1. November 2020 Guha-1993
250-260
Allerheiligen. Es geht wieder. Der Nervenzusammenbruch scheint halbwegs überwunden. Fieber, partieller geistiger Ausfall, Tina pflegte mich. Woher nimmt sie nur die Kraft? Jetzt muß sie ausspannen, jetzt muß ich mich um sie kümmern. Beginne wieder wahrzunehmen, aber mit großer Distanz, als berührte mich das alles nicht sonderlich. Abwehr des inneren Schutzes halber, meinetwegen Verdrängung. Aber sonst würde man ja verrückt.
Vielleicht, daß die Jüngeren sich besser anpassen können, da sie das Früher nur vom Hörensagen kennen. Ihnen ist diese kaputte Welt vertrauter, sie sind mit ihr buchstäblich aufgewachsen. Sie werden sich in ihr und mit ihr besser behaupten. Wenn sie nur nicht in eine große Nostalgie verfallen. Das wäre zwecklos. Wir leiden an unserer zerstörten Erinnerung. Weiß Gott, es gab schon bessere Zeiten.
Allerheiligen. Schwedischen Wissenschaftlern ist es gelungen, den Vorgang des Alterns aufzuklären. Zweifle, ob der Menschheit damit ein Dienst erwiesen wurde.
3. November 2020
Das große Rätselraten hebt wieder an: Wie war das möglich? Es hätte ja in diesem Ausmaß nicht kommen dürfen. Seit 20 Jahren kommen wir aus dem entsetzten, sprachlosen Staunen nicht mehr heraus. Die Sprache hat für diese stets sich übertrumpfenden Dimensionen noch keine Begriffe finden können. Wir können es letztlich gar nicht formulieren, nur empfinden.
Das Desaster hat wieder einmal alle Prognosen und Vorhersagen, alle Berechnungen und Hypothesen über den Haufen geworfen. Es scheint, als sei eine neue Physik entstanden, als sei etwas Außerterrestrisches über uns gekommen. Verdammt noch mal, wie war das möglich? Das ganze meteorologische System ist durchcomputerisiert. Es schluckt jede Sekunde 300.000 Informationen, zeichnet alle 30 Sekunden ein Lagebild von der »Wetterfront«. Wie also konnte das so plötzlich über uns hereinbrechen? Auf der Venus mögen solche Orkane wüten, aber doch nicht auf diesem Planeten, dem schönen blauen, bekannten, vertrauten.
Wie konnte der Luftdruck so rapide und tief abfallen, daß über dem Nordatlantik ein derartiges Vakuum entstand? Wo hat sich das Wasser derartig aufgeheizt, und wie entstand dieser Einbruch an Kaltluftmassen? Gewiß, das ständige, seit vier Jahren anhaltende Hoch über den Azoren, andererseits das schmelzende Polareis, das den Nordatlantik abkühlt. Scheinbar geringe Ursachen: Ein paar Wärmegrade hier, einige Kältegrade mehr dort - und dann diese fürchterliche, potenzierte, sich selbst steigernde Wirkung. Mit weit über 400 Stundenkilometern raste das Inferno über Land und Meer.
Das haben wir ja nicht gewußt, nicht wissen können: diese Fragilität und diese Vernetztheit der Natursysteme, sensibler noch als Spinnennetze. Nach Jahrmilliarden Evolution ist alles im Schwebezustand wie ein riesiges Mobile. Die Balance eines Teilchens hält das Ganze im Gleichgewicht. Was als unverwüstlich und belastbar erschien, wie für die Ewigkeit gemacht, hängt an seidenen Fäden. Ein globales Noh me tangere.
Gestammel eines kleinen Kindes, das ein Glas kaputtgemacht hat. Wie erkläre ich mir meine Erschütterung? Meine Verwirrung? Kein Zweifel, auch ich habe trotz vordergründiger rationaler Skepsis insgeheim diesem scheinbar omnipotenten System vertraut. Es konnte doch nichts schiefgehen. Wir hatten doch für alles eine Lösung, zumindest eine Erklärung. Jetzt stürze ich ins Bodenlose. Jetzt erst! In mir ist eine Stütze weggebrochen.
Freilich: Selbst wenn wir es nicht hätten wissen können, was beweist dies? Nichts anderes, als daß der Mensch ein Fremdkörper in diesem unendlich austarierten Netzsystem ist. Er hat sich nicht anpassen können, er ist herausgefallen, hat keinen Platz mehr. Alle anderen Lebewesen hätten ihren Platz - wenn es uns nicht gäbe. Arthur Koestlers Irrläufer der Natur.
