. Expertenstäbe sollen sich vor Ort ein Bild von der Situation machen und Vorschläge unterbreiten, wie ein Überleben garantiert werden könne. UN, GUS und VSE warnen vor Panikreaktionen. Eine Verbesserung der Infrastruktur — so eine erste Überlegung — könne helfen, die vorhandenen Ressourcen zu nutzen. Vordringlich sei jetzt, ein geregeltes staatliches und gesellschaftliches Leben zu ermöglichen und aufrechtzuerhalten. Im übrigen sei die Expertenansicht noch nicht vollständig widerlegt, daß es sich bei der Häufung der Orkane und Wirbelstürme um eine vorübergehende Erscheinung handele. Es bestehe immer noch Hoffnung, solange das Gegenteil nicht zweifelsfrei erwiesen sei. »Zufallshäufungen« habe es immer schon gegeben.
      Und Bangladesh? Ägypten? Brasilien? Die Pazifischen Inselstaaten? Es wird eng auf dem Globus.

 

16. JULI 2020

Netzhautablösungen und Trübungen der Linse nehmen dramatisch zu. Schon Kinder leiden an starken Beeinträchtigungen der Sehkraft. Jeder Zehnte ab 60 Jahren ist bereits blind. Das Risiko, im Alter das Augenlicht zu verlieren, hat sich gegenüber 1990 verdreißigfacht! Obwohl kein Mensch mehr ohne Sonnenbrille auf die Straße geht.

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Wir müssen die Schatten aufsuchen, aus der Sonne flüchten. Das Schattenreich. Wovor sich der Mensch der Antike gefürchtet hat, wir haben es uns jetzt geschaffen als unseren Alltag. Das Licht der Sonne erblicken. Die Sonne scheint über Gut und Böse — uralte Bilder und Metaphern: zerstört. Selbst die Sonne haben wir uns zum Feind gemacht. Die Sonne, die bis kurzem, bis vor 150 Jahren, für die Reproduktion allen Lebens sorgte — und für die Reproduktion allen Wirtschaftens des Menschen. Die Sonne, die den ewig scheinenden Kreislauf in Gang hielt, dem sich auch der Mensch verdankt.

Das Wachstum der Pflanzen hat sich um ein gutes Drittel verringert, die Zeugungsfähigkeit der Insekten läßt stark nach. Unter den Vögeln grassieren Augenkrankheiten — Verätzungen der Netzhaut. Besonders betroffen die Bussarde, die Mauersegler und die Schwalben, die in der Sonne fliegen. Franz von Assisis Sonnengesang. An meinem Hals trage ich aus Gold die Sonne der Azteken.

 

23. JULI 2020

Der neue Präsident der brasilianischen Volksregierung wirft den Industriestaaten unüberbietbare Heuchelei vor. Die Zwangssterilisation der Menschheit werde sich als Schlag ins Wasser erweisen, da es der Versuch sei, den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun. Der erste Schritt wäre gewesen, Geburtenbeschränkungen in den Industriestaaten, zuvörderst in den USA und Europa durchzusetzen. Bustos Bandeira macht eine plausible Rechnung auf: Solange ein US-Amerikaner 70-mal mehr Energie verbrauche als ein Brasilianer und 200mal mehr als ein Inder, zähle jeder ungeborene US-Amerikaner soviel wie 70 durch Zwangs­sterilisation »verhütete« Brasilianer oder gar 200 Inder. Fünf Millionen US-Bürger weniger — und der »vielbejammerte« (Bandeira) indische oder brasilianische Beitrag zur Übervölkerung wäre ausgeglichen.

Nun gut, diese Aufrechnung hinkt zwar — die Bodenerosion in Indien oder die Zerstörung der Regen­wälder in Brasilien beispielsweise lassen sich nicht mit einer Energiebilanz erfassen — aber sie trifft doch den Kern der Sache, nicht zuletzt auch des moralischen Problems.

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Schließlich kann kein Zweifel daran bestehen, daß die stupide Hemmungslosigkeit der Europäer und US-Amerikaner den Globus ruiniert hat. Je weniger ihrer wären, desto besser wäre es um die Natur und damit um den Rest der Menschheit bestellt.

Bandeiras Gegenrechnung enthält aber politisches Dynamit. Sie zeigt, daß die Dritte Welt entschlossen ist, sich zu wehren. Sie will offenbar die politische Maxime dieses Jahrhunderts: »Retten, was noch zu retten ist«, nicht ausschließlich auf ihre Kosten ausgeführt wissen. Diese Gegenrechnung benennt mit coolen Fakten nicht nur die Hauptverantwortlichen der Umweltzerstörung, sondern zielt ins Herz der technischen Zivilisation, den Energieverbrauch durch das Verheizen fossiler Brennstoffe.

