7. Briefe
von Harich an Duve über die
Kritik
der Bedürfnisse und den
Kommunismus Babeufs
26.4.75 29.4.75 3.5.75 4.5.75 11.5.75 17.5.75 leicht gekürzt von detopia-2013
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Berlin, den 26. April 1975
Das eine - rein egoistische - Motiv, das mir diese Lösung als beste erscheinen ließe, ergibt sich daraus, daß ich, mit angeknackstem Herzen im sozialistischen Lager behaust, hier sehr ungern neuerlich in Konflikte geriete mit meiner - ja nach wie vor wachstumsbejahenden - Obrigkeit.
Daß ich deren politische Omnipotenz, wie überhaupt die autoritären Strukturen unseres Systems, für überlebensnotwendig erkläre, kann ihr zwar nur recht sein. Es unterscheidet mich - für sie wohltuend - von Opponenten à la Sacharow oder Havemann, auch von den Nostalgikern des sogenannten Prager Frühlings und am meisten, was die aktuelle Situation in Portugal betrifft, von — Ihnen, der Sie auf Soares bauen, während ich ihm tief mißtraue.
Mit Pluralismus, mit dem Ruf nach mehr Freiheit u. dgl. habe ich offensichtlich nichts im Sinn; ganz im Gegenteil.
Gleichwohl schließt der Vorrang, den ich den ökologischen Erwägungen beimesse, halt die Empfehlung ein, von den bei uns bestehenden Macht- und Wirtschaftsstrukturen, so sehr ich sie bejahe, einen anderen Gebrauch zu machen, einen, der, zumindest in den bereits industrialisierten Staaten Osteuropas, auf drastische Wachstumseinschränkung hinausliefe.
Und damit dürfte ich hier, vorläufig jedenfalls, auf wenig Wohlwollen stoßen, was für mich noch strapaziöser werden könnte als das Gerangel mit Ihnen über Reform oder Revolution, über Parlamentarismus oder proletarische Diktatur. Wieso mich dem also aussetzen? Im philologischen Elfenbeinturm, worin ich, dank Feuerbach und Jean Paul, voll resozialisiert bin, hätte ich's bequemer, und bekömmlicher wäre er mir auch.
Das zweite Motiv, mich über die politisch-sozialen Aspekte der ökologischen Krise auszuschweigen, entspränge meinem Sinn für Qualität, der mich die Veröffentlichungsreife der vorliegenden sechs Interviews anzweifeln läßt.
Seit wir, Sie und ich, über Umwelt, Wachstum usw. zu diskutieren begannen, ist viel neue einschlägige Literatur erschienen. Soweit ich die inzwischen lesen konnte, hat sie Denkprozesse in mir ausgelöst, die mir teils ganz neue Gesichtspunkte aufgehen ließen, teils mich zu Polemiken gegen Auffassungen animieren, die zwischen uns beiden überhaupt noch nicht zur Sprache gekommen sind.
Gäbe ich den daraus resultierenden produktiven Impulsen nach, was mein Gesundheitszustand eben nicht zuläßt, dann bliebe dem Manuskript eine durchgreifende Überarbeitung nicht erspart. Besonders müßte ich — um nur das Wichtigste zu nennen — darein die Anregungen einarbeiten, die ich dem hervorragenden Werk von Jost Herbig, «Das Ende der bürgerlichen Vernunft», München 1974, zu verdanken habe.
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Unentbehrlich wäre desgleichen eine kritisch rezipierende, im Politischen überwiegend polemische Auseinandersetzung mit Joachim Steffens «Struktureller Revolution», Reinbek 1974 (zu der mir übrigens inzwischen die Genossen vom «Projekt Klassenanalyse», Westberlin, eine höchst beachtliche Stellungnahme in Manuskriptform zugehen ließen).
Denke ich gar daran, wie selten und wie oberflächlich ich mich zu Ivan Illich äußere, dann komme ich mir mit meinen Interview-Antworten mitunter wie hinter dem Mond vor.
Ferner soll, wie ich höre, das Erscheinen eines neuen Buchs von Erhard Eppler, «Ende oder Wende», bevorstehen. Ein Skandal wäre es, wenn ich mich nicht auch darauf noch bezöge. Es wird mir wohl aber nichts anderes übrigbleiben, als mich aus zweiter Hand, via Rezensionen (die für den «Spiegel» soll Gustav Heinemann vorbereiten), mit der Grundintention vertraut zu machen.
Und von zahlreichen anderen, kaum weniger belangvollen Publikationen kenne ich allenfalls die Titel und oft nicht einmal die. Das Letzte, worüber ich wirklich noch Bescheid weiß, ist die Studie von Mesarovic und Pestel, und das genügt heute bei weitem nicht mehr; wie ich denn überhaupt von Anbeginn zu einseitig auf Taylors «Doomsdaybook», auf den «Club of Rome», die Diskussion der Sowjetwissenschaftler über Mensch und Umwelt und die Verlautbarungen Sicco Mansholts fixiert gewesen bin.
Trotz alledem habe ich mich, nach Abwägung des Für und Wider, dazu durchgerungen, unser Vorhaben nicht ad acta zu legen.
Was die Befürchtungen angeht, die das Wohlergehen der eigenen Person betreffen, so erweisen sie sich als schmachvoll bis zur Lächerlichkeit, sobald man bedenkt, daß in unseren Interviews immerhin das Überleben der Menschheit zur Debatte steht. Wie könnte ein ökologisch problembewußter Marxist es da übers Herz bringen, sich vor denkbaren Unannehmlichkeiten zu drücken!
Ich betone: vor denkbaren; denn als unausbleiblich betrachte ich sie, nach Lage der Dinge bei uns, nicht. Wahrscheinlich verleumde ich die DDR sogar bereits, indem ich Unannehmlichkeiten nicht a priori für völlig ausgeschlossen halte.
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Erst recht darf ich den Vorwurf unzulänglicher Informiertheit, der in Ost und West mit Sicherheit zu erwarten ist, nicht scheuen.
In unserer extrem arbeitsteiligen, mit Fachliteratur aller Art überschwemmten Zivilisation, die der interdisziplinären Forschung einzelner ungeheure Widerstände entgegensetzt, kann, vorläufig, der von Jungk postulierte «Generalist» sowieso nur Leitbild sein, nicht mehr.
Wer das Leitbild bejaht, wer danach strebt, ihm im eigenen Denken ein paar Schritte näherzukommen, muß sich darauf gefaßt machen, als Dilettant gescholten zu werden. Ja, der Mut zum Dilettantismus dürfte die erste Bedingung dafür sein, die uns tödlich bedrohende Übermacht der Spezialistenborniertheit, wenn nicht auf Anhieb zu brechen, so doch auszuhöhlen, zu untergraben.
Hauptsache, ein neuer Vorschlag, ob mehr oder weniger abgesichert, ob in vielem einzelnen anfechtbar, regt Überlegungen an, die, selbst wenn sie seine Begründung zu 90 Prozent als archaisch auf der Strecke lassen sollten, im Endeffekt dem Überleben des Homo sapiens zustatten kommen.