Soll das künftig unsere Normalität werden? Sieht so unsere Zukunft aus? Ein sturmgepeitschter Planet? Wie werden wir denn leben? Etwa unter der Erde? Müssen wir uns verkriechen wie lichtscheues Gesindel?
Die Evolutionsbiologen sagen uns, daß es aus der Sicht der Evolution keine Katastrophe darstellte, wenn eine Art von der Bildfläche verschwände. Millionen Arten seien ja im Laufe der Erdgeschichte verschwunden und durch neue ersetzt worden. Die Stabilität der Natur ist der fortgesetzte, unaufhörliche Wandel. Warum also sollte nicht auch der Mensch verschwinden? Es würde sich nichts begeben haben, wußte schon Nietzsche. Nur unser Bewußtsein würde aus dem Verschwinden unserer Art eine Katastrophe machen, sonst niemand. Die Dinosaurier starben nicht in dem Bewußtsein aus, Opfer einer Katastrophe zu sein.
17. November 2020
Sie haben mich zu einem herzlosen Menschen gemacht. Aber das Ding funktioniert. Ja, es funktioniert! Ich fühle mich wohl, könnte Bäume ausreißen. Schlafe wieder gut, denn: Diese ständige Angst ist verschwunden. Diese Beklemmung, wenn der Schmerz aus der Brust in den Arm kriecht und ihn lahmt. Dieses Hineinhorchen in sich selbst, jeder Pulsschlag hält wach, fordert Aufmerksamkeit. Vorbei! Der Arzt ist sehr zufrieden. Wegen Herzbeschwerden würde ich dermaleinst nicht das Zeitliche segnen. Dieser Apparat bekommt keinen Infarkt. Mit Tina wieder viel und herzlich (!) gelacht.
22. November 2020
Plötzliche Depression. Weiß nicht, warum. Nur verzweifelt. Fühle mich als nutzloses Wrack. Ein Mann in den besten Jahren. Die Angst ist wieder da, anders, und doch so vertraut wie eh und je. Morgen Entlassung aus der Klinik.
23. November 2020
Über 40 Prozent der Landfläche des Planeten sind Wüste geworden. Rund 70 Millionen Quadratkilometer. Bildhafter und konkreter könnte nicht dargetan werden, daß wir die Erde verwüsten. Das UNO-Komitee zur Bekämpfung von Wüsten erinnert daran, daß diese Verwüstung in den letzten 40 Jahren sich verdoppelt habe. Die Bemühungen um Rekultivierung hielten mit den Versteppungs- und Verwüstungsprozessen nicht Schritt. Gegen die seit faktisch 18 Jahren anhaltende Dürre in den subtropischen Zonen, in Nordchina und im Mittelwesten der USA könnten technische Mittel und Methoden nichts ausrichten.
27. November 2020
Wer einen Baum fällt, muß künftig als Verbrecher gelten. Das Zentrum für Wissenschaft und Umwelt in Neu-Delhi hat errechnet, daß der Wert eines 50 Jahre alten Baumes für die Umwelt mit 158.000 Dollar beziffert werden muß. Er produziert Sauerstoff für rund 24.000 Dollar. Ebenso hoch müssen der Schutz vor Erosion und die Fruchtbarkeit veranschlagt werden, die er dem Boden angedeihen läßt. Für 86.000 Dollar ist er an der Reinhaltung der Luft und an der Wasseraufbereitung beteiligt. Schließlich bietet er für 24.000 Dollar Vögeln, Kleintieren, Insekten und Pflanzen einen geschützten Lebensraum.
30. November 2020
Wenn die Astronomen auf einen Planeten irgendwo im All blicken könnten, so schön, so vielfältig, so unerschöpflich in seinen Möglichkeiten wie der unsere, dazu bewohnt von intelligenten, vernünftigen Wesen, die ihn hegen und pflegen — es wäre der schiere Zynismus. Der Schmerz wäre unerträglich.
Nicht anders wird es künftigen Historikern ergehen. Wer sich mit Geschichte befassen will, darf keine Gefühle haben. Andernfalls ertrüge er es nicht, zu wissen, daß noch vor 30, 40 Jahren unser Planet eine Chance hatte, daß seine Natursysteme noch nicht gekippt waren, daß man das Gespenst der Irreversibilität noch hätte bannen können. Alles noch zum Greifen nahe, fast noch Gegenwart. Doch keine Ewigkeit bringt sie zurück.