Heute nacht wieder das dumpfe Ziehen im linken Arm, Druck in der Brust, Atemnot, Angstanfälle. Mein Herz mahnt mich, daß es nicht mehr allzu lange mitmacht. Es will seine Ruhe haben. Nur wäre seine Ruhe auch die meinige. Zeit, es auszuwechseln. Werde mir also ein Herz fassen müssen.

 

30. JULI 2020

Die letzten 30 Kilometer am Unterlauf des Lech eingedeicht. Geschafft! Die bayrischen Alpenflüsse sind nun alle buchstäblich zu »Rinnsalen« gemacht geworden, selbst kleinere wie die Hier: Eingezwängt in Rinnen, sollen sie nicht mehr in dieser Häufigkeit das Land überfluten. Alles wird dem Menschen zum Feind und zur Gefahr, wenn es aus dem Gleichgewicht gerät.

Die Wassermenge der Alpenflüsse hat in den letzten Jahren um etwa 23 Prozent zugenommen — Folge der schmelzenden Gletscher. In schätzungsweise zehn Jahren soll sich das wieder einpendeln — dann werden die Gletscher verschwunden sein. Dickes Fragezeichen. Die Gletscher waren zusammen mit den Bergwäldern wichtige Rückhaltebecken und Regulatoren für die Niederschläge, die jetzt vor allem im Frühjahr direkt zu Tal stürzen.

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10. AUGUST 2020

Freizeit ist Streß und Frust! Statt Erholung, Besinnlichkeit und Selbstverwirklichung hat das B.A.T. Freizeit-Forschungsinstitut Langeweile und Freudlosigkeit ausgemacht. Kaufen ist zum Krieg und Konsum zum Rausch geworden. »Kaufrausch heißt, erst dann zur vorübergehenden Ruhe zu finden, wenn eine bestimmte Sache gefunden und erworben wurde, unabhängig davon, ob man sie braucht oder sie sich leisten kann«, so Institutsleiter Professor Horst Opaschowski. Shopping gegen Langeweile, und sei es auf Pump.

Es geht in unseren Breiten längst nicht mehr um Bedürfnisbefriedigung, nicht mehr um das tägliche Brot. Der Kampf ums tägliche Brot läßt noch Raum für Zufriedenheit und Zeit für Glück. Man ist stolz auf seine geleistete Mühsal und Plackerei, sogar im Scheitern. Auf diesen Kampf ums tägliche Brot, auf die Mühe der Existenzsicherung, ist der Mensch genetisch programmiert. Die Evolution hat Mangel und knappe Ressourcen zur Voraussetzung, nicht den Überfluß. Gerade deshalb ist sie Vielfalt und Weiterentwicklung, Schönheit und Harmonie. Überfluß ist Selbstdomestikation, ist Verlust der Sinne und der Sinnlichkeit. Stillstand, Regression, Häßlichkeit. Unser Fortschritt! Konrad Lorenz' sarkastischer Spott: die »Verhaustierung« des sogenannten zivilisierten Menschen.

In der Dritten Welt, wo sie Hungers oder an der harmlosen Krankheit sterben, sind sie vermutlich glücklicher als wir hier. Immer dann, wenn sie einmal satt sind, auch wenn die erloschenen Blicke nicht wieder lebendig werden und die apathischen Bewegungen nicht rascher, außer wenn der Priester zum Fest ruft. Ihr Leben ist ein Drama, wie häßlich es auch sein mag, und der Tod die Erlösung. Die Not zwingt sie, an einen Gott zu glauben und mit Gott zu sterben. Aber sie leben und sterben mit Würde. Wir wie Haustiere.

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19. AUGUST 2020

Heute erstmals im Virtual-Reality-Center. Schießen wie Pilze aus dem Boden. Die neue Generation der Computer-Simulatoren ist der letzte Hit. Frappierend.

Die Produzenten können längst nicht so rasch liefern wie die Nachfrage explodiert. Nervenkitzel, Sensationen, Abenteuer, Schweißausbrüche, Angstschreie, rasender Puls — und das alles zu Hause in Hauslatschen. Virtual Reality. Den Durchbruch brachte die Sudden-Change-Technik: Das Programm wird nicht mehr vorhersehbar, die Variationen und Kombinationen, die der Rechner per Zufall einführt, sind faktisch unbegrenzt. Jeder Knopfdruck führt zu einem Ausflug ins Ungewisse.

