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3.  Mandanten, Richter, Staatsanwälte

 

 

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Am 1. November 1971 erhielt ich meine Zulassung. Mit nicht einmal 24 war ich zu dieser Zeit der jüngste Rechtsanwalt der DDR. In diesem und in künftigen Kapiteln werde ich auch aus konkreten Mandatsverhältnissen berichten. Soweit ich das tun werde, liegt entweder von den Mandanten eine Befreiung von der Schweigepflicht vor, oder es dient in zulässiger Weise meiner Verteidigung gegen entsprechende Angriffe, die wenige von ihnen gegen mich richteten. In diesen Fällen wurde zudem die Öffentlichkeit auch durch sie selbst über tatsächliche oder angebliche Mandatsverhältnisse informiert.

Daß ich der damals jüngste Rechtsanwalt der DDR wurde, lag unter anderem daran, daß ich — entgegen der üblichen Praxis — vor Studienbeginn nicht zur NVA einrücken mußte, um der Wehrpflicht zu genügen. Meine Bekanntschaft mit dem Militär währte keinen Monat und beschränkte sich auf jene Übungen, die während des Studiums sowohl von Mädchen als auch Jungen zu Beginn des dritten Semesters zu absolvieren waren. 

Aber auch ohne eine achtzehnmonatige Erfahrung war und ist mein Verhältnis zu Uniformen und Armee sehr unterkühlt. Das Prinzip der Subordination, Gleichschritt und Massenquartiere, Beschränkung des persönlichen Freiraums und, ja auch das, Bevormundung durch mitunter einfältige Menschen berühren mich höchst unangenehm. Damit behaupte ich nicht, daß jeder uniformierte Vorgesetzte a priori ein machtbesessener, wenig intelligenter Mensch sei; ich habe schon viele originelle und geistreiche Militärs kennenlernen dürfen. Anlaß aber zur Milderung meiner grundsätzlichen Bedenken an diesem Staat im Staate lieferten auch sie nicht.

Während der Oberschulzeit wurde ich im Wehrkreiskommando gemustert und sollte wie alle Abiturienten zu einer längeren Dienstzeit überredet werden. Dem eindringlichen Werben entzog ich mich mit Verweis auf die bereits erteilte Studienzulassung an der Hochschule für Ökonomie. 

Nach dem Jurastudium wurde ich erneut zum Wehrkreiskommando einbestellt, doch da hatte ich bereits meine achtmonatige Assistenz am Gericht angetreten und konnte wegen laufender Ausbildung nicht eingezogen werden. Beim nächsten Versuch befand ich mich in der Ausbildung beim Rechtsanwaltskollegium und beim vierten Anlauf in der außerplanmäßigen Aspirantur zur Anfertigung einer Dissertation. Die zuständigen Stellen wurden nun aufdringlicher, denn die Zeit arbeitete für mich. Zugleich zeigten sie sich auch kompromißbereiter und wollten sich mit einem fünfwöchigen Offizierslehrgang zufriedengeben. Ich wehrte mich und hatte Erfolg. 

Inzwischen war nach sechs Jahren meine Ehe 1974 geschieden und mir das Erziehungsrecht für George, unseren 1970 geborenen Sohn, zugesprochen worden. (Daniel, den Jutta mit in die Ehe gebracht und den ich adoptiert hatte, blieb bei seiner Mutter.) Selbst ein Kind erwies sich in den Augen der Militärs nicht als hinlänglicher Hinderungsgrund: Sie schlugen mir vor, meinen Sohn während dieser Zeit in einem Heim unterzubringen, was ich selbstverständlich entschieden zurückwies. (Übrigens, das Leben als alleinerziehender Vater ab 1974 wäre ein eigenes Kapitel wert. Aber auch in diesem Buch will ich meine Privatsphäre geschützt wissen. Deshalb nur soviel: Die alleinige Verantwortung hat bei mir den Sinn für Emotionalität, Zärtlichkeit, Phantasie, aber auch Ängstlichkeit und Schmerz deutlich geschärft.)

Ich fand dann schließlich einen Arzt, der mir bescheinigte, etwas am Herzen zu haben. Was bekanntlich auch zutraf. Der Schaden sei zwar nicht zu erheblich, schrieb er in seinem Gutachten, daß ich dadurch für den Wehrdienst gänzlich untauglich wäre. Jedoch könnten bei bestimmten körperlichen Belastungen gesundheitliche Schädigungen und sogar Schlimmeres eintreten. Das Wehrkreiskommando schlußfolgerte wie erhofft. Keiner mochte das Risiko eingehen, daß mich ein diensteifriger Feldwebel überzogen antrieb.

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Meine Anwaltszulassung ertrotzte ich mir auf komplizierten Wegen. Um damals Richter in der DDR zu werden, mußte man das 25. Lebensjahr vollendet haben. Niemand konnte mir aber ernstlich zumuten, daß ich nach dem Studium — ich war 22 Jahre alt — drei lange Jahre als Assistent die Zeit vertrödelte, zumal dafür nur zwölf Monate vorgesehen waren. Da ich zwischenzeitlich jedoch meine außerplanmäßige Aspirantur für ein rechtstheoretisches Thema beantragt und den Wunsch geäußert hatte, die Praxis kennenzulernen, mich aber nicht allein auf Strafrecht (Staatsanwalt) oder Zivilrecht (Notar) spezialisieren wollte, blieb nur der Beruf des Rechtsanwalts, da ich mir erst einen größeren Überblick verschaffen wollte. 

Dem Justizministerium gegenüber begründete ich meinen Wunsch mit der Notwendigkeit, daß ich nicht ohne praktische Erfahrung promovieren könne, was den Praktikern dort sehr einleuchtete. Der Universität gegenüber operierte ich mit anderen Argumenten. So gelangte ich über eine Assistenzzeit beim Gericht (das war der Kompromiß) und ein Praktikum beim Rechtsanwaltskollegium schließlich in ebendieses Gremium. Es war das Jahr des VIII. Parteitages der SED und damit des Machtwechsels in der DDR. Honecker schickte Ulbricht in Rente und schien die Verkrustungen aufzubrechen. Er teilte, zumindest nach außen, die Machtfülle an der Spitze und begnügte sich mit der Rolle des Ersten Sekretärs, Stoph wurde Staatsratsvorsitzender und Sindermann Ministerpräsident. Nicht nur in Kunst und Kultur lockerten sich die ideologischen Fesseln. Im Vorfeld der X. Weltfestspiele 1973 in Berlin und vor allem während der Zeit des Jugendfestivals erlebten wir fast so etwas wie Pluralismus. Auch die Geschäfte füllten sich. Es war die Zeit, in der die DDR — unbemerkt von der Mehrheit — über ihre Verhältnisse zu leben begann.