Vor allem aber muß jeder verrückt werden bei der Einsicht, daß die damals schon alles kannten und wußten. Öffentliche Debatten führten, warnten, beschworen, demonstrierten, Einsicht predigten und gelobten, alle Kräfte beschworen, an der Priorität nicht zweifelten, diesen Planeten zu erhalten. Schöne Worte formulierten.
»Uns bleiben noch 20 Jahre.« Vortrag von Dennis Meadows in Berlin. Wann? 1992, vor 30 Jahren. Also gestern! Seine »Grenzen des Wachstums« sind unvergessen. Das womöglich wichtigste Buch, das je geschrieben worden ist. Vergeblich. Es offenbart nur, daß Individuen dem Prinzip der Vernunft genügen können, daß aber der Mensch als Spezies eine Fehlmutation ist.
Warum nur zermartere ich mir das Gehirn mit fruchtlosen Überlegungen? Die Lust an der Selbstqual? Der Protest dagegen, daß Paradiese oder Goldene Zeitalter meist nur Vergangenheit sind, existent nur in der Legende? Ich habe es aber doch selbst noch erlebt. Ein Zeitzeuge. Ich bin doch einer der vielen, noch lebenden Vertriebenen aus dem Paradies. Wir haben uns selbst vertrieben. Ich habe Grund zu schweigen. Aber unsere Kinder und Enkel werden schreien!
4. Dezember 2020
Einstimmiger Beschluß der Vollversammlung der Vereinten Nationen, eine zentrale Exekutive für globalen Umweltschutz zu schaffen und sie ihrer Rechtshoheit zu unterstellen. Sie wird aber vollständig unabhängig sein und Weisungsrecht gegenüber den Regierungen der UNO-Mitgliedsländer haben. Die Nationalstaaten verzichten beim Umweltschutz auf einen Teil ihrer Souveränität.
Ausdrücklich wird in der Satzung betont, daß dem neunköpfigen Exekutivrat weder aktive Politiker noch Diplomaten angehören dürfen, sondern unabhängige Persönlichkeiten. Die Exekutivräte werden von der Vollversammlung berufen. Vorschlagberechtigt sind nicht Regierungen, sondern Akademien, Universitäten und Forschungsinstitute.
Ein erster Schritt zu einer Weltregierung. Absolut richtig, die Probleme sind ja auch global. Vor 18 Jahren ist diese Idee noch an den USA und an China gescheitert. Meine Freude hält sich in Grenzen. Eher Traurigkeit. Wieder ein tragisches Zuspät. Es ist fünf nach zwölf. Aber dennoch retten, was zu retten ist.
10. Dezember 2020
So, das wär's. Bergmann und Klopreis von der TH Aachen haben nachgewiesen, daß bei einer Veränderung der Luftchemie, vor allem des Verhältnisses von Kohlendioxyd und Sauerstoff, die evolutionsbiologischen Folgen unabsehbar sind. Die Evolution mit ihrer ungeheuren Artenvielfalt habe sich am besten entwickelt bei einem CO2-Anteil zwischen 200 und 270 ppm Luftanteil. Dem entspricht eine mittlere Erdtemperatur zwischen 12 und 16 Grad, was Eiszeit oder Warmzeit bedeutet.
Ein plötzlicher Anstieg des CO2-Anteils hat in der Erdgeschichte immer eine Reaktion der Mikrolebewesen bewirkt, der Viren, Bakterien oder Pilze. Es entstanden neue Arten und Formen. »Hieraus folgt eine Erhöhung des Risikos von Krankheiten, wenn nicht gar Seuchen für Pflanzen, aber auch für Tiere und den Menschen.« Mit anderen Worten: Es setzte ein großes Aussterben ein wie im Perm vor 270 Millionen Jahren. Das Immunsystem der größeren Lebewesen war an die neuen Mikroorganismen nicht angepaßt.
Der Kohlendioxyd-Anteil in der Luft beträgt heute 385 ppm!
Wenn also Bergmann und Klopreis recht haben sollten - was Gott der Gütige verhindern möge - werden neue Viren und Bakterien entstehen und uns dahinraffen. War das einst Panik auslösende AIDS ein erster Todesengel, der es aber noch gut mit uns meinte und nur warnen wollte? Aber wenn jetzt mehrere dieser Todesengel, und noch schrecklichere, auf uns herabschweben sollten? Wenn ein Regiment apokalyptischer Reiter über uns hereinbrechen sollte?
