"Diese tapferen Ungläubigen treffen noch ein Nadelöhr"
Die Verteidiger des Musa Dagh
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Triumphierende Armenier waren eine Seltenheit in jenen Jahren. In den steil zum Mittelmeer abfallenden Bergen des Musa Dagh gab es sie. Sie hatten den Türken eine Abwehrschlacht geliefert, die dem deutschen Schriftsteller Franz Werfel zu Weltruhm verhalf, als er sie in seinem Roman <Die vierzig Tage des Musa Dagh> aufarbeitete, der sofort nach seinem Erscheinen, 1933, von den Nazis verboten wurde — sicher nicht nur, weil Werfel Jude war.
Der Musa Dagh ist ein Gebirgsmassiv direkt am östlichen Mittelmeer unweit des antiken Antiochia, der heutigen Stadt Antakya. Dorthin hatten sich über 800 armenische Familien zurückgezogen, und der protestantische Pfarrer Digran Andreasian zeichnete auf, was ihnen widerfuhr. Er hatte sich in Zeitun aufgehalten, als der Bergort eingenommen wurde. Ihm wurde von den türkischen Behörden freigestellt, deportiert zu werden oder in sein Heimatdorf Jogonoluk nahe dem Mittelmeer, etwa 20 Kilometer westlich von Antiochia, zurückzukehren. Der Pfarrer ging zu den Seinen.
"Die Leute meines Heimatdorfes sind einfache fleißige Leute", schrieb Andreasian in seinem Bericht an das "American Relief Committee" in Kairo, dem er unterstand, "jahrelang war ihre Hauptbeschäftigung das Sägen und Handpolieren von Kämmen aus hartem Holz und Bein." Sie hätten "ein ruhiges, glückliches Leben" geführt, bis am 30. Juli 1915 dann die Order kam, alle Armenier müßten sich innerhalb von sieben Tagen auf die Verbannung vorbereiten.
"Wir saßen die ganze Nacht und überlegten", schrieb Andreasian. Aber vor "der furchtbaren Aussicht, unsere Familien in die Wüste zu schicken, die von fanatischen Araberstämmen bewohnt wird, neigten die Frauen wie auch die Männer dazu, sich dem Befehl zu widersetzen". Nicht alle freilich. Der ebenfalls protestantische Pastor Harutiun Nokhudian aus dem Dorf Beitias fand Widerstand sinnlos und hoffte, "daß die Härte der Verbannung vielleicht irgendwie gemildert werden könnte". Mehrere Familien seines Dorfes und aus dem Nachbardorf stimmten ihm zu, und so zogen sie unter türkischer Bewachung nach Antiochia ab.
Weil die Dörfer selbst schlecht zu verteidigen waren, zogen die zum Widerstand entschlossenen Armenier in die Berge, denn "jede Schlucht und jede Klippe unseres Berges ist unseren Knaben und Männern bekannt", schrieb Andreasian. Die Verteidiger trieben alle Schaf- und Ziegenherden hinauf. An Waffen hatten sie "120 Büchsen und Gewehre und vielleicht dreimal so viel alte Feuersteinschloßgewehre und Sattelpistolen. Die Hälfte unserer Männer blieb noch ohne Waffen." Die Verteidiger hoben Gräben aus, errichteten Steinwälle - und wählten ein Verteidigungskomitee, "weil dies von so ungeheurer Wichtigkeit war in geheimer Abstimmung mit Papierschnitzeln", so Andreasian. Alle Pässe des Berges wurden gesichert und eine Eingreifreserve aufgestellt. Vier Mann bildeten die eigentliche militärische Führung.
Am 5. August (nach anderen Berichten am 8. August) begann der Angriff der türkischen Truppen. Der Hauptmann der Vorhut von 200 Soldaten hatte sich gerühmt, den Berg in einem Tag zu räumen, aber die Armenier schlugen die türkischen Truppen zurück. Doch dann setzte ein Regen ein, und weil die Verteidiger noch keine Zeit hatten, aus Zweigen Unterschlüpfe zu bauen, "verwandelte sich viel von dem Brot in Teigmasse", so Andreasian.
