1. Dieses Schauspiel hätte Felsen zu Tränen gerührt
Die Vernichtungsaktionen
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"Ich will an diesen Tag nicht mehr erinnert werden", wand sich der Armenier Soghomon Tehlerjan vor Gericht, "lieber will ich jetzt sterben, als diesen schwarzen Tag noch länger schildern."
Es war im Juni 1921 vor einem Berliner Schwurgericht, und die meisten Zuhörer erfuhren zum erstenmal von einem Völkermord, den sechs Jahre zuvor Deutsche zwar nicht veranlaßt, aber gedeckt hatten: der Vernichtung der Armenier in der Türkei. Es war der erste Genozid dieses Jahrhunderts, der schlimmste, den die Geschichte bis zu jener Zeit kannte. Erst der deutsche Holocaust an den Juden sollte ihn übertreffen.
Dem in den Gerichtsakten als "Salomon Teilirian" geführten Armenier wurde zur Last gelegt, am 15. März 1921 den früheren türkischen Innenminister, Großwesir und Hauptverantwortlichen für die Ausrottung der Armenier, Mehmed Talaat Pascha, in Berlin auf offener Straße erschossen zu haben – eine Tat, die Tehlerjan bei seinen Landsleuten zum Helden gemacht hatte. Am Ende des Prozesses befanden die Geschworenen auf "nicht schuldig", obwohl der junge Armenier die Tat freimütig eingestand. So sehr war das Hohe Gericht von dem erschüttert, was es in den nur zwei Verhandlungstagen gehört hatte.
Tehlerjan war Anfang Juni 1915, als er in die Fänge eines der Mordkommandos Talaats geriet, gerade 18 Jahre alt und lebte mit seiner Familie in der nordosttürkischen Stadt Ersindschan (dem heutigen Erzincan). Seine Eltern waren wohlhabende Kaufleute, er hatte fünf Geschwister im Alter von 15 bis 26 Jahren. Seine älteste Schwester hatte ein kleines Kind.
Zusammen mit anderen Armeniern wurden sie aus ihren Häusern getrieben und zu einem Deportationszug zusammengestellt. Über das Ziel hatte ihnen niemand etwas gesagt.
"Als sich die Kolonne eine Strecke von der Stadt entfernt hatte", berichtete Tehlerjan den Richtern, "wurde Halt geboten. Die Gendarmen fingen an zu plündern und versuchten, das Geld und die Wertsachen der Kolonne zu bekommen. Bei der Plünderung bekamen wir Gewehrfeuer von vorn. Einer der Gendarmen schleppte dann meine Schwester weg, und meine Mutter schrie: ›Ich will mit Blindheit geschlagen werden.‹" Der Angeklagte stockte.
Mühsam holte der Gerichtsvorsitzende weitere Details aus Tehlerjan heraus: Seine 15jährige Schwester wurde vergewaltigt und kam nicht zurück. Dem jüngeren der beiden Brüder wurde vor seinen Augen der Schädel mit einem Beil gespalten. Seine Mutter stürzte, "ich weiß nicht, wovon, ob durch eine Kugel oder von etwas anderem". Er selbst erhielt einen Schlag auf den Hinterkopf und war zwei Tage lang bewußtlos. Als er erwachte, lag sein älterer Bruder tot auf ihm, und "ich sah die Leiche meiner Mutter auf dem Gesicht liegen". Sein Vater hatte sich weiter vorn im Zug befunden und war verschollen, von den Schwestern und dem Kind hörte er nie wieder etwas.
"Ich bin dann in ein Dorf ins Gebirge gegangen", berichtete Tehlerjan, "da hat mich eine alte Frau, eine Kurdin, beherbergt. Und als die Wunden wieder geheilt waren, hat man mir gesagt, daß man mich nicht weiter behalten könne, weil es die Regierung verboten habe und weil diejenigen, die Armenier bei sich hätten, mit dem Tode bestraft würden. Es sind sehr gute Leute gewesen, und die Kurden haben mir geraten, nach Persien zu gehen. Ich habe alte kurdische Kleidung bekommen, weil meine bisherigen Kleider mit Blut befleckt waren."
