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1. September 2020  

Guha-1993

 

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Ein Antikriegstag voller Drohungen und Waffengeklirr. Die VSE warnen die nordafrikanischen Staaten ein letztes Mal: Sie hätten dafür zu sorgen, daß der Elendsmarsch, der sich bei Tanger und an der Küste der Cyrenaika sammelt, gestoppt wird. Europa spaße nicht. Bei den ersten Versuchen, über die Meerenge bei Gibraltar zu setzen oder nach Malta und Sizilien zu gelangen, werde die »militärische Lösung« ihren Lauf nehmen. 

Europa fühle sich bedroht. Aber Verhungernde lassen sich nicht mit der Erschießung abschrecken.

Ordnungsmacht NATO! 46 Hungerkriegen in Mittel-, Süd- und Ostafrika, in Ostasien und Lateinamerika hat sie in diesem Jahrhundert tatenlos zugesehen, ohne sich bedroht zu fühlen. Sieben militärische Interventionen zusammen mit den Amerikanern (natürlich stets unter Federführung und in der Verantwortung der UNO), aber nicht als Feldzüge gegen den Hunger, sondern zur Sicherung der »strategischen Ressourcen« und des investierten Kapitals. Südafrika, Kenia, China, Ägypten, die Philippinen, zweimal Saudi-Arabien. 

Und stünden nicht die Armutshorden bereit zum »Sprung nach Europa«, wären jetzt Brasilien und seine Volksregierung an der Reihe, »befriedet« zu werden. Die VSE und die USA denken nicht daran, das Fluchtkapital zurückzuleiten. Wir mästen uns mit dem Geld der brasilianischen Geldaristokratie, das den Massen abgepreßt wurde.

Seit 1987, dem Beginn des »Children Body-Counts«, 164.000 Straßenkinder in Brasilien von Todes­schwadronen ermordet, wie Ungeziefer, befohlen von den Reichen, die jetzt die Wangen unserer Kleinen tätscheln. 21 der Mörder, fast durchweg Polizisten und Militärs, hat Bustos Bandeira an die Wand stellen lassen. Aufschrei in der »zivilisierten Welt«, die all die Jahre hinweg das Massenmorden an den Kindern zwar indigniert, aber doch stumm zur Kenntnis nahm. Die Hauptverantwortlichen freilich haben bei uns politisches Asyl gefunden. Mörder beanspruchen den Schutz eines Menschenrechtsartikels, der ihnen auch prompt gewährt wird. Fort und zurück aber mit den Opfern, die kein pralles Bankkonto haben!

9. September 2020

Akuter Wassermangel in der Po-Ebene. Die Südhänge der Alpen als schier unerschöpflicher Speicher beginnen zu versiegen, sobald der Sommer kommt. Als habe jemand den Hahn abgedreht. Aber wer ist dieser »Jemand«? Jedermann!

Wiederum zeigt sich: Es geht alles viel rascher als vorausberechnet. 

Im Frühjahr dagegen die verheerenden Überschwemmungen. Die Westalpen halten die Regenfronten ab, über der Po-Ebene beginnt sich ein ständiges Hochdruckgebiet chronisch einzurichten. Ein Drittel des Wassers verdunstet, ein Drittel wird auf die Felder und in die Weinberge geleitet, pures Gift, hochkonzentriert. Allein die Dioxinbelastung um das Sechzigfache über dem zulässigen Höchstwert! Die Kläranlagen von Turin und Mailand, Modena und Bologna sind immer noch nicht fertig. Seit 30 Jahren wird an ihnen gebaut. 

Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott, aber erst dann!

 

10. September 2020

Eine dämliche Unsitte aus den neunziger Jahren feiert wieder fröhliche Urständ: das Werben mit »Zukunft«. 

Wer auf sich hält, teilt mit, daß er für die Zukunft arbeite, ja kämpfe. Parteien, Organisationen, Verbände, alle versprechen Zukunft, sind der Zukunft verpflichtet. »Mit uns in die Zukunft« — »Wir sind die Zukunft«. Zukunft ist »in«. Der Begriff allein soll bereits ein Prädikat und eine Qualität ausdrücken. Zukunft als solche ist bereits von Wert. Euphemismus eines an sich bedrohlichen Begriffs?

Dennoch darf diese Banalität doch nicht genügen: Die verehrten Damen und Herren sollten schon angeben, welche Art von Zukunft sie denn meinen? Eine Zukunft werden wir gewiß haben. Die Frage ist doch, welche? Kaiser Wilhelm war da nachgerade präzise: »Ich werde Euch herrlichen Zeiten entgegenführen«. Nach uns die Zukunft.

