6 Die Reise in das Land unserer Hoffnungen
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Katja und ich haben schon seit langem und immer neu von dieser Reise geträumt. Nun, nachdem unsere Tochter Franziska sieben Jahre alt geworden ist, haben wir uns entschlossen, in den Sommerferien aufzubrechen. Wir packten eine Menge Kram in den grünen Wartburg und fuhren los. Franziska wollte wissen, wohin die Reise denn ginge und wie weit. "Weit, weit —", sagten wir, und daß wir auch nicht wüßten, wohin. "In das Land der Träume", meinte Katja. Und Franziska fragt, "wer hat sie geträumt?"
Schon an der Grenze zur CSSR war es merkwürdig. Ein uniformierter Mann kam zu unserem Wagen und sagte, er habe uns schon erwartet, wir könnten gleich ohne Kontrolle weiterfahren. "Warum", fragten wir ihn. "Weil ab heute die Grenze auf ist und Sie sind die ersten. Sie waren von der letzten Polizeistation von drüben schon bei uns telefonisch angemeldet". Als wir an die österreichische Grenze hinter Bratislava kamen, sahen wir überhaupt keine Zöllner und Grenzwächter mehr. Viele Autos, Pferdewagen, Radfahrer, Mopeds und Fußgänger passierten unkontrolliert und ungehindert in beiden Richtungen die Grenze.
Wir kamen nach Wien. Ich war früher schon in Wien und wollte meinen beiden Lieben die Stadt zeigen. Aber es war schrecklich, in dem Durcheinander des Verkehrs zu fahren, noch dazu ohne Ortskenntnisse. So beschlossen wir, uns Wien für später, für die Rückreise aufzuheben. Wir fuhren weiter über Salzburg zum Glockner, über die Glocknerstraße nach Klagenfurt an die jugoslawische Grenze. Und viele Menschen strömten hinüber und herüber.
Einige Kilometer hinter der Grenze, auf der Straße nach Ljubljana, hielten wir an einer Tankstelle. Unser Wartburg hatte Durst. "Wo wollen Sie hin", wollte der Tankwart wissen. "In das Land, das es nicht gibt", sagte ich zu meiner eigenen Überraschung. Unser Tankwart lächelte verschmitzt und meinte, "dann haben Sie's nicht weit, viel Benzin brauchen Sie nicht. Fahren Sie diesen schmalen Weg hinauf. Der Wagen wird's noch schaffen. Oben sind Sie dann am Paß und das Land, das Sie suchen, liegt zu Ihren Füßen."
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So kamen wir in das Land Utopia, am 1. Juli 1980, morgens früh um acht Uhr. Wir fuhren fast zwei Stunden auf der schmalen Bergstraße zum Paß hinauf. Noch vor dem Paß erreichten wir die Baumgrenze. Wir mußten also eine Höhe von über 2000 m erreicht haben. Ich konnte mich nicht erinnern, je davon gehört zu haben, daß es hier so hohe Berge gibt. Der Paß lag inmitten schneebedeckter Gipfel, die wohl weit über 3000 m hoch sein mochten. Die Paßhöhe war eine breite Senke mit einem kleinen See, der vom Schmelzwasser eines kleinen Gletschers gespeist wurde.
Wir fanden, kunstvoll aus dem gewachsenen Fels gehauen, einen breiten Tisch und darum herum steinerne Sitzbänke. Die Luft war kühl, aber in der Sonne war es uns warm und wohl zumute. Wir setzten uns und packten Eßsachen aus, um ausgiebig zu frühstücken. Für unseren Wartburg fanden wir sogar eine Art Garage, eine Nische, auch in den Fels gehauen, wo wir ihn erst einmal unterstellten. Denn wir hatten gleich gesehen, daß wir ihn hier zurücklassen mußten. Die Straße nämlich endete hier und setzte sich nur in einem schmalen, kaum richtig erkennbaren Pfad fort, auf dem kein Auto sich bewegen konnte.
Was wir hier von Utopia sahen, das waren nur weite, sich bis an den Horizont erstreckende bewaldete Hügel. Von Menschen oder deren Spuren war nichts zu bemerken. Franziska hatte sie zuerst gesehen. "Da kommen sechs kleine Pferde", rief sie, "und Leute sind auch dabei!" - "Schaut doch, da unten sind sie, ganz graue kleine Pferde, und ein Kind haben sie auch." Jetzt sahen wir sie, eine Frau, ein Mann und ein Kind. Als sie näher gekommen waren, sahen wir, daß die grauen Pferde sechs Esel und das Kind ein kleiner Junge in Franzis Alter war.
Die drei kamen zu Fuß, obwohl die Esel schöne weiche Sättel trugen. Sie stiegen langsam und gemächlich zum Paß hinauf. Alle trugen weiche farbige Hosen und bunte Hemden. Die Frau eine hellblaue Hose und eine fast weiße Hemdbluse mit einer großen blauen Blume, die sie sich in ein Knopfloch gesteckt hatte. Der Mann trug eine hellbraune und der Junge eine schwarze Hose, alle Hosen, wie wir sahen, als sie bei uns waren, waren aus einem Material, das wir nicht kannten. Es sah aus wie weiches Wildleder, fühlte sich aber ganz anders an, war ganz leicht und porös und dabei, wie wir später feststellten, so fest, daß man es mit der größten Anstrengung nicht zerreißen oder beschädigen konnte.
Der Mann trug ein leuchtend rotes Hemd und der Junge ein gelbes mit einem grünen Halstuch. Auf dem Kopf trugen alle drei weiche leichte Strohhüte, von denen keiner aussah wie der andere.
Als sie oben angelangt waren, kamen sie gleich auf uns zu und begrüßten uns freundlich, indem sie uns umarmten wie alte Freunde. Die Frau sagte die ersten Worte: "Wir freuen uns, daß ihr gekommen seid, wir haben lange auf euch gewartet, viele Jahre schon. Hoffentlich seid ihr nicht zu spät gekommen. Nicht unseretwegen", fügte sie nach einem kleinen Zögern hinzu, "euretwegen!"
Sie sagte noch, daß sie unsere Namen kennt und auch viel weiß von unserem Leben und unseren Freuden und Kümmernissen. Aber sie, Anna war ihr Name, und Bertram, der Mann, würden darüber mit niemandem reden, und mit uns nur, wenn wir es selber wünschen sollten. Der Junge hieß Felix, der Glückliche, so wie der Sohn meiner Tochter Sybille in Hamburg. Er fing gleich an, sich mit Franzi zu befreunden.
Sie aßen noch mit von unseren Speisen, aber wir wußten nicht, ob sie ihnen schmeckten, wir wußten es noch nicht. "Ihr könnt all den Kram, den ihr da mitgebracht habt, hier liegen lassen. Davon braucht ihr in Utopia nichts mehr. Ihr müßt eure Welt, aus der ihr kommt, schon gänzlich zurücklassen, sonst werdet ihr nie mit ihr fertig werden." Sie holten aus einem großen Sack auch neue Kleidung für uns. "Wir dachten, vorläufig zieht ihr euch auch Hosen und Blusen an, wie wir, später könnt ihr euch anziehen, was euch gefällt."