Und eben ein solcher Vorschlag scheint mir der zu sein, die überlebenswichtigen Empfehlungen des Club of Rome durch einen Weltkommunismus rationierter Verteilung, ohne Überfluß, nach Babeufschem Modell, zu verwirklichen.
Natürlich wäre es mir lieber, wenn Marxisten, die über Macht und Einfluß verfügen, und Ökologen, deren Wissen fundierter als meines ist, gemeinsam Erwägungen darüber anstellten, ob und wie sich das machen ließe.
Aber sehen Sie, Herr Duve, im Ozean der mit Teilaspekten befaßten, nur zu Halbheiten vordringenden Gremien irgendwo Anzeichen für ein derart sich zusammenraufendes Bündnis von radikaler Politik und radikalem Schutz der Natur, von Marxismus-Leninismus und Franz von Assisi, geschweige Babeuf und Forrester?
Ich sehe wenig dergleichen, und da es Ansätze dazu offenbar kaum gibt, bleiben machtlose Dilettanten so berechtigt wie verpflichtet, die eine wie die andere Instanz so lange zu provozieren, bis beide sich dazu entschließen, den rationellen Kern der beschriebenen Utopie als solchen anzuerkennen und daraus praktische Konsequenzen zu ziehen.
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Wegen des unrationellen, unausgegorenen Drumherum mag wissenschaftliches Renommee dann getrost zum Teufel gehen, egal, ob es dem Quasi-«Generalisten» relativ wichtiger oder unwichtiger erscheint als Gesundheit und gesicherte Existenz.
Ein Westberliner Freund erklärte mir, nach Lektüre der Interviews, diese stünden tief unter dem Niveau meines Jean Paul-Buchs und würden meinem guten Ruf als Philosophie- und Literarhistoriker nur schaden.
Ich pfeife auf diesen guten Ruf und erwerbe mir damit das Recht, zu sagen, was, nach meiner Meinung, gesagt werden muß.
In diesem Sinne: Geben Sie das Ding, so unvollkommen, wie es ist, in Satz!
Berlin, den 29. April 1975
11 Punkte
Im Mittelpunkt des siebenten und letzten Interviews sollte die neue Theorie der Bedürfnisse stehen, ein Desiderat des Marxismus, das auszufüllen ihm heute, nach meiner Überzeugung, am meisten not tut. Ich kann von dem, was mir in der Beziehung vorschwebt, nur andeutungsweise, skizzenhaft ein paar Grundgedanken mitteilen, die ich hiermit jedem beliebigen anderen Forscher der Linken zu näherer, systematischer Ausführung «schenke». Zum Teil handelt es sich sogar bloß um Fragen, die ich aufwerfe, darunter solche, die mir von Ihnen gestellt worden sind, ohne daß es uns in unseren bisherigen Gesprächen schon gelungen wäre, sie hinreichend, gar ohne Dissens, zu beantworten. Die numerierte Aufzählung der folgenden Gedankensplitter bedeutet, nebenbei bemerkt, nicht, daß ich bei der fälligen Bewältigung dieses Fragenkomplexes irgend jemandem die Einhaltung einer bestimmten Reihenfolge des methodischen Vorgehens zu oktroyieren gedächte.
1. Zu unterscheiden ist zwischen den Begriffen «Bedürfnis» und «Bedarf». Jede Reparaturwerkstatt, beispielsweise, hat einen bestimmten Bedarf an Ersatzteilen, jeder Industriezweig einen an Rohstoffen, aber auch jeder Haushalt einen an Möbeln, Küchengeräten usw. «Bedarf» scheint somit eine Kategorie, unentbehrlich für die Beschreibung und Analyse von wirtschaftlichen Institutionen, zu sein, egal, ob die im übrigen der Produktionssphäre oder der des Verkehrs, der Verteilung, der Konsumtion usw. zuzuordnen sind. Bedürfnis dagegen ist eine Antriebskraft menschlichen Verhaltens, wahrscheinlich der Oberbegriff für alle derartigen Antriebskräfte. Aufgabe der marxistischen Wissenschaft: herauszufinden, wie Bedarf und Bedürfnis miteinander vermittelt sind.
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2. Für die Definition des Bedarfs mag allein die Gesellschaftswissenschaft, namentlich die Politökonomie zuständig sein. An das Bedürfnis reichen deren Begriffe nicht heran. Sobald wir uns dem Bedürfnis zuwenden, begeben wir uns auf ein ganz anderes Terrain: auf das der Anthropologie, der Psychologie, der Instinkt- und Verhaltensforschung; als Marxisten in ein bestimmtes, noch wenig erkundetes Grenzgebiet von dialektischem und historischem Materialismus. Die Frage, ob der Marxismus eine eigene philosophische Anthropologie impliziere, ist bei uns, aus dem Motiv, die Bestrebungen bürgerlicher Ideologen wie Scheler, Pießner. Gehlen abzuwehren, meist rundheraus verneint worden, wobei man die (mehr oder weniger berechtigte) Verneinung von Standpunkten irrigerweise mit der (vermeintlichen) Notwendigkeit, ganze Disziplinen zu verwerfen, durcheinandergebracht hat. Die Realität «Bedürfnis» genügt, um zu erweisen, wie falsch das war.
3. Das darf aber auch wieder nicht dahin mißverstanden werden, daß in der Theorie der Bedürfnisse Kategorien und Erwägungen ökonomischen Inhalts überhaupt nichts zu suchen hätten. Auf jeder, auch der höchsten Abstraktionsstufe muß vielmehr der Marxismus am Primat des Gesellschaftlichen gegenüber dem Personalen, in Hegelscher Terminologie gesprochen: des «objektiven» gegenüber dem «subjektiven Geist», festhalten (übrigens analog zum biologischen Primat der Ökogefüge gegenüber den Eigenschaften der jeweils in sie integrierten Pflanzen, Tiere, Mikroben).
Nur weil Marx, als Dialektiker von Hegel herkommend, von dieser Denkweise nicht abwich, konnte er zu der — für die Lösung unseres Problems bahnbrechenden — Einsicht gelangen, daß die gesellschaftliche Produktion mit den von ihr erzeugten Gebrauchsgütern zugleich die Bedürfnisse schafft, die durch sie befriedigt werden.
