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8. Unser Feind, das Atom

 

 

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In meinen Akten muß sich noch ein Brief von Walt Disney aus dem Jahr 1954 befinden, in dem er mich bat, ihm bei einem seiner Film- und Fernseh­projekte behilflich zu sein. Mit seinem überaus hoch entwickelten Sinn für die Bedürfnisse der Öffentlichkeit nach Unterhaltung und Information in Film und Fernsehen hatte er sich ein bedeutendes Thema ausgedacht, dessen Bearbeitung er mir übertragen wollte. 

Ich war damals Mitglied der Fakultät der Universität von Los Angeles und mir war klar, daß eine Annahme dieses reizvollen Auftrages eine ernsthafte Unter­brechung meiner wissenschaftlichen Karriere bedeuten würde, die sich bislang streng entlang traditioneller akademischer Bahnen entwickelt hatte. Mein Dekan redete mir zu, da er als Amerikaner die unterschwellige soziale Wichtigkeit dieses Vorschlages von Walt Disney auf Anhieb begriff; er hatte nämlich nicht nur Universitätsbelange, sondern auch die Verpflichtung der Intellektuellen gegenüber der Öffentlichkeit im Auge.

Die erste Atombombe im Jahr 1945 lag fast ein Jahrzehnt zurück. Die Menschheit ahnte bereits deutlich, daß wir mit den Erfolgen unserer Naturwissen­schaften nach Naturkräften griffen, denen unsere Einsicht und moralische Reife vielleicht nicht ganz gewachsen waren. Damals schon begann die Weltöffentlichkeit zu fühlen, daß das Atom in Wahrheit unser Feind sein könnte. In der Form der Atombombe drohte es in einem jederzeit wieder möglichen Weltkrieg die Menschheit zu vernichten. Umgekehrt war es den Energiewirtschaftlern der ganzen Welt schon lange klar, daß wir ohne Atomkraft auf die Dauer den stets wachsenden Energiebedarf, ja sogar Energiehunger der Menschheit nicht werden befriedigen können. 

Gleichzeitig hatten sich die zahlreichen Satellitenwissenschaften der Kernphysik in vielen wichtigen Gebieten, wie der Biologie, Chemie, Biochemie und in vielen Bereichen der Technik, bereits unentbehrlich gemacht. Auch diese für die Menschheit sehr wichtigen und letzten Endes segensreichen wissen­schaftlichen Aktivitäten waren von dem bösen Ruf, den das Atom seit der ersten Atombombe trug, überschattet. All das hatte Walt Disney eben mit seinem sechsten Sinn für die Öffentlichkeit sauber erkannt und deshalb — noch ohne jede weitere Vorstellung über die Art und die Darstellungsweise des geplanten Filmes — einen hinreißenden Titel konzipiert: <Unser Freund, das Atom>.

Bei der Gestaltung des Filmes, unter dem wachsamen Auge von Walt Disney, ging mir sehr bald auf, daß es dabei gar nicht darauf ankam, lediglich die im echten Sinne kraftvolle Story des Atoms nachzuzeichnen. Auch ein noch so spannender Bericht über die damit verbundenen faszinierenden Ereignisse in der intellektuellen Geschichte der Menschheit würde nicht genügen. Disney verlangte von uns eine Rahmenhandlung, die ihn überzeugte. 

  wikipedia  Unser_Freund_das_Atom       

 youtube.com/watch?v=QRzl1wHc43I   our friend the atom

youtube.com/watch?v=eFTbearvO8s    atomgau vor tschernobyl 

youtube.com/watch?v=aTEvpaHz4gw&list=PL6--_8UORO22ly28STIGLfKscWN9LlGZ_   haber weltraum 


Den historischen und wissenschaftlichen Inhalt unseres Filmes hatten wir schon längst beisammen, aber eine Rahmenhandlung, die Disney gefiel, hatten wir noch nicht. Endlich kamen wir auf eine Idee, die Walt Disney bei einer Konferenz in 30 Sekunden kaufte. Die Energie des Atoms ist der Geist aus der Flasche, den ein armer Fischer — das heißt der forschende Mensch — aus dem Meer des Unbekannten zog. Als er ahnungslos den Bleistopfen der Kupferflasche öffnete, entwich daraus unter Entwicklung von gräßlichen Flammen und Dämpfen ein riesiger Geist, der ihm den Tod ankündigte. Im letzten Moment jedoch besann sich der Fischer seines Witzes und forderte den Geist zu einer Erklärung heraus, wieso er mit seiner gewaltigen Größe in dieses winzige Gefäß hineingepaßt hätte. Das könne er nicht glauben. 