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"Wir waren aber mehr besorgt, unser Pulver und unsere Büchsen trocken zu halten." Anderntags hätten die Türken zwei Feldkanonen auf den Berg geschleppt, "welche Verheerungen in unserem Lager anrichteten". Daraufhin sei ein beherzter junger Armenier zu den Kanonen gerobbt und hätte fünf Kanoniere mit einer Revolverladung niedergestreckt. "Diese tapferen Ungläubigen treffen noch ein Nadelöhr", soll der türkische Hauptmann Rifaat Bey ausgerufen haben und ließ, weil er den Schützen nicht entdecken konnte, die Kanonen an einen anderen Platz bringen. Wieder war es der Deutsche Wolffskeel von Reichenbach, der die Artillerie befehligte.
Den ganzen nächsten Tag eroberten die Türken einen Bergrücken nach dem anderen, nahmen armenische Späher fest und lockten die Kämpfer in Fallen. Nur noch "eine tiefe dumpfige Schlucht lag zwischen den Türken und uns", schrieb Pfarrer Digran Andreasian, "aber die Türken entschieden sich, lieber dort zu biwakieren, als in der Dunkelheit weiter vorzugehen". So entschlossen sich die Armenier, ihre Ortskenntnisse voll zu nutzen, im Schutz der Nacht das Türkenlager zu umstellen und zum Nahangriff überzugehen. Der Überraschungscoup gelang: Die türkischen Truppen flohen und ließen neben 200 Toten sieben Mausergewehre und viel Munition zurück.
Es folgte eine Waffenruhe von fast drei Wochen, in denen "die ganze moslemische Bevölkerung im Umkreis mobilgemacht wurde, eine Horde von vielleicht 8000 Menschen", die den Musa Dagh von der Landseite her umzingelten. "Ihr Plan war, uns auszuhungern", schrieb Pastor Andreasian, "denn auf der Seeseite war kein Hafen, und der Berg fiel steil zum Meer ab." Als Brot, Kartoffeln und Käse zur Neige gegangen waren, lebten die eingeschlossenen Armenier in den nächsten Wochen davon, täglich einige Schafe und Ziegen zu schlachten. Doch bald ging ihnen auch diese Nahrung aus.
Die Frauen stickten daraufhin ein großes rotes Kreuz auf eine riesige Flagge und darauf in großen Druckbuchstaben auf deutsch und englisch: "Christen in Not, Hilfe!" Eine Gruppe schlug sich mit der Fahne zum Meer durch und hißte sie. Die anderen ließen große Gesteinsbrocken in die Tiefe stürzen, "mit furchtbarer Wirkung auf unseren Feind" (Andreasian).
Als sich der Pastor am 36. Tag der Verteidigung auf eine kurze Predigt vorbereitete, wurde er aufgeschreckt "durch einen Mann, der mit höchster Stimme schrie: ›Pastor! Pastor! Ein Kriegsschiff hat auf unsere Fahnen geantwortet. Wenn wir die Rotkreuzflagge schwingen, antwortet das Kriegsschiff mit Signalflaggen.‹"
Es war der französische Kreuzer "Guichen". Sein Kapitän Joseph Brisson ließ ein Boot aussetzen, und ein alter Armenier schwamm zu ihm. Per Telegramm informierte Brisson seinen Admiral auf dem Kreuzer und Flaggschiff "Jeanne d'Arc", das innerhalb eines Tages an der türkischen Küste auftauchte. Auf Befehl des Admirals dampften drei weitere französische und ein britischer Kreuzer heran.
"Der Admiral gab Befehl, daß jede Seele unserer Gemeinde an Bord der Schiffe genommen werden sollte", berichtete Andreasian. Eineinhalb Tage lang beschoß die alliierte Flotte die türkischen Stellungen, um den Armeniern das Einschiffen zu ermöglichen. Trotz schwerer Brandung kamen alle an Bord. "4058 Seelen gerettet", freute sich Pastor Andreasian. Die Armenier hatten 20 Tote und 16 Verletzte zu beklagen, die Türken hingegen 300 Tote und mehr als 600 Verletzte. Zwar baten die wehrfähigen armenischen Männer um Waffen und Munition, um den Kampf fortzusetzen, aber die Franzosen lehnten ab.
Die meisten Geretteten sollten zum Kriegsende in ihre Heimat zurückkehren und ein weiteres Mal vertrieben werden. Wer auch das noch überlebte, zog in den Libanon und siedelte im Dorf Musa Ler, wo die Nachfahren jährlich mit einem Festessen traditioneller Speisen aus den Dörfern des Musa Dagh des einzigen geglückten Abwehrkampfes der Türkisch-Armenier gedenken.
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