8. Restauration und Revolution in Europa
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Der Zweite Weltkrieg verwandelte Europa in einen Trümmerhaufen, nicht nur materiell, sondern auch geistig. Alle großen moralischen Instanzen, die bürgerlichen wie die sozialistischen, hatten in den Verbrechen dieses Krieges ihre Glaubwürdigkeit verloren.
60 Millionen Tote, davon allein 20 Millionen in der Sowjetunion, die fast vollendete systematische Ausrottung der europäischen Juden, der Tod ungezählter Millionen, die wegen ihres Glaubens und wegen ihrer politischen Überzeugungen in den Konzentrationslagern und Zwangsarbeitslagern der Nazis und des Archipels GULAG sterben mußten, die Politik des Paktierens und der Geheimverhandlungen vom Konkordat des heiligen Stuhls mit der Hitlerregierung bis zu den von allen Seiten unaufrichtigen Verhandlungen und Vertragsabschlüssen, die der »Osten« wie der »Westen« mit dem Hitlerstaat praktizierte, und die — gewollt oder ungewollt — nichts anderes waren als Kriegsvorbereitungen, die militärisch sinnlose und barbarische Vernichtung Dresdens und anderer deutscher Großstädte noch kurz vor Kriegsende, der Abwurf der beiden Atombomben über Hiroshima und Nagasaki, die auf einen Schlag eine halbe Million Menschen töteten und Hunderttausende zu langjährigem Siechtum verurteilten, — nicht nur die Besiegten, die den Wahnsinn dieses Krieges in Gang gesetzt hatten, auch die Sieger hatten — gemessen an den humanistischen Idealen, für die sie gekämpft hatten — Mittel angewendet, die der edelste Zweck nicht heiligen konnte.
Die beiden Hauptsiegermächte, die Sowjetunion und die USA, teilten Europa und soweit möglich auch die ganze übrige Welt unter sich auf. Im fernen Osten führte die Verjagung der Japaner vom Festland zum Sieg Mao Tse-tungs über Tschiang Kakschek und zum Ende der französischen Kolonialherrschaft in Indochina. Die Inder befreiten sich endgültig von der britischen Kolonialherrschaft. Das britische Empire brach zusammen.
Europa wurde in zwei Teile gerissen, den von den USA beherrschten Westen und den von der Sowjetunion beherrschten Osten. Die Grenze zwischen beiden verlief mitten durch das ehemalige Deutsche Reich. Die »moralische Wiederaufrüstung«, wie man die nun folgende Epoche der Restauration der bürgerlichen Klassenherrschaft im Westen fast selbstkritisch nannte, machte verbunden mit einer schnellen Wiedergesundung der Wirtschaft und schließlich auch mit einer unter Bruch des Potsdamer Abkommens durchgeführten militärischen Wiederaufrüstung in wenigen Jahren rapide Fortschritte.
Kaum zehn Jahre nach dem Ende der Hitlerzeit hatten die meisten Deutschen die schrecklichen Verbrechen vergessen, an denen so viele von ihnen im Krieg und auch in den KZs mitgewirkt hatten. Es gab kaum ein Volk in der Welt, das sich so aus innerster Überzeugung für demokratisch hielt und die Spielregeln der parlamentarischen Demokratie so perfekt praktizierte, wie die Deutschen im westlichen Teil Deutschlands.
Die Restauration kam in Westeuropa, ganz besonders aber in der Bundesrepublik zu einem vollkommenen Erfolg. Von der Revolution, die die Sowjetunion den Völkern ihres Machtbereiches bescherte, kann man das nicht sagen. Finnland gelang es, sich neutral zu halten und sein fortschrittlich bürgerlich-nationales Regime zu bewahren, die baltischen Staaten blieben Republiken der Sowjetunion, und die mit Hitler vereinbarte Teilung Polens wurde nicht rückgängig gemacht. In dem auf Kosten Deutschlands nach Westen erweiterten Polen, wobei Gebiete mit teilweise starken polnischen Bevölkerungsanteilen an Polen fielen, in Ostdeutschland, der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Jugoslawien und Bulgarien wurden sozialistische Republiken etabliert, die — von unwesentlichen kosmetischen Variationen abgesehen — das in der Sowjetunion praktizierte System zum Vorbild hatten.
So kam die Revolution nach Europa als ein fremdes, von einer fremden Militärmacht den Völkern aufgezwungenes Herrschaftssystem, bei den meisten noch dazu moralisch diskreditiert durch die rücksichtslosen Gebietsabtretungen während des Krieges und nach Kriegsende, die das Nationalgefühl der Völker verletzten. Nur Jugoslawien und Bulgarien waren davon verschont geblieben.
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Hinzu kam in allen diesen Ländern in den ersten Nachkriegsjahren große wirtschaftliche Not. Mit Neid und daraus erwachsender Ablehnung der Revolution blickten sie auf den wirtschaftlichen Aufschwung in Westeuropa. Ein anwachsender Strom von Flüchtlingen strömte in die Länder des Wirtschaftswunders. Gegen diesen unerträglichen Menschen- und Substanzverlust mußten sich schließlich die Staaten durch den hermetischen Abschluß ihrer Grenzen schützen.
Ich glaube, der Leser wird verstehen, daß ich diese uns allen bekannten Tatsachen hier nicht in dieser noch dazu simplifizierenden Kürze vorbringe, etwa um den Erfolg der Restauration im Westen gegenüber dem Mißerfolg der Revolution im Osten zu preisen. Ich will nur erreichen, indem ich diesen dunklen Hintergrund unserer Situation in Europa beschwöre, daß der Ernst erkennbar wird, mit dem ich mich doch und trotz allem zu dieser Revolution bekenne.
Mit der Vernichtung des verbrecherischen Naziregimes, das durch seine Untaten das Ansehen des deutschen Volkes entsetzlich besudelt hat, brachten uns die Soldaten der Roten Armee in Osteuropa und Ostdeutschland die Befreiung von dem Grundübel des Kapitalismus, aus dem alle seine weiteren Übel einschließlich der Möglichkeit der faschistischen Diktatur hervorgehen, die Befreiung vom Prinzip des Habens und Nichthabens, jedenfalls den ersten Schritt dieser Befreiung durch die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Ich muß auch diese Feststellung noch einschränken, indem ich sie präzisiere: Das Privateigentum an den Produktionsmitteln wurde zwar aufgehoben, indem die Rechte der bisherigen Eigentümer außer Kraft gesetzt wurden, aber an ihre Stelle trat ein neuer anonymer Eigentümer, der die schon von den Kapitalisten geübte Praxis der »Societe Anonyme«, der GmbH und der Aktiengesellschaften bis hinauf zu den marktbeherrschenden Konzernen nur übernahm: der Staat.
Damit wurden zwar einzelne Privatinteressen und Gruppeninteressen aus der Volkswirtschaft ausgeschaltet und auch das Grundprinzip der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die private Aneignung der gesellschaftlich produzierten Güter, aufgehoben. Aber die neuen Produktionsverhältnisse sind nicht sozialistisch, sondern staatsmonopolistisch. Diese noch nicht sozialistischen Produktionsverhältnisse sind das adäquate Gegenstück zur politbürokratischen Diktatur. Aber der Übergang von dieser politbürokratischen Diktatur zu der
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Diktatur des Proletariats, wie sie den Ideen von Karl Marx folgend Rosa Luxemburg charakterisiert hat, ist nur noch ein Schritt, ein Schritt, der die unvollendete Revolution vollendet. Er ist gewiß schwer zu tun. Aber er ward schon einmal aus eigener Kraft getan: 1968 in der CSSR! Und es ist doch eine alte historische Erfahrung, daß große Umwälzungen ihr Ziel selten in einem einzigen Schritt erreichen. So, denke ich, ist es auch jetzt wieder. Zu diesem entscheidenden zweiten Schritt der Revolution in den osteuropäischen Staaten bedarf es wohl auch der Auslösung durch innere und äußere Erschütterungen und Spannungen, wie 1968, als sich zur gleichen Zeit in Frankreich zuerst die Studenten und schließlich die ganze Arbeiterschaft gegen die Regierung und gegen die Fabrikherren erhoben und der französischen Bourgeoisie einen tödlichen Schrecken einjagten. Aber es wird - wie auch damals in der CSSR - die Einsicht, die rationale Bewältigung der lebensbedrohenden Vorgänge, die revolutionäre Idee also, die die Massen ergreift, die alles entscheidende materielle Gewalt sein.
Ich muß an dieser Stelle mit aller Entschiedenheit hervorheben, daß diese alles entscheidende materielle Gewalt keinesfalls in der Form eines politischen Vulkanausbruchs ans Tageslicht treten muß. Und wenn es doch dazu kommen sollte, wäre dies nur die Folge weiterer schwerer Fehler und unsinniger staatlicher Unterdrückungsmaßnahmen, die die Sicherheit des Staates ja nicht stärken, sondern zu den Hauptursachen wachsender Staatsunsicherheit gehören. Gerade der Verlauf des Prager Frühlings von 1968 hat deutlich gemacht, daß eine zugleich von unten mobilisierte und von oben geleitete Vollendung der sozialistischen Revolution ohne jedes Blutvergießen möglich ist.