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Siehe besonders die Einleitung zum Rohentwurf der «Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie», Berlin 1953, S. 12 ff., namentlich die Sätze: «Hunger ist Hunger, aber Hunger, der sich durch gekochtes, mit Gabeln und Messer gegessenes Fleisch befriedigt, ist ein anderer Hunger als der, der rohes Fleisch mit Hilfe von Hand, Nagel und Zahn verschlingt. Nicht nur der Gegenstand, sondern auch die Weise der Konsumtion wird daher durch die Produktion produziert, nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv. Die Produktion schafft also den Konsumenten. ... Die Produktion liefert dem Bedürfnis nicht nur ein Material, sondern sie liefert dem Material auch ein Bedürfnis.» Von Ersetzung der marxistischen Politökonomie durch philosophische Anthropologie kann demnach keine Rede sein. Aber:
4. Den eben zitierten Ausführungen von Marx arbeitet, sie sinnvoll ergänzend, die philosophische Anthropologie dann in die Hand, wenn sie von der «Variabilität und Plastizität der menschlichen Antriebsstruktur» ausgeht und diese der starren Instinktgebundenheit tierischen Verhaltens entgegensetzt. Und eben eine solche Anthropologie gibt es seit über einem Menschenalter bereits. Wir verdanken sie, ob uns das politisch in den Kram paßt oder nicht, dem erzkonservativen Arnold Gehlen. Ohne Gehlens Befunde hingen die Marxschen Erkenntnisse, die Erzeugung des Bedürfnisses durch die gesellschaftliche Produktion betreffend, nach der biologischen und psychologischen Seite hin in der Luft, wären unerklärlich. Folglich müssen, bei all unserer sonstigen Aversion gegen Gehlen, dessen — kritisch zu rezipierende — Errungenschaften an diesem einen Punkt mit der marxistischen Politökonomie zur Synthese verschmolzen werden; um gar nicht davon zu reden, daß Gehlen gerade hier auch durch sämtliche empirischen Ergebnisse der modernen Ethnologie, besonders durch die Forschungen der amerikanischen Schule von Malinowski, Boas, Benedict, M. Mead, gestützt wird.
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5. Ganz am Rande darf ich Sie noch auf den bemerkenswerten Umstand aufmerksam machen, daß die «Variabilität und Plastizität» unserer Antriebe sich in sämtlichen zweisprachigen Wörterbüchern widerspiegelt. «Bedürfnis» kann im Lateinischen mit «dndigentia», «desiderium» oder «necessitas», im Englischen mit «necessity need» oder «wish», im Französischen mit «necessite», «besoin» oder «desir» übersetzt werden, ebenso wie umgekehrt unsere Sprache die Angehörigen fremder Völker, die sie erlernen, vor die Wahl von «Drang», «Bedürfnis» und «Wunsch» stellt. Und in keinem Fall werden da bloß Synonyma aufgezählt, sondern es werden differente Begriffe vorgestellt, zwischen denen unwägbare Übergänge obwalten. Von einem jungen Mädchen, das Schauspielerin werden möchte, würde ich z.B. vermuten, es werde von dem Wunsch getrieben, öffentlich Beifall einzuheimsen, und würde dies erst dann als legitim anzuerkennen bereit sein, sobald ich sähe, daß dem Wunsch das — für die Schauspielkunst unentbehrliche — Bedürfnis, sich auszudrücken, andere nachzuahmen usw., zugrunde liegt. Grob gesprochen, ist das Bedürfnis elementarer, dem Vitalen näher als der Wunsch, läßt sich aber, da selbst schon plastisch und variabel, nur schwer vom Wunsch abgrenzen, der dann seinerseits ins Grenzenlose auswuchern kann, bis hin zu dem Wunsch, unsterblich zu sein (siehe Feuerbach).
6. Wie aber, wenn nun, den Aussagen des Club of Rome zufolge, die Entwicklung der industriellen Produktion bis zu einem Punkt gediehen ist, wo sie die Naturbasis menschlicher Existenz schlechthin zu vernichten beginnt? Dann heißt das, nach den obigen Prämissen, doch nichts anderes, als daß eben diese Produktion aus der variablen, plastischen Antriebsstruktur des Menschen Bedürfnisse bzw. Wünsche herausgeholt und entfesselt haben muß, denen insofern keine Daseinsberechtigung mehr zukommt, als sie, ebenso wie die Produktion, durch die sie befriedigt werden und die sie immer wieder neu erzeugt, die Zerstörung jener Naturbasis, nämlich der Biosphäre, und damit die des Homo sapiens selbst, heraufbeschwören. Diese Schlußfolgerung muß für jeden Marxisten zwingend sein, der die «Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie» von Marx gelesen hat und überdies die gesicherten Befunde der Ökologie als Bestandteil des dialektischen Materialismus anerkennt.
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7. Daraus folgt: Wir Marxisten stehen heute vor der Aufgabe, unsere bisherige Zielsetzung, im Kommunismus alle Bedürfnisse der Menschen befriedigen zu wollen, einer kritischen Revision zu unterziehen und, jedenfalls in dieser pauschalen Fassung, über Bord zu werfen. Genauer gesagt: Unserem Programm der Bedürfnisbefriedigung müssen wir, mit dem Vorsatz, es in ökologisch verantwortbaren Grenzen zu halten, eine differenzierende kritische Bestandsaufnahme all der Bedürfnisse vorausschicken, die sich im Verlauf des Geschichtsprozesses beim Menschen herausgebildet haben; die uns besonders die Klassengesellschaft, mit dem Luxus- und Prestigekonsum ihrer herrschenden Schichten, und zumal die kapitalistische, mit ihrer Profitjägerei, ihrem Konkurrenzkampf der Kapitale, ihrem Drang zur Erschließung immer neuer Absatzmärkte, hinterlassen hat. Wobei es dann selektiv zu unterscheiden gilt zwischen solchen Bedürfnissen, die beizubehalten, als Kulturerbe zu pflegen, ja gegebenenfalls erst zu erwecken bzw. noch zu steigern sind, und anderen, die den Menschen abzugewöhnen sein werden - soweit möglich, mittels Umerziehung und aufklärender Überzeugung, doch, falls nötig, auch durch rigorose Unterdrückungsmaßnahmen, etwa durch Stillegung ganzer Produktionszweige, begleitet von gesetzlich verfügten Massen-Entziehungskuren. Es ist klar, daß dafür das gesellschaftliche Eigentum an allen Produktionsmitteln, vom proletarischen Staat verwaltet, die unabdingbare Voraussetzung ist. Aber es genügt noch nicht. Der proletarische Staat muß vielmehr, darüber hinaus, über die Machtmittel verfügen, auch den Konsum der Individuen zu kontrollieren, und zwar nach Kriterien, die ihm die Ökologie an die Hand gibt.
8. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang, daß Marx, in der «Kritik des Gothaer Programms», die Parole der alten, utopischen Kommunisten: «Jedem nach seinen Bedürfnissen» zwar übernommen, ihre Verwirklichung aber prinzipiell an Bedingungen geknüpft hat, die, unter stillschweigender Anerkennung der plastisch-variablen menschlichen Antriebsstruktur, die Anerziehung neuer Bedürfnisse und Gewohnheiten einschließen. Erst müsse, sagt Marx da sinngemäß unter anderem, die Arbeit selbst dem Menschen zum ersten Lebensbedürfnis geworden sein. Ich würde dies heute, angesichts des gegebenen Entwicklungsstandes der Produktivkräfte, relativieren, aber nur, soweit es den Vorrang des Arbeitsbedürfnisses betrifft, der mir an die Zeit vor hundert Jahren gebunden erscheint (doch davon später mehr).