Wir alle kennen ja die Geschichte, wie der Geist auf diesen Trick hereinfiel, sich wieder in die Flasche hineinpreßte, die der Fischer prompt verschloß. Nun freilich wurde der Geist nur befreit, nachdem der dem Fischer drei Wünsche gewährt hatte. Daraus wurde dann unsere Disney-Geschichte, in dem unser Freund, das Atom, uns dann ausreichend Energien, Forschungsmittel und eine friedliche Nutzung seiner Kräfte gewährte. Noch heute denke ich mit Freude an dieses Disney-Projekt von unserem Freund, dem Atom, zurück.

 

In dem Optimismus der damaligen Zeit, den ich als Wissenschaftler teilte, hatte ich allerdings den Rauch, die Dämpfe und die Flamme übersehen, die das Auftauchen des Geistes aus der Flasche begleiteten. Ja, es ist mir damals die Symbolik dieser Flammen und Dämpfe entgangen, die selbst beim friedlichen Wiedererscheinen des Geistes nach seiner Zähmung der Atomflasche entwichen. 

Gewiß, auch damals schon wußten Physiker und Nukleartechniker, daß bei der friedlichen Nutzung der Atomenergie gefährliche radioaktive Substanzen anfallen, oder soll man besser sagen abfallen. Dieser radioaktive Abfall war damals freilich noch so klein, daß man ihn ohne jeden Ärger in ein paar Bleikannen aufsammeln und irgendwo in einer tiefen Höhle verstecken konnte. So etwas geht ohne weiteres, wenn die Zahl der Kernkraftwerke auf der ganzen Welt im Rahmen bleibt. Als sich jedoch in wenigen Jahrzehnten — und so ist es seit damals gewesen — der Energiebedarf der Menschheit vervielfachte, begann uns der wild radioaktive Abfall dieser sonst so eleganten Energie­gewinnungs­methode auf den Nägeln zu brennen. Was hat es denn eigentlich mit der viel gerühmten atomaren Energieerzeugung und mit dem viel berüchtigten radioaktiven Müll für eine Bewandtnis?

Obwohl sich unsere Kenntnisse über den Aufbau der Atome wesentlich verfeinert haben, so sind die Vorstellungen, welche die Physiker vor vierzig Jahren gehabt haben, für ein Verständnis der Atomstrukturen völlig ausreichend. Damals hatte man in einem zwar einfach erscheinenden Bild bereits erkannt, daß die Existenz dreier verschiedener Urteilchen — die berühmten ersten Elementarteilchen — uns den Aufbau der Atome verständlich machen können.

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Zwei von ihnen waren relativ schwer, und zwar gleich schwer, nämlich das positiv geladene Proton und das elektrisch neutrale Neutron. Fast zweitausendmal leichter war das elektrisch negative Elektron. Protonen und Neutronen haben die Fähigkeit, sich bei naher Berührung mit unwiderstehlicher Gewalt anzuziehen und wie zwei kleine Tropfen Quecksilber zu einer winzigen schweren Kugel zu verschmelzen. Die elektrische Abstoßungskraft zwischen den Protonen wird dabei durch diese «Kernkräfte» völlig überspielt. Die einzelnen Atomarten, wie etwa Wasserstoff, Sauerstoff, Eisen und Uran, unterscheiden sich nur dadurch, daß sie verschiedene Atomkerne — nämlich aus verschieden vielen Protonen und Neutronen zusammengesetzt — besitzen. Die positive elektrische Ladung des Kerns wird dann ausgeglichen durch einen entsprechend großen Schwärm von Elektronen, welche den schwereren Atomkern umkreisen.

Praktisch alle der etwa 300 bekannten Atomkerne sind stabile Strukturen. Die schwereren von ihnen allerdings gleichen einer dichtgepackten Ansammlung von 200 oder mehr Murmeln im Innern eines stark gespannten Gummiballons. Manche dieser Ballons sind so zum Platzen gespannt, daß gelegentlich eines der im Innern zusammengequetschten Teilchen entweicht und abgeschossen wird.

 

     

Das Prinzip der Kettenreaktion: Jedes gespaltene Atom spaltet mit seinen zwei abgegebenen Neutronen jeweils zwei weitere Atome.