Das Blut wurde später vergossen, als der Sozialismus mit menschlichem Antlitz mit brutaler Gewalt wieder erstickt wurde. Wieviel weiter und schwerer ist damit verglichen der Weg zur Revolution in den großen westeuropäischen Industriestaaten! Abgesehen von der Bundesrepublik Deutschland und in gewisser Hinsicht auch England ist auch die politische Arbeiterbewegung in mehrere große Blöcke gespalten, die sich mißtrauisch und oft sogar feindselig gegenüberstehen. Dazu kommt in allen diesen Ländern noch ein Sammelsurium linker Sekten und Splittergruppen, deren Spektrum von bigotten spiritualistischen Heilsvereinen über die traditionellen trotzkistischen, maoistischen und sonstigen K-Gruppen bis zu den radikalen Terrorgruppen vom Schlage der RAF reicht.
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In jüngster Zeit wird schließlich die Szene noch sehr durch das Auftreten der »Grünen« in Unruhe versetzt, die mit der attraktiven Idee, die Umweltverschmutzung kenne keine Parteien, aber die Parteien seien blind gegenüber der Umweltverschmutzung, ihre alternativen Listen und Bürgerinitiativen gegen Kernkraftwerke in der BRD zu einer Grünen Partei vereinigt haben, die zum Sammelbecken all derer zu werden beginnt, die mit den etablierten Parteien unzufrieden und, von der Aussichtslosigkeit der linken Sekten überzeugt, nun im großen grünen Zusammenschluß den Weg zur Überwindung der Zersplitterung erblicken.
Wenn man bedenkt, daß das Wesen der Sekten darin besteht, daß eine einzelne Erkenntnis oder auch — richtige oder falsche — Idee, sittliche Forderung oder Weissagung, durch deren Besitz sich die Mitglieder der Sekte allen übrigen Menschen voraus wissen, zur alleinigen und entscheidenden Grundlage aller Welterkenntnis oder auch nur aller Möglichkeiten zur praktischen Weltverbesserung erklärt wird, kann man sagen, daß in der Bewegung der Grünen dieses Urprinzip allen Sektierertums zur Vollendung gebracht wurde.
Nun endlich wissen wir, wer die Feinde der menschlichen Kultur sind — nicht mehr der Kapitalismus, nicht Unrecht und Unterdrückung, sondern die radioaktiven Ausdünstungen der Kernkraftwerke, die giftigen Schwaden der chemischen Industrie, die Pflanzenschutzmittel und Insektizide, die Ölverpestung, und ich weiß nicht, was noch alles —, was zweifellos ekelhaft ist und menschenfeindlich, aber doch nur nichts anderes ist als die Neben- und Endprodukte des Stoffwechsels eines Ungeheuers, das uns mit dem Inferno des nuklearen Krieges bedroht. In der BRD ist es sogar möglich, daß in der Bundestagswahl 1980 die Grünen die FDP an der Fünfprozenthürde scheitern lassen und damit den Wahlsieg der Bürgerlichen über die Arbeiterpartei herbeiführen.
So zahlenmäßig unbedeutend die linken Sekten auch sind, im ganzen kommt eben in dieser Zersplitterung ein krankhafter Schwächezustand zum Ausdruck, von dem die revolutionären Kräfte in der BRD, aber auch in anderen Ländern befallen sind, wo nicht nur eine große sozialistische Partei, sondern deren mehrere existieren. Auch die italienischen und die französischen Linksparteien leiden unter der Absonderung meist intellektueller Sekten, die sie schwächen und ihnen viele wertvolle Kräfte entziehen.
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Die Kritik der Sekten an den etablierten Parteien bezieht sich meist auf deren kompromißlerische und opportunistische Politik in den Parlamenten. Sektierer können sich eben nicht von ihrem Radikalismus trennen, den sie zu Unrecht für Radikalität halten, und dessen Wurzel ja auch oft die Bereitschaft hierzu bis zur Selbstaufopferung für die Sache ist. Um die wertvollen und selbstlosen revolutionären Menschen, die sich in Sekten verirrt haben, für die Revolution wiederzugewinnen, muß Klarheit darüber gewonnen werden, wo heute die Fronten des vorrevolutionären Kampfes in der Gesellschaft verlaufen.
Beginnen wir damit, wo sie nicht verlaufen.
Ich glaube, es müßte leicht einzusehen sein, daß sie nicht zwischen den verschiedenen politischen Arbeiterparteien verlaufen. Aber wie erbittert sind gerade hier sehr oft die politischen Auseinandersetzungen. Eine herausragende Rolle spielen hierbei die Feindseligkeiten zwischen den sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien auf der einen Seite und den Kommunisten auf der anderen. Für viele gilt die grundsätzliche Distanzierung von den Kommunisten als einziges glaubwürdiges Alibi gegen den Verdacht, die prinzipielle Anerkennung der parlamentarischen Demokratie könnte nur ein taktisches Lippenbekenntnis sein. Der Antikommunismus hat die Funktion des Qualitätsstempels eines Markenartikels, ohne den keine Partei in den Kreis der echten demokratischen Parteien aufgenommen werden kann. Diese totale Verteufelung des Kommunismus, die beispielsweise bisher verhindert hat, daß trotz der nichtendenwollenden Serie von Regierungskrisen in Italien die zweitstärkste Partei des Landes, die PCI, an der Regierung beteiligt wird, hat mehrere Gründe.
Wer sich bereit erklärt, mit den Kommunisten im Parlament zusammenzuarbeiten, wird sofort verdächtigt, daß er sich damit politisch zum Handlanger der sowjetischen Außenpolitik mache oder jedenfalls das Sowjetsystem nicht mehr grundsätzlich ablehne, was die Preisgabe der heiligsten Güter der Menschheit und einen Affront gegen den großen Verbündeten und Menschenfreund, nämlich die USA, bedeute, daß die heiligsten Güter der Menschheit sehr viel mit den Lebensinteressen des Dollars zu tun haben und auch dafür sorgen, daß er stets in die rechten Bahnen gelenkt wird, wurde wohl mit nicht zu überbietender Deutlichkeit aller Welt im Vietnamkrieg vor Augen geführt.
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Aber da dieser Krieg mit allen seinen furchtbaren Schrecken doch zur Abwehr gegen den Kommunismus geführt wurde, der die Existenz eines angeblichen freien, demokratischen Regimes in Südvietnam bedrohte, war niemand empört, und es gab für die Leiden des vietnamesischen Volkes nur Krokodilstränen. Peinlich war nur, als schließlich alle Welt doch erfuhr, wie frei von jeder Demokratie das von den USA verteidigte korrupte Regime in Saigon gewesen war.
Wenn man den zur Schau getragenen Antikommunismus, von dem man in erster Linie doch hofft, daß die US-Amerikaner ihn ernst nehmen, mit den bitteren Klagen vergleicht, die die Parteien über ihre eigene Verteufelung als »Sozialfaschisten« durch die Kommunisten vor der Machtergreifung der deutschen Nazis anstimmten, gewinnt man einen Eindruck davon, wie leicht die Menschen vergessen und wie schwer sie darum aus den Erfahrungen ihrer eigenen Geschichte lernen. Ahnen sie immer noch nicht, daß die Spaltung der Arbeiterbewegung in Sozialdemokraten und Kommunisten, in Menschewiki und Bolschewiki, im alten rückständigen Rußland zwar zum Sieg des bolschewistischen Umsturzes, aber übertragen auf die Industriestaaten des europäischen Westens nur zur Stärkung ihrer Feinde, ja sogar zum Sieg des deutschen Faschismus entscheidend beigetragen hat? Und daß die Fortdauer dieser unseligen Spaltung und Feindschaft auch heute nicht den Arbeitern, sondern nur ihren Klassengegnern dient?
Die Überwindung dieser Spaltung kann natürlich nicht dadurch erreicht werden, daß sich eine Seite der anderen unterwirft oder daß etwa beide in einer Art Handel wechselseitig auf eine Reihe politischer Positionen verzichten, um sich dann auf eine gemeinsame politische Plattform einigen zu können. Die Spaltung kann nur überwunden werden in einer höheren Form der Einheit, die Togliatti die Einheit in der Vielheit genannt hat. In der politisch organisierten Einheit aller Linkskräfte sott wohl die Grundlage für ein einheitliches und planmäßiges politisches Handeln geschaffen werden. Aber dieses einheitliche, organisierte Zusammenwirken — selbstverständlich auch orientiert an gemeinsam beschlossenen aktuellen Programmen — soll unter gleichzeitiger Wahrung der Vielfalt der Meinungen und der Freiheit der innerparteilichen Auseinandersetzungen funktionieren. Pluralismus der Ideen und Polyzentrismus in der politischen Praxis sind grundlegende Voraussetzungen für das Entstehen und das Bestehen der neuen Einheit.
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Bei all dem muß auch gesehen werden, daß die seit sechzig Jahren andauernde Spaltung getrennte Funktionärsapparate produziert hat, bei denen die Abgrenzung von den anderen ein Teil ihrer eigenen Identität ist. Ich will diesen Apparateegoismus der Vollständigkeit halber erwähnen, weil er angesichts einer arbeitsplatzorientierten Interessenpolitik der Funktionäre vielfach eine mögliche Einheit verhindert. Der eine Apparat glaubt, daß der andere im Bündnis auf seine Kosten stärker wird. Dieser Apparateegoismus ist genauso wie die Sektiererei ein krankhafter Auswuchs dieser unseligen Spaltung. In seiner Wirkung ist er ebenso lebensbedrohend für die Politik der westeuropäischen Linken.