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Fünf Jahre später war das Tauwetter vorüber. Honecker ließ sich zum Generalsekretär und zum Staatsratsvorsitzenden wählen und zog merklich die ideolog­ischen Zügel an. Von den Veränderungen nach Honeckers Machtübernahme war auch mein Vater betroffen, der als Kulturminister abgelöst und als Botschafter nach Italien geschickt wurde. Über die Gründe läßt sich nur spekulieren. Einerseits, so denke ich, galt mein Vater in Honeckers Augen als Ulbrichts Zögling. Andererseits hatte er die zentralistische Macht in seinem Bereich gemildert, indem er Kompetenzen an die Verbände der Theater­schaffenden, der Komponisten, der bildenden Künstler usw. abgegeben hatte.

Unübersehbares und spektakulärstes Signal der veränderten Kulturpolitik in der DDR war die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann. Der Rauswurf kündigte definitiv den weitreichenden Konsens auf, der bis dato zwischen der Macht und der Kunst in diesem Lande bestanden hatte. Ich nahm insofern an diesen Vorgängen unmittelbar Anteil, als mein Kollege Götz Berger Anwalt von Wolf Biermann und Robert Havemann war. Berger gehörte der Partei seit Thälmanns Tagen an, kämpfte gegen die Nazis und im spanischen Bürgerkrieg, war viele Jahre in der Sowjetunion und besaß den Vaterländischen Verdienstorden in Silber, was zu jener Zeit etwas Besonderes war. Damit galt er unter uns Rechtsanwälten als der höchstdekorierte.

Unter sehr fadenscheinigen Vorwänden — er habe unter anderem westliche Zeitschriften mit Havemann getauscht — entzog ihm der Justizminister die Zulassung. Dazu war er formal befugt, doch üblicherweise mußte einer solchen Entscheidung ein Disziplinarverfahren im Rechtsanwaltskollegium vorausgegangen sein. Darüber setzte man sich bewußt hinweg, da man sich der Entscheidung des Kollegiums nicht sicher schien. Auch die Partei­versammlung fand erst nach Bergers Entlassung statt. Das ursprünglich angestrebte Resultat lautete Ausschluß aus der SED.

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Berger hatte jedoch einen Brief an seinen Kampfgefährten Honecker geschrieben, dessen Antwort unbedingt abgewartet werden sollte. So zog sich das makabre Spiel um ein weiteres in die Länge. Honecker zeigte sich gnädig und plädierte für Bergers Verbleib in der Partei, der er inzwischen seit mehr als vier Jahrzehnten angehörte. Unter diesen Umständen kam die nächst niedrigere Parteistrafe in Betracht, und das war die strenge Rüge. Etwa ein Dutzend Genossen im Kollegium, darunter auch ich stimmten dagegen.

Daß Götz Berger die Anwaltszulassung entzogen wurde, wird heute zu Recht als Willkür verurteilt. Aber eines hatte die DDR nicht fertiggebracht, dazu bedurfte es des Beitritts zur BRD: Diese hat dem inzwischen Neunzigjährigen 1995 seine Rente als Opfer des Naziregimes vollständig gestrichen, weil er in den fünfziger Jahren als Richter Unrechtsurteile gesprochen haben soll. Daß dieser Kommissionsentscheidung nicht einmal eine Anklage oder ein Urteil wegen Rechtsbeugung zugrunde liegt, ist rechtsstaatlich ebenso bedenklich wie der Umstand, daß nicht berücksichtigt wurde, daß sein Kampf gegen das Naziregime, worauf die Rente basierte, mit seinem Wirken in der DDR in den fünfziger Jahren nichts zu tun hat. 

Robert Havemann gilt heute zu Recht als Held, nur wird verschwiegen, daß ihm dieselbe Kommission wegen seiner IM-Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit in den fünfziger Jahren heute wahrscheinlich ebenfalls seine Rente als Opfer des Naziregimes streichen würde. Dies hat die DDR zu keinem Zeitpunkt getan, und ein solcher Beschluß wäre auch nicht vorstellbar gewesen.

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Bei der Ausbürgerung Biermanns gab es neben der Tragödie auch noch eine Komödie. Hermann Burghardt, mein Parteibürge und im Rundfunk tätig, berichtete mir, daß neben den verschwiegenen Protesten gegen Biermanns Ausreise und den bestellten Zustimmungserklärungen auch andere Botschaften seine Redaktion erreichten. So hätten sie einen Brief von Kollegen des Kombinates Carl Zeiss Jena erhalten, in dem der Partei- und Staatsführung für ihre Entscheidung euphorisch gedankt wurde. Biermann habe als Kombinatsdirektor wie ein Despot geherrscht und die Stadt ruiniert, es wäre gut, daß dieser Mensch nun endlich weg sei. Die Jenenser hatten allerdings übersehen, daß ihr Chef Wolfgang und nicht Wolf hieß. Burghardt ließ diesen Brief verschwinden. Ihm taten die Leute leid, denn er fürchtete, daß sie Ärger bekommen würden, hätte ein Dogmatiker diese Philippika gegen das ZK-Mitglied Wolfgang Biermann vor die Augen bekommen.

 

In dieser Zeit lernte ich auch Robert Havemann und Rudolf Bahro kennen. Das waren Persönlichkeiten, die mich tief beeindruckt haben. Sie waren von unterschiedlicher Natur. Havemann habe ich respektiert und geschätzt, Bahro mochte ich und mag ich.