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12. September 2020 

Um ihre Beziehung zu retten, ist Sylvie mit Clemens' Kinderwunsch einverstanden — obwohl ihr die Ärzte abrieten. Jedes zweite Kind komme heute mit Hautschäden, Asthma oder Bronchitis zur Welt. Und Krebs. 

Vor allem die Neurodermitis-Erkankungen nähmen epidemisch zu. Die großflächig vergiftete Umwelt — Dioxin, aber nicht nur! — bewirke, daß sich jede genetische Anlage negativ entwickele. Die Kinder litten wegen des Juckreizes und der Atemnot — denn Asthma stellt sich meistens zusätzlich ein — unvorstellbare Qualen, gegen die man immer noch zu Cortison greifen müsse. Die Gentechnik hat noch keine Abhilfe schaffen können. Im Gegensatz zu früher, das falle den Ärzten immer deutlicher auf, mildere sich die Neurodermitis auch nicht mit zunehmendem Alter. Während noch in den neunziger Jahren die Krankheit ab dem zweiten oder dritten Lebensjahr zum Stillstand gekommen, zumindest abgeklungen sei, spätestens aber die Pubertät fast eine Heilung gebracht habe, verschärfe sich das Problem heutzutage. Man hoffe aber, daß die Genetiker bald in der Lage sein werden, das Übel zu beseitigen.

Aber wann? Ja, wann! Um sicher zu gehen, soll Clemens sein Sperma untersuchen lassen. Mit den modernen Chemoanalysen lassen sich Schädigungen in den Eiweißverbindungen und Enzymen relativ sicher nachweisen. Meist sei es ja das toxisch belastete Sperma, das die Krankheit weitergebe.

Die Gentechniker arbeiten mit Hochdruck am transgenen Menschen. Gene von Schwarzafrikanern sollen vor den Verätzungen der ultravioletten Strahlung schützen, Gene von Schimpansen vor Neurodermitis. Was wird das Endergebnis der Reparatur­versuche an der Evolution sein? Warum nur hat niemand mit derselben Energie an der Zivilisation repariert, solang es Zeit war?

 

14. September 2020

Allgemeinwissen, Bildungsstand und sprachliche Ausdrucksfähigkeit des heutigen Durchschnitts­akademikers erreichen nur noch ein Niveau, das um 50 Prozent niedriger liegt als vor 60 Jahren.

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Das »gute Buch« ist aus der Mode gekommen. Die Literatur ist am Ende, erreicht nur noch kleine, elitäre Zirkel. Ihre gesellschaftliche Funktion entspricht ihrem Stand zu Beginn des 18. Jahrhunderts. 

Der Schriftsteller ist zum armen Poeten geworden, ohne gesellschaftlichen Nutzwert. Ein Verlag nach dem anderen geht ein. 

Strukturanpassung des Geistigen. Nietzsches Exstirpation des Geistes. Nur noch Fachliteratur, Fachzeitschriften, Berufsspezifisches und alles aus dem Computer.

Damit geht eine eklatante emotionale und psychische Verarmung einher. Die Reduktion des Menschen auf eine frühere Entwicklungsstufe, Regression als Fortschritt. Und wer noch über emotionale und psychische Differenziertheit verfügt, kann sie — mangels Sprachfähigkeit — nicht artikulieren, sondern nur ausagieren. 

Der Verdummungsprozeß scheint unaufhaltsam. Aber was nicht gewußt wird, läßt sich ja per Knopfdruck auf den Bildschirm holen. In Sekundenbruchteilen kann man in Datengebirgen wühlen und Informationsmeeren schwimmen. Und man merkt dabei nicht, was für eine arme Sau man doch ist.

 

16. September 2020

Der letzte Monat war in Mitteleuropa der wärmste August seit Beginn der Temperaturmessung vor 160 Jahren, gleichzeitig der trockenste. Eines der vielen Rekord­ergebnisse, die in meiner Generation zu verzeichnen sind. Mein Kreislauf hat es mir deutlich vermittelt. Dramatischer Abfall des Luftdrucks. Das verheißt nichts Gutes.

 

21. September 2020

Die Sterilisierungsaktion verläuft in Europa und den anderen Industriestaaten relativ problemlos. Auch Sylvie und Clemens haben sich der Prozedur unterzogen, beide sicherlich mit Beklommenheit. Ansonsten aber kaum Proteste, geschweige denn Widerstand wie in der Dritten Welt. Das freilich gibt auch wieder zu denken. Der Wunsch nach Kindern drückt ja mehr aus als den Wunsch nach einem Besitz.