Eine für das Anwachsen und Erstarken der neuen Arbeitereinheit wichtige und zugleich schwierige Frage ist das Verhältnis zur Sowjetunion und überhaupt zum sogenannten »realen« Sozialismus. In dieser Frage wird es unvermeidlicherweise für lange Zeit keine einheitliche Meinung geben. Dieses Verhältnis wird sich auch — hoffentlich — stark verändern, wenn in den Ländern des realen Sozialismus wieder neue entschiedene Schritte zur Aufhebung der Diktatur der Politbürokratie getan werden. Dabei wird sich zeigen, wie stark sich die revolutionären Entwicklungen hüben und drüben gegenseitig beeinflussen, im Guten wie im Schlechten. Aber auch bevor es soweit ist; denn die neue Einheit kann darauf nicht warten, müssen die Gruppen und Parteien, die bisher einen militanten Antisowjetismus und einen ebenso prinzipienlosen Proamerikanismus verfochten haben, sich von diesem Übel ebenso befreien, wie die immer noch stalinistischen Kommunisten von ihrem nicht weniger prinzipienlosen Prosowjetismus und pauschalen Antiamerikanismus. Das eine wie das andere nützt nicht der revolutionären Arbeitereinheit, sondern ihren Gegnern. Die Fronten des revolutionären Kampfes verlaufen woanders.
Sie verlaufen auch da nicht, wo sich Atheisten und Christen über die Rolle und den Wahrheitsgehalt der Religion streiten. Die sittlichen Forderungen des Jesus von Nazareth und seine unbedingte Parteinahme für die Armen, Entrechteten und Leidenden — wo gäbe es da für Sozialisten, auch marxistische, einen Grund zum Nein-Sagen?
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Der militante Atheismus, der sich stark fühlt, wenn er — womöglich mit der Staatsmacht im Rücken — die Gefühle gläubiger Menschen verletzt, ist nicht nur primitiv und vulgärmarxistisch, sondern durch und durch falsch und schädlich. Seine Repräsentanten stolzieren daher in einer gefälschten Klassenkämpferpose, während sie in Wirklichkeit scharenweise die besten Menschen zurückstoßen und anwidern, die mit den humanistischen Zielen der sozialistischen Arbeiterbewegung völlig einverstanden sind, nur immer wieder in Zweifel geraten, ob sie auch wirklich ehrlich vertreten werden.
Wir müssen noch einen ganz entschiedenen Schritt weitergehen, um uns darüber klar zu werden, wo die Fronten unseres Kampfes verlaufen und wo nicht. Denn sie verlaufen auch nicht längs der Grenzen zwischen den bürgerlichen und den Arbeiterparteien. Denn das hieße ja, daß der Kampf entschieden wäre, und die Revolution gesiegt hätte, wenn die Arbeiterpartei die parlamentarische Mehrheit errungen hat und Regierungspartei geworden ist. Daß dies keineswegs der Fall ist, geht aus der gesamten Geschichte der parlamentarischen Demokratie der kapitalistischen Staaten hervor. In den Parlamenten geht es um Gesetzesentwürfe und Regierungsprogramme des bestehenden Staates, aber nicht um die Umwälzung der Gesellschaftsordnung. Das ist ja gerade der beständig gegen die Kommunisten erhobene Vorwurf, sie wollten durch eine parlamentarisch-demokratische Mehrheitsentscheidung eben dies Verfahren außer Kraft setzen, das Prinzip der demokratischen Kontrolle also durch seine Anwendung beseitigen, um dann ungestört auch gegen den Willen der Mehrheit schalten und walten zu können. Allerdings sind die politischen Auseinandersetzungen in den Parlamenten auch nicht losgelöst und unabhängig von den vorrevolutionären Veränderungen im Schoße der Gesellschaft. In bestimmten Situationen können sie sogar hervorragenden Anteil daran haben. Aber gerade in diesen Augenblicken zeigt sich, daß die Fronten nicht längs der Parteigrenzen verlaufen, sondern quer durch alle Parteien, manchmal sogar auch die Arbeiterpartei, hindurch.
Keine politische Partei ist homogen. Alle bestehen aus verschiedenen Flügeln und Gruppierungen. Bei den bürgerlichen Parteien sind es meist einzelne wirtschaftliche Interessengruppen, die im Parlament ihre Lobby unterhalten. Einheit in der Vielheit wird da auf bürgerliche Weise seit langem praktiziert.
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Eins ist in jedem Fall gewiß, daß die primären vorrevolutionären und auch die revolutionären Veränderungen nicht durch parlamentarische Abstimmungen herbeigeführt werden, sondern daß umgekehrt die Veränderungen in der Basis der Gesellschaft, die mit den Mitteln der öffentlichen Auseinandersetzung, der Aufklärung, der wissenschaftlichen Kritik, der Kunst und der Literatur, in aller erster Linie aber mit der Macht der Gewerkschaften vorbereitet und durchgesetzt wurden, in den Parlamenten in der Form von Gesetzen nur endgültig abgesegnet werden. Auch das läuft nicht automatisch und ohne viele Widerstände über die Bühne, so daß die Arbeit der parlamentarischen Gremien und der Parlamentsfraktionen der Arbeiterpartei von nicht geringer Bedeutung ist. Aber die Revolution findet dort nicht statt.
Die Fronten, an denen für sie gekämpft wird, sind in erster Linie die großen Industriebetriebe, wo von den Gewerkschaften fast alles für die Entwicklung der neuen Gesellschaft im Schöße der alten erkämpft wird — danach erst die Foren der Öffentlichkeit, wo der Kampf gegen die Ideologie der noch herrschenden Klasse geführt wird und gegen die Irreführung und Manipulation der öffentlichen Meinung durch private Monopole in bestimmten Bereichen der Massenmedien, wie etwa im Zeitungswesen.
Von großer Bedeutung sind auch alle gesellschaftlichen Institutionen, die der Information der Öffentlichkeit über ökonomische, finanztechnische und administrative Veränderungen und der Veröffentlichung wissenschaftlicher Auswertungen dieser Informationen dienen. Es ist für die jetzt erreichte Phase charakteristisch, daß Einrichtungen dieser Art heute nicht nur vom Staat, sondern unabhängig von ihm auch von den Gewerkschaften und vom Unternehmerverband betrieben werden. Diese Institutionen sind wichtige Werkzeuge zur Durchsetzung der demokratischen Kontrolle der Regierung wie auch der Wirtschafts- und Finanzpolitik der großen Unternehmen und Konzerne, die immer noch größtenteils hinter verschlossenen Türen geplant und beschlossen wird.
Weitere wichtige Felder des öffentlichen Lebens, in denen unser Kampf geführt wird, sind Kunst und Literatur, Theater, Film - alle Formen der öffentlichen kulturellen Produktion und Reproduktion. Romane, Bühnenstücke und Filme können auf eine Weise das Denken und das Zweifeln an der Allmacht der herrschenden Zustände erregen und anregen, wie es eine sachliche und mit Zahlen belegte Analyse nie zustandebrächte.
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Alle diese Felder, vom gewerkschaftlichen Kampf in den Betrieben bis zur Durchleuchtung der gesellschaftlichen Realität in einem Film, hängen miteinander zusammen und auch voneinander ab, weil das, worum es geht, überall das gleiche ist, die Frage nämlich in jedem Augenblick neu zu beantworten, wie und auf welchem Wege und mit welchem nächsten Schritt kommen wir unserem großen Ziel näher, das wir erreichen müssen, wenn wir diese Zeit überleben wollen.
Der aus den Gesetzen seiner Ökonomie hervorgehende Zwang zu ständigem wirtschaftlichen Wachstum — bei Wachstumsstillstand würden nach dem Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate die Profite schnell dahinschwinden und könnten nur durch eine totalitäre Zwangsherrschaft aufrechterhalten werden — hat bewirkt, daß der Kapitalismus alle aus den Gesetzen der Natur sich ergebenden technologischen Möglichkeiten von Stufe zu Stufe steigend entwickelt hat, weil er nur durch ständige Steigerung der Produktivität der Arbeit, also mit Hilfe des technischen Fortschritts, dieses Wachstum realisieren und der ihn ständig verfolgenden Stabilitätskrise gerade noch entgehen konnte.
Er ist jetzt bei der letzten wissenschaftlichtechnischen Möglichkeit zur Steigerung der Produktivität der Arbeit angelangt, die während ihrer praktischen Einführung den Spitzenreitern noch gewaltige Gewinne verspricht, aber nach ihrer allgemeinen Anwendung die ökonomischen Grundlagen der kapitalistischen Wirtschaft aufhebt. Dieser letzte technologische Fortschritt ist die totale Automatisierung der industriellen und schließlich auch der landwirtschaftlichen Produktion. Dieser letzte Schritt wird mit Hilfe der Mikroelektronik erreicht, womit den produzierenden Maschinen ein ihren Aufgaben genau angemessenes Gehirn eingepflanzt wird, das sie zu Robotern macht, die zuverlässiger und genauer arbeiten als eine Kombination von Maschine und Mensch in der bisherigen Technik.
Das bereits allgemein sichtbare Ergebnis dieser neuen technischen Entwicklung ist die fortschreitende Freisetzung von Arbeitskräften infolge eines technologisch bedingten Schwunds an Arbeitsplätzen. Die Einführung der neuen Technologie erfordert die Investition erheblicher Mengen neuen Kapitals. Sie lohnt sich aber, wenn die Verzinsung und Amortisation dieses Kapitals während der erwarteten Laufzeit der Anlage weniger kostet als die Summe der bei der Produktion nach der bisherigen Technik zu zahlenden Lohne und die Abschreibung der alten Anlage. Da die Löhne ständig steigen, verzinst sich das investierte Kapital gerade dadurch nur um so mehr.