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Die erste Atomart, bei der diese Eigenschaft entdeckt wurde, war Uran. Da diese winzigen Teilchen in Form einer sogenannten Teilchenstrahlung entweichen, nannte man Uran «radioaktiv». Eine größere Zahl von Atomsorten, über 15 an der Zahl, darunter auch das berühmte Radium, wurden dann als radioaktiv erkannt. Leider erst zu spät haben die Wissenschaftler bemerkt, daß diese radioaktiven Substanzen auch in geringster Konzentration sehr gesundheitsschädlich sind, nachdem eine große Zahl von Arbeiterinnen in Uhrenfabriken, welche mit Pinseln radioaktive Leuchtfarben auf Zifferblätter anbrachten, mit schweren Geschwüren am Mund und im Gesicht erkrankten. Sie hatten nämlich immer wieder ihre feinen Pinsel mit den Lippen angespitzt.

Seit jener Zeit schützten sich die Wissenschaftler durch umfangreiche Vorsichtsmaßnahmen vor diesen radioaktiven Elementen. Die radioaktiven Elemente — die wichtigsten von ihnen Uran, Radium und Thorium — sind in der Erdkruste so selten, daß eine natürliche Strahlungsgefahr auf unserem Planeten überhaupt nicht existiert. Seit der Beherrschung der Atomenergie — oder besser gesagt Kernenergie — haben sich durch den Menschen diese Bedingungen völlig geändert. Gewaltige Energien können durch die sogenannte Kernspaltung befreit werden, wie das in jedem Atomreaktor mit gesteuerter Langsamkeit und in jeder Atombombe mit gewollter Plötzlichkeit passiert. 

Um bei unserem Beispiel der in einem Gummiballon zusammengequetschten Murmeln zu bleiben, kann man eine Kernspaltung recht einfach beschreiben. Der Gummiballon eines Uranatoms wird mit einer weiteren Murmel angeschossen, der die Gummihülle zum Platzen bringt. Die Gummihülle hat jedoch die Eigenschaft, daß sie sich um die zwei Hälften nach der Spaltung wieder relativ dicht schließt. Lediglich ein bis drei Murmeln entweichen bei diesem heftigen Vorgang. Diese können dann allerdings weitere Murmelpakete in ihren Gummiblasen — das heißt weitere Atomkerne — zum Platzen bringen, so daß bei Ablauf einer solchen sogenannten Kettenreaktion sehr viel Energie frei wird. Übrig bleiben die Bruchstücke, das heißt kleinere Ansammlungen von Murmeln, die von Gummihäuten, die sich notdürftig wieder geschlossen haben, zusammengehalten werden. Diese sind dann freilich nicht so stabil, so daß von diesen Bruchstücken anschließend noch eine, zwei, drei oder vier Murmeln abgeschossen werden. Das bedeutet, daß die Bruchstücke radioaktiv sind. Außerdem dringen die bei den Spaltungsprozessen frei werdenden Murmeln ihrerseits in jede andere Gummiblase ein, auf die sie treffen. Diese machen sie dann auch unstabil — mit dem Erfolg, daß weitere Murmeln ausgestoßen werden.

Was wir mit diesem Beispiel beschrieben haben, ist lediglich die Tatsache, daß eine Kettenreaktion der Atomspaltung eine große Zahl von Atomkernen zurückläßt, welche radioaktiv sind. Diese sind dann ebenso gefährlich wie das Radium, das den Uhrenarbeiterinnen vor fast 70 Jahren jene schrecklichen Geschwüre im Gesicht beigebracht hat. Gegenüber dieser natürlichen Radiumgefahr haben die Beiprodukte von Kernprozessen, wie sie in jedem Atomreaktor zur Energiegewinnung ablaufen, noch zwei weitere große Nachteile:

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1. Selbst normalerweise harmlose chemische Elemente — wie Phosphor, Strontium, Jod oder Cäsium — entstehen bei diesen Kernspaltungs­prozessen als radioaktive gefährliche Abarten. Man nennt sie künstliche Radioisotope.