Besonders beliebt: Sex (aber in seinen brutalsten Formen), Autorennen, Fliegen, Tiefseetauchen, Hochalpinklettern, Fallschirmspringen, Weltraumabenteuer und natürlich Kriegspielen. Groß im Kommen und offenbar ein gewaltiger Markt: der Abenteuerurlaub im Heimsimulator.

Kaum zu glauben, wie echt die simulierte Wirklichkeit ist. Wenn man den Brillenhelm mit seinen integrierten Sensorfunktionen aufgesetzt hat, befindet man sich tatsächlich in einer anderen Welt, ist ihr fast wehrlos ausgesetzt. Totale Dreidimensionalität für die ganze Familie. Raumklang multi-dimensional. Die Sinne werden perfekt getäuscht. »Virtual reality«, schöne neue Welt, künstliche Realität. Halluzination.

Das ist mehr als ein technologischer Gag, hier boomt nicht nur die Freizeitindustrie, hier findet eine Epoche der Kulturgeschichte ihren logischen Schlußpunkt: Nachdem die »tatsächliche« Realität weitgehend zerstört worden ist, beginnt die Flucht in die künstliche, aber heile Welt. Die bewußte, eingestandene Selbsttäuschung. Die Programme, die den Computer-Simulatoren eingspeist werden, kennen kein Ozonloch und keine verätzten Augen, keine Klimaerwärmung, keinen Anstieg des Meeresspiegels, keine sterbenden Wälder und schmelzenden Gletscher. Nur die Wirbelstürme sind künstlich einprogrammiert. Die unzähligen, nur noch dokumentarisch bekannten Pflanzen und Tiere, vom Auerhahn bis zum weißen Nashorn, vom Steinadler bis zur Riesenschildkröte, sind alle wieder lebendig. Sogar mit Dinosauriern und Säbelzahntigern kann man sich im Kampf messen. Und Baden in kristallklarem Wasser, die Luft wie der Zephyr Arkadiens.
       Das Eingeständnis des zivilisatorischen und moralischen Bankrotts.

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22. AUGUST 2020

Herzhaft gelacht, als Tina heute abend den späten Anruf vom Weßn Sepp entgegennahm. »Für Dich, vermutlich ein Grieche.« Der Sepp, mein Schulkamerad, ein Bayerwäldler, als Glasgraveur ein Künstler, als Schafzüchter die Allegorie des guten Hirten. Verwittertes Ledergesicht, sensibel wie ein Seismograph. Die klangliche Rekonstruktion seines Satzes, der für Tina griechisch klang, ergab: »Griaßgoda, hiaris da Wessensepp vodarau, doansma bittscheenet bessei, oba kannti midam Anton redn?«

Der Sepp teilte mir mit, mit trauriger, sehr leiser Stimme, daß ihm 31 seiner 54 Schafe verendet seien. Auch anderswo gehe das Vieh ein. Vermutlich liege es am Gift im Wasser oder am Gift in der Luft. »Anton, eitz is goar! Eitz samma mir dro.«

Langes Gespräch mit dem Sepp, viele Fragen meinerseits, Suche nach Ursachen, Anteilnahme, Analyse der globalen Probleme. Beginne aber erst jetzt seine Erschütterung zu spüren und zu verstehen. Der Sepp lebt mit den Tieren wie mit Familienmitgliedern, und seine Wohnung endet nicht an der Haustür. Ein Mensch wie er ist unfähig, die Naturzerstörung zu verdrängen, weil er selbst ein Teil der Natur ist und die Natur zum Leben braucht, nicht nur zum Erleben. Der Sepp wollte mir mitteilen, daß seine Überlebensfähigkeit gefährdet sei. Nicht wegen des materiellen Verlustes der 31 Schafe, sondern weil ihr Verenden das im Gang befindliche allgemeine große Verenden hat deutlich werden lassen, in das sich auch der Sepp einbezogen fühlt. Er hat es längst gewußt, aber es muß ihn dennoch getroffen haben.
       Jawohl, Sepp, jetzt ist's aus, jetzt sind wir dran.

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26. AUGUST 2020

Frankfurt verzeichnet einen bemerkenswerten Rekord: In diesem Jahr das 200. Todesopfer, das auf »Thrilling« zurückgeführt wird, dem neuen Freizeitphänomen. Während man früher die Zeit totschlug, wenn es — eher ausnahmsweise einmal nichts zu tun gab, bringen sie sich heute selber um, weil sie mit der Zeit nichts anfangen können. Seit der neue Pkw-Typ als individuelles Tötungs- und Selbstmordinstrument nur noch bedingt taugt, ist die Sucht nach »Thrilling« epidemieartig angeschwollen. Nervenkitzel, mehr noch:

Angstlust. Angst, am wirksamsten Todesangst, als Quelle von Lust. Tödliche Risikobereitschaft als höchstmöglicher Lebensgenuß. Das Leben, das eigene wie das fremde, ist in der Freizeit- und Konsumgesellschaft nur noch wenig wert. Seine Bedeutung bemißt sich für Unzählige einzig als Einsatzobjekt für Thrilling. Der potentielle Selbstmord als kollektiver Freizeitspaß.