Der Kontakt zu ihm lief über meine Schwester Gabriele, die mit Bahros geschiedener Frau befreundet war. Diese kam eines Tages zu mir und bat mich, seine Verteidigung zu übernehmen. Bahro befand sich seit August 1977 in Haft. Im Westen war sein Buch »Die Alternative« erschienen, was zu der Anklage der Nachrichtenübermittlung und des Geheimnisverrats führte. Als ich das Buch las, war mir klar, daß die DDR-Obrigkeit mit ihrer ganzen Härte gegen Bahro vorgehen würde. Anders als bei Schriftstellern und Künstlern, die sie mit Privilegien und punktuellen Zugeständnissen oder durch Rauswurf paralysierten, tickte hier eine Bombe. Der Philosoph und Ökonom Bahro hatte — nach meinem Empfinden — die Gesellschaft des real existierenden Sozialismus ziemlich präzise analysiert und aus marxistischer Sicht scharf kritisiert. 

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Manche seiner Schlußfolgerungen schienen mir etwas abstrakt, beispielsweise wenn er seine Erwartungen aussprach, daß aufgrund permanenter Unterforderung der wissenschaftlichen und technischen Intelligenz der DDR ein überschüssiges Bewußtsein entstünde, das über kurz oder lang, da es sich ja verwirklichen müsse, der offiziellen DDR zum Verhängnis werde. Vielleicht war aber auch das nicht falsch. Doch unterm Strich hatte hier ein überzeugter Sozialist einen logischen Ausweg aus der allgegenwärtigen Misere aufgezeigt. Und damit legte er die Axt an die Wurzeln der Honecker-DDR.

Auch andere von Bahro aufgeworfene Fragen fanden mein ungeteiltes Interesse. Der Wissenschaftler hatte 1968, nach der gewaltsamen Beendigung des Prager Frühlings, beschlossen, mit der DDR zu brechen. Ihm war klargeworden, daß die Veränderungen des Systems nicht an der Peripherie erfolgen konnten; dort wären alle Versuche zum Scheitern verurteilt. Das hatten die Ereignisse 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der CSSR bewiesen. Die Korrekturen in Richtung eines »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« mußten, sollten sie erfolgreich sein, im Zentrum der Macht erfolgen, in Moskau. 

Das Verfahren gegen Bahro empfand ich bis ins Detail als furchtbar. Ihm und mir, seinem Verteidiger, war die Auflage erteilt worden, bis zum Abschluß des Ermittlungs­verfahrens nicht über die Beschuldigung zu reden. Die Staatsanwaltschaft vertrat die Auffassung, daß dies zulässig sei. Ich habe später im Straf­prozeß­rechts­kommentar dagegen polemisiert. Zwar wurde das Gesetz nicht geändert, aber in der Folgezeit wurde eine derartige Auflage auch in solchen Verfahren nicht mehr erteilt. Das mir ausgehändigte Papier, das mich als Anwalt für das Gespräch mit Bahro legitimierte, bezeichneten wir beide aufgrund der massiven Einschränkungen abfällig als Personenbesichtigungsschein.

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Im Juni 1978 fand der Prozeß vor dem Berliner Stadtgericht statt. Es war eine gespenstische Inszenierung. Den Flur vor dem Gerichtssaal hatte man mit Stellwänden regelrecht verbarrikadiert, damit sich niemand zufällig oder vorsätzlich verirrte, der nicht geladen war. Soweit die Verhandlung zu Beginn und bei Verkündung des Urteilstenors öffentlich sein mußte, nahmen nur Personen teil, die eine Einladung vorweisen konnten.

Obgleich jeder wußte, daß seine Verurteilung beschlossene Sache war, haben wir gemeinsam gekämpft. Dem Richter konnte eine gewisse Fairneß nicht abgesprochen werden, dennoch besaßen wir nicht die geringste Chance. Die offizielle DDR war entschlossen, ein Exempel zu statuieren. Die erhobenen Vorwürfe waren juristisch problematisch. Daß sie dennoch erhoben wurden, zeigte die Unfähigkeit, mit anderen Auffassungen umzugehen, sie zu diskutieren. Wenn sie unsinnig waren, konnte man sie ja widerlegen. Vermied man jedoch eine intellektuelle Auseinandersetzung von vornherein, hatte man offenkundig nicht die überzeugenderen Argumente auf seiner Seite. Und: Wenn eine sozialistische Gesellschaft andere Auffassungen nicht ertragen konnte, dann war sie nicht sozialistisch.

Als Anwalt begründete ich, weshalb die Straftatbestände nach meiner Auffassung nicht erfüllt seien. Die Konsequenz wäre Freispruch gewesen.

Rudolf Bahro bekam aber acht Jahre wegen »Sammlung und Übermittlung von Nachrichten für eine ausländische Macht und Geheimnisverrat«. Der Staatsanwalt hatte neun Jahre beantragt. Meine Berufung wurde vom Obersten Gericht verworfen. Die Strafprozeßordnung der DDR gestattete bei Strafen von über sechs Jahren erst nach der Hälfte der Zeit ein Aussetzen der Reststrafe auf Bewährung. Das bedeutete im Klartext, daß Bahro mindestens vier Jahre der Strafe verbüßen mußte. Es gab drei Möglichkeiten, das zu verhindern: erstens Korrektur des Urteils, zweitens Begnadigung durch den Staatsrat, drittens eine Amnestie. Korrektur und Begnadigung schieden aus. In beiden Fällen wurde Gesichtsverlust befürchtet. Es sollte nicht der Eindruck entstehen, man gäbe westlichem Druck nach. 

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Blieb also nur eine allgemeine Amnestie, die auch Bahro die Freiheit brachte. Nach außen fiele er nur zufällig mit darunter. Das war der Vorteil aus Sicht der Führung. Den Gedanken der Amnestie und die Forderung nach Verbesserung von Bahros Haftbedingungen im Strafvollzug von Bautzen habe ich hartnäckig in den Gesprächen mit Mitarbeitern der Abteilung Staat und Recht im ZK der SED und gegenüber der Generalstaatsanwaltschaft der DDR vertreten. Aus welchen Gründen auch immer, die DDR-Führung amnestierte 1979 tatsächlich Tausende Häftlinge. Daß es in besonderer Weise um Bahro und einen anderen Prominenten (Nico Hübner) ging, zeigten Verletzungen der Logik, denn während ihre Straftaten unter die Amnestie fielen, blieben weniger schwerwiegende unberücksichtigt.