Wir mußten die ganze Vergangenheit abstreifen, es war uns ein reiner Spaß, und wir froren auch nicht, als wir ganz nackt waren. "Und nun müßt ihr noch in dem See baden. Kommt, wir baden alle gemeinsam."
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Es war sehr merkwürdig, das Wasser im See war gar nicht kalt, es war nur erfrischend. Wir fühlten, daß etwas von uns abgewaschen wurde, das uns verunreinigt hatte, ohne daß wir es vorher bemerkt hatten.
Dann bestiegen wir unsere sechs Eselchen, die langsam und vorsichtig Schritt für Schritt den schmalen Bergpfad hinabtrabten. Es wurde wärmer, wir kamen in einen herrlichen Laubwald mit hohen alten Bäumen und langten gegen Mittag bei einer kleinen Gastwirtschaft an. Es war niemand da, uns zu bedienen. "Wir machen uns alles selbst", erklärte uns Anna. Beide zauberten im Handumdrehen ein wunderbares Essen, lauter Köstlichkeiten, die wir noch nie gegessen hatten und die an keine der uns gewohnten Speisen erinnerten. Dazu tranken wir einen leichten, samtig weich schmeckenden Rotwein, der uns ein klein wenig berauschte. "Der Rausch gefällt euch?", trug Bertram. Als wir zustimmten, lächelte er:
"Und er kommt nicht von Alkohol, wie in euren Getränken. Dieser Wein enthält keine Spur Äthanol. Wir haben den Alkohol abgeschafft, aber nicht den Rausch. Alkohol ist schädlich, nicht nur für die Leber. Er macht süchtig und die Menschen zu Sklaven. Die Menschen haben ihn auch meistens nur getrunken, um Unglück und Unrecht zu vergessen, auch um Hemmungen zu verlieren, selten, um das Leben zu genießen."
Er erklärte uns, daß dieser Wein und noch viele andere Genußmittel das Ergebnis der Forschungen großer wissenschaftlicher Institute in Utopia ist.
"Wir haben uns schon von vielen alten Rauschgiften völlig befreit und haben dabei gelernt, daß es wunderbare und dabei ganz unschädliche Drogen gibt, die jenes unbeschreibliche Gefühl von Leichtigkeit und Seligkeit in uns hervorrufen, das man als Rausch bezeichnet."
Bertram und ich philosophierten über die Glücksgefühle des Rausches, ich erinnerte mich dabei an die Priesterin des Orakels von Delphi, die nur im Rausch der Dämpfe, die der Schale in ihren Händen entstiegen, ihre weisen Orakelsprüche fand, und überhaupt an die schöpferische Kraft der geistigen Verwirrung, die schon Platon der blassen Vernünftelei für weit überlegen erklärte.
Wie wir so in unserem Wissen stöberten, hatten Anna und Katja sich's auf einer großen weichen Liege bequem gemacht. Wir hörten sie leise miteinander reden und hin und wieder lachen. Ich ertappte mich dabei, daß ich dachte, "jetzt reden sie über mich, oder jedenfalls über uns Männer", und schämte mich gleich, verscheuchte diesen dummen Gedanken, als Katja sich uns zuwandte: "Du wirst dich wundern, mein Lieber, wir haben wirklich über dich gesprochen, aber auch über mich, über uns und über unsere beiden neuen Freunde."
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Es beruhigte mich, daß sie nicht nur über mich gesprochen hatten. Als ob Anna meine Gedanken lesen könnte, sagte sie: "Das braucht dich aber gar nicht zu beruhigen. Wir haben nämlich beide Angst, ob du das alles vertragen wirst, was du in der nächsten Zeit in Utopia erleben wirst."
Diese Worte machten mich sehr nachdenklich. Anna hatte mich, als sie das sagte, mit Augen angesehen, die ganz liebevoll waren und doch durch mich hindurchblickten, wie durch ein klares Glas. Katja konnte mich manchmal auch so ansehen. Dann empfand ich immer ganz besonders stark, wie sehr ich sie liebe.
Als ich aus meinem Grübeln aufwachte, waren die Esel schon wieder gesattelt und gezäumt. Alles Geschirr war abgewaschen, die ganze kleine Herberge wieder in dem Zustand, in dem man sie vorzufinden wünscht - wie es auch bei uns bei entsprechender Gelegenheit wohl heißt, seltener aber auch so ist. Weiter ging die Reise. Ich mußte immer wieder darüber nachdenken, was für Sorgen die beiden Frauen sich wohl um mich machten. Katja und Bertram waren vorausgeritten, weil Franzi und Felix mit ihren Eseln schon fast aus unserer Sichtweite geraten waren. Ich ritt jetzt neben Anna und fragte sie, warum sie sich nicht auch Sorgen um Katja mache, nur um mich. Wir kommen doch beide aus der alten Welt.
"Das ist ganz einfach", erklärte sie mir, und dabei strich sie mir zärtlich über den Kopf, "weil Katja eine Frau ist. Und mit eurer Männerherrschaft ist es eben hier in Utopia endgültig vorbei." Ich erwiderte, das würde mich bestimmt nicht unglücklich machen. "Ich war immer für die Befreiung der Frau und gegen die Männerherrschaft." Anna lächelte nur: "Du bist ein in Gedanken Befreier. Aber wirst du auch die wirkliche Freiheit, deine männliche und unsere weibliche, ertragen können?"
Am Abend kamen wir zu einem kleinen Haus, wo Anna, Bertram und Felix wohnten. "Dies ist nur unser Sommerhaus, wo wir einige Monate, manchmal auch nur ein oder zwei Monate während der warmen Jahreszeit zusammen wohnen. Im Herbst verschwindet Bertram in sein Institut, und ich bin Lehrerin im großen Kinderdorf in S. Dann sehen wir uns nur alle acht bis vierzehn Tage, mal besuche ich ihn, mal er mich." Das Sommerhaus hatte einen schönen großen Wohnraum, zwei kleine Schlafzimmer, aber jedes groß genug für zwei Betten und ein Kinderbett. Es gab ein Badezimmer, aber nur eine ganz kleine Kochnische, wo man Kleinigkeiten bruzzeln und kochen konnte, mehr ein Provisorium.
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Und wo waren jetzt unsere Esel? Auf der Weide. Aber das Haus hatte keinen Stall, wo die Esel die Nächte verbringen könnten. "Die Esel sind längst auf dem Weg zurück in die Station, die ist nicht weit von hier, ein paar Kilometer. Und wenn wir sie brauchen, telefonieren wir, und sie sind bald wieder zur Verfügung." Bertram sagte zu mir, daß ich mir wegen der weiten Wege keine Sorgen machen solle.
"In Utopia kannst du viel freier atmen, auch mit deiner blessierten Lunge", meinte er. "Wir werden die Esel gar nicht immer brauchen." "Ja, habt ihr denn nur Esel, keine Autos, keine Flugzeuge, keine Raketen?" "Doch mein Lieber, wir haben alles, aber nur da, wo man es wirklich braucht. Kannst du dir vorstellen, wir wären mit einem Auto besser vom hohen Hoffnungspaß hierhergekommen, besser als auf dem Rücken unserer Esel? Abgesehen davon, daß es in Utopia kaum noch Autostraßen gibt. Die paar Autos, die wir haben, sind geländegängige Spezialfahrzeuge, die für Notfälle und für wissenschaftliche Unternehmungen gebraucht werden, nicht zum individuellen Herumkutschieren, wie zu euren zum Glück längst vergangenen Zeiten."