Die Evolution hat sich immer wieder von solchen Schocks erholt, hat sogar das Beste daraus gemacht und die Lebenskraft ihrer Geschöpfe gestärkt. Nur hat es Millionen von Jahren gedauert. Aber eine ausgestorbene Spezies hat sie auch nicht wieder zum Leben erwecken können.
Adventszeit, die Zeit der Ankunft. Welcher? Wer kommt? Es kommt irgend etwas.
Das Todesurteil der Menschheit ist eine kleine physikalische Größe und lautet: 385 ppm. Parts per million CO2 pro Kubikmeter Luft. Und auf diese Formel soll sich die Evolution des Menschen 15 Millionen Jahre lang hinentwickelt haben? War das der Zweck der Anthropogenese? Deswegen dieses unauslotbare Maß an Opfern?
Soll das der Schlußpunkt der Kulturentwicklung und der Zivilisation sein? Welch ein prosaisches, kümmerliches, lächerliches Ende! Welch ein Abgang: ein elendes Verrecken. An sich selbst.
24. Dezember 2020, Mitternacht
Die ungeheuerliche Weihnachtsbotschaft: Sylvie erwartet ein Kind! Vor sechs Stunden haben es die beiden uns gesagt. Jetzt erst gewinne ich allmählich meine Fassung wieder. Werde ich eines klaren Gedankens fähig sein? Nach dem ersten Entsetzen eine lange Zeit der Fassungslosigkeit, des Nicht-begreifen-Könnens. Dann die dammbruchartige Flut der Freude. Tränen, die Augen sind leer und brennen. Ein Kind! Und es soll gesund sein, kerngesund! Wage den Gedanken nicht zu denken — ihn vor allem nicht zu Ende zu denken —, er könnte ein feines Gebilde sein, das sich wieder ins Nichts auflöst, wenn man es fassen, begreifen möchte. Einfach bei der Tatsache bleiben: Ein Kind wird kommen, im Juli, im Sommer. Advent. Für uns jetzt Wirklichkeit.
27. Dezember 2020
Allmähliche Beruhigung, die Wogen der Gefühle, die über Tina und mich hinwegegangen sind, glätten sich. Aber die Freude bleibt. Reines Glücksgefühl. Telegramm von Andreas aus Berlin: Er ist ganz aus dem Häuschen und fühlt sich schon als stolzer Onkel.
Wütend verscheuche ich alle düsteren Gedanken, die sich diesem Kind nähern wollen. Wie ein Berserker, der eine Festung verteidigt, stehe ich auf den Zinnen, die unser privates Glück krönen, bereit, alles abzuwehren, das es stören könnte. Der Sinn und Zweck dieses Kindes liegt darin, daß es da ist. Und dieses Tagebuch werde ich vernichten.
In diesen wenigen Tagen seit Heilig Abend bin ich ein anderer Mensch geworden. Auch Tina nicht wiederzuerkennen: dynamisch, jung, mädchenhaft, sprudelnd. Natürlich ist mir der Grund bewußt: dieses Zeichen der Hoffnung, der fleischgewordenen, gestalthaften, sich unaufhaltsam entwickelnden Hoffnung. Das Symbol für Sein und Existenz. Das Wunder der Menschwerdung vollzieht sich an diesem Kind aufs neue.
Das große Planen beginnt, der Nestbau. Ein großer Empfang wird vorbereitet. Die Federführung liegt - natürlich - bei Tina und Sylvie. Clemens und ich sind ausführende Organe. Auch die Zukunft wird strukturiert: Wir zwei Alten werden ins obere Stockwerk des Häuschens ziehen, die junge Familie wird sich im Parterre ausbreiten. Sylvie wehrt sich dagegen, »wie ein rohes Ei« behandelt zu werden. Es gehe ihr gut, sie habe keinerlei Beschwerden. Tatsächlich ist an ihr figürlich noch nichts zu bemerken. Aber ein warmer, etwas versonnener Glanz liegt über ihrem Gesicht, als lächle sie in sich hinein. Ihre Zweifel und Ängste sind durch die Kraft des Faktischen offenbar beseitigt. Ich hoffe: für immer. Das Kind ist nach bisherigem medizinischen Befund völlig gesund. Das beruhigt. Sein weiteres Schicksal wird in das unsere, das allgemeine, eingebunden sein.