Tehlerjan gelang die Flucht. Der Zeugin Christine Tersibaschjan gelang sie auch. Sie war aus Erzurum, ebenfalls im Nordosten der Türkei gelegen, mit einem Zug deportiert worden, dem insgesamt etwa 500 Familien angehörten. "Unsere Familie bestand aus 21 Köpfen", berichtete sie vor dem Schwurgericht, "mit eigenen Augen habe ich den Verlust von allen gesehen. Nur drei sind übriggeblieben."
"Als wir die Stadt verlassen hatten und vor den Toren der Festung Erzurum waren", so die zur Zeit der Massaker 20jährige Zeugin,
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"kamen die Gendarmen und suchten nach Waffen, Messern und Schirmen, die uns weggenommen wurden. Von Erzurum kamen wir nach Bayburt. Als wir an dieser Stadt vorbeigingen, haben wir haufenweise Leichen gesehen, und ich habe mit den Füßen über sie hinweggehen müssen. Dann kamen wir in Ersindschan an, aber wir durften dort nicht bleiben, man erlaubte uns auch nicht, Wasser zu trinken. Als wir weitergingen, wurden 500 junge Leute herausgesucht. Auch einer meiner Brüder. Es gelang ihm aber, zu entfliehen und zu mir zu kommen. Ich habe ihn als Mädchen verkleidet, so daß er bei mir bleiben konnte. Die übrigen jungen Leute wurden zusammengebunden und ins Wasser geworfen."
"Woher wissen Sie das?" fragte der Vorsitzende Richter. "Ich habe es mit eigenen Augen gesehen", antwortete die Zeugin und berichtete weiter: "Die Strömung war so reißend, daß alle von ihr weggerissen worden sind. Wir haben geschrien und geweint, aber man hat uns nicht einmal das Weinen erlaubt."
Die 30 Gendarmen und Soldaten hätten sie dann "mit Stichen weitergetrieben" und geschlagen. "In den Bergen von Malatya hat man die Männer von den Frauen getrennt. Die Frauen sind ungefähr zehn Meter weiter entfernt gewesen und konnten mit eigenen Augen sehen, was mit den Männern geschah. Man hat sie mit Beilen totgeschlagen, und man hat sie ins Wasser gestoßen." — "Sind die Frauen und Männer wirklich auf diese Weise massakriert worden?" fragte ungläubig der Vorsitzende Richter, und die Zeugin korrigierte: "Nur die Männer sind auf diese Weise ums Leben gekommen. Als es ein wenig dunkel war, kamen die Gendarmen und suchten sich die schönsten Frauen und Mädchen heraus und nahmen sie als Frauen zu sich. Diejenigen, die nicht gehorchen wollten, die nicht nachgeben wollten, wurden mit dem Bajonett durchstochen und die Beine auseinandergerissen. Sogar schwangeren Frauen wurden die Rippen durchschnitten und die Kinder herausgenommen und weggeworfen." — "Große Bewegung im Saal", vermerkte das Protokoll, die Zeugin erhebt die Hand: "Ich beschwöre das."
"Auch meinem Bruder wurde der Kopf abgeschlagen. Als das meine Mutter sah, fiel sie um und war auf der Stelle tot. Nachher kam auch ein Türke zu mir und wollte mich zu seiner Frau machen, und da ich nicht darauf einging, nahm er mein Kind und warf es weg. Ich habe dann meinen Bruder und die Frau meines Bruders gefunden, die schwanger war und entbunden werden sollte.
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Da wurde gesagt, daß wir noch an demselben Abend den Ort verlassen mußten, und wir waren gezwungen, die Frau meines Bruders zurückzulassen. Der Vater wurde krank, und da kam der Befehl, daß die Kranken nicht mitgenommen werden dürfen, sondern ins Wasser geworfen werden müßten. Man hat den Vater aus dem Zelt geholt. Nachher hat der Bruder ihn aber wieder zurückgebracht, er ist aber an demselben Abend gestorben."