"Aber nun wollen wir erstmal die Kleider wechseln, uns waschen und den Reisedreck abspülen. Wir haben euch was Bequemes zum Anziehen in euer Schlafzimmer gelegt." Damit ging Anna ins Badezimmer und drückte auf einen großen, silbern glänzenden Knopf. In weniger als einer Minute füllte sich die breite, oval geformte Wanne mit warmem, bläulich schimmerndem Wasser. Katja durfte als erste baden, nach ihr kam ich. Die Wanne wurde nach jedem Bad entleert und neu gefüllt.
Ich fragte Bertram, woher das frische Wasser kommt. Er erklärte mir, daß alles Wasser für die vielen kleinen Häuser in der Umgebung — ich hatte noch kein einziges davon bemerkt — aus einem großen Reservoir tief unter der Erde kommt, auf 40° erwärmt durch die Erdwärme, ohne jede weitere Zufuhr von Energie. Mit diesem Wasser konnten die Häuser auch im Winter geheizt werden. Seife und andere Netzmittel verwendete man beim Baden nicht. "Diese Stoffe ersetzen nur sichtbaren Schmutz durch unsichtbaren und schädigen darüberhinaus die Haut. Wenn man sich immer mit reinem Wasser wäscht, bleibt die Haut gesund, und wenn man irgendwo einen Dreckfleck hat, der nicht gleich abgeht, dann gibt es ja auch noch Schwämme und Bürsten.
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Außerdem wollen wir das Wasser, in dem wir gebadet haben, noch weiter verwenden, es fließt in unsere Gärten und Gemüsebeete. Wenn es mit Seife und Netzmitteln verunreinigt wäre, könnten wir euch heute abend keinen frischen Salat vorsetzen." So dozierte und erklärte mir der große gutmütige Bertram mit Geduld die ersten Errungenschaften, die wir in Utopia zu bewundern hatten.
Unsere Abendkleider waren eigentlich eine Art von ganz locker den Körper umhüllenden Nachthemden. Sie hatten große weite Kragen und halblange Ärmel, um die Hüften trug man einen schmalen leichten Ledergürtel. Auch Anna und Bertram trugen diese Bekleidung, deren Farbe ganz weiß war, ohne jedes Muster, aber mit ganz feiner Gewebestruktur. Beim näheren Hinsehen fand ich heraus, daß jedes unserer Kleider zwar weiß war, aber doch einen eigenartigen changierenden Farbton hatte, der nur dann gut zu sehen war, wenn man sich bewegte. Auch je nach der Beleuchtung färbten sich die Schatten in den Falten unserer Gewänder, bei jedem von uns anders. Katjas Kleid schimmerte rötlich, meins blaugrau, Annas in orangenen Tönen bis zu warmem Gelb und Bertram leuchtete blaßgrün. Franzi und Felix mußten vor dem Abendbrot gründlich gebadet und auch etwas gebürstet werden. Diese Arbeit übernahm Bertram. Das Abendessen, das hauptsächlich aus einem phantastischen Salat bestand, bereiteten inzwischen Anna und Katja.
Nachdem die Kinder gegessen hatten und bald danach müde in ihrem Bett fest eingeschlafen waren, - sie wollten unbedingt in Felix' Bett gemeinsam schlafen und lagen so eng umschlungen bis zum Morgen - saßen und lagen wir vier noch lange bei Kerzenlicht um den großen flachen Tisch und tranken die neuen berauschenden Weine des Landes Utopia. Wir waren von den Eindrücken dieses ersten Tages müde, aber doch nicht schläfrig. Und der wunderbare Rausch des Weins machte uns leicht und schwebend. Katja hatte ihren Kopf in Annas Schoß gelegt. Dann fragte sie nach Musik. Ich sah nirgends ein Radio, keinen Lautsprecher, keinen Plattenspieler, kein Tonbandgerät, keinen Fernseher.
"Ja, wir wollen schöne Musik hören", sagte Anna. Und nun wurden wir gefragt, was für Musik wir uns wünschen. Wir können euch sehr viele Musikwünsche erfüllen, erklärte Bertram, aber nicht jeden Wunsch. "Aber wir kennen euch ja ein bißchen, diese unerfüllbaren Wünsche werdet ihr gar nicht erst haben." Danach sagte ich, dabei über meine eigenen Wünsche verwundert, ob ich meinen Freund
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Wolf Biermann hören könnte mit seinem Hölderlin-Lied. "Solche traurige Klage willst du hören?" fragte mich Anna. Ich widersprach: "Wolf ist nie nur traurig, auch nicht in seinem Traurigsein. Er weint mit offenen Augen und will dadurch andere Augen öffnen. Seine Klagen sind auch Anklagen, und in seinen weichsten Worten ist immer auch Härte und Geduld."
Es dauerte weniger als eine Minute, und dann sang im kleinen Haus im fernen Utopia mein Freund Wolf sein Hölderlin-Lied: "In diesem Lande leben wir, wie Fremdlinge im eigenen Haus ..." Wie seltsam, dieser Text aus jener versunkenen alten Welt. "Ausgebrannt sind die Öfen der Revolution — früherer Feuer Asche liegt uns auf den Lippen — kälter, immer kältere Kälten sinken in uns — Über uns ist hereingebrochen — solcher Friede — solcher Friede — solcher Friede." In diesem Lande Utopia lebten wir Fremdlinge schon wie im eigenen Haus, und wir wären vielleicht immer dort geblieben, so wünschten wir es uns an diesem schönen ersten Abend.
Während Anna Katja von ihrer Arbeit im Kinderdorf erzählte, wo wir später Anna eine ganze Woche lang besuchten, ließ ich mir von Bertram erklären, wie es möglich war, meinen Wunsch, Wolf Biermann zu hören, so schnell zu erfüllen. Das geschah alles mittels des Telefons, das drahtlos arbeitete, auf Mikrowellenkanälen. Bertram wählte eine bestimmte Zentrale an, die Musik vermittelte, danach nannte er einfach den Namen Wolf Biermann. Jeder Buchstabe des Alphabets hatte eine bestimmte Zahl, die die meisten in Utopia auswendig kannten. Nachdem das Ja-Zeichen für den Namen gekommen war, wählte er "Hölderlin-Lied", und 10 Sekunden später war das Lied auf den Lautsprechern, die unsichtbar in die Wand eingebaut waren.
Auf solche Weise konnte man sich nicht nur Musik, sondern jede Art von Information, auch visuelle, beschaffen. Bertram öffnete die Tür eines flachen Wandschranks. Es erschien eine große blaßgraue Bildfläche. "Das ist unser Fernseher! Aber denk dabei nicht an das Fernsehen in eurer alten Welt. Jetzt am Abend nach sieben Uhr ist der Fernseher tot. Filme, Theaterstücke, Krimis und Talk-Shows kann man überhaupt nicht über ihn empfangen." Wir erfuhren im Laufe des Abends eine Unmenge der erstaunlichsten Dinge. Anna und Bertram wetteiferten darin, immer größeres Staunen bei uns zu erregen.