Die Behörden machtlos, die Weigerung der Krankenkassen, für die Arztkosten verletzter Thrillingakteure aufzukommen, schreckt nicht ab. Zwar verhindern Gitter das Fassadenklettern an den Hochhäusern und das Bungeespringen von öffentlichen Gebäuden, aber niemand kann gehindert werden, sich am Seil von seinem Wohnhaus zu stürzen, von Baum zu Baum zu springen oder auf überhängende Felsen zu steigen. Natürlich vor möglichst vielen Augen. Wer stirbt schon gerne alleine.

Das kümmerliche, der Öde zum Opfer gefallene Selbstwertgefühl des modernen Freizeitverbrauchers läßt sich nur durch die Aufmerksamkeit und den Beifall einer Zuschauerkulisse regenerieren. Während diese Kulisse anonym bleibt, hat der Thrillingakteur das Gefühl, ein Individuum zu sein, eine herausgehobene Persönlichkeit, der Redundanz entronnen, eben ein Mensch, der noch Interesse zu wecken vermag. Das dürfte auch den Gladiatoren des Alten Rom ein nicht zu unterschätzender Ausgleich gewesen sein, der ihnen die Gewißheit des unvermeidbaren Endes im Sand der Arena erträglicher machte.

Auffallend, daß die gaffende Masse verunglückten Thrillingakteuren kaum noch zu Hilfe kommt. Man läßt die Verletzten und Verstümmelten liegen, ihr Blut und ihre Schreie steigern das Thrilling, gehören einfach zum Spaß dazu. Da der Thrillingman oder das Thrillinggirl das vorab wissen und damit kalkulieren müssen, erhöht die Gewißheit, daß ihnen niemand helfen wird, auch ihren Thrillinggenuß, wie viele von ihnen nicht unglaubhaft versichern.

Der Frankfurter Rekordtote selbst war ein blutiger Anfänger. Wollte mit dem Mountain-Bike über ein paar bizarre Hausdächer in Bornheim radeln. Dabei ist er kopfüber auf die Straße gefallen.

Thrillingdie totale Absage an die Freude. Hat es je eine Kulturepoche gegeben, aus der die Freude verschwunden war? Thrillingman und Thrilling-Gaffer sind gleichwohl die logischen Endprodukte des Konsumproduktionssystems. Freude durch Konsum — das war einmal. Gilt nur für den, der Not kennengelernt, zumindest gesehen hat.

Begreife allerdings jetzt besser die kollektive Apathie gegenüber der Zerstörung des Planeten. Ist es überhaupt Apathie oder nicht die Sehnsucht nach dem größtmöglichem Thrilling!? Wie damals, in den 70ern und 80ern, als sie voller geheimer Todeslust auf die Atomwaffen starrten und sich wünschten, daß es endlich losginge mit dem Inferno. Die Plätze in der ersten Reihe waren schon hergerichtet und ausgebucht. Es gab nur Plätze in der ersten Reihe.

29. AUGUST 2020

Auch die pazifischen Inselstaaten werfen das Handtuch. Seit im letzten Orkan sieben Inseln des Vuatanu-Archipels verschwunden sind, herrscht Panik. Wer die nicht verstünde! Doch leider bei uns keine Panik, obwohl wir Mitbetroffene sind. Wirkung des interaktiven Reality-TV? Ein Überleben im Pazifik ist nicht mehr möglich. Die Küstenzonen zerstört, die Fauna, vor allem die Fische und die Krabben, vertrieben oder ausgestorben, die Palme hält der Wucht der Orkane nicht mehr stand. Das will etwas heißen. Sagt alles. Auf Muroa und Bora-Bora klettern die Menschen die Berghänge hinauf. Tahiti nicht mehr wiederzuerkennen. Pitcairn schon seit zehn Jahren aus der Luft versorgt. 

NB:
  Nun gibt es also auch die Osterinseln nicht mehr. Trauer um die 2.000 Insulaner, Trauer aber auch um die einzigartigen Riesen-Plastiken. 
Die langohrigen Mohais haben umsonst gewacht.

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