"Und ist das alles wirklich wahr?" fragte der Vorsitzende Richter, "ist das nicht Phantasie?" Christine Tersibaschjan: "Was ich erzählt habe, ist noch viel weniger als die Wirklichkeit. Es war noch viel schlimmer."
Das ungeheuerlichste Verbrechen aller Zeiten
Der Genozid
Es war wirklich noch viel schlimmer. "Das ungeheuerlichste Verbrechen aller Zeiten" nannte es der amerikanische Generalmajor James G. Harbord 1919 in seinem Bericht an die amerikanische Friedensdelegation in Versailles, "das bestorganisierte und erfolgreichste Massaker, das dieses Land jemals gesehen hat", der amerikanische Konsul und Augenzeuge, Leslie A. Davis. Der spätere britische Premier Winston Churchill sprach von "einem schändlichen Massenmord" und Frankreichs Ministerpräsident Georges Clemenceau von "schlimmeren Massakern als allen zuvor".
Innerhalb kürzester Zeit brachten die Türken etwa eine Million Armenier um, wobei bis heute über die Zahl gestritten wird: Der türkische Innenminister und Hauptorganisator des Verbrechens Talaat selbst sprach im Herbst 1915 dem deutschen Türkeifreund Ernst Jäckh gegenüber von 300000 Opfern, die deutsche Botschaft schätzte die Zahl der Opfer auf eineinhalb Millionen. Unstrittig ist, daß es nach den Untaten in den eigentlichen Siedlungsgebieten Zentral- und vor allem Ostanatoliens kein armenisches Volk mehr gab.
Die Armenier starben, so der deutsche Schriftsteller Armin Theophil Wegner, der als Sanitätsoffizier Augenzeuge des Völkermords wurde, "von Kurden erschlagen, von Gendarmen beraubt, erschossen, erhängt, vergiftet, erdolcht, erdrosselt, von Seuchen verzehrt, ertränkt, erfroren, verdurstet, verhungert, verfault, von Schakalen angefressen.
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Kinder weinten sich in den Tod, Männer zerschmetterten sich an den Felsen, Mütter warfen ihre Kleinen in die Brunnen, Schwangere stürzten sich mit Gesang in den Euphrat. Alle Tode der Erde, die Tode aller Jahrhunderte starben sie."
"Ich habe Wahnsinnige gesehen", schrieb Wegner in einem offenen Brief an den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Woodrow Wilson, "die den Auswurf ihres Leibes als Speise aßen, Frauen, die den Leib ihrer neugeborenen Kinder kochten, Mädchen, die die noch warme Leiche ihrer Mutter sezierten, um das aus Furcht vor den räuberischen Gendarmen verschluckte Gold aus den Därmen der Toten zu suchen."
Wegner, der später in einem Konzentrationslager der Nazis die Barbarei seiner eigenen Landsleute miterleben mußte, machte sich zum Anwalt der Opfer. Es sei "der Mund von tausend Toten, der aus mir redet". Und über die Täter schrieb er: "Beamte, Offiziere, Soldaten, Hirten wetteiferten in ihrem wilden Delirium des Blutes, schleppten die zarten Gestalten der Waisenmädchen zu ihrem tierischen Vergnügen aus den Schulen, schlugen mit den Knüppeln auf hochschwangere Weiber oder Sterbende ein, die sich nicht weiter schleppten, bis die Frau auf der Landstraße niederkommt und verendet und der Staub sich unter ihr in einen blutigen Schlamm verwandelt."
War dem Dichter die Feder entglitten? Hatte der engagierte Pazifist, der mit dem deutschen General Colmar von der Goltz im Herbst 1915 nach Mesopotamien gereist war und mit der Plattenkamera einige der Ungeheuerlichkeiten ablichtete — was streng verboten war —, die Bilder literarisch überzeichnet? Es war wirklich alles noch viel schlimmer, und nicht nur Wegner war fassungslos.