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In Utopia gibt es überhaupt keine Fernsehsendestationen mit einem laufenden Programm, wie in unserer Welt. Der Bildschirm ist nur ein Wiedergabegerät für visuelle Informationen, dabei von ganz erheblich höherer Bildauflösung und Bildqualität als unsere besten Geräte. Man kann den ganzen Tag die allerverschiedensten Informationen über den Bildschirm abrufen. Die Informationen sind zentral in großen Archiven elektronisch gespeichert und werden laufend erweitert und ergänzt. Der Bildschirm ist für die Utopier das wichtigste Lernmittel.
Und Lernen ist eine ihrer Hauptbeschäftigungen. Sie fassen aber das Lernen nicht als Büffelei und ständiges Ansammeln von immer mehr Kenntnissen auf. Sie denken nicht daran, sich in lebende Enzyklopädien zu verwandeln, in denen extensiv Wissen angehäuft ist. Gerade weil sie über die großartigen Informationsarchive verfügen, die uns jederzeit fast jede Frage beantworten können, lassen sie dies Wissen dort, wo es für uns parat liegt und belasten damit nicht das Gehirn des einzelnen Menschen. Lernen heißt in Utopia zuerst einmal: kennenlernen. Die großen Werke der Weltliteratur lesen, die Gedanken der großen Philosophen, der Religionsstifter und Dichter kennenzulernen und über sie nachgedacht zu haben. Kontakt bekommen mit der Kultur der Menschheit von ihrem Beginn bis in unsere Tage. Das ist ihr Lernen. Sie beherzigen, was Lao-tse im alten China vor Jahrtausenden gesagt hat: Der Weise ist nicht gelehrt, und der Gelehrte ist nicht weise.
"Gibt es in Utopia keine Filme, kein Kino, kein Theater, keine Großveranstaltungen, wo Sänger singen wie Wolf Biermann?" "Gemach, das alles gibt es in Utopia, aber ganz anders und viel besser und schöner, als ihr es auch nur ahnen könnt. Morgen werden wir ein Theater besuchen. Freunde haben euch und uns dazu eingeladen."
Wir gingen um Mitternacht schlafen. Katja versank sofort in ihren beneidenswerten Tiefschlaf, aber ich lag noch lange wach, und die Gedanken an das Kommende und die vielen Fragen, die ich danach hatte, wälzten sich durch meinen Schädel. Was für ein Theater erwartete uns, eine Welt ohne Autos und Flugzeuge, aber doch offenbar technisch hoch entwickelt, wie konnte man denn weit reisen, auf Eseln? War Utopia nur eine kleine Insel in einem Meer der alten Welt? Oder war es schon die ganze Welt in der Zukunft, welcher Zukunft, nach dem Atomkrieg oder ohne ihn, nur ohne ihn möglich. Das Ende der Männerherrschaft. Das neue Matriarchat, von dem Friedrich Engels geschrieben hatte?
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Wie sahen in dieser Welt die großen Städte aus? Wir hatten bisher nur die Idylle der Sommerfrische in lieblicher Landschaft kennengelernt. Wo und wie arbeitete in Utopia die große Industrie? Wo erntete man die Lebensmittel? Doch nicht nur in den kleinen Gärten, wie wir sie hier fanden, wo Salate und Mohrrüben, Radieschen und Petersilie angepflanzt waren. Auch Artischocken und Tomaten, Paprikas und Auberginen gab es, sogar Kartoffeln und Erbsen. Aber für ein paar Tage, ein paar Wochen im Jahr vielleicht. Irgendwo in Utopia mußte auch Landwirtschaft und Viehzucht in großem Stil in Betrieb sein.
Ich wurde erst um zehn Uhr vormittags geweckt. Alles war schon lange auf, und das Frühstück mußte ich nun allein essen. Das kommt davon, wenn man abends noch zu lange grübelt. Ich kenne das an mir, genieße auch den Morgenschlaf sehr und freue mich trotzdem immer, wenn ich schon um 9 Uhr oder gar schon um acht aus dem Bett gekommen bin. Während ich Corn Flakes in Milch mit Erdbeerkonfitüre löffelte, dazu Tee trank und dann noch einen Apfel aß, saßen meine drei Gefährten um mich herum und schlugen vor, endlich mit vernünftigen Reiseplänen zu beginnen, da wir Utopia doch nicht nur aus der Froschperspektive der Sommerfrische kennenlernen wollten. Ich schlug vor, wir sollten zu allererst einmal die Hauptstadt von Utopia besuchen. "Ja, aber es gibt in Utopia überhaupt keine Hauptstadt. Es gibt nicht einmal Städte, so wie ihr sie in eurer alten Welt hattet. Ja, wir haben da einige Überreste solcher Städte, Trümmerhaufen von riesigen Betonbauten, zur Abschreckung. Betreten ist auch nur auf eigene Gefahr gestattet und man rät dringend davon ab." Das war ja unglaublich! Es gab keine Städte mehr! Das ganze wunderbare farbige Durcheinander von Menschen und Sachen, von Wohn- und Kaufhäusern, Kinos, Theatern, Sportstätten, Kirchen, Palästen und Elendshütten, Mittelalter und Neuzeit — das alles sollte es in unserem Utopia nicht mehr geben?
Bertram versuchte uns zu beruhigen: "Ihr müßt bedenken, eure Zeit ist schon lange, sehr lange, zu Ende. Daß sie bei aller Farbigkeit doch in erster Linie grausam und barbarisch war, das habt ihr doch selbst am eigenen Leib gründlich erfahren."
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"Aber das Unheil kam doch nicht von den Städten, von ihren großen Häusern und ihren kulturellen Einrichtungen!"
"Aber vielleicht hatten die Städte das Unheil zur Ursache und waren dadurch auch Vollstrecker des Unheils und der Unmenschlichkeit. Damals wohnten Millionen Menschen auf wenigen Quadratkilometern in riesigen 20- und 30stöckigen Wohnsilos eng zusammengepfercht und waren sich dabei so fremd wie nie zuvor. Je enger sie in diesen Kästen lebten, desto mehr waren sie voneinander isoliert und unglücklich in ihrer Einsamkeit. Starb einer in seiner Wohnung, so merkten es die Nachbarn oft erst, wenn der Leichengeruch durch die Türritzen drang. Die Luft in diesen Städten war giftig, und wenn sich der sogenannte Smog entwickelte, der durch eine Temperaturinversion in der Atmosphäre verursacht wird, dann starben die Leute wie die Fliegen. Bei uns ist die Luft rein, und keine Temperaturinversion kann bei uns Smog hervorrufen. Die Städte des Altertums und des Mittelalters waren Wohn-, Lebens- und Arbeitsgemeinschaften, die zum Schutz gegen Feinde und Räuber eng zusammengerückt waren und ihr Gemeinwesen nach außen durch dicke Stadtmauern schützten. Dieser militärische Grund war eigentlich der Hauptgrund für die Entstehung großer Städte in alten Zeiten. Die modernen Städte eurer überlebten Zeit hatten ganz andere Gründe für ihre Entwicklung und ihr schreckliches Wuchern, das sie zu riesigen politischen, moralischen und kulturellen Krebsgeschwüren der Gesellschaft werden ließ, wo alle schlimmen und wirklich verwerflichen Laster Menschen zu Hyänen und Peinigern anderer Menschen werden ließen."