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Unbedingt festhalten würde ich dagegen an dem allgemeineren, grundsätzlichen Postulat, das in dieser Marxschen Formulierung steckt: an der Forderung nämlich, daß es für den Kommunismus und durch ihn die menschlichen Bedürfnisse zu formieren gelte. Und hinzufügen würde ich: Umweltgerechtes Verhalten, sparsamer Umgang mit Rohstoffen und Energie, ökologisch verantwortungsbewußter Konsum, Schutz der Natur, moralische Ächtung aller Verschwendung usw. müssen den Menschen zu «ersten Lebensbedürfnissen», d.h. selbstverständlichen Gewohnheiten, geworden sein, ehe an die Verwirklichung der Formel «Jedem nach seinen Bedürfnissen» gedacht werden kann.
9. Eigentlich hatte ich, im Rahmen des siebenten Interviews, vor, mit Ihnen nun einen ganzen Katalog der zu bekämpfenden Bedürfnisse durchzudiskutieren und diese dabei einzuteilen in a) naturfeindliche, b) schlechthin gesellschaftsfeindliche, c) antisozialistische, d) antikommunistische, e) Kombinationen der einen oder anderen dieser Kategorien mitsamt den etwaigen Übergängen zwischen ihnen.
Ich brauchte dafür allein jetzt mindestens 20 Seiten, was mich zu sehr anstrengen würde und meinen Brief auch allzu lang geraten ließe. So stelle ich die Ausarbeitung eines derartigen Katalogs lediglich als Desiderat marxistischer Bedürfniserforschung hin und beschränke mich darauf, nur noch ein Wort zu dem «antikommunistischen Bedürfnis» zu sagen, das in einem der Interviews schon einmal am Rande aufgetaucht ist. Gemeint ist damit folgendes: Der Sozialismus, so, wie Marx ihn in der «Kritik des Gothaer Programms» als untere Stufe der neuen Gesellschaft konzipiert hat und wie er in den 14 heute existierenden sozialistischen Ländern verwirklicht ist, bejaht noch Einkommensunterschiede und Privilegien als notwendiges Zubehör des Leistungsprinzips, das er für die Stimulation des Produktionsprozesses nicht entbehren kann.
Auf der angestrebten höheren Stufe dagegen, im Kommunismus, soll nicht mehr jedem nach seinen Leistungen, sondern jedem nach seinen Bedürfnissen gegeben werden. Unter sozialistischen Bedingungen ist es demnach völlig in Ordnung, daß ein Individuum, das auf Grund seines Talents, seines Fleißes usw. quantitativ und qualitativ besonders viel für die Gesellschaft leistet, z.B. über ein Wochenendhaus auf einem am Ufer eines Sees gelegenen Grundstück verfügt.
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Aber selbst in Finnland, dem Land der tausend Seen, dürfte es unmöglich sein, dieses — durchaus nicht extravagante — Konsumgut ausnahmslos allen Gliedern der Gesellschaft zugute kommen zu lassen. Folglich müßte es selbst dort — und wie sehr erst in anderen, an Seen weniger reichen Ländern — als mit dem Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus unvereinbar angesehen werden, und das Bedürfnis, das auf dieses Konsumgut, diesen Gebrauchswert gerichtet ist, hätte dementsprechend als «antikommunistisch» zu gelten. Das heißt aber, prinzipiell gefaßt: Sobald in einer sozialistischen Gesellschaft ein Produktionsstand erreicht ist, der allen ein menschenwürdiges Leben zu garantieren erlaubt, muß dort der Übergang zur höheren Stufe, zum Kommunismus, unter anderem durch den Abbau solcher Konsumprivilegien angebahnt werden, die unter keinen Umständen für alle erreichbar sein können. Und das wieder heißt: Der Kommunismus läßt sich, unter anderem, nur durch den Kampf gegen bestimmte Bedürfnisse verwirklichen, die der Mensch sich im Verlauf der Weltgeschichte, mit seinen Wünschen, seinen Sehnsüchten stets orientiert am Luxus der jeweils privilegierten Schichten, angewöhnt hat und die auch unter sozialistischen Verhältnissen noch nicht aufgehört haben, ihm als natürlich und berechtigt zu erscheinen.
10. Diese Überlegung nun könnte gegen, statt für den Kommunismus sprechen — jedenfalls in den Augen derer, die im Sozialismus noch privilegiert sind, und erst recht natürlich bei den herrschenden Klassen der kapitalistischen Gesellschaft. Dem halte ich entgegen, daß ich, im Kontext des eben gewählten Beispiels, des Wochenendgrundstücks am See, ökologische Argumente vorläufig ausgeklammert habe. Die lassen sich aber nicht mehr ausklammern, sobald die Natur mit in Betracht gezogen wird, und schon gar nicht, wenn Seen und Seeufer zur Debatte stehen, auf deren Ökosysteme die Zersiedelung der Landschaft durch Wochenendhäuser und -grundstücke halt eine verheerende Wirkung ausübt. Da erweist eine nicht mehr bloß sozialistische, sondern kommunistische Gesellschaft sich als die Rettung, vorausgesetzt, ihr striktes Gleichheitsprinzip wird vom proletarischen Staat als Instrument zur Unterdrückung naturfeindlicher Bedürfnisse benutzt (die im hier als Beispiel herangezogenen Fall zugleich den Charakter antikommunistischer Bedürfnisse haben).
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11. Wichtiger Zusatz: Die Unterscheidung natürlicher und künstlicher Bedürfnisse ist am Menschen, bis auf wenige, für ihn unspezifische Instinktresiduen, nicht durchführbar. Jede, auch die steinzeitlich übliche Zubereitung von Nahrung etwa entzieht sich der Subsumierung unter bloße Naturkategorien und ist insofern bereits künstlich. Und wie uralt das Bedürfnis, durch die Lüfte zu fliegen, ist, beweist die Sage von Dädalus und Ikarus. Durchaus nicht kann somit für uns die Forderung in Betracht kommen, künstliche auf natürliche, neu erzeugte auf seit jeher gewohnte Bedürfnisse zurückzuschrauben. Dies wäre a priori unsinnig, weil mit dem Wesen des Menschen unvereinbar. Worauf es ankommt, ist etwas anderes: daß die menschlichen Bedürfnisse, man mag sie künstlich oder natürlich nennen, sie mögen neueren Datums sein oder uralt, in dem Maße zu unterdrücken oder voll zu befriedigen oder sogar zu stimulieren sein werden, wie die Erhaltung der Biosphäre es verlangt, und daß eine Gesellschaftsordnung errichtet werden muß, die das unter Wahrung der — auf die Dauer unverzichtbaren — Gleichheit aller Menschen zu leisten vermag.
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Berlin, den 3. Mai 1975
Wer war Babeuf?
Man kann sich über ihn leicht in jedem beliebigen Konversationslexikon unterrichten; über den «Babouvismus» als Lehre am besten in der neuesten, zweibändigen Auflage des «Philosophischen Wörterbuchs» der DDR, herausgegeben von Manfred Buhr und Georg Klaus, Berlin 1974.