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Denn die Kosten des Endprodukts werden immer weniger von Lohnkosten bestimmt, während der auf dem Markt erzielbare Preis der allgemeinen Inflationsrate folgen kann. Außerdem bewirkt die Freisetzung von Arbeitskräften ein wachsendes Angebot auf dem Arbeitsmarkt und dementsprechend eine Dämpfung der tariflichen Forderungen der Gewerkschaften.
Es ist klar, daß dieser letzte große Run auf Extraprofite nur mit der absoluten Verelendung der Arbeiter enden kann, wenn nicht mit allen gewerkschaftlichen Mitteln dagegen gekämpft wird. Außerdem führt die fortschreitende Verelendung der Arbeiter auch längst, bevor sie ihr absolutes Ende erreicht, zu einem finanziellen Ruin des Staates, der die Kosten für die Arbeitslosenunterstützung nicht mehr aufbringen kann, weil den Versicherungsfonds ja die erforderlichen Mittel gar nicht mehr zufließen können. Unweigerlich kommt es damit zu einer katastrophalen Zuspitzung der Krise, womit die Gefahr des Ausweichens in die Zwangswirtschaft des Krieges entsteht, d.h. also der Krieg zur ultima ratio werden kann.
Die ganze Kraft des gewerkschaftlichen Kampfes muß gegen diese Entwicklung gerichtet werden.
Zunächst muß klar gemacht werden, daß die Investition von Kapital, die sich für den Unternehmer nur deshalb lohnt, weil die Kapitalkosten niedriger sind als die Lohnkosten ohne Investition, in Wirklichkeit von der Gesamtheit der Lohn- und Gehaltsempfänger mitfinanziert wird, die mit ihren Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung für die Kosten aufkommen müssen, die der gesamten Volkswirtschaft durch die Freisetzung der Arbeitskräfte entstehen. Die von den Unternehmern auf diese Weise erzielten Extraprofite beruhen demnach nicht auf einer Steigerung der ökonomischen Gesamtleistung, sondern stellen eine widerrechtliche Aneignung des Ertrages fremder Leistungen dar. Hieraus folgt auch, daß die Wettbewerbsfähigkeit der Gesamtvolkswirtschaft durch solche Investitionen gar nicht verbessert wird. Dies ist nämlich ein Hauptargument gegen die einzig vernünftige von den Gewerkschaften erhobene Gegenforderung, nämlich die Erhaltung der Gesamtzahl der Arbeitsplätze durch Herabsetzung der Arbeitszeit ohne Senkung des Gesamtlohns. Diese Forderung ist also keineswegs wirtschaftlich unerfüllbar. Sie hilft aber zu verhindern, daß Investitionen zu verschleierten Umverteilungen des Sozialproduktes zugunsten einzelner kapitalstarker Unternehmer mißbraucht werden können.
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Da die auf diese Weise investierten Kapitalien gesamtwirtschaftlich zu keiner Leistungssteigerung führen, sind sie Fehlinvestitionen, d.h. Verschwendung von Volksvermögen. Gegen diese Selbstherrlichkeit der Unternehmer, über die Investitionen zu entscheiden, gibt es keine gesetzlichen Schranken. Auch die bisher erreichten Formen der Mitbestimmung, einschließlich der paritätischen, ermöglichen die Verhinderung solcher Praktiken noch nicht. Dazu bedarf es zusätzlicher gesetzlicher Absicherungen.
Die wichtigsten gewerkschaftlichen Programmforderungen in diesem Zusammenhang sind deshalb: 1. Die Herabsetzung der Arbeitszeit ohne Lohnausfall durch Einführung der 35-Stundenwoche und fortschreitend der 30-, 25- und 20-Stundenwoche. 2. Das Verbot der Entlassung von Arbeitskräften, wenn sie sich nur daraus ergibt, daß mit einer neuen Technologie das gleiche mit weniger Arbeitern geleistet werden kann. Falls diese Situation eintritt, muß die Arbeitszeit entsprechend verkürzt werden, damit die Arbeiter am Vorteil der neuen Technologie vollen Anteil haben. 3. Die allgemeine Durchsetzung der paritätischen Mitbestimmung. 4. Das Veto-Recht der Arbeiter in allen Fragen, die die Veränderung der Zahl und der Art der Arbeitsplätze und die Einstellung oder Entlassung von Arbeitskräften betreffen. 5. Die öffentliche Darlegung der gesamten Geschäftstätigkeit des Unternehmens sowie die öffentliche Verteidigung der geplanten Erweiterungen oder sonstigen Veränderungen im Betrieb und in der Wirtschaftsführung des Unternehmens. 6. Die Beteiligung der Belegschaft am Gewinn.
Forderungen dieser Art werden natürlich von den Unternehmern mit allen Mitteln bekämpft, weil die unternehmerische Entscheidungsfreiheit durch ihre Erfüllung mehr und mehr eingeengt wird. Eins der Hauptargumente, mit dem sie sich gegen jede Art gewerkschaftlicher Forderungen immer wieder ins Recht zu setzen versuchen, ist die Behauptung, die wirtschaftliche Ertragslage sei zu schwach, so daß die Gefahr des Zusammenbruchs heraufbeschworen werde. Es ist die alte These, daß doch die Arbeiter und die Unternehmer alle in einem Boot sitzen und daß man die Kuh, die man melkt, nicht schlachten darf. Dabei sind die Unternehmer die einzigen, die die Kuh jederzeit bedenkenlos schlachten, wenn sich daraus ein Vorteil für sie ergibt. Es ist in Wirklichkeit umgekehrt. Die Erfüllung der gewerkschaftlichen Forderungen kann nur eine stabilisierende Wirkung haben und die Gesamtvolkswirtschaft vor Schäden bewahren, die ihr durch Unternehmerwillkür erwachsen.
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Die Verkürzung der Arbeitszeit, auf welche Weise dies auch geschehen mag, ist die einzige Möglichkeit zur Verminderung und schließlichen Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Wichtig ist, wie die Arbeiter die gewonnene Freizeit nutzen. Dafür zu sorgen, daß möglichst viele daran gehen, ihr Wissen und Können auf den Gebieten ihres Interesses zu vermehren, sei es auf künstlerischem oder wissenschaftlichem Gebiet -, und auch neue und bessere Möglichkeiten zu einer sinnvollen und fruchtbaren kulturellen Betätigung zu schaffen; dies alles gehört auch zu den Aufgaben der Gewerkschaften. Hier wächst die Arbeiterklasse aus ihrer sozialen Erniedrigung heraus und gewinnt die Kräfte zur Lösung ihrer zukünftigen Aufgaben.
Ich habe hier zu zeigen versucht, daß der Schwerpunkt des vorrevolutionären Kampfes in den hochentwickelten Industriestaaten in den Betrieben liegt und dort in erster Linie von den Gewerkschaften geführt wird. Die politischen Parteien und Organisationen haben die Aufgabe, diesen Kampf durch politische Massenaufklärung, durch wissenschaftliche Analysen der ökonomischen und politischen Prozesse, durch schnelle und umfassende Information der Öffentlichkeit durch die Massenmedien, aber auch durch die Durchsetzung und Schaffung gesetzlicher Grundlagen, die die erkämpften Rechte der Arbeiter sichern, und durch direkten und indirekten Einfluß auf die Regierung des Landes zu unterstützen und in der breitesten Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Hinzu kommt als ihre zweite Hauptaufgabe: Die Verteidigung der demokratischen Rechte und Freiheiten des Individuums gegenüber der Willkür des Staates und der durch Macht und Reichtum privilegierten herrschenden Klasse. Denn solange es private Verfügungsgewalt über die gesellschaftlichen Arbeitsmittel gibt, kann es keine wahre Demokratie geben, und alle erkämpften demokratischen Rechte und Freiheiten bleiben ständig bedroht und müssen immer wieder neu erkämpft werden. Erst der Sozialismus setzt sie endgültig in Kraft.
Von Bebel stammt das Wort »Ohne Sozialismus keine Demokratie, ohne Demokratie kein Sozialismus«. Bedeutet dies nun, daß die parlamentarische Demokratie der bürgerlich-kapitalistischen Staaten gar keine wahre Demokratie ist? Es kommt dabei darauf an, wie wir den Begriff der Demokratie in der Praxis fassen.
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Die Demokratie, die in der bürgerlichen Revolution geschaffen wurde, bestand in der Abschaffung aller angestammten Vorrechte und Privilegien der feudalen Adelsklasse: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Diese drei Grundsätze sollten für die Beziehungen zwischen allen Menschen gelten ohne Rücksicht auf Stand und Geburt. Während im Feudalismus die Bauern tributpflichtige Leibeigene ihres Feudalherrn waren, dem sie ohne Gegenleistung als Arbeitskraft zur Verfügung standen, allerdings nur mit einem Teil ihrer gesamten Arbeitszeit — die übrige Zeit stand zu ihrer eigenen Verfügung —, verfügen in der bürgerlichen Gesellschaft alle Menschen frei über ihre gesamte Arbeitszeit und Arbeitskraft. Niemand muß, niemand wird durch Gewaltandrohung gezwungen, alle Arbeitsverträge sind freie Vereinbarungen zwischen gleichberechtigten Partnern.