"Ja, das ist wohl richtig, und die Behörden in unseren großen Städten führen gegen diese Krankheiten ja auch einen unermüdlichen Kampf!" Ohne es auszusprechen, dachten wir an die vielen jungen Menschen, die durch Drogen umkamen, an die Frauen, die vor ihren betrunkenen Männern mit ihren Kindern in "Frauenhäuser" flüchteten, an die massenhafte und schamlos auftretende Prostitution.
"Wir wissen, woran ihr jetzt denkt", sagte Anna, "dabei sind das alles nur Symptome, äußere Erscheinungsformen von viel tiefer verwurzelten Unmenschlichkeiten eurer untergegangenen Gesellschaftsformation."
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"Die Hauptvoraussetzungen für die Entstehung eurer barbarischen Großstädte sind bei uns in Utopia nicht mehr gegeben. Es gab bei euch zwei solche Hauptgründe. Der erste Grund war, daß in der noch sehr rückständigen Industrie eurer Zeit eine sehr große Zahl von Industriearbeitern auf engem Raum in den großen Fabriken zusammenarbeiten mußten. Selbst sehr weit entwickelte Industrien, wie die Autoindustrie, waren vom Standpunkt unserer modernen Technik eigentlich noch Handwerksbetriebe. Eine Unzahl von Arbeitern arbeitete an den Fließbändern und Produktionsstraßen — ob mit oder ohne festen Takt — und hatte primitive, immer wiederkehrende Handgriffe durchzuführen.
Außer den reinen Produktionsarbeitern beschäftigte eure Industrie Legionen von Technikern und Konstrukteuren und von Ingenieuren aller Qualifikationen, die gebraucht wurden, um ständig neue — meist völlig sinnlose — Variationen der produzierten Waren zu konstruieren und die neuen Konstruktionen in die Fertigung zu bringen. Schließlich gab es noch eine ins Überdimensionale ausgewachsene kommerzielle Bürokratie, die den komplizierten Produktionsprozeß in jedem Detail bis zum kleinsten Schräubchen und die Löhne und Gehälter der Arbeiter und Angestellten und die Rechnungen der Lieferanten, der Steuerbehörden und die Zahlungseingänge der Kunden und die Abrechnungen der Banken auf Heller und Pfennig zu kontrollieren, abzurechnen und zu verbuchen hatte.
Diese ganzen Leute mit ihren Familien, ihren Kindern, den dazugehörigen Schulen und den Versorgungseinrichtungen, Supermärkten, Badeanstalten und Vergnügungseinrichtungen, sie mußten alle möglichst in der Nähe der großen Industriewerke wohnen. Das alles gibt es bei uns nicht mehr. In der Industrie arbeiten ganz wenige, hochqualifizierte Spezialisten. Ungelernte oder überhaupt Industriearbeiter, wie ihr sie hattet, gibt es nicht mehr. Die Produktion ist vollständig automatisiert. Die Produkte bleiben über Jahrzehnte in Qualität und Konstruktion die gleichen. Übrigens sind sie von unvergleichlich höherer Qualität als eure analogen Produkte, soweit wir sie noch haben."
Bertram fuhr fort: "Auch die gesamte Bürokratie ist aus unserer Industrie verschwunden. Da es in Utopia kein Geld mehr gibt, also auch keine Löhne und Gehälter, keine Rechnungen und keine Banken, ist dieser Teil der früheren Aufgaben der Bürokratie vollständig weggefallen. Soweit der planmäßige und ungestörte Fortgang der Produktion eine laufende Kontrolle und Übersicht aller Lagerbestände an Zwischenprodukten und Ersatzteilen erfordert, wird das fehlerfrei und ohne jede Mitwirkung von Menschen von computergesteuerten automatischen ›Verwaltungen‹ erledigt.
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Sie sind so eingerichtet, daß die wichtigsten Produktionsdaten von der wissenschaftlichen Leitung der Betriebe jederzeit abgefragt werden können. Menschliche Arbeitskraft, wie bei euch die zermürbende Arbeit von lausenden Sekretärinnen, wird hier auch nicht mehr benötigt. Es ergibt sich also, daß der erste Hauptgrund für die barbarische Zusammenpferchung von Millionen in Betonsilos und Schlafstädten einfach weggefallen ist. Aber auch der zweite Hauptgrund ist weggefallen. Ihr fragtet vorhin nach unserer Hauptstadt, und wir sagten euch, daß wir in Utopia keine Hauptstadt haben. Das hat einen ganz einfachen Grund. In Utopia gibt es keinen Staat mehr, keine Regierung, keine Polizei, keine Form der Verwaltung von Menschen, nur noch die Verwaltung von Sachen, die, wie ihr gehört habt, praktisch vollkommen automatisiert ist. In eurem Lande zu euren Zeiten gab es in der staatlichen Verwaltung, bei der Polizei und beim Militär fast mehr ›Beschäftigte‹ als in der ganzen übrigen Maschinerie eurer Gesellschaft. Mehr Verwalter, Beschützer und Verteidiger als Verwaltete, Beschützte und Verteidigte. Von diesem Wahnsinn haben wir uns befreit. Könnt ihr jetzt verstehen, warum wir keine Städte, wie ihr sie hattet, mehr brauchen, ja auch gar nicht mehr haben wollen?"
Wir konnten es trotz aller Logik und Überzeugungskraft dieser Worte immer noch kaum fassen. Ja, wo waren die schönen großen Kinos, wo die Theater und Opernhäuser, wo die riesigen Sportforen, wo die Fußballspiele um die Pokale der Sportvereine, die internationalen Olympiaden und Turnfeste, wo der pulsierende und flutende Verkehr auf den Straßen unserer Großstädte?
"Wo sind denn nun die Menschen alle, die in unseren Städten gelebt haben? Habt ihr in Utopia diese Menschen auch gleich abgeschafft?" Ich erschrak über diese meine eigenen Worte. Es hatte mich ein Grauen beschlichen. Ich dachte an die Theorien des Mönches Malthus, der meinte, die Menschheit müsse dezimiert werden, wenn sie überleben wolle. Sonst würden wir an uns selber ersticken und uns gegenseitig dem Hungertod ausliefern. War das hier die Lösung à la Malthus? Vielleicht hatte man durch eine rigorose Geburtenkontrolle ein schrittweises Aussterben der Menschheit eingeleitet. Wer hatte das getan? Gab es doch eine geheime Regierung, einen Braintrust von Experten, die die wahren neuen Beherrscher der Menschheit geworden waren?
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"Wir haben keine Menschen abgeschafft. Die Gesamtbevölkerung der Erde ist heute etwa doppelt so hoch wie zu euren Zeiten. Auf dieser Höhe soll sie sich auch halten. Darüber wird bei uns viel diskutiert. Es gab große Beratungen deswegen. Einige meinten, wir sollten doch wieder eine Geburtenbeschränkung einführen oder wenigstens die Pille wieder anwenden. Aber diese Leute blieben weit abgeschlagen in der Minderheit."
"Warum? Die Pille hat doch unseren Frauen sehr geholfen. Ohne die Pille hätte die Emanzipation der Frau bei uns niemals diese enormen Fortschritte gemacht. Hat die Pille nicht auch etwas zu tun mit dem Recht der Frau, über ihren eigenen Körper zu bestimmen?"