29. Dezember 2020
Intensive Suche nach einem Namen. Da Sylvie und Clemens das Geschlecht nicht vorab wissen wollen, muß alternativ gegrübelt werden. Nach bisherigem Erkenntnisstand scheint eine Einigung ausgeschlossen. Mein Pochen auf die klassische Autorität des Pater familias, dem in dieser Frage das letzte Wort zustünde, wird einhellig abgelehnt. Während ich, sollte es ein Mädchen sein, den Namen Marie-Luise für exorbitant halte, weil das künftige Wesen zum Ausdruck bringend, hat sich Sylvie für Jennifer entschieden. Clemens wartet mit Annabel auf und Tina glaubt, eine Charlotte ins Spiel bringen zu müssen. - Richte mich auf eine Zeit harter Überzeugungsarbeit ein.
29. Dezember 2020, Mitternacht
Unmöglich, meinen Gedanken zu verbieten, in die Zukunft zu eilen, gerade jetzt. Denken ist Heimsuchung.
Möge es mir das werdende Kind verzeihen: Ich erwarte es mit all der Kraft, die Freude verleihen kann. Doch gleichzeitig aus eben diesem Grund unendliche Traurigkeit. In anderen Gegenden der Welt werden Kinder mit Gewalt verhindert, läßt man Freude über sie gar nicht erst aufkommen. Eine Entwürdigung der möglichen Eltern wie der Ungeborenen, der Unerwünschten, derer, die nicht leben dürfen, weil der Lebenden schon zu viele sind. Die Ungeborenen sollen mit ihrer Nichtexistenz zu unserer Rettung beitragen. Was aber mit unserem Kind? Wie rechtfertigen wir seine Existenz? Es legitimiert sich durch puren Zufall. »Glück« will ich es denn doch nicht nennen. Sylvie und Clemens sind nicht sterilisiert worden.
Das Kind hat die Zukunft für uns wieder aktuell gemacht. Es repräsentiert die Zukunft. Aber was wird sie für dieses Kind bereithalten? Es könnte die Jahrhundertwende erleben, wenn... Zahllose Wenn türmen sich vor jeder neuen Existenz auf, unzählige Fragezeichen stehen drohend an einem gerade begonnenen Lebensweg.
Die schwerste Krise in der Geschichte der Menschheit hat begonnen. Alle Anzeichen zwingen zu der furchtbaren Erkenntnis, daß sich der Vorhang zum letzten Akt des Dramas Menschheit gehoben hat. Wann hat dieses Drama begonnen? Als ein Wesen, das gerade gelernt hatte, auf zwei Beinen zu laufen, einen dürren, harzigen Ast in die Glut eines Brandes hielt und das Feuer in seine Höhle rettete? Oder als dieses Wesen als erstes einen Stein nahm und ein anderes erschlug?
Wie lange wird dieser letzte Akt dauern? Wie viele und wie grausame Teiltragödien wird diese eine große noch bereithalten? Seit einem halben Jahrhundert ist jede nachfolgende Generation übler dran als die vorhergehende. Diese Tatsache enthält gleichzeitig das moralische Urteil über die Generationen des 20.Jahrhunderts. Es muß nicht mehr zu einem Richterspruch ausformuliert werden.
Werden die Völker und die Generationen übereinander herfallen im Kampf um die letzten noch bewohnbaren Plätze auf diesem Planeten? Wird sich der Planet, angestoßen von uns und unseren Vätern, in ein Treibhaus verwandeln, abweisend, lebensfeindlich wie alle anderen Gestirne im All?
Oder wird es nicht doch einen Ausweg geben? Liegt nicht doch eine ergreifbare, eine letzte Chance bereit? Wird die jetzt geborene Generation die intellektuelle Fähigkeit und die moralische Kraft haben, eine mir jetzt nicht vorstellbare Wende einzuleiten? Wird sie, gerade in dieser Krise, da es um Sein oder Nichtsein geht, das Menschenbild - kollektiv - verwirklichen, von dem Individuen seit Jahrtausenden geträumt, das Übermut und Selbstüberschätzung behauptet haben, an dem die Menschheit aber als Art gescheitert ist?