Im Feudalismus ist die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen noch offensichtlich. Der Bauer leistete Fronarbeit für seinen Herrn. Im Kapitalismus ist die Ausbeutung vollständig verhüllt, ihr Mechanismus ist nicht mehr offenkundig. Ihn sichtbar gemacht zu haben, war eins der Hauptverdienste der Klassiker des Marxismus. Aber sie haben nie bestritten, daß die bürgerliche Demokratie und das parlamentarische System mit »frei« gewählten Abgeordneten doch eine große historische Errungenschaft gegenüber der Willkürherrschaft der Feudalzeit war.
Schließlich war es Friedrich Engels, der 1891 in seiner Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfes (Erfurter Programm der SPD) schrieb: »Wenn etwas feststeht, so ist es dies, daß unsere Partei und die Arbeiterklasse nur zur Herrschaft kommen kann unter der Form der demokratischen Republik.« Und er fährt mit beißendem Hohn über die Ängstlichkeiten sozialdemokratischer Programmschreiber fort, wobei er die preußischen Strafgesetze damals durchaus in Rechnung stellte: »Aber das Faktum, daß man nicht einmal ein offen-republikanisches Parteiprogramm in Deutschland aufstellen dürfe, beweist, wie kolossal die Illusion ist, als könne man dort auf gemütlich-friedlichem Weg die Republik einrichten, und nicht nur die Republik, sondern die kommunistische Gesellschaft. Indessen kann man an der Republik sich allenfalls vorbeidrücken. Was nach meiner Ansicht hineinsollte und hineinkann, das ist die Forderung der Konzentration aller politischen Macht in den Händen der Volksvertretung.«
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Es liegt im Wesen der von Marx begründeten materialistischen Geschichtsanalyse, daß sie Wert und Unwert gesellschaftlicher Vorgänge, Erscheinungen und Institutionen nicht nach einem absoluten, zeitlosen und objektiv-moralischen Maßstab beurteilt, sondern ihren Wert und ihre Bedeutung nur im Zusammenhang mit den sich vollziehenden historischen Veränderungen und im Rahmen des geschichtlichen Gesamtprozesses der Entwicklung der Menschheit beurteilt. So erweist es sich, daß das, was einmal ein bedeutender Fortschritt war, im Laufe der Entwicklung sich in sein Gegenteil verkehrt. Auch die bürgerliche Demokratie ist diesem Schicksal nicht entgangen.
Ich will mich hier nicht ausführlich mit ihrer Entwicklung und dem Grad ihrer Deformation beschäftigen. Aber ich verweise auf die Analyse der parlamentarischen Demokratie in der BRD, die Karl Jaspers in seiner Schrift »Wohin treibt die Bundesrepublik?« gegeben hat. Als Fazit seiner Analyse formuliert er am Schluß seines Buches: »... es bleibt die Gefahr: Der Weg zur stärkeren Herrschaft der Unternehmer, der Parteienoligarchie, am Ende der Weg zur Diktatur und gesteigerte Kriegsgefahr koinzidieren. Doch keineswegs muß es so kommen. Noch ist Zeit. Aber nur eine grundsätzliche Umkehr der Politik kann das Unheil, den Verlust der Freiheit und des Daseins selber verhüten.«*
Angesichts der Tatsache, daß der Kapitalismus seine Endphase erreicht hat und unaufhaltsam sich seiner letzten, nicht mehr heilbaren Krise nähert, ist die fortschreitende Auszehrung der bürgerlichen Demokratie nichts anderes als die Widerspiegelung der immer unlösbarer werdenden Widersprüche in der ökonomischen Basis der Gesellschaft nun auch in ihrem Überbau. Jaspers sieht als ein Philosoph und Denker des Bürgertums nur mit Schrecken die Gefahr einer neuen faschistischen Diktatur: »Wer als Deutscher alt geworden ist, hat es zweimal erlebt (1914 und 1933) und fürchtet, daß es sich zum drittenmal wiederholen könnte.«** Verzweifelt appelliert er an seine Zeitgenossen, auf dem Weg des Unheils umzukehren und die bürgerliche Demokratie zu bewahren. Daß aber nur eine neue Form der Demokratie uns Freiheit und Leben erhalten und endgültig sichern kann, konnte er noch nicht erkennen. Diese Demokratie wird erst in der sozialistischen Revolution geschaffen, und für sie gilt dann das Bebel-Wort ohne jede Einschränkung: Keine Demokratie ohne Sozialismus.
* Karl Jaspers: Wohin treibt die Bundesrepublik?, München 1966, S. 279.
** Karl Jaspers, a.a.O., S. 281.
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Was aber ergibt sich, wenn wir das Bebel-Wort auf die Staaten des realen Sozialismus anwenden? Kein Sozialismus ohne Demokratie? Bedeutet es, daß dort kein Sozialismus besteht, weil es keine Demokratie, sondern nur die Diktatur der Politbürokratie gibt? Der Fehler, der einer pauschalen Bejahung dieser Frage zu Grunde liegt, beruht auf einer falschen historischen Einschätzung und Einordnung des »realen Sozialismus«. Er wird nämlich zu Unrecht als eine Art selbständiger Gesellschaftsformation bewertet, quasi von ähnlichem wissenschaftlich-historischen Rang wie die ganze bürgerliche Gesellschaftsformation. Der wesentliche Unterschied im Entwicklungszustand der beiden liegt darin, daß die bürgerliche Gesellschaft am Ende ihrer Entwicklung angelangt ist und sich vor einer großen Umwälzung befindet, während der reale Sozialismus eine Gesellschaft im Verlauf einer noch im Gange befindlichen, allerdings gegenwärtig gefährlich stagnierenden Umwälzung ist. Die bürgerliche Gesellschaft ist noch kapitalistisch und kaum noch demokratisch. Der reale Sozialismus ist nicht mehr kapitalistisch, aber auch noch nicht sozialistisch und noch nicht demokratisch.
Aber er ist auf dem Weg zu Sozialismus und Demokratie weiter — noch — als die bürgerliche Demokratie. Durch die ungünstigen Umstände, unter denen er 1917 zur Welt kam, durch die großen Bedrohungen und Gefährdungen von außen und von innen, denen er jahrzehntelang ausgesetzt war, und durch den Umstand, daß er erst mit dem Sieg der Roten Armee über Nazideutschland in die anderen Oststaaten gebracht wurde, ist diese Frucht der Oktoberrevolution geformt worden. Ihre Fortentwicklung und die Überwindung der in der Form des Stalinismus entstandenen schweren Störung und Entwicklungshemmung kommt nur langsam und unter größten inneren Schwierigkeiten voran. Dabei wäre ein schnelleres Tempo von größter internationaler politischer Bedeutung. Aber man muß bedenken, daß die Sowjetunion die Fehler und das leichtfertige Vertrauen, das Stalin in die Vertragstreue Hitlers setzte, mit dem Tod von 20 Millionen ihrer Bürger und mit der Verwüstung ihrer wichtigsten Industriegebiete bezahlen mußte.
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Dies ist ein sehr wichtiger Grund dafür, daß die Innen- wie Außenpolitik der Sowjetregierung in erster Linie von der Sorge um ihre Sicherheit beherrscht wird. Es gibt kaum eine andere Regierung, die so um die Sicherheit ihres Landes besorgt ist, was manche ihrer Entscheidungen überhaupt erst verständlich macht. Bei der realen Lageeinschätzung der Innen- und Außenpolitik ist die Führung der Sowjetunion zudem durch einen Strukturfehler des realen Sozialismus behindert, der darin besteht, daß die Führung allzu oft gefärbte Gefälligkeitsinformationen über die Weltlage bekommt.
Hinzu kommt der unsinnige US-amerikanische horror sowjeticus, der den Amerikanern den »Sowjet-Kommunismus« als Schreckgespenst und Weltfeind Nummer eins an die Wand malt. Man kann sich also nicht wundern, wenn die Russen auf jede Art von wirklicher oder auch nur imaginärer Bedrohung äußerst allergisch reagieren. Die innere Entwicklung in den Ländern des realen Sozialismus wird jedenfalls durch die Zunahme der Spannungen in der internationalen Politik nur gehemmt. In der Sowjetunion dienen äußere Bedrohungen und Spannungen nicht zur Ablenkung von inneren Schwierigkeiten.
Es war und ist bis heute immer umgekehrt: Die sehr realen und keineswegs übertriebenen äußeren Gefährdungen und Bedrohungen haben stets die Verschärfung der »Sicherheitsmaßnahmen« im Innern erst herbeigeführt. Umgekehrt wirken Verträge über Entspannung und Rüstungsbegrenzung. Daß das SALT-2-Abkommen vom USA-Senat immer wieder auf die lange Bank geschoben wurde, hat die Sowjetunion sehr beunruhigt. Die Konferenz von Helsinki (KSZE = Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) kam erst nach jahrelangem Betreiben durch die Sowjetunion und gegen den Widerstand der USA zustande. Die - berechtigte - Sorge um ihre Sicherheit begleitet das Leben der Sowjetunion seit dem ersten Tag ihrer Existenz. Wenn diese Sorge endgültig von ihr genommen werden könnte, wäre ihre innere Weiterentwicklung wahrscheinlich von den bisher schwersten Hemmnissen befreit.
Aber auch in den letzten fast fünfundzwanzig Jahren seit dem XX. Parteitag der KPdSU stand dennoch die Entwicklung in den Ländern des realen Sozialismus niemals still. Es gab den großangelegten Versuch der Entstalinisierung unter Chrustschow, es gab schwere Erschütterungen, verbunden mit positiven Entwicklungen in Polen, Ungarn, der CSSR und auch der DDR. Aber es gab auch schwerwiegende Rückschläge. Doch es gab keinen Stillstand. Die große Frage, die heute viele bewegt, besonders auch außerhalb der Länder des realen Sozialismus, lautet: Was kann getan werden, um die sozialistische Revolution auch in unseren Ländern weiterzutreiben und zu vollenden?