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Das Bedürfnis nach Fürsorge, für andere da sein, nach Fortpflanzung des eigenen Selbst, um eine Form der Fortexistenz zu sichern (der Mythos, den eigenen Tod zu relativieren), sich Liebesobjekte schaffen, das eigene Leben bereichern, sich wiederentdecken in »eigenen Kindern«, Traditionen fortsetzen, den eigenen Namen erhalten. Oder einfach der Fortpflanzungsinstinkt.

Auf all das wird leichten Herzens verzichtet. Weswegen? Aus Sorge um das Schicksal der künftigen Generationen? Kaum. Aus Eigensucht, da die Früchte der eigenen Arbeit am besten alleine konsumiert und genossen werden wollen? Schon eher.

Die Einwände der Wirtschaft, die Produktionseinbußen befürchtet, sind abgewiesen. Weniger Produktion, weniger Umweltzerstörung. Wenn man das weiterrechnet gegen Null hin, ergibt sich sogar eine sinnvolle Aussage: keine Menschen, keine Produktion, keine Umweltzerstörung. Der Schöpfer könnte sich wieder daranmachen, seinen Planeten zu heilen, eine neue Genesis einzuleiten. Vielleicht gelänge das Werk dann besser, zumindest was den neuen Homo sapiens betrifft.

Für unsere Familie freilich ergibt sich eine makabre Konsequenz: Wird sich der Konflikt, der immer noch zwischen Sylvie und Clemens besteht, auf diese Weise von selbst erledigen? Scheußliche Vorstellung, aber leider real.

Auch Europa muß schrumpfen — und das sogar rasch. 12 Millionen Süditaliener, dazu doppelt so viele Griechen, Mazedonier, Albaner und Montenegriner werden in den nächsten Jahren in Westeuropa Aufnahme und Existenz fordern. Die Lebens­bedingungen dort unten verschlechtern sich rapide (die Aufnahme von neun Millionen Älplern nach der Erdrutsch­katastrophe von 2000 ist ja immer noch nicht bewältigt und verkraftet). 

Die Länder verglühen buchstäblich oder versalzen wegen der überdimensionierten künstlichen Bewässerung. Wenn die Lage halbwegs stabilisiert werden soll, müßte das Wasser aus den Entsalzungsanlagen wieder in den Boden verpreßt werden, statt es direkt auf die Felder zu leiten. Die Rede ist freilich von Tropfen auf heiße Steine. Griechenland, der südliche Balkan, Sizilien und Süditalien beginnen sich in lauter Oasen aufzulösen.

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Interessant, daß die Geburtenrate im Nahen und Mittleren Osten dramatisch gefallen ist, ohne Sterilisations­aktionen, ohne Propaganda und ohne regierungs­amtlichen Zwang. In Saudi-Arabien, den Emiraten, im Iran und sogar im Irak werden kaum noch Kinder geboren. Die Wissenschaftler können sich das Phänomen dieser massenhaften Unfruchtbarkeit nicht erklären. Vielleicht ein Anpassungsvorgang angesichts der sich verschlechternden Existenzbedingungen. Überleben heißt Anpassung, sowohl des Individuums wie der Art. Die Weisheit der Natur ist unserer wissenschaftlichen Zivilisation immer noch ein Buch mit sieben Siegeln.

 

25. September 2020

Die Versicherungswirtschaft läßt nicht locker — mit stillschweigender Unterstützung der Arbeitgeber —, den Genetik-Paß für jeden verbindlich einzuführen. Man kennt diese argumentativen Trojanischen Pferde ja nun schon zur Genüge: bessere Gesund­heitsfürsorge, besserer Unfallschutz (der epileptische Flugzeugpilot!), Risikoberufe vermeiden, Familienplanung optimieren. In Wirklichkeit wollen sie den gläsernen Menschen. Wer ein Risiko-Gen hat und gefährdet ist, soll entweder überhaupt nicht oder mit höheren Beiträgen versichert werden. Er soll auch bestimmte Berufe nicht ergreifen dürfen.

Der bislang »originellste« Vorschlag: bei »wirklich und nach bestem ärztlichem Wissen und Gewissen hoffnungslos Todkranken« solle der Sterbezeitpunkt »aufgrund einer ethisch verantwortbaren Eugenik« um vier Tage vorverlegt werden. Der Todeskampf der meist ohnehin bewußtlos an die Apparatur angeschlossenen Patienten sei sinnlos.

Wahr ist aber gleichzeitig auch, daß die letzten vier Tage im Krankenhaus die teuersten sind. Die hätte man gerne eingespart. Wie gut, daß zu diesem Zweck eine ethische Argumentation gar nicht einmal so schlecht paßt. Aber wer die Ethik mit solch übler Chuzpe überlisten will, ruiniert sie nur.