Ilja Ehrenburg und Ferdinand May haben über Babeufs «Verschwörung der Gleichen», von 1795/96, historische Romane geschrieben, beide unter Verwendung der Erinnerungen seines Freundes Filippo Buonarroti. wikipedia Filippo_Buonarroti 1761-1837
Bei Wagenbach, Westberlin, soll demnächst ein Buch herauskommen, das sowohl die Verwandtschaft wie die Unterschiede zwischen Babeuf und Marx hinsichtlich ihrer Organisationsgrundsätze und ihrer politischen Taktik herausarbeitet. Unter diesen Umständen halte ich es für vertretbar, fast alles historisch Belehrende, was ich im Rahmen des siebenten Interviews über Babeuf eigentlich vorzutragen gedachte, unter den Tisch fallen zu lassen und mich auf die folgenden kurzen Bemerkungen zu beschränken.
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Babeuf hat in die Französische Revolution, in deren Ideologie wie in ihren historischen Vollzug, von Anbeginn ein an Morelly geschultes agrarkommunistisches Konzept hineinzutragen versucht, das damals verfrüht und daher zum Scheitern verurteilt war. Er gehörte vermutlich zu den linksextremistischen Opponenten Robespierres, schloß sich nach dessen Sturz, 1794, aber bald den geschlagenen Anhängern Robespierres an, die den 9. Thermidor rückgängig machen und, gegen den Widerstand der siegreichen Großbourgeoisie, die jakobinische Demokratie von 1793, d.h. die Diktatur des vom Wohlfahrtsausschuß beherrschten Konvents, wiederherstellen wollten.
Ins Gefängnis geworfen, erkannten die entschiedensten Verfechter dieses Vorhabens, daß dafür die ärmsten, hungernden Volksschichten mobilisiert und organisiert werden müßten, und in dieser Lage gewann der ebenfalls einsitzende Babeuf mit seinen weitergehenden, kommunistischen Idealen großen Einfluß auf sie.
Der Grund:
Die Jakobiner-Diktatur war gescheitert an dem Widerspruch, daß sie einerseits das Privateigentum als unantastbares Menschenrecht proklamiert und andererseits dessen Konsequenz, den kapitalistischen Bereicherungsdrang, durch Verbotsdekrete und Terror aus der Welt zu schaffen versucht hatte. Babeuf bot mit der Forderung, alles Privateigentum abzuschaffen, die Formel, die dieses Dilemma gegenstandslos zu machen versprach.
Es scheint, daß damals die reinen Republikaner, die Erben Robespierres, Saint-Justs und Marats, überwiegend in den kommunistischen Parolen bloß ein Mittel sahen, die notleidenden Massen für sich zu gewinnen, während umgekehrt Babeuf und seine Getreuesten die Rückkehr zur demokratischen Verfassung von 1793 lediglich als machtpolitischen Ausgangspunkt für die schrittweise Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse, mit dem Kommunismus als Endziel, anstrebten.
Die Übergänge zwischen beiden Gruppierungen dürften dabei aber fließend gewesen sein, und geeint war man jedenfalls durch die gemeinsame Gegnerschaft gegen die Thermidorianer, gegen das großbürgerliche Directoire, das man denn auch, sofort nach erfolgter Amnestierung, 1795 heftig und mit erheblichem Massenzulauf zu bekämpfen begann.
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Die Unterdrückung ihrer legalen Aktivitäten beantworteten Babeuf und Genossen durch den Übergang zum illegalen Kampf. So entstand ihre «Verschwörung der Gleichen». Der allgemeine Volksaufstand indes, den sie vorbereitete, kam nicht zustande. Denn ein Verräter aus den eigenen Reihen spielte den Aufstandsplan der Regierung des Directoire zu, die daraufhin die Rädelsführer festnehmen ließ. Nach langem Prozeß wurden 1797 Babeuf und einer seiner engsten Mitverschwörer hingerichtet, die übrigen Angeklagten teils deportiert, teils mangels Beweises freigesprochen.
Einer der Deportierten war Buonarotti. Er schrieb später aus dem Gedächtnis über die Geschichte und die Doktrin der Babeufschen Verschwörung ein Buch. 1828 in Brüssel erschienen, wurde es erst wenig beachtet, fand dann aber, von der Mitte der dreißiger Jahre an, enorme Beachtung in der sich formierenden frühen französischen Arbeiterbewegung, als die sich aus dem Schlepptau der kleinbürgerlich-republikanischen Opposition gegen das Julikönigtum zu lösen begann, und auch bei den englischen Chartisten.
Hatte dergestalt Babeufs Hinrichtung der Entfesselung des Kapitalismus auf dem europäischen Kontinent das letzte plebejisch-revolutionäre Hindernis aus dem Wege geräumt, so leitete vier Jahrzehnte später die vorübergehende Renaissance seiner Ideen, durch den alten Buonarotti vermittelt, die Verselbständigung des modernen proletarischen Klassenkampfes, dessen politische Emanzipation von liberaler Gängelei, ein.
Insoweit steht Babeuf als Vorläufer dem Marxismus näher als der rein bürgerliche utopische Sozialismus (Saint-Simons, Fouriers), auch wenn es wahr bleibt, daß dieser durch seinen Ideenreichtum Marx und Engels in viel stärkerem Maße angeregt hat als das primitive Gedankengut, das Buonarotti ihnen zu bieten hatte.
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Berlin, den 4. Mai 1975
Soviel nur zu Babeuf. Nun zu der ersten «Häresie», die Sie, Herr Duve, bei mir vermuten. Sie hielten mir bei einem unserer letzten Gespräche die Stelle aus dem «Kommunistischen Manifest» unter die Nase, wo Marx und Engels dem Babeufschen Kommunismus vorwerfen, er sei «dem Inhalt nach notwendig reaktionär», da er «einen allgemeinen Asketismus und eine rohe Gleichmacherei» lehre. Daran knüpften Sie die Bemerkung: wer, wie ich, den Ruf «Zurück zu Babeuf!» erhebe, könne unmöglich zugleich beanspruchen, noch als orthodoxer Marxist zu gelten.
Zunächst darf ich Sie darauf hinweisen, daß an anderen Stellen bei Marx und Engels auch sehr positive Äußerungen über Babeuf zu finden sind. Bei ihm, sagen sie einmal, erscheine der Kommunismus «erstmals als Ausdruck einer wirklich agierenden kommunistischen Partei». Babeuf, so erklären sie, habe, gestützt auf die praktische Erfahrung des revolutionären Volkskampfes, erkannt, «daß mit Beseitigung der sozialen Frage von Fürstentum und Republik auch noch keine einzige <soziale Frage> im Sinne des Proletariats gelöst sei».
Doch auf diese und ähnliche Zitate will ich mich hier gar nicht herausreden. Um auf den Kern des Problems zu kommen, muß ich an einem anderen Punkt ansetzen.