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Ich möchte auch in diesem Falle damit beginnen, zu erklären, was meiner Überzeugung nach nicht getan werden kann.
Die unnachsichtige Unterdrückung jeder Art von Kritik, selbst wenn sie in kleinstem Kreis geäußert wird und selbst wenn sie keineswegs den Sozialismus zum Gegenstand hat, oder wenn sie nur darin besteht, daß eine einigermaßen ungeschminkte Darstellung der gesellschaftlichen Wirklichkeit ohne die gewünschte Schönfärberei und Vertuschung der inneren Widersprüche gegeben, wie etwa in einem Roman, z. B. Stefan Heyms »Collin« oder Rolf Schneiders »November« — diese so sehr beschämenden Umstände haben zwar in erster Linie zur Folge, daß sich Kritik fast nur noch im Kreis ganz eng vertrauter Menschen zu äußern wagt, was ja wohl auch der Zweck der Unterdrückung sein soll. Aber sie haben auch zur Folge, daß immer mehr Menschen eine feindselige, oft haßerfüllte Einstellung zum Staat und zur herrschenden Partei einnehmen, was ja wohl kaum beabsichtigt ist.
Für mich ist hier das tragische Schicksal zweier bedeutender Menschen repräsentativ, die — ursprünglich überzeugte Sozialisten und Kommunisten — zu Feinden und Gegnern des Sozialismus und sogar zu kritiklosen Bewunderern der »freien westlichen Welt« geworden sind: Solschenizyn und Sacharow. Ursprünglich vielleicht noch unabsichtlich, einfach aus der Notlage der Unterdrückung der Meinungsfreiheit heraus, aber inzwischen schon bewußt und mit Absicht, wendet sich ihr Kampf gegen den Sozialismus überhaupt. Daß diese Art des Widerstands der Weiterentwicklung der Revolution nicht hilft, selbst wenn sie mit noch soviel Berechtigung primär für die Verwirklichung der Menschenrechte kämpft — daß sie nur den Gegnern der Revolution noch zusätzlich Munition liefen, ist nicht zu leugnen. Dieses falsche politische Verhalten gibt gerade denen Recht, gegen die sich ihre im einzelnen oft nur zu berechtigte Kritik richtet.
Völlig negativ beurteile ich auch die Flucht in den Westen. Sie ist einfach nur Kapitulation. Der Versuch, vom Ausland aus positiv auf die innere Entwicklung im Heimatland einzuwirken, ist fast immer von vornherein völlig illusionär. Es fällt den Emigranten unendlich schwer, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren und nicht in neue, viel unwürdigere Abhängigkeiten zu geraten, als die, vor denen sie geflohen sind.
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Wie oft gilt da Wolf Biermanns Vers mit grausamer Genauigkeit: »Leben stand nicht auf dem Spiele — Euer Wohlleben ja nur!« Wenn ich hier meinen Freund Wolf Biermann zitiere, so muß ich, um nicht mißverstanden zu werden, sagen, daß er wie auch Jürgen Fuchs und andere nicht in die Emigration geflohen ist. Sie wurden gegen ihren Widerstand und erklärten Willen, Wolf Biermann sogar mit Hilfe eines schändlichen Tricks, aus der DDR vertrieben.
Den Entschluß meines Genossen Rudolf Bahro jedoch, freiwillig die DDR zu verlassen, beurteile ich anders und billige ihn nicht. Natürlich muß man ihm zugute halten, daß er, zwar amnestiert, zu einer langen Freiheitsstrafe verurteilt war und wohl auch, weil Amnestie in diesem Fall nur Entlassung »auf Bewährung« bedeutete, für sich keine Möglichkeit zu irgendeiner Art von politischer Betätigung mehr sah. Aber hier irrte Bahro, kann man nur sagen. Schon sein entschlossenes Hierbleibenwollen wäre ein positives Politikum ersten Ranges gewesen. Doch leider sehe ich keinen Sinn mehr darin, über seinen Verlust zu klagen und über die Möglichkeiten zu reden, die er hier gehabt hätte, die Ratschläge auch selbst zu befolgen, die er uns in seiner »Alternative« gegeben hat.
Die Gründung eines »Bundes der Kommunisten«, die Bahro vorgeschlagen hat, gehört allerdings — wie ich denke — auch nicht zu dem, was jetzt und hier getan werden kann. Eine legale Gründung mit amtlicher Genehmigung ist jedenfalls jetzt ausgeschlossen. Eine illegale Gründung liefe nur darauf hinaus, den Sicherheitsbehörden die Arbeit zu erleichtern und ihnen die innerparteiliche Opposition mit Namen und Adressen ihrer Mitglieder auszuliefern.
Aber selbst wenn durch konsequente Anwendung der besten konspirativen Praktiken diese Gefahr ausgeschaltet werden könnte, wäre dieser Weg falsch. Illegale, konspirative Arbeit, in der man Freiheit und Leben aufs Spiel setzt, hat ihren Sinn, wenn der Kampf unversöhnlich gegen einen Feind und Gegner geführt wird, der vernichtet werden muß. Dies waren die Bedingungen des antifaschistischen Widerstands in der Nazizeit.
Aber die Kommunisten in der DDR führen einen solchen Kampf nicht. Die Genossen und Funktionäre der SED einschließlich der Genossen im Politbüro sind nicht Feinde und Gegner, gegen die ein unversöhnlicher Kampf geführt werden muß.
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Wenn wir dabei von den leider recht zahlreichen Karrieristen und gesinnungslosen Lobhudlern absehen, sind das unsere Genossen. Kommunisten wie wir, zwar ideologisch und praktisch im Netz des Apparats gefesselt, aber doch in ihrer Mehrheit nicht weniger besorgt um das Schicksal der Revolution als wir. Es ist völlig unsinnig und politischer Wahnsinn, zu glauben, man könnte diese Menschen, die schon jetzt unsere potentiellen Verbündeten sind — wie wir ihre —, für eine illegale, konspirative Widerstandsarbeit gegen die Partei gewinnen. Im Gegenteil, alles was diese Genossen politisch leisten können, können sie nur in der Partei, für die Partei, für die Überwindung der sterilen Apparatherrschaft und die Wiederherstellung der innerparteilichen Demokratie tun, niemals gegen sie. Im Grunde läuft alles auf eine sehr lapidare Feststellung hinaus: Eines Bundes der Kommunisten bedarf es nicht, weil es ihn schon gibt: Die Partei.
Ein Bund der Kommunisten nach den Vorstellungen Rudolf Bahros wird darum auch dann keinen Sinn haben, wenn die inneren Verhältnisse in der DDR sich so weit entspannt haben werden, daß eine behördliche Genehmigung dazu erteilt würde. Dieser Bund wäre eine oppositionelle Gegenpartei, und zwar eine rein ideologisch formierte, die keine ökonomische oder soziale Grundlage in der Gesellschaft hat, sondern einfach nur als Besserwisser und dann womöglich mit einem noch weit verschärften Anspruch auftritt, Avantgarde und elitäre Kaderpartei zu sein. Es liefe darauf hinaus, die innerparteiliche Opposition von der Partei abzuspalten und ihr gegenüberzustellen, während doch ihre einzige Aufgabe darin bestehen kann, die Partei aus ihrer Sackgasse herauszuführen und auf die gigantischen Aufgaben vorzubereiten, die sie zu bewältigen haben wird. Die Aufgabe der Opposition heißt eben nicht, der Partei entgegentreten, sondern in ihrem lebendigen Körper aktiv zu werden.
Was man in den Ländern des realen Sozialismus tun kann und tun muß, ergibt sich aus dem gesteckten Ziel: Die Vollendung der Revolution durch freie Entfaltung der sozialistischen Demokratie.
Diesem Ziel kann man sich nur schrittweise nähern. Auch 1968 wurde in der CSSR dieses Ziel nicht schon mit dem entscheidenden Januar-Plenum erreicht. Aber in dem Maße, wie wir auf dem Weg zu diesem Ziel vorankommen, werden wir anfangen können, an die Lösung der vielen anderen schwierigen Aufgaben zu gehen, die uns die vergangenen dreißig Jahre beschert haben.
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Die Erfahrungen, die vor und während der stürmischen Entwicklung des Jahres '68 in der CSSR gemacht wurden, haben gezeigt, daß die Vollendung der sozialistischen Revolution friedlich und ohne Gewaltanwendung möglich ist, wenn die Partei selbst die Führung dabei hat. Diese Revolution von oben ist natürlich auch dann nur möglich, wenn sie von unten, aus den Massen, mit Energie gespeist wird. Indem sie schrittweise die drängendsten Forderungen der Massen erfüllt, erweitert sie zugleich ihre Massenbasis und gewinnt die letzthin entscheidende Kraftquelle für sich: Das Vertrauen des Volkes.
Was sind nun die drängendsten Forderungen der Massen heute und in der nächsten Zukunft?