"Diese Verfolgungen der Armenier", empörte sich der Leiter des berühmten amerikanischen Anatolia College in der zentralanatolischen Stadt Mersowan (dem heutigen Merzifon), Theodore A. Eimer, der während der Schreckenszeit die Schule geleitet hatte, "übersteigen in ihrer Proportion alles, was den ersten christlichen Märtyrern von den grausamsten Herrschern Roms zugefügt wurde."
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Ebenso wie die Amerikaner waren die Italiener damals noch neutral, ließen sich also nicht vom Berufshaß auf feindliche Politiker leiten. "Wenn man die Schrecken, diese Quälereien, das alles einen Monat lang mitansehen mußte", sagte der Italiener G. Gorrini, der sein Land während des Völkermords als Generalkonsul in der Schwarzmeer-Hafenstadt Trapezunt (dem heutigen Trabzon) vertrat, "dann fragt man sich, ob hier nicht alle Kannibalen und wilden Tiere der Welt aus ihren Verstecken herausgetreten sind, die Urwälder Afrikas, Asiens, Amerikas und Ozeaniens verlassen haben, um sich ein Rendezvous zu geben. Wenn die noch neutralen christlichen Mächte wüßten, was ich mit meinen eigenen Augen gesehen und mit meinen eigenen Ohren gehört habe, dann würden sie sich gegen die Türkei erheben und auch gegen die Alliierten der Türkei, die das alles tolerieren und mit ihrem starken Arm diese scheußlichen Verbrechen auch noch decken, Verbrechen, die nicht ihresgleichen in der neuen und alten Geschichte haben. Schande über sie!"
Das betraf in erster Linie Deutschland und Österreich-Ungarn, auf deren Seiten das Osmanische Reich in den Weltkrieg gezogen war. Die Bürger in den Ländern der beiden Verbündeten wußten so gut wie nichts, weil strenge Pressezensur herrschte, die Berufsdiplomaten und Politiker wußten so gut wie alles, hielten sich aber sehr zurück. Nur in der Korrespondenz mit seinen Wiener Vorgesetzten nannte der k.u.k. Botschafter Österreich-Ungarns in Konstantinopel (das erst seit 1930 amtlich Istanbul heißt), der Ungar Johann (János) Markgraf Pallavicini, die Ereignisse einen "Schandfleck für die türkische Regierung". Und der österreichische Geschäftsträger in der Hauptstadt des Osmanischen Reichs, Karl Graf zu Trauttmansdorff-Weinsberg, sah - ebenfalls nur intern - in den Taten der regierenden Türken einen "Beweis unerhörter Roheit und asiatischer Unkultur".
Der deutsche Botschafter in Konstantinopel, Paul Graf von Wolff-Metternich, hängte seine Empörung noch eine Stufe tiefer, als er seinem Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg kabelte: "Von einer Clique, die sich mit Schlagworten wie ›liberte, droit civil pour tous, constitution‹ brüstet und daneben Hunderttausende von unschuldigen Menschen hinschlachten läßt, halte ich nicht viel." Dabei war Wolff-Metternich der mit Abstand kritischste aller deutschen Botschafter am Goldenen Horn.
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Deutsche und Österreicher mußten sich von osmanischen Politikern beschämen lassen, freilich von jenen aus der entmachteten Opposition. "Wenn man bedenkt", schrieb einer ihrer Führer, Scherif Pascha, über die Armenier, "daß ein so hochbegabtes Volk, das das wohltätigste Ferment in der Erneuerung des Osmanischen Reichs hätte werden können, dabei ist, aus der Geschichte zu verschwinden, so muß das Herz auch des Unempfindlichen bluten. Ich möchte dieser sterbenden Nation mein unendliches Mitleid aussprechen."