Die europäische Geistesgeschichte kennt eine Traditionslinie des sozialen Denkens, die letztlich großbürgerlichen Ursprungs ist. Sie führt von Voltaire über Condorcet zu Saint-Simon und von ihm und seinen Anhängern (darunter Heine) zum Marxismus. Sie zeichnet sich aus durch Zivilisationsfreundlichkeit und Bejahung des Fortschritts und war jederzeit mit dem Aufstieg der industriellen Produktion, den sie reflektierte, so eng verbunden, daß sie schon vor dem Auftreten von Marx und Engels bei den klassenbewußten Arbeitern in dem Maße, wie die sich als modernes Industrieproletariat verstanden, das Vermächtnis Babeufs teils zu modifizieren, teils gänzlich zu verdrängen begann. Ich denke dabei an die Resonanz der Utopie Cabets, an Neobabouvisten wie Dezamy und auch, was Deutschland angeht, an Weitling.
Das von da her stammende utopisch-sozialistische Gedankenerbe haben Marx und Engels in erster Linie kritisch aufgearbeitet und mit dem, was sich ihnen an der Geschichtsschreibung der Restaurationszeit, an der Hegelschen Dialektik, an Feuerbachs Materialismus, an den Theorien der klassischen englischen Nationalökonomie (Smith, Ricardo) als rationell darbot, synthetisiert.
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Und sie taten gut daran, all dem den Vorzug zu geben. Denn die Industrialisierung war damals historisch fällig, war «an der Zeit», und es galt, dem Proletariat, als dem Produzenten der ihr zu verdankenden Errungenschaften, wenigstens einen Anteil an ihren Segnungen zu sichern. Wäre das Proletariat dem Babeufschen Asketismus verschworen geblieben, so hätte es seine Not und sein Elend hingenommen, statt — wie Babeuf das gewollt hatte —, die Reichen zum Teufel zu jagen, wofür im 19. Jahrhundert noch alle Voraussetzungen fehlten.
Jetzt aber erleben wir, daß der industrielle Fortschritt, auch unter sozialistischen, erst recht unter kapitalistischen Bedingungen, an seine unaufhebbare Naturschranke stößt, und da hört das Dominieren der Voltaireschen Traditionslinie im Marxismus, so behaupte ich, auf, noch zeitgemäß zu sein. Und wenn ich in dem Zusammenhang an Babeuf erinnere, so deshalb, weil ich ihn als den ersten kommunistisch orientierten Jünger Jean-Jacques Rousseaus gebührend gewürdigt zu sehen wünsche, von dem eine andere Traditionslinie ausgeht, die, meiner Meinung nach, für den Marxismus in Zukunft bedeutsamer sein wird als die Voltaires, Condorcets und Saint-Simons. Sie ist vorindustriell, kleinbürgerlich-bäurischer Herkunft und — von Anbeginn radikal demokratisch; demokratisch freilich nicht im Sinne des politisch-pluralistischen Systems der Monopolbourgeoisie, das sich derzeit Demokratie zu nennen wagt, sondern im Sinne des — höchst autoritären, extrem diktatorischen — Jakobinertums; wobei zu beachten bleibt, daß dessen rühmwürdigster Repräsentant, daß Robespierre, genau wie sein kommunistischer Fortsetzer Babeuf, zu den enthusiastischsten Rousseauisten zählte.
Rousseau war der große Antipode Voltaires. Warum war er es? Die Antwort können wir dem «Philosophischen Wörterbuch» Voltaires entnehmen, worin die Philosophie Rousseaus verworfen wird als die «eines armseligen Lumpen, dessen Wunsch es ist, daß alle Reichen von den Armen ausgeplündert werden, damit die brüderliche Vereinigung der Menschen leichter zustande komme». Macht der Klassengegensatz, der in diesem Verdikt artikuliert wird, den Kern des Konflikts zwischen den beiden großen Denkern aus — und so verhält es sich in der Tat —, dann kann der Marxismus, bei aller Anerkennung der historisch progressiven Funktion des bürgerlichen Reichtums im weit zurückliegenden 18. Jahrhundert, schon wegen seiner ja bekannten Vorliebe für «armselige Lumpen» offenbar nicht ohne weiteres gegen Rousseau die Partei Voltaires ergreifen. Und so weit ist er auch nie gegangen.
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Nicht einmal bei der Bewertung der — scheinbar so reaktionären — Rousseauschen Zivilisationskritik. Über die schrieb Voltaire 1755 an Rousseau, bezugnehmend auf das ihm übersandte Dedikationsexemplar der «Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen»: «Beim Lesen bekommt man Lust, auf allen Vieren zu gehen. Da es jedoch 60 Jahre her ist, daß ich diese Gewohnheit aufgab, ist es mir leider unmöglich, sie wieder aufzunehmen, und ich überlasse diese natürliche Haltung Menschen, die ihrer würdiger sind als Sie und ich.»
Eine witzige Sottise gegen das Rousseausche «Zurück zur Natur». Andere Aufklärer lasen aus derselben Parole die Empfehlung heraus, daß die Menschen sich wieder, wie die Wildschweine, von Eicheln und Wurzeln ernähren sollten. Ebenso wie Voltaire erlagen sie da aber einem Mißverständnis, und der klassischen deutschen Philosophie sowie dem Marxismus, der von ihrer Vollendung in Hegel und Feuerbach seinen Ausgang nahm, gereicht es zur Ehre, daß sie in dem Punkt tiefer sahen; mit anderen Worten: daß sie, ungeachtet ihrer stärkeren Affinität zu der zivilisationsfreudigen Voltaireschen Traditionslinie, jenes Mißverständnis über die wahren Intentionen Rousseaus nicht teilten. Was, wie ich glaube, die Marxisten von heute wiederum dazu ermächtigt, wenn nicht sogar verpflichtet, auch das Urteil des «Kommunistischen Manifests» über den von Rousseau herkommenden Babeuf zu relativieren.
Rousseau verlieh zu einer Zeit, als mit der Beseitigung des Feudalismus die Herrschaft der Großbourgeoisie auf der Tagesordnung der Geschichte stand, davon unbeirrt den Interessen der kleinbürgerlichen und plebejischen Volksschichten Ausdruck. Der Gedanke eines einheitlichen, linearen, die ganze Gesellschaft bessernden und beglückenden Fortschritts war deshalb unannehmbar für ihn. Die Weltgeschichte bewies ihm, daß stets die Masse der Armen von den Reichen und Mächtigen unterdrückt worden war.
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Daraus schloß er, daß der Fortschritt der Zivilisation vorteilhaft nur für diejenigen sein werde, die genug Vermögen besäßen, um sich die zunehmenden materiellen und geistigen Güter aneignen zu können, und daß dies, wegen der fortbestehenden unnatürlichen Ungleichheit, zur Ausbreitung sittlicher Verderbnis in der ganzen Gesellschaft führen müsse. So verband sich bei ihm das plebejischdemokratische Gleichheitspostulat mit der konservativ anmutenden Zivilisationskritik des «Zurück zur Natur». Doch Rousseau meinte damit keineswegs, wie die Voltairianer ihm unterstellten, die Rückkehr des Menschen zum Eichelnfressen und zur Fortbewegung auf allen Vieren. Er meinte etwas anderes, das, bei Lichte besehen, richtiger mit der Formel «Vorwärts zur Natur» hätte umschrieben werden müssen.