2. Die Radioaktivität und damit die gesundheitsgefährdende Eigenschaft dieser künstlich radioaktiv gemachten Stoffe übertrifft die Gefährlichkeit der natürlichen radioaktiven Elemente um das Hundert-, Zehntausend-, ja sogar Millionenfache. Das heißt also, daß winzige Abfallspuren unserer Atomkerntechnik gesundheitsgefährdender sind als sämtliche Radium- und Thoriummengen, welche die Wissenschaft zuvor mühsam angesammelt hatte. Diese radioaktiven Abfallprodukte nun gilt es zu beseitigen. Was aber heißt «beseitigen», wenn es sich um diese hinterlistigen strahlenden Elemente dreht? Wenn ich sie in eine Müllgrube schütte oder ins Meer werfe, so breiten sie sich nur aus, verseuchen das Grundwasser, das Meer und die Luft und werden für Pflanzen, Tier und Mensch zu einer ernsthaften Gefahr. Da diese Strahlen nicht imstande sind, dicke Metallwände oder Zementblöcke zu durchsetzen, hat man sie in solche schweren Behälter eingeschlossen, in verlassenen Bergwerken abgestellt oder in der Tiefe des Meeres versenkt. Leider hat die Radioaktivität dieser Stoffe eine gefährliche Lebensdauer bis zu mehreren tausend Jahren. Um also diese teuflischen Abfallprodukte für das Leben auf unserem blauen Planeten unschädlich zu machen, müßte man für die Dichtigkeit der Behälter für mehrere tausend Jahre garantieren können. Genau das ist es, was nicht sicher ist. Wer sagt uns, daß solche Behälter mit diesen tödlichen Substanzen nicht vielleicht einmal im Innern eines Bergwerkes durch ein Erdbeben verschüttet und zerdrückt werden? Es würden dann die frei werdenden radioaktiven Gifte vom Grundwasser aufgenommen und in den Wasserkreislauf des Planeten einbezogen werden. Dasselbe könnte durch unterseeische Beben mit den in der Tiefsee versenkten Behältern passieren, wenn diese dem Salzwasser des Ozeans überhaupt für mehrere tausend Jahre standhalten können.

 

All diese Probleme waren vor 20 Jahren noch gar nicht so schlimm; inzwischen jedoch ist durch den steilen Anstieg der Weltbevölkerung der Energiebedarf der Menschheit gewaltig gewachsen und wird auch weiterhin noch immer steiler hochschießen. Dabei muß man vor allem bedenken, daß Dreiviertel der Menschheit noch heute arm ist und daß diese Menschen in Zukunft auch ihren Anteil an Energie verlangen werden. Wenn man sich diese Dinge vor Augen hält, so sieht man, daß eine radioaktive Verseuchung unseres Planeten schon in wenigen Jahrzehnten eine bedrohliche Möglichkeit ist.

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Die Zerfallskurve radioaktiver Elemente: In jeweils gleichen Zeitabschnitten (waagerechte Skala für verschiedene Elemente getrennt aufgetragen), der Halbwertszeit, zerfällt die Hälfte der ursprünglich vorhandenen Menge.

 

Wir müssen uns darüber klarwerden, wieso diese radioaktiven Abfallprodukte noch viele Jahrzehnte, Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende lang gefährlich sein können. Das hängt damit zusammen, daß eine radioaktive Substanz — entweder natürlich, wie etwa Uran, Thorium oder Radium, oder auch künstlich erzeugt — eine bestimmte Zeit lang zu strahlen imstande ist. Diese Strahlung nimmt zu Beginn sehr schnell und später dann immer langsamer ab. Dieses Gesetz der Abnahme der Strahlung kann man am besten durch die sogenannte Halbwertszeit einer radioaktiven Substanz kennzeichnen. Nach einer bestimmten Anzahl von Stunden oder Jahrtausenden klingt die Strahlungsenergie auf die Hälfte ab. Um den gleichen Zeitraum später ist nur noch ein Viertel vorhanden, dann ein Achtel und so weiter. Man könnte sagen, daß die verschiedenen radioaktiven Substanzen verschieden schnell abbrennen, und dadurch können wir auch ihre Gefährlichkeit abschätzen. So hat zum Beispiel das in der Kerntechnik entstehende radioaktive Jod eine Halbwertszeit von zwei Wochen. Nach zehnmal zwei Wochen, das heißt nach einem halben Jahr, ist die Strahlungskraft des radioaktiven Jods auf weniger als ein Tausendstel abgesunken. Dann kann man es vergessen. Ein anderes wichtiges Abfallprodukt der Kerntechnik ist Strontium mit einer Halbwertszeit von 28 Jahren; das heißt also, daß fast ein Jahrhundert später dieses hinterlistige radioaktive Gift noch fast ein Achtel seiner ursprünglichen Strahlungskraft besitzt. 