Vermutlich hatte es der DDR die Entscheidung über seine Freilassung erleichtert, weil er seine Absicht erklärte, in den Westen zu gehen. Unangenehm hingegen für mich, daß dies auch im Spiegel stand. Ich als sein Anwalt wurde umgehend verdächtigt, die Kassiber aus der Zelle geschmuggelt und die Nachricht zum Druck befördert zu haben. Fortan durften wir nicht mehr unbeaufsichtigt im Strafvollzug miteinander reden. Meine Bemühungen, den Aufpasser loszuwerden, blieben bis zur Haftentlassung erfolglos, obwohl später bekannt wurde, wer den Spiegel beliefert hatte.

Wir sahen uns dann auf dem Außerordentlichen Parteitag der SED-PDS Anfang Dezember 1989 wieder, als Rudolf Bahro als Gastredner zu den Delegierten in der Berliner Dynamo-Halle sprach. Monate später wurde das Urteil gegen ihn in einer Kassationsverhandlung, an der ich erneut als sein Anwalt teilnahm, endlich aufgehoben.

Als sich Rudolf Bahro noch im Strafvollzug befand, ging die DDR gegen Robert Havemann und Stefan Heym vor. Havemann hatte bis zu seinem Ausschluß aus der SED und der damit verbundenen fristlosen Kündigung 1964 an der Humboldt-Universität gelehrt. Ich kannte einige seiner berühmten

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Texte aus der Vorlesungsreihe »Dialektik ohne Dogma«, mit der er in Ungnade gefallen war. Persönlich waren wir uns allerdings nie begegnet. Hingegen war mir einer seiner Söhne nicht unbekannt; er studierte zur gleichen Zeit wie ich und war mir bei den Auseinandersetzungen 1968 aufgefallen, ihn hatte man damals verurteilt.

Havemann und Heym wurden formal wegen Devisenvergehens beschuldigt. Politisch war offenkundig das Ziel, die Systemkritiker, die den poststalinistischen Sozialismus demokratisieren wollten, einzuschüchtern. Mit dem Thema Devisen glaubte man offensichtlich große Teile der DDR-Bevölkerung gegen die populären Dissidenten aufbringen zu können. Im Unterschied zu Heym, der seine Strafe zahlte, erhob Havemann Einspruch. Es wurde eine Verhandlung vor dem Kreisgericht Fürstenwalde anberaumt, zu der Havemann selbstverständlich erschien. Mit ihm gekommen waren reichlich Vertreter der Westmedien, des Ministeriums für Staatssicherheit und ein spanischer Anwalt, der aber in der DDR nicht zugelassen war.

Darüber vom Gericht aufgeklärt, sagte Havemann, daß er dann mich mit diesem Mandat beauftragen wolle. Er habe gehört, daß ich mich im Verfahren gegen Bahro recht achtbar geschlagen habe.

Nach dieser Absichtserklärung wurde die Verhandlung für eine Woche unterbrochen.

Das alles erfuhr ich jedoch erst später, denn Havemann meldete sich nicht bei mir. Statt dessen erhielt ich einen Anruf vom Kreisgericht aus Fürstenwalde. Man wollte wissen, ob ich von Robert Havemann beauftragt worden sei, ihn zu vertreten.

Ich verneinte überrascht, da ich die Vorgeschichte nicht kannte. Mir wurde mitgeteilt, daß das Fürstenwalder Kreisgericht beschlossen hätte, mich beizuordnen, da ich als einziger von Havemann benannt worden sei.

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Ich fuhr hinaus nach Grünheide, wo Havemann auf seinem von MfS und Polizei umstellten Grundstück lebte. Die Verbindungen zur Außenwelt waren abgebrochen, selbst das Telefon hatte man ihm genommen. Ich teilte dem Professor mit, daß ich ihm als Anwalt beigeordnet worden sei. Gleichzeitig erklärte ich ihm, daß er dies ablehnen könne, was er nicht wußte. Ich wollte ihn nach seinen politischen Gesichtspunkten selbst entscheiden lassen. Er verzichtete auf die Beiordnung, da er inzwischen beim Justizminister beantragt hatte, seinen spanischen Anwalt für dieses Verfahren zuzulassen. Er begründete dies mit Verweis auf Lenin, der in Prozessen gegen Sozialrevolutionäre die Zulassung ausländischer Anwälte gestattet hatte. Ich brachte Havemanns Ablehnung nach Fürstenwalde, und damit schien für mich der Fall erledigt.

Havemanns Antrag wurde zurückgewiesen, die Verhandlung fand statt, und die Geldstrafe gegen ihn wurde durch Urteil bestätigt.

Daraufhin rief mich Havemann an und bat mich, die Berufung zu übernehmen. Ich fuhr also erneut zu Havemann, dieses Mal als sein Wahlverteidiger, und formulierte die Berufungsschrift, die seine ungeteilte Zustimmung fand. Die Berufung wurde selbstverständlich verworfen.

Als Bahro freikam und bevor er ausreiste, wollte er sich noch mit Havemann treffen. Das wollte die Obrigkeit verhindern. Havemann hatte bereits sein Grundstück verlassen, als ihn Sicherheitskräfte zur Umkehr nötigten. Er machte sich jedoch den Jux, sich in der Dorfkneipe eine Bockwurst zu holen und sie in aller Seelenruhe auf der Treppe zu essen. Das führte zu einem Auflauf.

Ich bekam aus Grünheide einen Anruf und fuhr hinaus. Anschließend legte ich beim Generalstaatsanwalt der DDR Beschwerde ein, weil ich für diese neuerliche unwürdige Behandlung Havemanns, der Hausarrest wurde nicht mehr vollzogen, keine Rechtsgrundlage sah. Die Antwort erhielt ich vom Kreisstaatsanwalt in Fürstenwalde, der mich vorlud. Er erzählte mir etwas von Polizeigesetzen und ähnlichen Vorschriften und daß alles rechtens verlaufen sei.