Ich beginne mit den ökonomischen Forderungen, und zwar zunächst mit den einfachsten. Sie beziehen sich auf die Versorgung mit lebenswichtigen Konsumgütern. Kritisiert wird nicht in erster Linie Qualität, Preis und die Menge des Angebots, sondern die Ungleichmäßigkeit und Unzuverlässigkeit der Warenverteilung, sowohl zeitlich als räumlich. Immer wieder sterben bestimmte Waren, die lange Zeit ohne Unterbrechung in ausreichender Menge überall zu haben waren, aus unerfindlichen Gründen plötzlich aus und sind dann oft monatelang nirgends zu bekommen. Wenn man nach ihnen fragt, erscheint das schon DDR-typische Lächeln auf den Gesichtern der Verkäuferinnen, das den Verdacht zum Ausdruck bringen soll, der Frager lebe wohl auf dem Mond. Dabei handelt es sich um ganz gewöhnliche Dinge, wie etwa Haushaltskerzen oder Bettwäsche oder Büchsenöffner oder Auto-Akkus usw. Ebenso plötzlich, wie sie wie von Zauberhand bewegt aus den Geschäften verschwinden und die wenigen Stellen, wo es sie noch gibt, zum Geheimtip werden, erscheinen sie dann wieder überall, als wäre nichts gewesen. Selbst in Berlin, der offensichtlich sehr bevorzugten Hauptstadt, sind diese Dinge an der Tagesordnung.
Weit schlimmer sieht es natürlich in den periphereren Gebieten aus. Es handelt sich dabei einfach um Schlamperei. Wie aber kommt sie zustande? Welcher Bürokrat an welchem Tisch hat im entscheidenden Augenblick vergessen, einen Auftrag zu bearbeiten oder auch nur weiterzuleiten? Darüber erfährt man nie etwas, jedenfalls nicht offiziell, sondern nur in der Form von Gerüchten und manchmal geradezu lächerlichen Ausreden. Die Leute fragen sich, warum passiert so etwas nur bei uns? Gehört das vielleicht zum Wesen des Sozialismus?
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Natürlich, hört man dann sofort die Bewunderer der kapitalistischen freien Marktwirtschaft rufen: Es fehlt eben die Privatinitiative, es ist niemand an der schnellen und gleichmäßigen Versorgung des Marktes materiell interessiert. Es stimmt natürlich, daß in der kapitalistischen Wirtschaft jeder noch so kleine Engpaß in der Warenversorgung sofort von geschäftstüchtigen Leuten erspäht und so weidlich wie möglich ausgenutzt wird. Aber warum könnte es nicht auch bei uns Leute geben, die solche Engpässe erspähen? Natürlich gibt es die bei uns auch. Fast jeder kommt ja dauernd mit solchen Engpässen in Konflikt. Nur hat er nicht die Möglichkeit, aus dem Engpaß für sich persönlichen Nutzen zu ziehen, außer vielleicht auf dem schwarzen Markt. Aber er hat auch nicht die Möglichkeit, seine Entdeckung an die breite Öffentlichkeit zu bringen, wo sie unbedingt hingehört.
Weil schon bei diesen harmlosen Dingen das allgemeine Prinzip unserer Masseninformation gilt: daß nicht sein kann, was nicht sein darf, wäre jede öffentliche Bekanntmachung über Mängel in der Warenversorgung bereits eine Staatsverleumdung. Schon hier ganz unten zeigen sich also die Folgen des Mangels an Demokratie. Denn man kann sich wohl kaum ein wirksameres Mittel gegen die Schlamperei im staatlichen Handel vorstellen als eine Zeitung, in der man täglich lesen kann, was es wo gibt und nicht gibt, möglichst nebst den Ergebnissen von Recherchen findiger Journalisten über die jeweilige Ursachenkette. Der Absatz einer Zeitung dieser Art wäre jedenfalls in Millionenauflage gesichert.
Eine weitere drängende Forderung betrifft die Löhne, Gehälter und Renten. Die Arbeiter fragen, warum muß es im Sozialismus Leute geben, die zehn-, zwanzig- und mehr tausend Mark im Monat verdienen, wenn eine Arbeiterfamilie, wo Mann und Frau arbeiten, mit Mühe und Not auf 1500 Mark kommt? Und ganz offensichtlich muß die Zahl der Großverdiener recht erheblich sein und ist ständig im Wachsen. Sonst wäre es nicht möglich, daß jeder patente Handwerker und Industriearbeiter im Handumdrehen Leute findet, die ihm für Arbeit nach Feierabend 15 bis 30 Mark für die Stunde bezahlen, während sein Stundenlohn im Betrieb bei fünf Mark liegt. Da alle Zahlungen in einem sozialistischen Land — außer den auf dem Schwarzmarkt getätigten — durch die Hand staatlicher oder staatlich kontrollierter Stellen gehen, wird eine öffentliche Darlegung der gesamten Verteilung von Löhnen, Gehältern und Renten gefordert, damit jeder sehen kann, wie und zu wessen Gunsten und Ungunsten das gemeinsam erarbeitete Sozialprodukt verteilt wird.
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Bei dieser öffentlichen Rechnungslegung wird sich sofort ergeben, um wieviel die Löhne und kleinen Renten erhöht werden können, wenn man die weit überhöhten Gehälter und sonstigen Einnahmen der Privilegierten und Großverdiener entsprechend herabsetzt. Dann könnte man wahrscheinlich auch die Exquisit- und Deli-Läden abschaffen, die ja nur zur Abschöpfung der Kaufkraft der Vielverdiener eingerichtet wurden, wobei man überflüssigerweise auch noch vorwiegend Waren aus dem westlichen Ausland verkauft und nebenbei damit dafür sorgt, daß der schwarze Wechselkurs der westdeutschen D-Mark auf seiner sonst durch nichts begründeten Höhe bleibt.
Durch Herstellung einer gerecht ausbalancierten Lohn- und Gehaltsskala würde man auch dem Schwarzmarkt die Umlaufmittel entziehen, die ja alle aus den Taschen der Vielverdiener stammen. Auf die heilsame Wirkung auf das Interesse der Arbeiter an ihrer Arbeit im Betrieb braucht man wohl kaum hinzuweisen. Überhaupt wollen die Arbeiter in der Industrie und auch die in der Landwirtschaft wissen, wo das Geld bleibt, wieviele Leute in den Ministerien und Verwaltungen sitzen und wieviel Geld sie dafür kriegen. Denn diese Leute arbeiten ja alle auf ihre Kosten, es heißt sogar: im Auftrag der Arbeiter und Bauern, und da kann man ja wohl auch fragen, ob diese riesige Menge von Bürokraten auch wirklich gebraucht wird.
Schließlich: Auch in den sozialistischen Staaten fordern die Arbeiter die Mitbestimmung. Eigentlich müßte die Silbe »Mit-« hier sogar ganz überflüssig sein. Und die Genossen von der Betriebsleitung und der staatlichen Plankommission finden das natürlich auch — aber im umgekehrten Sinne; denn sie betrachten sich selbst als die besten Vertreter der Arbeiterinteressen. Wozu also noch »Mit«-Bestimmung? Etwa wie bei den Kapitalisten? Das hieße ja, daß die Arbeiter den leitenden Genossen nicht trauen und sie kontrollieren wollen und sie als eine Art von Unternehmer betrachten, die die Arbeiter ausbeuten. Ja, das heißt es tatsächlich! Warum will man ihnen denn nicht alles offen darlegen, über Einnahmen und Ausgaben reden, über Kosten und Erträge und geplante Umstellungen mit ihnen beraten? Der Mangel an Vertrauen liegt wohl zuerst einmal bei den Genossen. Und es heißt doch: Vertrauen gegen Vertrauen! Das Grundübel der Industriearbeit im Kapitalismus, die Entfremdung ist doch offenbar noch nicht überwunden.
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Der Arbeiter arbeitet nicht, um ein bestimmtes Produkt zu erzeugen, mit dem er sich als seine eigene Schöpfung identifiziert, so etwa wie wenn er sich zu Hause ein Möbelstück oder Spielzeug für seine Kinder baut und bastelt, sondern seine Arbeit in der Fabrik ist ihm immer noch nur Mittel zu einem einzigen Zweck, nämlich mit einer gefüllten Lohntüte nach Hause zu kommen.
Was soll er denn jetzt, im Sozialismus, für eine neue und andere Beziehung zu seiner Arbeit haben, wenn sich doch im Grunde da gar nichts geändert hat? Nach wie vor ist die Arbeit nur da, um den Lohn zu kassieren, und von der Herkunft und dem Geschick der Produkte seiner Arbeit erfährt er nicht mehr, als daß da am Ende vielleicht ein Kinderwagen oder ein Auto oder gar ein Maschinengewehr herauskommt, mit dem er aber fast gar nichts zu tun hat. Das einzige Mittel, diese Entfremdung aufzuheben, ist die Mitbestimmung.
Die Arbeiter müssen über alles, von der Technologie der Produktion bis zum praktischen Gebrauch der Produkte, von den Kosten für Rohstoffe, zugelieferte Produkte, Kapitalkosten, Steuern, Lohnkosten, den Rohertrag, die Rücklagen bis zu den erzielten Marktpreisen und Handelsgewinnen genau, vollständig und jederzeit unterrichtet sein, wobei ihren Gewerkschaftsvertretern das Recht zur Einsicht in alle Akten und Unterlagen des Betriebes gewährt werden muß. Nur auf diese Weise wird die Möglichkeit geschaffen, daß das Mitglied eines großen gesellschaftlichen Arbeitsprozesses, innerhalb dessen es nur ein kleines Rädchen ist, sich doch mit diesem Gesamtprozeß und seinen Produktionsleistungen identifizieren kann. Dabei bedeutet Mitbestimmung selbstredend nicht nur Information, sondern auch Mitwirkung bei allen Entscheidungen, besonders auch was die Verwendung sozialer Fonds und einen außerhalb der Löhne zu zahlenden Gewinnanteil betrifft.