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Dabei ist freilich zu bedenken, daß das radioaktive Jod sein Feuer in kurzer Zeit versprüht und zu Beginn sehr viel heftiger wirkt. Es ist vergleichbar mit dem Abflammen einer Streichholzschachtel, wobei die Zündköpfe versehentlich alle praktisch zur gleichen Zeit hochgehen. Strontium ist eher wie ein Stück Holzkohle, das zu Beginn nicht so hochschießt wie die Streichholzschachtel, aber auch nach Stunden noch so heiß ist, daß man es nicht anfassen kann.

Auch muß man bei der biologischen Gefährlichkeit dieser Abfallstoffe danach fragen, ob diese Substanzen zum Organismus der Lebewesen eine Affinität besitzen. Bei Jod und Strontium ist das der Fall, da Jod sich in der Schilddrüse ansammelt und Strontium in den Knochen. Wegen der kurzen Halbwertszeit von Jod allerdings klingt eine Ladung in der Schilddrüse nach relativ kurzer Zeit wieder ab, es sei denn, daß durch laufende weitere Verschmutzung immer wieder neues radioaktives Jod aufgenommen wird. Strontium dagegen, das sich bei einem Kind einmal in seinen Knochen eingelagert hat, strahlt immer noch — wenn auch sehr viel milder —, selbst wenn dieses Kind schon Vater oder Großvater geworden sein wird.

Es ist außerordentlich schwer abzuschätzen, welche gesundheitlichen Schäden durch die bisherige Verschmutzung der Umwelt durch radioaktive Substanzen bereits verursacht worden sind. Die beiden wichtigsten Folgen radioaktiver Vergiftung sind die Erzeugung von Krebs, insbesondere Blutkrebs, und die Verursachung von Mißbildungen bei Neugeborenen.

Sich hierüber zahlenmäßige Angaben zu verschaffen, ist außerordentlich schwierig, wenn nicht sogar unmöglich. Es dreht sich dabei eigentlich darum, jenen berühmten Tropfen festzustellen und dafür verantwortlich zu machen, durch den das Faß zum Überlaufen gebracht wurde. Ein bestimmter Prozentsatz der Menschen stirbt an Krebs, und auf je 1000 Geburten entfällt eine bestimmte Anzahl von Mißbildungen. Aus Tierversuchen ist bekannt, daß radioaktive Strahlungen auch in sehr geringen Dosen Krebs und Mißbildungen verursachen können. Wir kennen die zusätzliche Strahlungsbelastung, welche der Menschheit durch Atomtests und durch den Betrieb von Energiereaktoren in der ganzen Welt während der letzten 30 Jahre zugemutet worden ist. Es sind dies, medizinisch gesehen, möglicherweise immer noch Grenzwerte, so daß die Urteile von Fachleuten sehr stark auseinandergehen. Es gibt Wissenschaftler, die davon überzeugt sind, daß für die Weltbevölkerung als Ganze noch überhaupt kein nachweisbarer biologischer Schaden entstanden ist. Andere machen geltend, daß in der gesamten Weltbevölkerung jedes Jahr zwischen 2500 und 13.000 Mißgeburten und mindestens ebenso viele zusätzliche Krebstote auf das Konto der durch den Menschen verursachten Strahlengefahr kommen. 

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Die Optimistenschule macht mit Recht geltend, daß die Höhenstrahlung ja mit steigender Höhe über dem Meeresspiegel sehr stark zunimmt, so daß in einer Höhe von etwa 2000 Meter die Strahlungsdosis für einen Menschen gegenüber der Seehöhe sich verzehnfacht. Diese Tatsache hätte hoch kaum einen Menschen daran gehindert, von New York nach Denver oder von Hamburg nach Davos zu ziehen. Die Pessimisten sagen ebenso sehr mit Recht, daß es freilich etwas völlig anderes sei, wenn die gesamte Menschheit in das Hochgebirge umzöge.

Es sieht im Moment nicht so aus, als ob man der einen oder der anderen Schule, das heißt den Optimisten oder den Pessimisten beipflichten soll oder auch nur kann. Eines jedoch steht fest: Wir haben uns bis an die Grenze, ja vielleicht sogar schon über die Grenze einer biologischen Strahlungsgefahr vormanövriert, und das bereits heute, knapp 30 Jahre nach dem Beginn des Atomzeitalters. Wie dem auch sei, die Beseitigung der radioaktiven Abfallprodukte dieses Atomzeitalters macht uns heute schon viele Sorgen und wird uns auch in Zukunft noch sehr schwer auf der Seele liegen.