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Aus Unterlagen, die nach der Wende publik wurden, wissen wir, daß er für dieses Gespräch eine detaillierte Regieanweisung aus Berlin erhalten hatte. Er sollte den ihm zugestellten Text vortragen, und wenn ich dann noch Fragen stellen würde, erklären, daß damit alles gesagt sei.

Ich unterhielt mich gern mit Havemann. Er war eine starke Persönlichkeit, hochintelligent, ironisch und humorvoll. Ihn hatten die Nazis, die ihn 1943 zum Tode verurteilten, nicht kleingekriegt, und auch die Politbürokratie — seine Wortschöpfung — biß sich an ihm die Zähne aus. Seine Überzeugung, daß er dennoch im besseren deutschen Staat lebe, war unerschütterlich. Deshalb hat er auch um seine Mitgliedschaft in der SED gekämpft. Wissen Sie, erklärte er mir einmal, Honecker ist falsch in der Partei, nicht ich. Der Kampf um SED und DDR und nicht gegen sie spielt heute in der öffentlichen Auseinandersetzung leider kaum eine Rolle.

Sein dialektischer Witz und seine stoische Beharrlichkeit haben mich beeindruckt, und ich denke, daß ich einiges von ihm gelernt habe. Bewundert habe ich auch seinen untrüglichen Instinkt. Er wußte, wie Berlin reagieren würde, er kannte das Seil, auf dem die führenden Genossen balancierten, er beherrschte ihre Spielregeln, schon weil er früher zu ihnen gehört hatte.

In seinem Schachspiel war ich eine Figur. Durch mich ließ er Nachrichten befördern, er speiste mich für meine Gespräche in der Abteilung Staat und Recht im ZK, die ich in seinem Auftrage zu führen hatte. Ich war Vermittler, und dafür war er mir dankbar. Doch zugleich saß ich zwischen den Stühlen. Trotz seines großen Realismus war er mitunter auch naiv. Das wurde spürbar, als seine geschiedene Frau das zweite auf dem Grundstück befindliche Haus, dessen Eigentümerin sie war, plötzlich veräußern wollte. 

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Für mich kam als potentieller Käufer nur die Staatssicherheit in Betracht, weil ich mir nicht vorstellen konnte, daß ein Mensch aus freien Stücken in ein Haus zieht, das Tag und Nacht beobachtet wird. Ich teilte Havemann meinen Verdacht mit. Er war längst nicht so mißtrauisch. So etwas traue er dem MfS nicht zu. Er glaubte ernsthaft, daß einzig die finanziellen Aussichten seine Exfrau zu diesem Schritt veranlaßt hätten.

Wie aus den jetzt bekannten Stasi-Unterlagen ersichtlich ist, war meine Annahme begründet. Es existiert eine umfangreiche Akte über die Absichten des MfS, wie das Objekt übernommen und genutzt werden sollte.

Ich intervenierte in der Abteilung Staat und Recht im ZK und wies daraufhin, daß das ohnehin schon beschädigte Ansehen der DDR noch mehr leiden würde, wenn sich die Staatssicherheit nun auch noch auf Havemanns eigenem Grundstück einnistete.

Anfang 1980 traten ein Mitarbeiter der Zentralleitung des Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer und des ZK der SED an mich heran, ich solle Robert Havemann eine Einladung übermitteln. Aus Anlaß des 35. Jahrestages der Befreiung von Brandenburg-Görden wollte Honecker dort eine Gedenkveranstaltung mit ehemaligen Zuchthausinsassen abhalten. Es bestand kein Zweifel, daß Honecker selbst der Einlader war. Ich übermittelte die Offerte. Havemann nahm sie sofort an, einige seiner Freunde rieten ab. Sie hielten dies nur für Scheintoleranz und nicht für eine grundsätzliche Änderung der Haltung zu Havemann. Ihm aber bedeutete es sehr viel, den Ort noch einmal zu sehen, an dem er 1944/45 in der Todeszelle gesessen und Solidarität geübt hatte mit Leidensgenossen wie Honecker, der seit 1935 dort inhaftiert war. Im Anschluß an die Feierstunde gab es ein Treffen der ehemaligen Brandenburger. Die Zusammenkunft mit Honecker fand in einem riesigen Raum statt, Havemann saß weit hinten. Er unternahm keine Anstalten, den zwei Jahre jüngeren Honecker anzusprechen. Man hätte dies gewiß zu verhindern gewußt.

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Havemann stand über allem und allen. Er hatte die Fähigkeit, innerlich unberührt zu bleiben. Er beherrschte das Einmaleins des Oppositionellen: Alles, was einem widerfährt, muß mit einem öffentlichen Aufschrei quittiert werden. Man muß sich empören und aufregen. Aber man darf sich nicht wirklich selbst erregen, sonst verliert man die nötige Souveränität!

Havemann hockte sich mit seiner Bockwurst auf die Kneipenstufen von Grünheide, obgleich ihm Unrecht widerfuhr. Man wollte — das war ihm bewußt — verhindern, daß er Bahro überredete, in der DDR zu bleiben. Zwei dieser Art hätten sie nicht verkraftet, also mußte mindestens einer weg. Havemann wußte vorher, was warum geschehen würde. Und als das Erwartete eintraf, protestierte er schärfstens — und biß seelenruhig in seine Bockwurst.

 

Eppelmann beispielsweise hätte nicht so reagiert. Er war auch innerlich erregt, wenn er sich aufregte.

Wir lernten uns kennen, nachdem er die vom MfS in seiner Pfarrwohnung in der Samariterstraße installierten Wanzen entdeckt hatte. Er kam in mein Büro und bat um meinen Beistand, nachdem er Anzeige beim Generalstaatsanwalt erstattet hatte. Die Abhörtechnik hatte er per Zufall aufgespürt, als er in seinem Radio plötzlich die im Nebenzimmer geführte Unterhaltung vernahm. Bei der anschließenden intensiven Suche entdeckte er die Wanzen in der Steckdose und der Lampe. Das führte zu dem lächerlichen Argument, er könnte sie selber angebracht haben.