Und Ismail Hakki (aus dem Ort Gümüsane), ein anderer Führer der türkischen Liberalen, schrieb: "Gegen die Armenier werden die schrecklichsten Verbrechen begangen. Die menschliche Sprache und Feder sind unvermögend, auch nur den hundertsten Teil der Tatsachen wiederzugeben."
Es war nicht leicht für die Zeitgenossen, auf Anhieb das Monströse der Armeniervernichtung zu erkennen. "Alle Armenier von Besitz, Bildung und Einfluß sollen beseitigt werden", meldete der kaiserlich-deutsche Konsul Walter Rößler bereits am 10. Mai 1915 aus Aleppo an den damaligen deutschen Botschafter in Konstantinopel, Hans Freiherr von Wangenheim, "damit nur eine führerlose Herde zurückbleibt."
Zweieinhalb Monate später ahnte der oberste Geistliche der Armenier im Osmanischen Reich das ganze Ausmaß des Genozids. "Es handelt sich um einen lautlosen Ausrottungsplan für das ganze armenische Volk", schrieb das Konstantinopler Patriarchat am 26. Juli 1915 an den armenisch-gregorianischen Metropoliten in Bulgarien.
Was 1915 in Kleinasien geschah, war ein organisiertes Verbrechen, wenngleich die türkische Regierung das bis heute leugnet und alles tut, die Suche nach den Organisatoren zu erschweren. Zwar versuchen sich die Politiker der modernen Türkei damit zu exkulpieren, daß die Ereignisse im Osmanischen Reich stattgefunden hätten, dem ungeliebten Vorgänger der heutigen Republik. Aber der Unterschied zwischen osmanisch und türkisch hatte sich zu Anfang unseres Jahrhunderts schon so verwischt, daß beide Begriffe oft synonym verwendet wurden. Und schon die Türken des Osmanischen Reichs von 1915 versuchten den Völkermord mit den gleichen Argumenten zu vertuschen wie die Türken der heutigen Republik. Immer behaupteten sie, es handelte sich allenfalls um Übergriffe örtlicher Behörden. Vieltausendfache Übergriffe mit Methode.
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Die Methode war simpel: Während die armenischen Soldaten in türkischen Diensten zumeist kompanieweise erschossen wurden, sperrten die Organisatoren des Völkermords die Intellektuellen und Honoratioren der Armenier ein, um sie erst zu foltern und dann umzubringen. Armenische Männer, die von diesen Maßnahmen noch nicht betroffen waren, traten die Deportationsreise mit ihren Familien an, wurden aber unter fadenscheinigen Vorwänden von ihren Angehörigen getrennt und ebenfalls getötet. Auch Frauen und Kinder wurden oft noch in ihrer Heimat getötet, die übrigen mußten so lange marschieren, bis ein Großteil von ihnen verhungert oder verdurstet war oder von Einheimischen verschleppt wurde. Wer trotzdem die Deportationsziele — hauptsächlich die syrische und mesopotamische Wüste — erreichte, fand dort Lebensbedingungen vor, die für die zumeist aus hochgelegenen Bergregionen stammenden Armenier tödlich waren. Ganz abgesehen davon, daß die osmanische Regierung so gut wie nichts für die Aufnahme der Deportierten in den Wüstenstädten vorbereitet hatte, weil überhaupt keine ernste Absicht bestand, die Armenier erneut anzusiedeln.
Wenn trotzdem einige Hunderttausend überlebten, dann durch die Hilfe anderer: zumeist von Armeniern, soweit sie noch nicht selbst betroffen waren, oft von ebenfalls unterdrückten Völkern wie den Arabern, vereinzelt auch von Türken, selten von Deutschen. Auch Kurden retteten Armeniern das Leben, aber Kurden töteten auch. Sie spielten sogar eine äußerst unrühmliche Rolle, weil sie sich als Mordkommandos verdingten.