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Politiker und Unternehmer bekommen aber doch allmählich Angst vor der »Genokratie«. Der Genetik-Paß ist ihnen gar nicht geheuer — ihr Zögern hat einen einleuchtenden Grund: Kandidaten für politische oder unternehmerische Karrieren würden erst recht genetisch durchgecheckt. Wer weiß, welcher der heutigen Minister — einschließlich des Bundeskanzlers — und der Unternehmenschefs einer Genomanalyse standgehalten hätte und welcher der im zweiten oder dritten Glied Hoffenden einer künftigen standhielte. Vermutlich würden Berufswahl und Berufsberatung ins Unsittliche und Unmenschliche revolutioniert, ließe man es gesetzlich zu, die Genomanalyse zur Entscheidungsgrundlage zu machen. Die Frage ist, ob sich überhaupt noch jemand für den Beruf bewerben dürfte, für den er Interesse hätte.

Was für eine Welt, in ihren Möglichkeiten an subtiler Barbarei nicht mehr zu überbieten. Das ethisch Verantwortbare und das ethisch Verwerfliche sind nicht mehr auseinanderzuhalten. Uns sind die Kriterien abhandengekommen. Und Galileo Galilei sah es noch als Zweck der Wissenschaft an, das Los der Menschen zu erleichtern. Der Illusionist, das Gegenteil ist eingetreten. Die Fähigkeit des Menschen zur Wissenschaft macht ihn zum großen, tragischen Irrtum der Evolution.

 

26. September 2020

Nun also steht das Unvermeidliche fest: Montag, der 15. November. Dann schneiden sie mir mein Herz heraus. Wahnsinnige Angst. Werde ich das überleben? Seltsam, diese Konfrontation mit dem möglichen Lebensende. Aber ich bin ja nicht allein. Tina, die Kinder sind bei mir. Das ist gut.

 

29. September 2020

Die Sizilianer und Kalabresen machen gemeinsame Sache mit einem Teil der Afrikaner, der von Libyen aus nach Europa übersetzen will. Die Luftaufklärung der NATO hat zweifelsfrei ergeben, daß süditalienische Fischer in einer Art Seebrücke bereits Tausende Teilnehmer des Elendsmarsches übergesetzt haben.

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Sie tun es vermutlich aus Enttäuschung und verletztem Stolz darüber, daß VSE-Europa — einschließlich ihrer norditalienischen Landsleute —, sie von den Fleischtöpfen des Nordens abgeblockt haben. Die Solidarität zwischen Habenichtsen fällt leicht, wenn es gegen reiche Ausbeuter geht.

In den Gewässern vor Gibraltar patrouillieren jetzt 134 Kampfschiffe der NATO, die feuerstärkste Armada, die jemals aufgeboten wurde. Auf spanischen, portugiesischen und italienischen Luftstützpunkten stehen Hunderte von Kampfbombern und Hubschraubern bereit. »Wir können das Meer zum Kochen bringen«, meinte stolz ein Kommandeur und voller zuversichtlicher Erwartung in die Fernsehkameras blickend. Bravo! Der Gegner freilich ist unbewaffnet, hungrig, halb verdurstet, verzweifelt und in Lumpen gehüllt. Les Miserables. Man sollte ihnen etwas zum kochen geben, statt sie zum Kochen zu bringen.

Wenn die Afrikaner ihren Zug jetzt abbrächen! Diese wohl größte Protestdemonstration in der Geschichte der Menschheit hat ihre Wirkung getan. Sie hat aufgerüttelt, hat geschockt, hat Nachdenken ausgelöst. Die Öffentlichkeit in Europa ist aufgewühlt, zumindest die übergroße Mehrheit, sie hat verstanden und ist bereit, den Gürtel enger zu schnallen, um Afrika zu helfen. Europa fühlt sich gedemütigt — und ist es auch.

Aber der Zug müßte gestoppt werden, der Führungsrat muß die prekäre Situation erkennen, auch das Dilemma der Europäer. Wie auch immer deren moralische Position zu beschreiben wäre, sie — und vor allem die Spanier und Portugiesen — können doch um Himmels willen nicht zusehen, wie über eine Million Afrikaner nach Europa strömt. Wie immer die historische Schuld Europas am Elend in der Dritten Welt zu bemessen wäre - sie ist gewaltig -, eine Kapitulation als föderativer Staatenbund ist ihm nicht zuzumuten.

Sobald das erste Kriegsschiff den ersten Trawler mit Hungermarschierern gerammt und auf den Meeresgrund geschickt haben wird, wird die Stimmung in Europa umschlagen. Diese Prognose ist billig. 

Allein schon aus Gründen der psychischen Recht­fertigung wird das Gemetzel an Halbverhungerten in einen Abwehrkampf gegen uneinsichtige, wildgewordene Fanatiker umgedeutet werden.