 

Bis zum Jahr 1970 betrugen die Abfälle in den Vereinigten Staaten fast 300.000 Tonnen hochradioaktiver Substanzen, in Wasser gelöst, die mit Sorgen gelagert werden. Jedes Kilogramm dieser unangenehmen Abfälle hat eine Strahlungskraft, welche die Strahlung der gesamten Radiummenge vor dem Zweiten Weltkrieg um etwa das Dreihundertfache übertrifft. Die Werte für die ganze Welt kann man abschätzen, wenn man die Werte der Vereinigten Staaten etwa verdoppelt. Im Jahr 2000 wird sich die Energieerzeugung für den Bedarf der Menschheit etwa verhundertfachen müssen, wenn das Wachstum der Menschheit und vor allem der Industrialisierung selbst so weitergehen soll wie bisher. Ein Großteil dieses Bedarfs muß von der Atomenergie kommen, so daß bis zum Ende unseres Jahrhunderts mit radioaktiven Abfällen gerechnet werden muß, deren gesamte Strahlungskraft einige Milliarden mal größer sein wird als die der Radiummenge im Besitz der Menschheit noch vor 50 Jahren. Diese Strahlungskraft würde ausreichen, bei entsprechender Applikation zehn, ja sogar vielleicht hundert Menschheiten von der jetzigen Größe tödlich zu vergiften. 

Bis dahin werden demnach auf der Erde etwa tausend Tanks mit radioaktiven Abfallstoffen lagern. Jeder von ihnen wird etwa fünf Tonnen dieses Materials enthalten, dessen Radioaktivität so gewaltig ist, daß der Inhalt dauernd kocht. Diese Tanks müssen dann ständig gekühlt werden, und ein Versagen in der Kühlungseinrichtung könnte fatale Auswirkungen haben. Wenn es sich um Tausendstel dieser Mengen handelte, so könnte man daran denken, diese teuflischen Gifte von der Erde wegzuschaffen und mit den Mitteln der Weltraumtechnik in die Sonne zu werfen. Dort wäre nämlich der einzige Platz in unserem ganzen Planetensystem, wo man vor ihnen auf die Dauer wirklich sicher sein könnte. So aber steht uns modernen Abkömmlingen des Prometheus ein Problem ins Haus, das uns nach heute überschaubaren technischen Möglichkeiten kaum lösbar erscheint. Selbst wenn man dieses Teufelszeug in die tiefsten Vulkane der Erde werfen würde, so würde es wieder ausgespien werden und Land, Meer und Luft verseuchen.

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Die Energieproduktion von Deutschland, Frankreich und Großbritannien (oben) und im Vergleich die der Welt, der USA und der UdSSR zwischen den Jahren 1870 und 1940 (unten).

 

Bei diesen Prognosen ist sogar noch vorausgesetzt, daß alle radioaktiven Substanzen fein säuberlich zusammengehalten werden können und daß nichts von ihnen entrinnt. Dafür gibt es leider überhaupt keine Garantie. Zwei radioaktive Stoffe nämlich sind sehr flüchtige, beziehungsweise sehr schwer zu bindende Gase: die Wasserstoffabart Tritium und radioaktives Krypton, ein Edelgas. Glücklicherweise haben diese beiden Stoffe Halbwertszeiten von nur zwölf beziehungsweise neun Jahren, so daß ihre vielleicht baldige Beherrschung sie daran hindert, ihre Gefährlichkeit im Laufe der nächsten Jahrzehnte zu addieren.

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Die projizierte Förderung von Kohle während der nächsten Jahrhunderte. 

Die untere Kurve entspricht einer pessimistischen, die obere Kurve einer optimistischen Schätzung der irdischen Kohlevorräte. 

Die steile Kurve links zeigt die Steigerung der Förderungsmenge, die im Hinblick auf die gegenwärtige Bevölkerungszunahme notwendig wäre.