"Wir denken darüber ganz anders, aber das liegt auch daran, daß die menschlichen Beziehungen in Utopia so ganz anders sind, so viel freier als bei euch", wendete Anna ein.
"Katja wird mich vielleicht eher verstehen als du, mein Lieber. Oder? Du alter Weltverbesserer in der Theorie. Die Praxis der Freiheit war immer viel schwerer als die Theorie, oft auch schmerzhafter. Weißt du, solange ihr die Pille noch nicht hattet, da waren die Frauen doch den Männern in der Liebe auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Ihre Angst, gegen ihren Willen befruchtet zu werden, war immer groß und begründet. Du weißt, wie leicht das Liebesglück den Menschen zufällt, aber auch, wie zerbrechlich es ist. Mit der Pille wurde der Frau die Angst vor der Willkür des Mannes genommen. Aber wurde die Willkür des Mannes damit auch dem Manne genommen? Blieb er nicht in der Liebe der im Grunde Unberührte, der Unbetroffene, der Freie? Daran hat die Pille nichts geändert. Wir meinen sogar, sie hat den rein physischen, den animalischen Aspekt der Liebe sehr in den Vordergrund gerückt.
Friedrich Engels sagte mit Recht: ›Der Mensch ist ein Gesellschaftswesen und ein Wesen der Natur.‹ Im Menschsein erhebt sich aber unser Wesen über unsere animalische Natur, ohne sie dabei im geringsten zu dämpfen oder zu zügeln. Du brauchst nicht zu denken, ich wollte hier Puritanismus predigen. Ich bin wie wir alle in Utopia für die freie ungehemmte Entfaltung unseres Naturwesens in der Liebe. Aber diese Formen der Liebe, wie wir sie haben, sind zugleich Formen unserer Kultur, nicht einfach nur Betätigung unserer Triebe. In unserer Liebe gibt es keine Angst mehr, wohl auch Schmerz, sogar Enttäuschung und Trauer, aber nicht die Angst, die aus der sozialen und damit materiellen Abhängigkeit der Frau vom Mann hervorgeht. Wenn wir ein Kind haben wollen, dann werden wir es auch haben. Und wenn wir es nicht wollen, dann warten wir und lieben uns doch, und glaube mir, in ganz wundervoller und vollkommener Weise."
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Bertram schaute Anna bei dieser Rede ganz glücklich an, dann forschte er in Katjas und in meinen Zügen, was wir wohl bei Annas Worten empfunden haben mochten. Katja sagte schlicht: "Anna, ich höre in deinen Worten vieles, was Robert schon zu mir gesagt hat. Aber ich mußte immer wieder an seinen Worten zweifeln. Es sind so schöne Worte, die man so gern glauben möchte." "Hier in Utopia, liebe Katja, kannst du diesen schönen Worten glauben, auch wenn dein Robert sie spricht. In eurer alten Welt können solche schönen Worte gar nicht mehr sein als Hoffnungen und Wünsche. Um sie wahr zu machen, muß mehr da sein, als ein paar gute Vorsätze. Die Welt, in der ihr lebt, muß erst aufgehoben werden, und nicht nur in Gedanken, sondern in Wirklichkeit, damit die Liebe nicht immer wieder zwischen die erbarmungslosen Mühlsteine gerät..."
Bertram goß uns jedem ein Glas Wein ein. Ach, wie uns das wohl tat! Langsam begriff ich, daß unsere Reise sehr aufregend werden würde. Aber würden wir nicht doch nur Zuschauer bleiben, deren phantastischen Berichten später nach unserer Rückkehr kein Mensch Glauben schenken würde?
Bertram und Anna entwickelten uns nun ihren Reiseplan für uns. Wir sollten am nächsten Morgen aufbrechen, mit zwei Eseln, die er sich im Morgengrauen von der Station holen werde. Ein Esel für mich, wenn mir der Marsch zu beschwerlich werden sollte. Der andere abwechselnd für den, der gerade Lust hat. Außerdem sollten die Esel Futter für zwei Wochen mitbekommen, nur Zusatzfutter, denn das meiste fraßen sie ja unterwegs am Wegrand. Anna meinte:
"In einer Woche können wir in einem großen Industriezentrum Utopias sein, das ihr euch unbedingt ansehen müßt. Unterwegs werden wir Bekannte und Freunde besuchen. Aber heute abend gehen wir erstmal ins Theater."
Es handelte sich nicht um ein Theater, wie wir es kennen. Es war eine Theateraufführung, die von Laien veranstaltet wurde. Kein einziger der Teilnehmer war ein professioneller Theatermensch. Franzi und Felix kamen auch mit und hatten großen Spaß. Nach einem ganz langsamen Spaziergang von knapp einer halben Stunde, den ich zu meiner eigenen größten Überraschung ohne Schwierigkeiten bewältigte, kamen wir an.
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Unterwegs sah ich viele kleine Häuschen, ähnlich wie unseres, aber keins sah aus wie das andere. Sie waren immer in Gebüschen versteckt und hatten kleine Gärtchen und Schuppen für Geräte, je nach der Laune der Besitzer. Wir kamen zu einem kleinen Amphitheater mit steinernen Sitzbänken und einer etwas erhöhten Bühne. Vor und neben der Bühne standen kleine Scheinwerfer, deren Licht durch farbige Glasscheiben in allen Farben des Regenbogens gefärbt werden konnte. Es dämmerte schon, und die Aufführung sollte bald beginnen. Mindestens hundert Menschen, vielleicht sogar mehr, hatten sich versammelt.
Bertram erklärte mir, daß es sich um ein experimentelles Stück handele. Die Idee zu dem Stück habe ein guter Freund gehabt, der aber leider heute nicht dabei sein werde und auch keine Ahnung habe, was sich hier ereignen sollte. Das Stück wurde jetzt angekündigt. Auf einer großen Tafel, angestrahlt von den Scheinwerfern, stand der Titel:
DIE HEILUNG DES ÖDIPUS
Danach wurde es stockdunkel, dann blendeten zwei Scheinwerfer auf und tauchten ein ungleiches Paar in ihr grelles Licht: Auf einem Thronsessel mit purpurnen Polstern und vergoldetem Schnitzwerk, sonst alles schneeweiß, ein kleiner feister Mann mit gerötetem Gesicht, prustend vor Lachen, Zeus der Olympier, mit einer goldenen Krone aus Lorbeerblättern. Neben ihm seine Tochter, Pallas Athene, in einem langen, bis zum Boden fallenden weißen togaähnlichen Gewand, dargestellt von einer sehr schönen, großen Frau mit dunkelbraunem, mahagonifarbenem Haar, das ihr in großen Wellen über Schulter und Brust fiel.
Während sich das Licht der Scheinwerfer langsam abschwächte und der Schein, der auf Pallas Athene fiel, sich leicht orange verfärbte, begannen die beiden ihr Gespräch:
"Vater, du ließest mich rufen?
Ja, ich wollte mit dir über die Tragödie und überhaupt über das Tragische ein wenig plaudern.
Du weißt, daß ich zu ernst bin, um über solche Themen leichtfertige Reden zu führen, wie es dein Sinn ist, Erhabener.