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Die Psyche keines Individuums und keines Volkes ertrüge ein derartiges Dilemma. Der Haß gegen den Wehrlosen, der den Starken provoziert, ihn zu töten, um ihn schuldig werden zu lassen, ist grenzenlos. Denn diese Provokation ist von einer jeden militärischen Heroismus übertreffenden Seelenstärke. Sie ist Todessehnsucht und kennzeichnet den Märtyrer. Diese Todessehnsucht mag einige der Hungermarschierer, vor allem ihre fundamentalistischen Führer, befriedigen, dient aber ihrer Sache nicht, schon gar nicht denen, die zu Hause ausharren und auf einen Erfolg dieser Aktion warten.

Sollten die VSE-Streitkräfte provoziert werden, Wehrlose zu töten, könnte das den endgültigen Durchbruch des Neofaschismus in Europa bedeuten. Mit allen Konsequenzen auch für die Dritte Welt. Hunderttausende »Freiwilliger« können kaum noch an sich halten, die einströmenden »Horden« totzuschlagen.

 

3. OKTOBER 2020

 

Das Thrilling wird zur Droge, fatal und pathologisch. Letzte Woche 16 Tote, darunter immerhin fünf Frauen. Im Gefolge dieser Sucht kommt das Duell wieder in Mode, ausgelöst ohne Zweifel durch den seit Jahren anhaltenden Massenandrang junger Europäer und Amerikaner, sich als Söldner in der Dritten Welt zu verdingen, um den Kitzel der Gefahr und den Rausch des Tötens »hautnah« zu erleben.

Eine Studie des Sigmund-Freud-Institutes verweist auf das »gesellschaftliche Vermitteltsein« des Aggressionsphänomens: Dieser Wertewandel beziehungs­weise Paradigmenwechsel sei darauf zurückzuführen, daß in der öffentlichen Sphäre Gewalt und Brutalität heute allgemein akzeptiert seien. 

Im ökonomischen Bereich herrsche ohnehin ein allgemeiner, kruder Sozial­darwinismus. Aber auch im innerbetrieblichen Bereich seien Aufstiegschancen an den »erfolgreichen Nachweis aggressiver Verhaltensweisen gebunden«: Der Stärkere setzt sich durch. Der bereits Ende der vierziger Jahre von Erich Fromm kritisierte Verhaltenskatalog des sogenannten »unproduktiven Charakters« komme heute »als sozial erwünschtes Verhalten voll zum Tragen« und erfreue »sich allgemeiner, nicht mehr problematisierter Akzeptanz«.

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Gewalt und Brutalität als Zeichen für den kollektiven Verlust des Ich? Nivellierung der sittlich autonomen Persönlichkeit zum Massen-Ich? Wenn ich genau hinhöre, kommt mir die Formulierung reichlich veraltet vor: sittlich autonome Persönlichkeit.

An der Realität ist nicht zu deuteln: Es verkaufen sich nur noch Filme und Videos, die Gewalt in ihrer blutrünstigsten Form darstellen. Der Sadismus feiert Triumphe, die Qualen der Opfer delektieren. Und zu den eifrigsten Konsumenten zählen - die Kinder.

Notabene: Mein Entsetzen über die Brutalität des jugoslawischen Bürgerkrieges Anfang der neunziger Jahre. Das geplante Hinmetzeln von Zivilisten, Frauen, Kindern, Alten. Die organisierten, trainierten Vergewaltigungen, dann das Abschlachten, an Schweinen geübt. Der Abscheu war damals noch ein allgemeines Empfinden, Relikt des Entsetzens über die Nazi-Greuel. Heute dagegen: Die Exzesse sind »normal« geworden. Zur Norm geworden, werden als Greuel nicht mehr wahrgenommen, sind Teil der »militärischen Auseinandersetzung« innerhalb des gesellschaftlichen Prozesses. 
        Wo soll das alles nur hinführen.

 

7. OKTOBER 2020

 

Der dramatische Rückgang der Qualität des männlichen Spermas in Mittel- und Südeuropa ist auch bei Männern zu beobachten, die nicht in belasteten Gebieten leben und stets einwandfreies Wasser konsumieren. Neueste Untersuchungen legen die Annahme nahe, daß das Nachlassen der Zeugungsfähigkeit des Mannes nicht nur eine Reaktion ist - Dioxin, Chemikalien -, sondern nunmehr auch vererbt wird.

Na bitte! Die Natur weiß sich also doch zu helfen. Es hätte der Sterilisierungsaktionen bei uns nicht bedurft. Sie ist bereits vorgesehen, offenbar als irreversible Maßnahme. So richtig mit ganzer Wucht wird sie die nachkommenden Generationen treffen. Wir haben sie entmannt.