Was ihm vorschwebte, war eine Kultur, die mit ihren — aus der Geschichte nicht mehr fortdenkbaren — Mitteln den natürlichen Zustand der Gleichheit unter den Menschen, ihres harmonischen Zusammenlebens, ihrer darauf basierenden Güte, ihres sittlichen Gemeinsinns auf höherer Stufe wiederherstellt. Und der Entwicklung des gesellschaftlichen Ganzen, wie der des Individuums, eine solche Richtung zu geben, darauf zielten seine Schriften ab.
Der erste Denker, der dies begriff, war Kant. Rousseau wolle, so schrieb er 1786, «das schwere Problem auflösen: wie die Kultur fortgehen müsse, um die Anlage der Menschheit als einer sittlichen Gattung zu ihrer Bestimmung gehörig zu entwickeln, so daß diese jener als Naturgattung nicht mehr widerstreite». Ähnlich nahm dann 1794 Fichte zu Rousseaus Vermächtnis Stellung. Für Rousseau, betonte er, sei «Rückkehr» in Wahrheit «Fortgang»: «Ihm ist jener verlassene Naturzustand das letzte Ziel, zu dem die jetzt verdorbene und verbildete Menschheit endlich gelangen muß. Er tut demnach gerade das, was wir tun; er arbeitet, um die Menschheit nach seiner Art weiterzubilden und ihr Fortschreiten gegen ihr letztes höchstes Ziel zu befördern.»
So heißt es in Fichtes Schrift «Über die Bestimmung des Gelehrten». Und Fichtes eigene Geschichtsphilosophie, dargelegt in den «Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters» (1806), stellt einen einzigen Versuch dar, das so verstandene Gedankenerbe Rousseaus in universalhistorische Dimensionen zu übertragen.
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Die Weltgeschichte hebt danach an mit einem paradiesisch naturhaften Zustand der Harmonie, in welchem die Vernunft, sich selbst noch nicht begreifend, nur notwendig, als blinder Trieb herrscht. Sie schreitet fort zu einer zweiten Epoche, in der dem beginnenden Selbstbewußtsein des Individuums das Gesetz des Ganzen als äußeres Gebot gegenübertritt, dem es sich aber noch fügt. Dann geraten beide miteinander in Konflikt, es kommt zur Auflehnung des Individuums gegen alle Autorität. Die Vernunft scheint verloren. Ihre blinde Herrschaft ist schon gebrochen; als äußere Macht wird sie auch nicht mehr anerkannt; ihre bewußte, von allen bejahte und gewollte Herrschaft aber ist noch nicht erreicht. Die Menschheit lebt im «Stand der vollendeten Sündhaftigkeit». Und aus ihm erst kann sie, womit der Prozeß sich vollendet, übergehen ins Zeitalter der «Vernunftkunst», dem wieder die ursprüngliche Harmonie eigen sein wird, doch zurückgewonnen durch Freiheit, als das bewußte Werk von Menschen, die schöpferisch, autonom ihr Leben nach ihren ewigen Naturzwecken bestimmen.
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Berlin, den 11. Mai 1975
Ich habe den Brief an Sie eine Woche lang liegengelassen, um nicht der Versuchung nachzugeben, so weit von unserem Ausgangsthema abzuschweifen, daß dabei, statt einer Verteidigung meines Babouvismus, eine Geschichte der deutschen Rousseau-Rezeption herauskommt. Gestatten Sie mir, bitte, nur noch den kleinen Wink an meine Philosophiehistoriker-Kollegen, daß es lohnend für sie wäre, von Fichtes «Grundzügen» ausgehend zu prüfen, ob nicht auch die Hegelsche Version des sich vollendenden Geschichtsprozesses letztlich aus derselben Rousseauschen Ecke stammt.
Eines spricht dafür: die Tatsache, daß Engels, an Hegels Philosophie geschult, die Lehre Rousseaus auf Anhieb als Musterbeispiel geschichtsdialektischen Denkens empfand und rühmte. Ich berufe mich auf den besten Rousseau-Kenner der DDR, Winfried Schröder, der in seiner Einleitung zu Rousseaus Frühschriften, Leipzig 1965, schreibt:
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«Den entscheidenden Schritt zur Aufdeckung der dialektischen Tendenzen in Rousseaus Konzeption und zur Würdigung ihrer Bedeutung vermochte ... erst Friedrich Engels zu tun. Er war es, der erstmals klar gezeigt hat, daß nach Rousseau auf den Trümmern der primitiven Beziehungen, die sich zur Fortexistenz als unfähig erwiesen, die zivilisierte Gesellschaft entstand und daß die Negation der ursprünglichen zivilisierten Gesellschaft die Voraussetzung zu einer vollkommenen Gesellschaftsordnung war.»
Schröder interpretiert damit die zahlreichen Anspielungen auf Rousseau im «Anti-Dühring», als deren wichtigste er die folgende wörtlich anführt: «Und so schlägt die Ungleichheit wieder um in die Gleichheit, aber nicht in die alte, naturwüchsige Gleichheit der sprachlosen Urmenschen, sondern in die höhere des Gesellschaftsvertrages.»
Der Satz genügt, um klarzustellen, daß das — der Aufklärung gegenüber vertiefte — Rousseau-Verständnis Kants, Fichtes und Hegels durch den Marxismus aufgegriffen und weiterentwickelt worden ist, und zwar in Gestalt jener «Negation der Negation», die das Endziel der proletarischen Revolution gleichsetzt mit der Aufgabe, den Kommunismus der urwüchsigen Gentilordnung auf höherer Stufe, durch Vollendung einer weltgeschichtlichen Spiralenbewegung, unter Bewahrung aller Errungenschaften der Klassengesellschaft wiederherzustellen. Auch Marx und Engels waren in diesem Sinne Erben und Fortsetzer Rousseaus. Und wie stark besonders bei Engels das Rousseausche Vermächtnis durchschlägt, können Sie leicht in seiner Schrift über den «Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates» feststellen, namentlich an der Stelle, wo der notwendige Untergang der Gentilgesellschaft, echt dialektisch, gleichzeitig als sittliche Depravierung des Menschen beklagt und als Voraussetzung für die Fortentwicklung der Produktivkräfte (in der Sklavenhalterepoche) gefeiert wird.
So diffizil und kompliziert dachte Babeuf nun allerdings nicht. Er war als Theoretiker, obwohl publizistisch nicht untalentiert, ein Primitivling. Und noch primitiver, geradezu trostlos wüst sah es im Kopf des eigentlichen Parteiideologen der «Verschwörung der Gleichen», Sylvain Marechals, aus. Zu Rousseau verhielten beide sich so vergröbernd, so vulgarisierend wie in unserer Zeit die halbpubertären APO-Ideologen der ausgehenden sechziger Jahre zu den anspruchsvollen Schriften eines sublimen Geistes wie Herbert Marcuse.