Über die wirkliche Lage im Land war keine europäische Regierung so gut informiert wie die deutsche. Das Deutsche Reich hatte in allen wichtigen Städten des Ostens - von Van abgesehen - größere Konsulate. Und nur die deutschen Verbündeten durften ihre Depeschen chiffrieren, was nicht einmal den ebenfalls verbündeten Österreichern erlaubt war. Hinzu kam, daß deutsche Offiziere die türkische Armee ausgebildet hatten und während des Kriegs in den wichtigsten Stäben saßen, wenn sie nicht sogar osmanische Armeen kommandierten.
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Neben diplomatischen Quellen standen den Deutschen noch die Aussagen von Ärzten, Pflegern und Krankenschwestern zur Verfügung, die nach früheren Armeniermassakern Waisen- und Krankenhäuser eingerichtet hatten und betrieben. Das galt auch für die Amerikaner, die im Land neben Waisen- und Krankenhäusern viele Schulen unterhielten. Wie noch heute in mehreren orientalischen Ländern galten amerikanische Privatschulen (und Universitäten) als die besten des Landes, und besonders die Armenier besuchten sie.
Oft waren die Träger Missionsgesellschaften, denn ursprünglich hatten die Amerikaner vor, die Moslems zu bekehren, gaben aber sehr bald ihren Plan auf und versuchten allenfalls noch, den orthodox-gläubigen Armeniern die Vorteile der protestantischen Glaubensrichtung schmackhaft zu machen. Die Amerikaner verstanden sich bald hauptsächlich als Pioniere der westlichen Denkungsart, während bei den deutschen Helfern die praktische Hilfe im Vordergrund stand und sie hauptsächlich Spitäler aufgebaut und Waisenhäuser eingerichtet hatten, in denen die überlebenden armenischen Kinder früherer Massaker aufgezogen wurden.
Deutsche und Amerikaner waren während der Zeit des Völkermords fast die einzigen Ausländer in den von Armeniern besiedelten Gebieten. Ihr Zeugnis ist deshalb von so großer Wichtigkeit, weil es den Türken in der Folgezeit fast gelungen war, die Ereignisse der Jahre 1915 und 1916 totzuschweigen. Die türkische Regierung unternahm alles, eine Diskussion über den Armeniermord zu unterbinden - auch im Ausland und besonders in Deutschland.
Ein ganzer Stab von ausgesucht nationalistischen türkischen Historikern warf in der Vergangenheit Nebelgranaten auf die geschichtliche Wahrheit. Viele westliche Historiker gingen den türkischen Kollegen auf den Leim und spielten den Völkermord herunter oder ließen ihn einfach aus. Praktisch kein deutsches Schulbuch der Gegenwart bringt Details über den unheimlichen Vorläufer des Holocausts an den Juden. Erst in allerjüngster Zeit setzte eine neue Auseinandersetzung mit dem Genozid ein, angeregt besonders durch armenische Forscher, die neben den angelsächsischen und französischen zunehmend auch deutsche, sowjetische und türkische Quellen heranziehen. Besonders die Auswertung der in deutschen Archiven noch ruhenden Unterlagen und der zumeist sehr versteckten türkischen Quellen wird die Frage nach den Schuldigen des Völkermords an den Armeniern neu stellen, und einiges spricht dafür, daß auch die Deutschen keineswegs die machtlosen Zuschauer waren, als die sie sich jahrzehntelang beschreiben ließen.
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Die Geschichte des Völkermords an den Armeniern war aus deutscher Sicht fast eine Ein-Mann-Schau, und ihr Protagonist war der Pfarrer Johannes Lepsius. Seine Bücher über die Armenier wie auch die von ihm herausgegebenen diplomatischen Akten sind bis heute praktisch die wichtigste Quelle für den Völkermord geblieben. Der 1858 in Berlin geborene Lepsius hatte nicht nur Theologie studiert, sondern auch Mathematik, Philosophie, Literatur- und Kunstgeschichte. Angeregt hatte ihn sein gelehrter Vater Karl Richard Lepsius, Linguistik-Professor, Begründer der wissenschaftlichen Ägyptologie und Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek. Über seinen Vater war Johannes Lepsius im Orient an die besten Adressen gekommen, und die waren oft die von Armeniern.