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11. OKTOBER 2020

Endlich! Gott sei Dank! Das nervtötende Warten Gewehr bei Fuß hat ein abruptes Ende gefunden. Die Regierungen Marokkos und Algeriens haben in letzter Sekunde den Großen Hungermarsch nach Europa gestoppt. Truppen enterten die bereitliegenden »Schiffe« - meist Fischtrawler, gecharterte Ausflugsdampfer und vor allem selbstgebastelte Boote und Flöße. Der Rücktransport soll umgehend organisiert werden. Erste Anzeichen von Seuchen registriert. Von der UNO und von Europa wird Hilfe erwartet. Ausgeschlossen, daß die ausgemergelten Massen den Rückmarsch schaffen. Nahrung, Medikamente und Transportkapazität müssen zur Verfügung gestellt werden, andernfalls ein Massensterben begänne, das den Zielen der fundamentalistischen Anführer doch noch zupaß käme.

Blickverengung. Wer sind diese radikalen, fundamentalistischen Anführer, die uns Europäern ein solcher Graus sind? Sicherlich Leute, die denken können und gerade deshalb keine andere Lösung für die Misere Afrikas sehen als diese Form von gewalttätiger Gewaltlosigkeit. Die eindringliche, konsequente, zum Selbstopfer bereite Aktion der Hilflosigkeit und Verzweiflung.

In nicht allzu ferner Zukunft wird ein einheitliches Band Reiche und Arme auf dieser Welt vereinen: Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Nur werden die Armen von den Reichen wissen wollen, warum auch für sie keine Hoffnung bestehe, nachdem sie doch Jahrhunderte lang von der Hoffnung gezehrt haben. Und darin von uns Reichen kräftig bestärkt wurden.

 

17. OKTOBER 2020

Über dem Nordatlantik braut sich wieder ein gewaltiger Orkan zusammen. Die Plötzlichkeit des Geschehens, buchstäblich wie aus heiterem Himmel, hat etwas Überfallartiges, Infames an sich. Pausenlose Sturmwarnungen mit intensiven Mahnungen, sofort den nächstmöglichen Schutzraum aufzusuchen. Die Stimmen der Nachrichtensprecher klingen sehr nervös.

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Offenbar wissen sie mehr, als ihr Text trotz allem verrät. Das ist ja wie im Krieg! Das kenne ich aus den Erzählungen meines Vaters. So klangen die Warnungen, wenn wieder 1000 alliierte Bomber im Anflug waren.

An den Nordseeküsten werden jetzt die Schotten dichtgemacht, das Vieh von den Weiden getrieben. Frachter und Fischkutter hetzen zum nächsten Hafen. Wer jetzt noch weiter als 40, 50 Seemeilen draußen auf See ist, hat kaum noch eine Chance. Die Rettungshubschrauber der Seenotrettungsdienste schwirren aus. Thrilling live!

Über dem Rheingau aber sinkt die Sonne, als ob nichts wäre. Ihr können wir nichts anhaben. Stoisch wie ein gleißender Ballon schwebt sie träge auf den Schläferskopf hinab, entzündet den Wald und öffnet noch einmal die Lichtschleusen, die den Horizont fluten. »Oh wie schön ist deine Welt, Vater, wenn sie golden strahlet, wenn dein Glanz herniederfällt und den Staub mit Schimmer malet; wenn das Rot, das in der Wolke blinkt, in mein stilles Fenster sinkt«. Franz Schubert, bißchen kitschig, aber schön: »... und dies Herz, eh es zusammenbricht, trinkt noch Glut und schlürft noch Licht«.

Klingt verdammt realistisch: Denn während die Sonne sich mit stummer Geste davonwälzt, züngeln bereits die Vorhuten einer Wolkenwand herauf, noch mit bösen, schwefelgelben Rändern und Adern, eine nachtschwarze, dicke Decke hinter sich herziehend. Die letzten Reste des Lichts werden rasch erstickt.

Tina mahnte mich rufend, die Fensterläden zu verriegeln. Gleich! Draußen ist alles unter dem Medusenblick dieses über dem westlichen Horizont heraufspringenden schwarzen Tieres erstarrt. Selbst die Blätter der Birken wie aus grünem Glas. Kein Laut, kein Vogel, die Mücken verschwunden. So muß es gewesen sein, wenn der Scharfrichter das Beil hob. Alles hielt den Atem an, das gaffende Volk, die Soldaten, die Herren der Justiz, der Pfaffe, der Delinquent, für eine Sekunde Erstarrung und Totenstille auf dem lärmigen Marktplatz. Dann der erlösende Schlag, der aufbrandende Schrei.