Die zukünftige Energiefreiheit des Menschen und seine weiterhin riesig anwachsende Industrie müssen wohl so oder so mit sehr unangenehmen Problemen erkauft werden. Eine Lösung erscheint zwar nicht völlig ausgeschlossen, dennoch aber sehr kostspielig und mit vielen Kopfschmerzen und vielleicht sogar echten Gefahren verbunden. Wir haben ja noch gar nicht davon gesprochen, daß große Kernkraftwerke durch einen Unglücksfall oder ein technisches Versagen ihr heißes Gift über weite Strecken verstreuen könnten. Das technische Können unserer Kernkraftingenieure und die Wachsamkeit der Strahlen­schutz­behörden bei den Kernkraftwerken jedoch haben die Sicherheitsbedingungen so perfektioniert, daß jeder Angestellte eines solchen Kraftwerkes am Tage nur zweimal um sein Leben bangen muß: nämlich dann, wenn er mit seinem Auto zum Dienst fährt und wenn er abends wieder nach Hause zurückkehrt. Die übrige Zeit ist er genauso sicher, als wäre er zu Hause.

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Freilich könnte ein starkes Erdbeben ein großes Kernkraftwerk schwer zerstören. Oder auch Anarchisten könnten mit den immer mehr in Mode kommenden Bombendrohungen diese geballten, heimtückischen Giftstoffe als ein besonders wirkungsvolles Ziel aussuchen und damit ein ganzes Land terrorisieren und erpressen. Wenn man die sehr wirkungsvollen Sicherheitsvorschriften in der friedlichen Anwendung der Kernenergie betrachtet, so liegt in einer Bedrohung durch Anarchisten in der Tat die zur Zeit größte Gefahr eines Kernkraftwerkes für seine Umgebung.

Schon vor 20 Jahren, als besorgte Energiewirtschaftler in die Zukunft blickten, glaubte man mit der Zähmung der Atomenergie die Zauberformel für alle zukünftigen Energiesorgen der Menschheit gefunden zu haben. Wenn man nun freilich an die ganzen radioaktiven Abfälle denkt, so kehrt man immer wieder zu den klassischen Energiequellen zurück und möchte es vielleicht vorziehen, den Strom wieder durch die Verbrennung von Kohle, Erdöl und Erdgas zu beschaffen. Diese Verfahren jedoch haben auch ihre ganz entscheidenden Nachteile. Vor allem muß man bei jeder Zukunftsplanung daran denken, daß diese fossilen Naturschätze nicht mehr allzu lange vorhalten werden. Dabei sollen wir uns überhaupt nicht täuschen lassen, wenn man an verschiedenen Orten auf unverkäuflichen Kohlenhalden sitzt. Das liegt nur daran, daß andere Techniken, die sich des Erdöls oder des Erdgases bedienen, nun einmal gerade in dieser oder jener Periode wirtschaftlicher sind. Als Ganzes gesehen, steht es um die Vorräte an fossilen Brennstoffen auf der ganzen Erde recht schlecht. 

Um zu zeigen, daß wir in dieser Hinsicht einer echten Katastrophe entgegenlaufen, genügt ein erschütterndes Beispiel. Die erste erfolgreiche und gezielte Bohrung nach Erdöl erfolgte im amerikanischen Staat Pennsylvania im Jahr 1859. Die Zahl der Öltürme auf allen Kontinenten und im Meer in Küstennähe beläuft sich heute auf die Millionen. Es wäre müßig, die Tonnen an Öl, die seit jenem Tag vor über hundert Jahren gefördert worden sind, hinzuschreiben. Eine Zahlenangabe hierzu jedoch eignet sich als Rätselaufgabe für jede Cocktailparty: Man bezeichnet die gesamte seit 1859 bis zum heutigen Tag geförderte Rohölmenge mit der Großzahl X. Sodann stellt man die Frage, in welchem Jahr die Hälfte der geförderten und verbrauchten X erreicht worden sei. Die richtige Antwort lautet: 1962, das heißt also, daß wir in den ersten 103 Jahren, einschließlich zweier Weltkriege, ebensoviel Öl verbraucht haben wie in den letzten 11 Jahren. Das ist nahezu unglaublich. Immer wieder haben neue Ölfunde Pessimisten Lügen gestraft. Heute jedoch, im letzten Viertel unseres Jahrhunderts, wird es langsam knapp. So viele neue Lagerstätten von Öl in der Welt kann es eigentlich gar nicht mehr geben, als daß wir mit diesem Tempo auch nur noch 30 Jahre weiter so aasen könnten. Riesige Pipelines durch Asien, Kanada und Alaska werden uns vermutlich nur noch für die nächsten 25 Jahre von Nutzen sein. 