Sei nicht gleich verdrießlich, Tochter, ich wollte mit dir eine Idee besprechen, die mir vor kurzem gekommen ist. Du wirst dich an den unglücklichen Knaben erinnern, den Ödipus. Er ist blind und sitzt am Parnaß in einer finsteren Höhle, was er gottlob dank seiner Blindheit nicht bemerkt. Ich habe die Absicht, ihn zu retten, zu heilen.
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Nur um ihn noch unglücklicher zu machen, nicht wahr?
Nein, diesmal habe ich etwas Ernstes und Freundliches im Sinn. Du sollst mir dabei helfen, und dabei soll auch noch dir selber geholfen werden.
Meinst du wirklich, ich brauche Hilfe?
Ja, du fällst mir seit längerem schon auf die Nerven mit der allzu großen Kühle deines Sinns, mit deiner schrecklichen unschlagbaren Vernünftigkeit. Hätte ich dich doch nicht meinem Haupte entspringen lassen, sondern irgendeinem anderen, edleren Teil meines Körpers.
Was soll ich tun, edler Vater, dir zu helfen?
Du sollst etwas ganz und gar Unvernünftiges tun.
Das hat bei dir immer mit Liebe zu tun. Da muß man aufpassen. Willst du da nicht lieber Aphrodite bemühen. Die versteht dies Handwerk besser als deine kühle Tochter Athene.
Nein, auf keinen Fall, die Schaumgeborene ist mir in der Liebe zu stürmisch und - zu oberflächlich. Geburtsfehler! Du weißt, wie der Schaum entstand, in dem sie geboren wurde.
War es nicht im Meer, bei stürmischer See?
Ja, Poseidon raste, der Schaum war entstanden durch den Samenerguß eines Gottes, wer war es noch? Jedenfalls nicht Poseidon, das war ja sein Unglück. Aber Scherz beiseite, Aphrodite geht wirklich nicht. Mein Plan erfordert Kühle, deine Kühle, deinen Verstand und deine Großzügigkeit. Und er wird dir etwas bringen, was dir neu ist, Leidenschaft.
Sag, Vater, blendete sich Ödipus nicht mit eigener Hand?
Ja, es war seine größte Tat.
Hatte er nicht seine eigene Mutter geehelicht?
Ja, aber er wußte es nicht, er erfuhr es zu spät.
Hatte er nicht seinen eigenen Vater erschlagen?
Ja, aber auch unwissend und nicht durch eigene Schuld. Eigentlich war der Vater selbst an allem Schuld. Um die Prophezeiung des delphischen Orakels, die alles vorhersagte, was geschah, abzuwenden, hatte der Vater seinen Sohn bei Bauern auf der Insel Kreta ausgesetzt. Er führte sein Schicksal herbei, indem er es abzuwenden trachtete.
Und nun gereut es dich, was du da angerichtet hast?
Ich habe nichts angerichtet. Aber weil mit der Ödipustragödie die
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Zerstörung der Liebe begonnen hat, finde ich, daß es Zeit ist, dies alles zu wenden.
Glaubst du Schwerenöter denn überhaupt an die Liebe?
Athene, ich bitte dich, beurteile mich nicht immer nur nach meinen dummen Streichen. Hilf mir diesmal. Du sollst Ödipus' Mutter und Geliebte sein. Ich werde deinen blinden Sohn zu dir bringen."
Nach diesen Worten erlosch alles Licht. Nach einer kurzen Zeit fängt einer der Scheinwerfer langsam aufzublenden, orangerotes Licht. Von Ferne kommt ein schmaler bläulicher Scheinwerferstrahl. Sie beleuchten die Gestalt der Pallas Athene, die mit silbergrauem Helm, der tief in den Nacken sich fortsetzt, und gepanzert und mit blankem Schwert in der Hand mitten auf der Bühne steht. Das Metall blitzt im grünlichblauen Licht. Ihre Augen funkeln. Dann beginnt die Verwandlung der Göttin. Das Licht wird schwächer und schwächer, die Rüstung fällt, wie von Geisterhand bewegt, Stück für Stück von ihr ab. Zuletzt nimmt sie selbst sich den Helm vom Kopf, läßt ihn fallen und steht in wunderschöner hinreißender Nacktheit da. Dann erhebt sie die Arme und nickt mit dem Kopf. Das Licht geht aus.
Dann war eine kurze Pause. Schwaches Licht. Auf der Bühne wurde umgebaut. Jetzt erst bemerkten wir, daß Anna und Bertram verschwunden waren. Wir konnten sie nirgends unter den Zuschauern entdecken. Ich habe die erste Szene - aus dem Gedächtnis - fast wörtlich wiedergegeben, um den starken Eindruck, den die Aufführung auf mich machte, einigermaßen verständlich zu machen. Ich habe vergessen, daß während der Szene wiederholt leise Musik zu hören war, auch Trommeln und weit entfernte Paukenschläge.
In der zweiten Szene erscheint Ödipus Mutter, eine alte abgehärmte Frau, von der Trauer um ihren Sohn gezeichnet. Vor der Tür ihres Gemachs steht Ödipus, neben ihm Zeus. "Nun geh schon. Sterblicher. Mach zu, Blinder, hier ist's richtig", sagt er mit deutlich sächsischem Tonfall. Dann löscht das Licht den Erhabenen aus und überläßt Ödipus und die ganze Szene sich selbst. Ödipus wankt herein, sich vorsichtig mit seinem Blindenstab vorantastend. Da erkennt ihn die Mutter, er sinkt zu ihren Füßen nieder und umarmt sie. Sie schluchzt voll Glück und voll Verzweiflung. Die Mutter küßt ihren Sohn und streichelt ihn zärtlich. "Wer bist du", fragt er. "Deine Liebste", ist ihre Antwort. "Ich fühle mit meinen Händen, wie schön du bist!" "Ich bin ja blind und kann dich doch sehen, mit meinem Körper, Geliebte, sehe ich dich."
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So sprechen sie lange und werden immer glücklicher. Er streift ihr langsam die Kleider vom Leib und nun beginnt die neue wunderbare Verwandlung. Ödipus wird sehend, und er sieht seine Mutter, die sich vor seinen Augen in ein strahlend schönes Weib verwandelt, alle Male der erlittenen Schmerzen lösen sich auf, ihr Gesicht strahlt, sie umarmen sich und lieben sich, während die Lichter langsam erlöschen.
Jetzt bemerke ich plötzlich, daß die Darsteller des Ödipus und der Mutter, auch der Pallas-Athene, unsere Freunde Bertram und Anna waren. Merkwürdig, wie anders auf der Bühne ihre Stimmen klangen. Sie wurden durch Lautsprecher verstärkt und dadurch verändert. Das war Absicht, erfuhr ich später von Anna.
Die nächste Szene war ein großes Fest. Alle Zuschauer nahmen daran teil. Die Heilung des Ödipus wurde gefeiert, die Heilung durch die Liebe. Es wurde Wein ausgeschenkt, Musik erklang, viele tanzten und küßten sich. Anna und Bertram kamen zu uns, umarmten uns und stellten uns dann allen vor.