Als die Birken draußen plötzlich aufächzten und sich mit den Kronen fast auf den Boden zurückbogen, niedergedrückt von einer unsichtbaren Faust, kam mein Sprung ans Fenster zu spät. Krachend knallten die Fensterläden gegen das Mauerwerk. Nur weil das Inferno noch einmal Luft holte, gelang es mir, eine Katastrophe zu verhindern und die Läden zu verriegeln.

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17. OKTOBER 2020, Mitternacht

Seit nunmehr drei Stunden bebt das Haus, als ob riesenhafte Kung-Fu-Kämpfer immer wieder zum Sprungstoß ansetzten. Die Fensterläden werden jeden Augenblick aus den Halterungen gerissen. Gläser und Tassen klirren im Schrank. Wir können uns nur schreiend oder mit Gesten verständigen. Der dröhnende, auf- und abschwellende Lärm erinnert an eine gewaltige Orgel, deren sämtliche Register gezogen sind und auf denen der Körper des zusammengebrochenen Organisten liegt. Immer wieder der Blick zur Decke, ob das Dach noch halte. Aber das Haus ist ja orkanresistent und energieautark. Es entspricht, großer Gott, den Bestimmungen. Polternde Geräusche, als würden Teile des Hauses weggefetzt oder etwas dagegengeschmettert. Nicht anders kann es in einem U-Boot sein, das mit Wasserbomben angegriffen wird. War das der Schrei eines Menschen? Rief jemand in höchster Not?

 

18. OKTOBER 2020

Stummes, lähmendes Entsetzen. »The Day After«. Das Geschehen der Nacht wirkt in seinen Konsequenzen so unfaßbar und fremd, weil es von keiner Erfahrung und von keiner Vorstellung bestätigt werden kann. Schon will sich das Gefühl einstellen, einen Alptraum gehabt zu haben. Aber dann der Anblick des Draußen: Wo sind denn die Bäume, die hier Jahrzehnte lang standen, wuchsen, blühten, Schatten spendeten, ihre Blätter abwarfen? Keiner zu sehen, nicht einer. Statt dessen geknickte Schäfte, riesige Reisighaufen aus Ästen und Stämmen und Blättern. Der Neroberg eine Trümmerwüste. Die alten Kastanien, Platanen, Buchen und Fichten, der Stolz dieses Nobelviertels, auf und gegen die Häuser geschleudert. Eingedrückte Fronten, abgedeckte Dächer.

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Ein Berg aus Schutt und Kleinholz. Aber auch in unserer Straße - Straße? - Dachziegel, ganze Häuserteile, Türen, Dachrinnen. Autos, zu Blechklumpen zerquetscht, in Gärten. Kein Laternenpfahl zu sehen. Orkanresistenz!

Das soll unser Garten gewesen sein? Bizarr. Der Zaun ist fortgerissen, verschwunden, die Sträucher, die Blumen. Ein Gewirr aus Trümmern und Teilen, wohin ich blicke, kaum daß sich die Haustüre hatte öffnen lassen. Das Haus, wie mit Maschinengewehren beschossen: Der Sturm hat den Mauerverputz abgerissen. Ein Rohbau. Unser Stolz, die Mehrschichtsolarzellen-Anlage zertrümmert. Drüben stocherte der Nachbar verstört in chaotischem Gewirr, zupfte und zerrte an einem Ast, bog ein Stück Blech zurück. Lahme, müde, hilflose Bewegungen, wir grüßten einander stumm mit schreckerfüllten Augen. Und Staunen, daß der andere noch lebte.

 

20. OKTOBER 2020

Das unablässige Tuten der Feuerwehr und Rettungswagen hat etwas Tröstliches. Es zeigt an, daß nicht kapituliert wird, daß man noch helfen kann und will. Anpacken, Zuversicht, sich nicht unterkriegen lassen! Werde der Aufforderung der Behörden folgen und mich freiwillig zum Katastropheneinsatz melden. Sich jetzt nicht dieser Lähmung überlassen, nicht das Opfer der Gewißheit werden, daß auf Dauer alles Tun und alle Gegenwehr keinen Sinn hat. Alles, was lebt und stark ist, entstand schließlich in Gegenwehr zur Natur, als Selbstbehauptung.

 

23. OKTOBER 2020

Die vorläufige Opfer- und Schadensbilanz markiert den endgültigen Anbruch - Einbruch! - einer Zeitenwende. Eine Kriegserklärung! Vorerst nur die vage Ahnung des Ausmaßes, nur als Rückschluß des Wahrnehmbaren möglich. Ungewohnte, ängstigende Isolation, Informationen dringen kaum zu uns durch, dennoch krampft sich die Phantasie zusammen.