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Wir haben als Menschheit in den letzten Jahrzehnten eine irrsinnige Energieorgie gefeiert. Die Natur hat ein paar hundert Millionen Jahre gebraucht, um die fossilen Energieschätze Kohle und Öl anzusammeln. In knapp eineinhalb Jahrhunderten haben wir sie verfeuert. Wir benehmen uns wie ein völlig verantwortungsloser Erbe, der das Familienvermögen in einer einzigen wilden Nacht durchbringt.

Vor wenigen Wochen war ich wieder einmal mit meinem Bruder zusammen, der Spitzenmanager einer der größten amerikanischen Flugmotorenfabriken ist. Als wir uns über die Rohölsituation unterhielten, sagte er mir etwas sehr Erschreckendes: «Ich weiß nicht, ob wir in 30 Jahren überhaupt noch fliegen können, da wir dann vermutlich keinen Sprit mehr haben werden.»

 

    

Radioaktiver Abfall im Stollen. 

Stück für Stück werden in dem Lagerstollen übereinander mehrere hundert Fässer radioaktiven Abfalls gelagert.

 

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Selbst wenn es unerschöpfliche Quellen an Kohle, Erdöl und Erdgas gäbe, so würde die zukünftige Energieerzeugung damit die Umwelt schwer belasten. Wir sind überhaupt noch nicht darauf eingerichtet, den Abfall selbst unserer heutigen Industrie zu verkraften. Die bisherigen Maßnahmen des sogenannten Umweltschutzes zielen eigentlich nur darauf ab, frühere Schäden wiedergutzumachen. Auf den unvermeidlich steilen Anstieg unserer Industrieaktivität und Energieproduktion sind wir abfallmäßig überhaupt nicht eingerichtet. Es ist gerade so, als ob eine Hausfrau einen massiven Rohrbruch mit dem Scheuerlappen abfangen wollte, während die Feuerwehr, welche den Keller auspumpen müßte, noch nicht einmal alarmiert ist; ja, es ist sogar so, daß es diese Feuerwehr noch nicht einmal gibt und sie zunächst erst organisiert und ausgerüstet werden muß.

Als Ende der dreißiger Jahre die Spaltung des Atomkerns gelang, sah es lange Zeit so aus, als hätten wir den Schlüssel zu einer unerschöpflichen Energie­quelle in die Hand bekommen. Es ist richtig, daß die nukleare Energie uns den Zugang zu völlig neuen Kraftreserven in der Natur beschert hat. Es gibt aber keine Möglichkeit, Energie ohne unerwünschte Abfälle zu erzeugen. Es wäre gar nicht so schlecht, wenn diese Abfälle lediglich Verluste darstellten, die wir eben bei der Energieerzeugung in Kauf nehmen müßten und welche die Wirtschaftlichkeit unserer Prozesse lediglich beeinträchtigten. Das könnte man noch verkraften.

Leider aber ist es so, daß bei jeder Energieerzeugung noch das Problem auftritt, die Abfälle loszuwerden, ohne daß sie unserer Umwelt schaden. Das ist gar nicht so leicht, denn bei der Verbrennung der fossilen Energievorräte — Kohle, Erdöl und Erdgas — entstehen giftige Verbrennungsprodukte, die als gasförmige Asche unser Luftmeer verseuchen. Die Erzeugung von Atomenergie führt auch zu einer «Asche»; diese ist aber, gemessen an den übermäßig großen Energiemengen, die wir gewinnen, mit ihrer Giftigkeit auch besonders heimtückisch.

Alle diese Überlegungen freilich werden uns nicht daran hindern, daß wir uns so oder so mit unserer Energieversorgung an das Atom wenden müssen. Es wäre gut, wenn wir dabei eher früher als später einsehen, daß wir einen erheblichen Prozentsatz der dem Atom abgerungenen Energie unmittelbar wieder dafür einsetzen müssen, die Menschheit, das ganze Leben auf unserer Erde und unseren ganzen blauen Planeten vor den tückischen radioaktiven Abfällen zu schützen. Wir können es uns nicht leisten, daß das Atom auch in ferner Zukunft nicht unser Freund bleibt, sondern vielleicht zu unserem Feinde würde.

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Heinz Haber  1973  Stirbt unser blauer Planet?  Die Naturgeschichte unserer übervölkerten Erde  Mit 52 Abbildungen