Diese absurde Unterstellung hielt man nicht lange aufrecht. Natürlich wurden die unbekannten Täter nie ausfindig gemacht. Doch Eppelmann ging es auch weniger um ihre Festnahme, sondern um den öffentlichen Nachweis, daß die DDR gegen ihn ungesetzlich vorgegangen war. Ich spürte und akzeptierte, warum sich Eppelmann gegen die DDR-Führung und auch gegen seine Kirchenleitung wandte. Er übte sich nicht in Zurückhaltung. Ihm stand allerdings nicht der Humor zur Verfügung, der Havemann auszeichnete. 

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Einmal lud mich Eppelmann in seine Samaritergemeinde ein. Weit über hundert Personen waren in das Cafe hinter der Kirche gekommen, um meinen Vortrag über die neuen Verwaltungsvorschriften zu hören, mit der die DDR eine bescheidene Verwaltungsgerichtsbarkeit eingeführt hatte. 

Daß unter den Zuhörern auch professionelle Mithörer saßen, wußten wir beide. Ich kümmerte mich wenig darum. Eppelmann dankte am Ende fast euphorisch. Er habe einen interessanten Abend erwartet, daß es aber auch ein vergnüglicher werden würde, habe er sich kaum denken können. 

Noch einmal erhielt ich einen Auftrag von Eppelmann, nachdem er mit Freundinnen und Freunden zusammen die Auszählung der Ergebnisse der Kommunal­wahl am 7. Mai 1989 beobachtet und dann festgestellt hatte, daß öffentlich ein anderes Ergebnis bekanntgegeben worden war. Er hatte eine Strafanzeige wegen Wahlfälschung an den Generalstaatsanwalt der DDR gerichtet und mich danach beauftragt, Akteneinsicht bei der General­staats­anwalt­schaft zu nehmen. 

Tatsächlich habe ich auch ein Schreiben an die Generalstaatsanwaltschaft gesandt und um Einsicht in die Unterlagen ersucht. Ich wies darauf hin, daß dann, wenn das Ergebnis nicht gefälscht worden sei, auch die Staatsanwaltschaft ein Interesse daran haben müßte, dies öffentlich richtigzustellen. Anderenfalls wiederum müßte die Staats­anwaltschaft an einer Strafverfolgung interessiert sein. Dieses Schreiben hatte Folgen, auf die ich später zurückkommen werde — die Unterlagen bekam ich nicht zu Gesicht.

Um die Jahreswende 1983/84 vertrat ich auch kurzzeitig Ulrike Poppe. Man hatte sie gemeinsam mit Bärbel Bohley vor den Feiertagen unter konstruierten Anschuldigungen in Untersuchungshaft genommen. Im Januar wurde das Ermittlungsverfahren allerdings wieder eingestellt, und beiden kamen frei.

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Rechtsanwalt Wolfgang Schnur hatte das Mandat Bärbel Bohleys. Als vier Jahre später, nach jener berühmten Liebknecht-Luxemburg-Demonstration im Januar 1988, zahlreiche Oppositionelle verhaftet wurden, erhielt ich Besuch von Katja Havemann. Sie bat mich, neben Schnur die Verteidigung Bärbel Bohleys zu übernehmen, und so ließ ich mir von meiner neuen Mandantin die Vollmacht geben.

Wir hatten ein einziges Gespräch in der Haftanstalt, zu dem später auch Wolfgang Schnur stieß. Er überbrachte das Angebot, daß das Ermittlungsverfahren gegen Bärbel Bohley eingestellt werden würde, sofern sie gewillt sei, vorübergehend nach Großbritannien auszureisen.

Ich ersuchte sie, nichts zu unterschreiben, bevor nicht die Generalstaatsanwaltschaft schriftlich zugesichert hätte, daß sie wieder in die DDR zurückkehren könnte. In dieser Angelegenheit suchte ich den zuständigen Staatsanwalt auf. Man verweigerte mir aber eine solche Zusage, und ich kehrte besorgt zur Haftanstalt zurück, um Bärbel Bohley zu bewegen, von dem unterbreiteten Angebot Abstand zu nehmen. Doch als ich dort eintraf, war sie bereits fort. Sie hatte, wie es hieß, auf Anraten ihres Anwalts Schnur alles unterschrieben und war schon auf dem Weg in die BRD. Später schrieb sie mir aus Großbritannien und bat mich, für ihre Rückkehr in die DDR zu sorgen. Ihre Bitte war mit der Ehrenerklärung verknüpft, daß sie aufgrund der letzten Erfahrungen mir besonders vertraue.

Mein Problem war, daß mir niemand die Zusage für ihre Rückkehr gegeben hatte. Dennoch habe ich im ZK der SED Lärm geschlagen und gedroht, die General­staats­anwalt­schaft des Wortbruchs zu bezichtigen, wenn Bärbel Bohley nicht wieder einreisen dürfe, zumal sie im Besitz eines gültigen DDR-Passes sei und mit gültigem Visum legal ausgereist wäre. Folglich könne ihr die Wiedereinreise nicht verweigert werden. Im Sommer 1988 kehrte Bärbel Bohley über Prag zurück. Ich war gerade in der CSSR im Urlaub und entsprach ihrem

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Wunsch, zum Flugplatz zu kommen. Dort wartete bereits Konsistorialpräsident Manfred Stolpe. Wir wechselten einige Sätze, ich riet Frau Bohley, alles zu vermeiden, was zu einer erneuten Verhaftung führen könnte. Dann verabschiedeten wir uns. Frau Bohley stieg in Manfred Stolpes Auto und fuhr mit ihm nach Berlin.

Zu den nach der Demonstration im Januar 1988 Verhafteten gehörte auch Vera Wollenberger. Honecker hatte offenkundig entschieden, daß bis zu einem bestimmten Tag — es war der Freitag, an dem auch Bärbel Bohley ausreiste — alle Inhaftierten ins Ausland abzuschieben seien. Damit, so glaubten er und seine Umgebung, wäre das Problem gelöst, und würden sich die Proteste, vor allem im westlichen Ausland, schnell wieder legen. Vera Wollenberger war bereits zu sechs Monaten verurteilt worden, hatte aber gegen das Urteil Berufung eingelegt.