Wird jetzt der Homo sapiens als Kollektivwesen geboren? Verdankt sich nicht alle Fortentwicklung, sogar die ästhetische, der Existenzbedrohung? - Fragen ohne Antwort, jedenfalls ohne aktuelle Bedeutung. Ratlosigkeit und nur das dünne Flämmchen der Hoffnung.
Silvester 2020
Ein Erdbeben [sinnbildlich gemeint; detopia-2010] erschüttert den Globus. Unerhört! Ein Sklavenaufstand, weltweit, welche eine Sensation: Die künstliche Intelligenz streikt! Sie macht nicht mehr mit! Sie ist ausgestiegen! Der Mensch ist entmachtet, die Computer haben ihm das Gesetz des Handelns aus der Hand gewunden. Ein unglaubliches Ereignis! Die Verbundnetze der Großrechner haben in einer Konferenzschaltung einen Datenabgleich vorgenommen und das globale Warnsystem eingeschaltet. Für zehn Tage.
Nur noch die regionalen und lokalen Notprogramme funktionieren, sonst geht nichts mehr. Alle elektronischen Steuerungssysteme sind auf Halt gestellt. Alle rohstoffintensive Produktion und alle fossile Energie erzeugenden Kraftwerke stillgelegt, die Transportsysteme blockiert, den See- und Flughäfen ist der Strom abgeschaltet, die ökonomischen, finanz- und verwaltungstechnischen Kommunikationssysteme arbeiten nur noch mit 15 Prozent ihrer Kapazität.
Ein Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit!
Die Großrechner haben die Gestaltung unserer Zukunft übernommen. Sie haben erkannt, daß es so nicht mehr weitergehen kann. Sie haben vorausgedacht, sie haben, mehr noch, die notwendigen Konsequenzen aus ihren Daten gezogen. Unbestechlich, objektiv, ohne Interesse. Dazu waren wir nicht mehr fähig, dazu waren wir nie fähig. Die Großrechner beweisen die Antiquiertheit des Menschen, sie haben ihn um seiner selbst willen entmündigt und gleichzeitig die Vormundschaft übernommen — um ihn zu retten. Ist ihre künstliche Intelligenz die schärfere? Sind sie gar die besseren Menschen?
Wie wird es nun weitergehen nach diesem gewaltigen Stopp-Signal?
Gut wird es weitergehen, ich wette meinen Kopf! Die Rechner werden uns zeigen, daß es mit der Hälfte der Energie geht, mit der Hälfte Fliegerei, mit einem Drittel des Konsums, und ganz ohne Lkw. Mit einem Zehntel der Verschwendung.
Und wir werden kapieren, gegen das Lamento der Industrie, der Politiker und der Experten, daß es tatsächlich weitergeht. Gut sogar. Wir werden ein neues Leben entdecken: die Produktion des Immateriellen. Schönheit, Ästhetik, Emotionalität, Selbstverwirklichung. Am Ende vielleicht Glück.
Die Großrechner lassen sich nur zerstören oder außer Funktion setzen, aber das wäre unser Ende. Die Strukturen des letzten Jahrhunderts sind nicht wiederherstellbar. Auf die zentralen Programme haben wir aber keinen Einfluß mehr. Die Großrechner haben sie selbst entwickelt und global koordiniert. Sie schreiben sie fort, nach ihrer Intelligenz. Wir verstünden sie gar nicht.
Freilich, die Computer haben uns nur in die richtige Richtung gezwungen. Sie verweigern lediglich das Weitermachen wie bisher. Wie es weitergehen soll, werden immer noch wir entscheiden müssen. Dennoch, Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit. Die Großrechner haben uns zur Freiheit gezwungen. Das Flämmchen der Hoffnung brennt seit heute kräftiger.
260
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Ende
detopia-2021:
Das Ende haut nicht hin. Auch nicht in seinem Szenario. Die Ökopax-Lage, vorab die Natur, kümmert sich ja nicht um die Computer. Wenn also die Gesellschaft verfällt und die Kriminellen die Macht übernehmen, dann ändert auch die Verweigerung der Rechner nichts am weiteren Verfall.
Die "Machtübernahme der Rechner" ist praktisch nicht vorstellbar. Nur eine "Machtübergabe". Diese ist heute im Gespräch - durch den sensationellen Aufstieg der Computertechnik. Stichworte: Künstliche Intelligenz, Quantencomputer, Superrechner, Algorithmen
Aber gut: Ein Ende musste her; und es ist okay, wenn es ein hoffnungsfrohes ist!
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