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Die Wirklichkeit drängt sich unerbittlich ins Gehirn, das sich gegen diese Surrealität zur Wehr setzt. Vergebens. Totaler Stromausfall, ganze Computernetze zusammengebrochen, trotz eigener Versorgung mit Solarenergie. Chaos. Das Nervensystem ist lahmgelegt. Stillstand. Aus.

 

23. OKTOBER 2020, nachmittags

Die Behörden informieren mit Lautsprecherwagen und Flugblättern. Irgendwo gibt es also Druckereien, die mit Notstrom­aggregaten arbeiten. Das Batterieradio und das Funktelefon halten notdürftige Verbindungen aufrecht, verhindern, daß uns der Schrecken vollends lahmt.

Allmählich sickert im Laufe des Tages durch, rundet sich ein vorläufiges Bild: West- und Mitteleuropa, dazu Teile Südskandinaviens, sind verwüstet. Etwa 830.000 Tote, die vierfache Anzahl an Verletzten. Die materiellen Schäden übertreffen die Verwüstungen des Zweiten Weltkrieges um das Doppelte! Wahrscheinlich 30 Millionen Obdachlose. Wozu die Armeen sechs Jahre brauchten, erledigte eine aus den Fugen geratene Natur in wenigen Stunden.

Brüssel und die nationalen Föderationsregierungen rufen den Notstand aus. Zwangsverpflichtung aller Erwachsenen von 18 bis 60 Jahren. Ausnahmen gelten nur für Familien, in denen es Verletzte, Kranke oder Kleinkinder gibt.

Vordringlich ist, die vernichtete Infrastruktur halbwegs wiederherzustellen. Wir brauchen Strom, Energie. Die abgestürzten Computer müssen wieder arbeiten. Hoffentlich halten sich die Schäden in Grenzen, hoffentlich sind nicht die Programme für das Funktionieren dieser Gesellschaft gelöscht! Alles andere wäre reparierbar. Das Transportsystem muß wieder in Gang gebracht werden, Brücken, Straßen, Eisenbahnschienen. Aber wie sich verständigen, wie eine halbwegs funktionierende Organisation aufbauen und aufrechterhalten - ohne Strom. Die Überlandleitungen gibt es nicht mehr, nahezu alle Strommasten wie Streichhölzer geknickt. Die seit langem kritisierte Unsinnigkeit dieser Art von Energietransport ist nun offenkundig.

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Das Chaos in den Krankenhäusern und Kliniken. Die ganze lebensrettende Apparatur ist ohne Strom nur Schrott. Die Ärzte operieren nachts bei Kerzenschein. Wir sind zurückgeworfen auf einen vorindustriellen Standard. Schlimmer noch: Damals konnten sich die Menschen helfen, ihre Werkzeuge und Instrumente und Kenntnisse waren angepaßt. Jetzt alles weg, nicht vorhanden. Neu improvisieren. Neu lernen. Neu leben lernen.

   25. OKTOBER 2020   

Eine unendliche Müdigkeit hat sich unser bemächtigt. Das Bedürfnis nach Ruhe, nichts mehr zur Kenntnis nehmen zu müssen, sich ausklinken aus dieser aufdringlichen Realität. Unsere Vorstellungskraft ist überanstrengt, wir sind emotional leer. Früher ließ sich der Alltag mit der Vorstellungskraft transzendieren, heute reicht sie nicht mehr aus, um den Alltag zu begreifen. 

Sogar die Angst ist verschwunden. Nur noch totale Gleichgültigkeit, die Unfähigkeit zu trauern.

Die westirische Küste eine Wüstenei. Na und? Harlingen von der Sturmflut fortgerissen. Na und? Emden abgesoffen. Na und? Die berühmte Hotelmeile von Ostende ein Trümmerhaufen. Na und? Der Eiffelturm eingestürzt, ein Schrotthaufen. Okay. Zehn Millionen Hektar Wald plattgewalzt. Okay. Abgehakt, alles klar. Ruhe! Bitte nicht stören! 

Ach, ich bin des Treibens müde. Süßer Friede, komm, ja komm in meine Brust ... 

Und solche Sätze sind einmal mit aufrichtigem Empfinden geschrieben und vertont worden! Noch gar nicht so lange her und doch vor Ewigkeiten. Goethe, Schubert, Liszt. Sich in eine Idylle flüchten können, wie es sie früher doch gegeben hat. Ein Häuschen mit Garten, ein paar herbstreife Obstbäume, einige Rosenstöcke, Tina und die Kinder. Statt Angst nur Hoffnung und ein wenig Sehnsucht fürs Träumen. War' das schön.

Tina kommt mir so fremd vor. Sie bewegt sich wie eine mechanisierte Puppe. Spricht kaum. Nehme ich sie nur als fremd wahr oder steht sie unter Schock?

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