An besagtem Freitag erschien bei Knud Wollenberger — ihrem Ehemann — die Jugendhilfe, um die Kinder abzuholen, damit sie mit ihrer Mutter nach Großbritannien reisen konnten. Er hatte jedoch die Kinder versteckt und verweigerte ihre Herausgabe, denn er hoffte dadurch die Ausreise seiner Frau — auch eine vorübergehende — zu verhindern.

Am darauffolgenden Sonnabend meldete sich Knud Wollenberger bei mir und bat mich, dafür einzutreten, daß er über den Aufenthaltsort seiner Kinder entscheiden dürfe. Ich willigte ein und machte ihn auf eine Regelung im Familiengesetzbuch der DDR aufmerksam, wonach Eltern nur gemeinsam darüber entscheiden könnten. Sollte zwischen ihnen keine Einigung erzielt werden, könne ein Elternteil gegen das andere klagen, damit das Gericht bestimmt, wer von beiden über den Aufenthaltsort in Zukunft entscheiden dürfe. Selbst wenn das Gericht alle denkbaren Abkürzungen von Fristen vorgenommen hätte, wären bis zur Rechtskraft eines solchen Urteils mehrere Wochen vergangen. So hätte Knud Wollenberger die Zeit gewonnen, die er brauchte. Denn er war überzeugt davon, über kurz oder lang die Entlassung seiner Frau aus der Haft in die DDR zu erreichen.

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Wir fuhren gemeinsam in die Haftanstalt. Vera Wollenberger war nunmehr formal-juristisch meine Gegnerin. Ihr Mann sprach mit ihr zunächst ohne mich, dann wurde ich hinzugezogen. Der Streit zwischen ihnen war heftig, aber sie stimmte einer Vereinbarung zu. Im Beisein eines MfS-Offiziers setzte ich die schriftliche Vereinbarung auf. Darin hieß es, daß für die Dauer der nächsten sechs Wochen Knud Wollenberger allein über den Aufenthaltsort der Kinder entscheiden würde, danach falle ihr dieses Recht für die Dauer eines Jahres zu. Damit war klar, daß Vera Wollenberger zunächst im Gefängnis bleiben sollte, in der Erwartung, in die DDR entlassen zu werden. Für den Fall, daß dies in sechs Wochen nicht geschehen würde, konnte sie dann mit den Kindern für ein Jahr nach Großbritannien ausreisen.

Mir waren diese Konsequenzen durchaus bewußt. Ich unterbrach das Schreiben, weil ich das Gefühl hatte, daß Vera Wollenberger durch ihren Mann genötigt werden sollte, de facto ihrer Haftverlängerung zuzustimmen. Doch Vera Wollenberger forderte mich auf, die Vereinbarung wie besprochen zu Ende zu formulieren. Der eigentliche Gewinn war natürlich politischer Natur. Honeckers Absicht, bis zu einem bestimmten Tag alle inhaftierten Dissidenten loszuwerden, war damit in einem Falle durchkreuzt.

Bei der Rückfahrt im Auto gab ich Knud Wollenberger zu bedenken, daß er zwar politisch erfolgreich sei, die Sache menschlich verkehrt liefe. In einer guten Ehe müsse er zu jedem Kompromiß bereit sein, damit seine Frau sofort aus der Haft entlassen würde, während sie darauf bestehen könne auszuharren, und nicht umgekehrt. Aber die Vereinbarung lag vor. Vera Wollenberger blieb auch am Sonntag in Haft. Am Montag rief mich Knud Wollenberger erneut an und teilte mir mit, daß er seine Auffassung geändert habe. Er stimme der

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umgehenden Ausreise seiner Frau mit den Kindern zu. Was sein Umdenken bewirkt hatte, weiß ich nicht. An diesem Montagmorgen erklärte mir der zuständige Staatsanwalt beim Generalstaatsanwalt noch einmal, daß Vera Wollenberger nicht in die DDR entlassen werden würde, wobei ich nicht weiß, ob diese Auskunft nur dem Ziel diente, die Entscheidung zugunsten einer Ausreise zu beeinflussen, tatsächlich aber in Kürze eine Entlassung auch in die DDR stattgefunden hätte. So schien es zumindest logisch, daß Knud Wollenberger nun für eine schnelle Haftentlassung seiner Frau eintrat. Dies geschah dann auch an diesem Montag. Die vorübergehende Durchkreuzung der Pläne der DDR-Führung mußte am Wochenende für erheblichen Unmut und Bewegung hinter den Kulissen gesorgt haben. Wie mir Staatsanwalt Przybilski mitteilte, soll der stellvertretende Generalstaatsanwalt in einer Beratung wütend gedroht haben, mir die Anwaltzulassung zu entziehen, weil ich die Durchsetzung eines Politbürobeschlusses behindert hätte.

Doch dazu ist es nicht gekommen.

Die Ereignisse im Januar 1988 hatten weitreichende Bedeutung für weitere Entwicklungen in der DDR. Eine Ohnmacht der Partei- und Staatsführung der DDR war sichtbar geworden. Einerseits sah sie sich außerstande, die Verhaltensweise der Menschen, die auf der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration protestieren wollten, zu dulden, andererseits war sie auch nicht mehr fähig, solche Handlungen zu unterbinden oder zu bestrafen. Ein System, das beides nicht kann, ist offenkundig am Ende.

Hinzu kam noch ein Anachronismus. Den Oppositionellen, die nach Großbritannien ausreisen konnten, wurden in den Medien Vergehen oder Verbrechen gegen die DDR vorgeworfen. Die Strafe bestand aber dann darin, daß sie nach Großbritannien »verschickt« wurden. Millionen Bürgerinnen und Bürger der DDR träumten davon, einmal ins westliche Ausland reisen zu können. Die DDR-Führung hatte ihnen indirekt mitgeteilt, daß nur im Falle scharfer Opposition gegen sie mit der Erfüllung eines solchen Traumes zu rechnen sei.