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Welchen Niveauschwund aber erlitt die Rousseausche Traditionslinie erst bei den hungernden, notleidenden, von aller Bildung ausgeschlossenen Proletariern, als die, noch zur Maschinenstürmerei geneigt, die Heilslehre ihrer Klasse mühselig aus dem Buch Buonarottis herausbuchstabieren lernten. Da blieb von so erlesenen Delikatessen wie Geschichtsdialektik rein gar nichts mehr übrig. Da wurde die Zivilisationskritik Rousseaus nur noch als Aufruf zur Verödung der größeren Städte, zum Niederreißen von Schlössern, zur Ächtung von Kunst und Wissenschaft, zum Verbot höherer Schulbildung u. dgl. verstanden. Und das eben war es, was Heine vor den Babouvisten zurückschaudern ließ und was seinen Freund Karl Marx dazu bewog, sich von ihrem reaktionären Asketismus, ihrer rohen Gleichmacherei energisch abzugrenzen.
Dennoch bleibt festzuhalten, daß gleichwohl Babeuf und seine Partei in dem wichtigsten, entscheidenden Punkt ihrem Abgott Rousseau überlegen waren: Sie kannten, als Wortführer der Arbeiterklasse, seine kleinbürgerlichen Rücksichten auf das Privateigentum nicht mehr; sie verlangten, ohne Wenn und Aber, mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit, es abzuschaffen, worin sie auch Rousseaus bis dahin bedeutendsten politischen Testamentsvollstrecker übertrafen: Robespierre. Sie waren Kommunisten.
Was also kann es, nach alledem, heißen, daß wir Marxisten heute gut beraten wären, wenn wir uns wieder auf unseren Urahnen Babeuf besännen? Nichts anderes, als daß wir, ohne unser Endziel, den Kommunismus, preiszugeben, der Rousseauschen Traditionslinie mehr Beachtung schenken sollten, die eben zuerst bei Babeuf in eine kommunistische Konzeption eingemündet ist. Von Rousseau aber können wir lernen, daß zivilisatorischer Fortschritt den Menschen dann zum Verderben gereicht, wenn sie nicht auf das Ziel hinarbeiten, mit seinen Mitteln die Natur wiederherzustellen, um, in ihr geborgen, mit ihr harmonisch versöhnt, ein Leben der Eintracht und des stets wachen Gemeinsinns zu führen. Rousseau hat das zu seiner Zeit freilich noch nicht ökologisch gemeint - und wie sollte das ihm, einem Denker des 18. Jahrhunderts, auch möglich gewesen sein. Ihm ging es um die Tugend des Citoyen.
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Doch wenn wir Marxisten des ausgehenden 20. Jahrhunderts, den tiefsinnigen Winken Kants und Fichtes folgend, Rousseaus «Zurück zur Natur» als ein «Vorwärts zur Natur» auffassen — und kein Geringerer als Engels legt es uns nahe, dies zu tun —, dann nähern wir uns dem Club of Rome, der die Menschen ja auch nicht zum Eichelnfressen und zum Laufen auf allen Vieren auffordert, sondern ein kaum mehr zu überbietendes Zivilisationsprodukt, den Computer, dazu benutzt hat, sie zur Achtung der Natur, zur Schonung ihrer Ressourcen, zur harmonischen Einfügung des gesellschaftlichen Daseins in ihre Ökogefüge zu mahnen.
Um aber noch mit einem Wort auf Ihre Besorgnis, meine marxistische Orthodoxie betreffend, zurückzukommen: Diese gebietet, auch darin dialektisch zu denken, daß nicht zu allen Zeiten und unter allen Umständen denselben Leitsätzen dieselbe Bedeutung beizumessen ist. Und wenn im vorigen Jahrhundert die Traditionslinie Voltaire-Condorcet-Saint-Simon-Weitling zu Recht dem Marxismus näherstand als die, die von Rousseau über Robespierre zu Babeuf führt, so hat inzwischen der Verlauf der Geschichte, der gesellschaftlichen Entwicklung diese Proportion gründlich verschoben, wenn nicht umgekehrt, und es wäre alles andere als orthodox, dem nicht Rechnung zu tragen.
Mangel an Orthodoxie, weil an Dialektik, ist den Wachstumsfetischisten vorzuwerfen, die jetzt noch unsere Abhängigkeit von der Natur mit der Nonchalance Voltaires, Condorcets und Saint-Simons als zu vernachlässigende Größe behandeln zu können glauben. Schon Marx und Engels dachten da weniger sorglos. Um wieviel mehr als sie wieder müssen wir Heutigen, falls wir dialektisch zu denken imstande sind, gerade diese Problematik ernst nehmen.
Berlin, den 17. Mai 1975
Selbst in Ausnahmefällen sollten wir von unserem Prinzip nicht abweichen, den häufigen Postverzögerungen den Vorzug vor irgendwelchen Heimlichtuereien und Grenzschmuggeleien zu geben.
Mit dem letzten Absatz der vorigen Sendung habe ich im Prinzip auch bereits die Häresien vom Tisch gefegt, die Sie in meiner Einstellung zu Marx' «Kritik des Gothaer Programms» zu entdecken glauben. Allerdings nur im Prinzip. Bevor ich es jedoch in bezug auf die hier einschlägigen Fragen wenigstens andeutungsweise konkretisiere, möchte ich noch Ihrem — bei unserem letzten Gespräch geäußerten — Wunsch entsprechen, den Unterschied der Begriffe «Sozialismus» und «Kommunismus» im Sinne des Sprachgebrauchs der marxistisch-leninistischen Orthodoxie zu erläutern, aber so, daß er auch theoretisch nicht versierten Lesern im Westen einleuchtet.
Ich hatte die Absicht, Ihnen vorzuschlagen, unsere Erörterungen über diesen Punkt an den Anfang des siebenten und letzten Interviews zu stellen. Eine erste Ausarbeitung brach ich ab, weil sie mir zu weitschweifig zu geraten schien, und eine zweite, knappere gedieh dann, infolge der Herzattacken und meiner zeitweiligen Arbeitsunfähigkeit, nicht über einen allzu spärlichen Ansatz hinaus. Sie erhalten, wie gesagt, in der Anlage beide Fassungen. Die zweite, kurze bitte ich Sie gar nicht zu verwenden. Die erste, längere dagegen möchte ich an dieser Stelle in die vorliegende Brieffortsetzung einschalten, da sie hier noch ihren Zweck erfüllen kann.
Leider werden wir dieses Interview-Bruchstück, ausnahmsweise, nicht mehr gemeinsam redigieren können. Darf ich Sie dennoch bitten, auch Ihre Fragen so, wie ich sie aus dem Gedächtnis wiedergegeben habe, stehenzulassen und diesmal nicht anhand Ihrer Aufzeichnungen umzuformulieren? Wir beide wollten uns ja jede weitere Redigier-Zusammenkunft ersparen, und ich bestätige Ihnen gerne, daß in diesem einen Fall die Worte des Interviewers im einzelnen möglicherweise nicht authentisch sind, weder was den Inhalt, noch was den Stil betrifft.
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