Schon 1896 war Lepsius als Teppichfabrikant getarnt durch Anatolien gereist, weil der damalige Sultan Abdul Hamid II. in den Monaten zuvor erstmals versucht hatte, die armenische Bevölkerung des Osmanischen Reichs durch systematische Massaker zu schwächen und zu entmachten. Armenien blieb fortan für Lepsius eine Herzensangelegenheit, und seine Recherchen gehören bis heute zu den gründlichsten.
Wie Pferde mit Nägeln beschlagen
Verhaftungen und Folter
Mit vorbereiteten Listen waren am Sonnabend, dem 24. April 1915, um neun Uhr abends türkische Polizisten durch Konstantinopel gezogen und hatten die ganze Nacht Armenier verhaftet. Es war das Gotha der armenischen Intelligenz, das in die Gefängnisse geschleppt wurde: alle Politiker von Rang, bekannte Publizisten, Ärzte, Apotheker, Priester, Schriftsteller, Drucker und führende Künstler der Theaterwelt, die von den Armeniern beherrscht wurde. Hunderte weiterer armenischer Intellektueller folgten in den nächsten Tagen, insgesamt etwa 600 Personen, von denen nur wenige überlebten. Zusammengestellt hatte die Liste ein armenischer Kollaborateur.
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Sogleich nach den Verhaftungen durchsuchten die Türken die Wohnungen der Verhafteten, um belastendes Material zu finden, mit dem nachträglich die Nacht-und-Nebel-Aktion begründet werden konnte. "Aber es fand sich nichts", schreibt Lepsius, der gleich nach Beginn des Völkermords nach Konstantinopel gereist war, "das Resultat aller Nachforschungen war gleich Null." Auch ein eilends gebildetes Kriegsgericht in Angora (der heutigen Hauptstadt Ankara) fand kein Belastungsmaterial gegen die armenische Elite, die daraufhin weiter ins Innere Anatoliens und in den Südosten verschleppt wurde.
Schon vor der Verhaftungsaktion am 24. April, ein Datum, dessen seither die Armenier in aller Welt als Beginn des Völkermords gedenken, waren in den besonders stark von Armeniern bewohnten Provinzen Van, Erzurum und Bitlis sowie der Region um Sivas die armenischen Honoratioren verhaftet worden, erst die politischen Führer, dann auch Lehrer, Händler, Rechtsanwälte und Geistliche. Anfang Juni wurden schließlich noch alle armenischen Ärzte verhaftet, auch diejenigen, die in türkischen Militärlazaretten Dienst taten.
Mit den Verhaftungen wollten die Osmanen angeblichen armenischen Aufständen vorbeugen. Sie fahndeten nach umstürzlerischen Schriften, worunter sie freilich schon normale Geschichtsbücher verstanden oder Liedertexte, in denen die Armenier ihr Volk besangen. Hauptsächlich aber suchten sie nach Waffen und Munition, deren Besitz auf Befehl des Sultans verboten war.
"Es war keineswegs erstaunlich", schrieb der amerikanische Schulleiter Eimer, "daß die Armenier Waffen besaßen. Das war so Sitte in einem Land, in dem die Unsicherheit des Lebens und des Eigentums groß war. Es wurde aber schnell klar, daß dieser Befehl nur gegen die Armenier gerichtet war, denn nur sie mußten ihm nachkommen, während ihre muslimischen Nachbarn, die mindestens genausoviel Waffen besaßen, diese behalten durften." Der Entwaffnungsbefehl, berichtete Eimer, sei von den Armeniern mit großer Sorge aufgenommen worden, denn sie hätten sich daran erinnert, daß die Türken alle früheren Massaker gegen die Armenier mit einer Entwaffnung begannen.
Deshalb hätte die Regierung sich besondere Mühe gegeben, den Armeniern Sicherheit und Schutz zu versprechen, wenn sie ihre Loyalität mit der Waffenabgabe ...
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