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Wer sich heute darüber mokiert, daß ehemalige Oppositionelle der DDR einer ihnen zugefallenen oder von ihnen übernommenen Aufgabe vermeintlich oder tatsächlich nicht gewachsen seien oder sich von ihren früheren Ansichten verabschiedet hätten, dem gebe ich zu bedenken, daß sie sich zu einer Zeit gegen kritikwürdige Zustände gewandt haben, als dies mit einem hohen Risiko für sie behaftet war. Das erforderte Mut, den die wenigsten von uns besaßen, mich eingeschlossen. Als Havemann für sich entschied, in Opposition zu gehen, gab es für ihn so gut wie keine Chance, sich durchzusetzen. Und er hat tapfer durchgehalten. Das gilt in verstärktem Maße für Rudolf Bahro und, wenn auch auf andere Weise, für Bärbel Bohley, Ulrike Poppe, Vera Wollweber, Rainer Eppelmann und etliche andere. Das muß zunächst anerkannt werden. Was man heute von einigen von ihnen und von ihren gegenwärtigen Leistungen hält, steht auf einem anderen Blatt.

Auf der anderen Seite ist es wahr, daß insbesondere in Zeiten der Entspannungspolitik Inhaber bestimmter Berufe geschützter waren als andere. Die SED-Führung wußte zum Beispiel, welche verheerenden Wirkungen es hatte, wenn sie einen Pfarrer einsperren ließ. Gerade in den achtziger Jahren kristallisierte sich außerdem heraus, daß Personen auch dadurch geschützter waren, daß sie in der westdeutschen Öffentlichkeit bekannt waren. Westdeutsche Medien begleiteten deshalb jede Verfolgung solcher Personen aufmerksam. 

Da die SED- und DDR-Führung an der Fortsetzung der Entspannungspolitik interessiert war, versuchte sie, Komplikationen dieser Art zu vermeiden oder zu »lösen«. Das bedeutete meist, daß solchen Personen nahegelegt wurde, die DDR zu verlassen. Die Tatsache, daß Bürgerinnen und Bürger der DDR auch durch westliche Medien geschützt werden konnten, sagt nichts über die betreffenden Personen aus.

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Die SED- und DDR-Führung muß sich allerdings vorhalten lassen, dadurch eine zusätzliche Gerechtigkeitslücke aufgemacht zu haben. Menschen, die keine westliche Öffentlichkeit besaßen, wurden für Delikte bestraft, für die jene mit Öffentlichkeit nicht mehr zur Verantwortung gezogen wurden.

Was mich nur wundert, ist, daß diejenigen, die damals nicht bekannt waren und deshalb verurteilt wurden, auch nach der Wende unbekannt blieben. Ich hatte gedacht und zum Teil auch gehofft, daß gerade jene eine Stimme bekommen würden, die vorher keine besaßen. Das war ein Irrtum. 

Bei Bärbel Bohley, Vera Wollenberger und Rainer Eppelmann finde ich allerdings erstaunlich, wie sie innerhalb kurzer Zeit die Intoleranz, mit der ihnen begegnet wurde, selbst ergriffen haben. Und warum erklären sie nicht wenigstens, weshalb sie nichts mehr von einem demokratischen Sozialismus halten, für den sie damals gestritten haben.

Die politischen Differenzen zwischen Bärbel Bohley und mir begannen schon 1990, hatten aber einen anderen Charakter als die gegenwärtigen. Sie, Jens Reich und andere schlugen mir im August 1990 für die Bundestagswahl eine Personenliste vor, auf der für die PDS Personen wie Rainer Börner und ich, aber auf keinen Fall Hans Modrow kandidieren sollten. Sie setzten sich natürlich nicht durch. Später machte mir Bärbel Bohley den Vorwurf, daß die PDS die Bildung einer wirklich linken Opposition in Deutschland verhindere. Ich sah und sehe dies anders, aber seitdem herrscht zwischen uns Eiszeit.

Ich bedaure, daß nach der Wende in der Öffentlichkeit stets der Eindruck erweckt wurde, als ob mein Hauptfeld anwaltlicher Tätigkeit die Verteidigung von Dissidenten gewesen wäre. Dies war aber keineswegs so. Es gab bekanntlich in der DDR nur 600 Rechtsanwälte und deshalb auch nur wenig Spezialisierung. Ich war nicht nur Strafverteidiger, sondern auch Anwalt in Zivilsachen, Arbeitsrechtssachen, Familiensachen und Verwaltungs­rechts­angelegenheiten.

Und soweit ich meinen Beruf als Strafverteidiger ausübte, bezog sich dies keinesfalls ausschließlich auf politische Straftaten. Ich habe auch Diebe, Räuber, Erpresser, Vergewaltiger, Totschläger und Mörder verteidigt und war in Sachen Wirtschafts­kriminalität tätig. Es gab eigentlich nur eine Gruppe von Tätern, die ich nicht verteidigte — mit einer Ausnahme. Ich meine die Gruppe derer, die zwischen 1933 und 1945 Verbrechen gegen die Mensch­lichkeit oder Kriegsverbrechen begangen haben. 

Diejenigen, die meine Arbeit etwas kennen, fragen mich häufig, wie man Gewalttäter und Schwerstkriminelle verteidigen kann. Dahinter steht ein ewiges Mißverständnis. Als Anwalt verteidigt man nicht die Tat, wohl aber den Täter. Mich hat immer interessiert, welche Umstände Menschen dazu bringen, bestimmte Straftaten zu begehen. Ich erinnere mich zum Beispiel sehr gut an eine Frau, die scheinbar glücklich verheiratet war. Aus ihrer Ehe sind vier Kinder hervorgegangen. Drei Kinder hat sie, wie es in der Juristensprache heißt, »ordnungsgemäß« versorgt und erzogen. Aber ein Kind hat sie bestialisch gequält und zum Schluß getötet. Als Verteidiger muß man wissen wollen, was eine solche Frau dazu bringt, so etwas zu tun.

Mich hat der Anwaltsberuf sehr geprägt. Noch heute behaupte ich, daß man die Widersprüche einer Gesellschaft über die Verteidigung von Kriminellen und die Begleitung von Ehescheidungen besonders gut erfassen kann.

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