"Seht, das sind unsere Gäste aus der alten Welt. Seid alle ganz besonders lieb zu ihnen!" Franzi und Felix schmiegten sich eng an Katja, und ihre Gesichter strahlten. Sie bekamen Bilder und kleine Stofftierchen geschenkt und verdarben sich den Magen mit Süßigkeiten. Anna sagte zu mir, ich brauche deswegen keine Sorgen zu haben. "Unsere Süßigkeiten schaden keinem Kind, und wenn es noch soviel davon ißt."
Mitten im Fest erklingen laute Trompeten. Ein berittener Bote erscheint. Der König ist in höchster Gefahr. Er braucht schnelle Hilfe. Auf der Jagd wurde er von einer Giftschlange gebissen und liegt sterbend in einer Schlucht des Gebirges. Ödipus und einige junge Ritter schwingen sich aufs Pferd, dem König zu Hilfe zu eilen.
Neue Szene: Der König, sterbend auf einer Bahre, umgeben von Kriegern und klagenden Frauen. Ödipus erscheint, kniet an der Bahre nieder, läßt sich die Wunde zeigen und beginnt sie auszusaugen. Das Gift verläßt den Körper des Vaters und strömt in Ödipus Körper hinüber. Beide sind schließlich nur noch ermattet, doch gerettet. Liebe, Umarmung, Heimkehr.
Das große Fest nimmt die Geretteten wieder in sich auf. Ödipus küßt und umarmt noch einmal seine Mutter. Dann großer Abschied. Ödipus geht nach Kreta und befreit die Bauern von der Herrschaft der Türken.
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Nach der Aufführung gibt es eine große Diskussion mit den Zuschauern. Einer meint, das mit der Befreiung der Bauern soll man weglassen. Oder besser begründen. Warum bleibt Ödipus nicht bei der Mutter, die seine Geliebte geworden ist? Dann muß aber die Rolle des Vaters noch mehr ausgebaut werden. Alles gute Vorschläge. Die Theatermacher wollen sie beherzigen. Es ist ein Stück gegen die Verteuflung des Inzests. Also eine Umkehr der griechischen Ödipussage, deren Funktion ja gerade die Verteuflung des Inzests war. Die Ablösung der matriarchalischen Gruppenehe der Vorzeit durch die Monogamie der Ausbeutergesellschaft mit ihren harten Tabus zur Sicherung der Vaterherrschaft.
Wir sind nachdenklich nach Haus gegangen, Arm in Arm wir sechs großen und kleinen Menschen, haben noch ein Glas Wein getrunken und sind in tiefen Schlaf gesunken, bis zum Morgen.
Katja und ich sind von dem Theaterabend sehr beeindruckt. Unsere Freunde Bertram und Anna haben uns sehr gefallen. Beim Frühstück erzählen sie uns, daß es in Utopia viele solche und ähnliche Theatergruppen gibt. Auch andere Künste werden so in ganz unprofessioneller Weise gepflegt. Wie schon Marx prophezeite: Es wird keine Maler, Bildhauer, Musiker mehr geben, dafür aber viele, die malen, bildhauern, musizieren. Alle werden aktiv und schöpferisch an der Kultur teilhaben.
Bald danach bepacken wir unsere zwei Esel, die Bertram schon in aller Frühe geholt hatte. Von einem Hügel, den wir überqueren mußten, warfen wir einen letzten Blick auf das friedliche Tal mit seinen vielen freundlichen Menschen, wie es da lag, eingerahmt von in den Himmel ragenden schneebedeckten Bergen mit blaugrün glitzernden Gletschern.
Am ersten Tag unserer Reise legten wir eine Gesamtstrecke von 20 bis 25 Kilometern zurück. Wir ernährten uns von den Speisen, die wir mitgenommen hatten und übernachteten in kleinen Herbergen. Dort trafen wir auch andere Wanderer, einzelne und kleinere Gruppen. Manche kamen weit her aus fernen Ländern, so daß die sprachliche Verständigung mit ihnen manchmal nicht leicht war. Dann half die Weltsprache, die in Utopia schon weit verbreitet ist. Sie enthält Komponenten aus vielen Sprachen. Ihr Grundgerüst hat die englische Sprache geliefert, die ja selbst eine Mischung zweier Sprachen ist, des Sächsischen und des Romanischen.
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In der Weltsprache finden wir viele deutsche, slawische, arabische, - sogar chinesische, japanische und Wörter aus afrikanischen und indonesischen Sprachen. Die Orthographie ist rein phonetisch - mit wenigen Ausnahmen zur Vermeidung von Verwechslungen, die Interpunktion weitgehend ohne feste Regeln. Alles außer Satzanfängen und Namen wird klein geschrieben. Man kann aber auch auf Versalien ganz verzichten, wie es in allen Texten der Video-Information üblich ist.
Nach vier Tagen unserer Wanderung lag das Gebirge schon weit hinter uns. Anna und Katja hatten das Tempo unseres Marsches beschleunigt. Wenn es mir zu schnell ging, ritt ich auf meinem Esel. Wir alle waren voller Erwartung, unsere Freunde darauf, wie wir die neuen Eindrücke aufnehmen würden. Am fünften Tag — wir mochten wohl mindestens 150 Kilometer zurückgelegt haben — erreichten wir eine weite Ebene. Zum ersten Mal sahen wir in Utopia ein landwirtschaftlich kultiviertes Gebiet. Soweit das Auge reichte, bis an den Horizont, erstreckten sich die Anpflanzungen, verschiedene Getreidearten, sogar Reisfelder, aber auch Erbsen und Gurken und Soja-Bohnen, Zuckerrüben und Futterrüben, alle Arten von Viehfutter-Pflanzen. Jede Kultur in großen langgestreckten Flächen mit einem System von Berieselungsanlagen größten Ausmaßes. Zwischen den einzelnen Feldern waren glatte, feste Wege, offensichtlich für die Fahrzeuge, mit denen die Ernte abtransportiert wurde.
"Was sagt ihr zu unserer Landwirtschaft? Hier werden in zwei Ernten pflanzliche Nahrungsmittel für mehrere Millionen Menschen erzeugt." Bertram schien uns schon angekündigt zu haben. Denn nun erschien ein schnelles Fahrzeug, eine Art Jeep mit sehr großen weichen Reifen, es bewegte sich ganz lautlos, wohl mit elektrischem Antrieb. Es wurde von einer kräftigen älteren Frau gelenkt. "Meine Freundin Ulrike", stellte uns Anna sie vor. "Sie leitet diesen Betrieb schon seit Jahren. Wir wollen mit ihrer Hilfe schnell zu den großen Gewächshäusern fahren." Bertram blieb mit den Eseln zurück. Er würde uns schon noch einholen, meinte er. "Die 15 Kilometer schaffe ich mit den Eseln in weniger als zwei Stunden." In einer Viertelstunde langten wir an. Die Gewächshäuser bedeckten eine Fläche, die uns kaum geringer zu sein schien als die Fläche der Freilandkulturen. "Hier ernten wir das ganze Jahr, auch im Winter." Da ich nirgends in den Gewächshäusern irgendwelche Heizkörper sah, fragte ich danach. "Wir brauchen hier keine besondere Heizung", erklärte Ulrike.
"Hier kommt die Wärme, die im Winter gebraucht wird, von unten. Der Boden ist hier immer gleichmäßig warm, durch die großen Thermostaten unserer Industrie."
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