Eine brennende Frage ist das Streikrecht. In der ersten Verfassung der DDR gehörte es noch zu den durch sie garantierten Rechten. In der neuen von 1968 ist es nicht mehr enthalten. Die Partei vertritt den Standpunkt, daß der Streik im Sozialismus seinen Sinn verloren hat, weil die Arbeiter nicht gegen sich selbst streiken können. Was aber bedeutet es dann, wenn die Arbeiter in bestimmten Situationen doch streiken wollen? Machen sie es, weil ihnen plötzlich die Fähigkeit zum logischen Denken abhanden gekommen ist? Nein, ganz einfach: Es stimmt etwas nicht an dem Argument der Partei gegen das Streikrecht.
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Die Arbeiter denken gar nicht daran, gegen sich selbst zu streiken, sondern sie wollen mit dem Streik eine Entscheidung ändern oder erzwingen, die über ihre Köpfe hinweg, eben ohne ihre Mitbestimmung von leitenden Organen gefällt wurde. Solange auf diese Art und Weise regiert und entschieden wird, werden die Arbeiter in bestimmten Situationen streiken, und zwar mit Recht. Wenn aber die volle Mitbestimmung verwirklicht ist, werden sie dieses Recht nicht in Anspruch nehmen, weil sie ja ohne Streik ihre Forderungen jederzeit durchsetzen können.
Schon die Darstellung der wichtigsten ökonomischen Forderungen hat gezeigt, daß viele soziale und politische Forderungen mit ihnen zusammenhängen. Man kann diese drei Kategorien ja auch nur zur schematischen Vereinfachung der Darstellung voneinander trennen! In Wirklichkeit sind sie alle unlösbar miteinander verknüpft. So ist die Forderung nach Erhöhung der Arbeiterlöhne und der niedrigen Renten ebenso eine ökonomische wie eine soziale Forderung. Und wenn sie mit der Kritik an ungerechtfertigt hohen Einkommen einer Schicht von Privilegierten verbunden wird, ist sie auch schon eine politische Forderung.
Eine der wichtigsten sozialen Forderungen betrifft die Freiheit der Wahl des Berufs und des Arbeitsplatzes. Alle Einschränkungen und Reglementierungen auf diesem Gebiet werden vorzugsweise mit wirtschaftlichen, darüber hinaus aber auch mit soziologischen und politischen Argumenten gerechtfertigt. Schon die Zulassung zur EOS (das ist die Erweiterte Ober-Schule) wird an eine Reihe von sozialen und politischen Bedingungen geknüpft. Die Schulleistungen allein entscheiden hierbei nicht. Eine Schülerin, die Tochter eines Pfarrers, die ein ausgezeichnetes Zeugnis hatte und »schulisch« die Klassenbeste war, wurde zurückgewiesen, weil sie die zweite Strophe der Internationale nicht vorsingen wollte, in der es heißt: »Es rettet uns kein höheres Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun.« Man erklärte, daß die Schüler, die zur EOS zugelassen werden, die zukünftigen sozialistischen Kader sein sollen, die den Staat zu repräsentieren und mit zu leiten hätten. Das geht offenbar nur mit der zweiten Strophe der Internationale. Weitere wichtige Bedingungen, von denen die Zulassung abhängt, sind die Teilnahme am Wehrkundeunterricht, an der FDJ-Arbeit, Mai- und Republikfeiern und dann natürlich die politische Haltung der Eltern, auch deren soziale Stellung, ob Arbeiter, Intelligenz oder sonstige.
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Dieses Sortieren der Menschen beginnt schon früh im Leben der Bürger und begleitet sie bis zur Erreichung des Rentenalters. Der real-sozialistische Staat, der in der Verwaltung von Sachen immer wieder ganz Mangelhaftes leistet, hat es in der Verwaltung von Menschen zu einer Perfektion gebracht, die beängstigend ist. Dabei war es das erklärte Ziel der sozialistischen Revolution, einen Staat zu schaffen, der schon vor seinem endgültigen Absterben nur noch Verwalter von Sachen und nicht mehr Verwalter von Menschen ist.
Die Freiheit der Wahl des Berufs, also des Ausbildungsziels, und des Arbeitsplatzes und Wohnorts gehören zu den wichtigsten Freiheiten des Sozialismus. Diese Freiheiten wurden schon in der bürgerlichen Gesellschaft erkämpft, doch hier weitgehend nur formal verwirklicht. Der hierarchische Aufbau der Gesellschaft und die enormen sozialen Ungleichheiten bewirkten hier, daß wirkliche Freiheit der Berufswahl und der Arbeit nur für die oberen sozialen Schichten bestand. Die These, daß die Planung der Wirtschaft auch eine Planung bei der Ausbildung der Menschen erfordere, daß also von den öffentlichen Lehr- und Erziehungseinrichtungen die verschiedenen Sorten von Menschen, vom einfachen Arbeiter bis zum perfekten Spezialisten, in den jeweils von der Wirtschaft geforderten Mengen »produziert« werden müssen, ist typisch für das staatsmonopolistische System, aber sie steht in krassem Widerspruch zu den Grundsätzen des Sozialismus und ist zutiefst antihuman. Und sie ist außerdem auch noch falsch, weil nämlich die angestrebte perfekte Planung der Produktion der für die Wirtschaft benötigten Menschen unweigerlich zum Scheitern verurteilt ist. Bei noch so rücksichtsloser und konsequenter Verwirklichung gelangt sie niemals an ihr Ziel. Sie hat überhaupt nur eine Wirkung, fast mit tödlicher Sicherheit dafür zu sorgen, daß kaum ein einziger Mensch sich seinen Befähigungen und Interessen gemäß optimal entwickeln kann.
Es gibt keine schlimmere Art von Enttäuschung für einen jungen Menschen, als sich daran gehindert zu sehen, einen Beruf nach eigener freier Entscheidung und den eigenen Interessen entsprechend wählen zu können. Interesse und Neigung sind aber Grundvoraussetzungen für die richtige Berufswahl, ohne die niemals echte Freude am Beruf entstehen kann.
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Nun wird gewöhnlich mit dem Einwand geantwortet, daß der Verzicht auf Maßnahmen zur Berufslenkung dazu führen müsse, daß bestimmte Berufe völlig überlaufen, andere dafür ganz ungenügend besetzt sein würden. Das ist nur dann richtig, wenn bei der Berufsausbildung der Fehler einer zu einseitig spezialisierten Ausbildung gemacht wird. Man muß bei der Ausbildung danach streben, daß sie eine möglichst breite Skala von verwandten Berufen zuläßt. Man muß nicht Spezialisten erzeugen, sondern die Ausbildung muß zu der Fähigkeit des Ausgebildeten führen, zu wissen, wie und wodurch er sich in eins der vielen Spezialgebiete jederzeit einarbeiten kann, die ihm seine Lehre eröffnet hat. Je fundierter und je allgemeiner also die Ausbildung ist, um so qualifizierter werden die Menschen gerade bei ganz speziellen Berufen arbeiten können. Neigung und Interesse gelten immer einem breiten Feld, sind nie punktuell auf eine ganz bestimmte Tätigkeit gerichtet. Diese wichtige Grundtatsache muß jede Ausbildung berücksichtigen, wenn sie nicht von vornherein scheitern will.
Es gibt noch viele weitere soziale Probleme, von deren Lösung wir noch sehr weit entfernt sind, obwohl oft genug das Gegenteil behauptet wird. So steht die Gleichberechtigung der Frau wohl auf dem Papier. Aber in Wirklichkeit ist die soziale Stellung der Frau immer noch weit unter der des Mannes. Das zeigt sich besonders im überwiegenden Anteil der Frauen bei den niedrigen Lohngruppen und dementsprechenden geringen Anteil von Frauen in den hohen Lohn- und Gehaltsgruppen. Nach wie vor ist der Mann der »Erhalter« der Familie, der Hauptverdiener, die Frau die Zuverdienerin. Sehr selten ist es umgekehrt. Die materielle Abhängigkeit in der Ehe geht weitgehend zu Lasten der Frau. Die uralte Männerherrschaft ist immer noch in Kraft.
Wenn man die drängendsten politischen Forderungen auf einen Nenner bringt, betreffen sie ganz allgemein das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern. Der Staat hat kein Vertrauen zu seinen Bürgern. Er behandelt sie wie unmündige Kinder, die weder richtig denken noch vernünftig handeln und stets Dinge im Kopf haben, die fehlerhaft, schädlich oder sogar bösartig sind. Bei dieser Einstellung des Staates fühlt sich jeder wie ein noch nicht ertappter Sünder, weil er ja auch tagtäglich Dinge tut und gern tut, von denen er weiß, daß sie dem Vater Staat gar nicht gefallen. Zum Beispiel das West-Fernsehen. Alle tun es, und niemand verbirgt es. Aber die Kinder in der Schule dürfen es nicht erzählen, und manche Eltern sehen es heimlich hinter dem Rücken ihrer Kinder, damit sie in der Schule deswegen keinen Ärger haben.
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Man sieht auch Ost. Aber hauptsächlich, wenn das Ost-Fernsehen einen westlichen Film, einen Western oder Krimi bringt. Die »Aktuelle Kamera« interessiert kaum jemand. Aber die »Tagesschau« sehen sie alle. Die Attraktion, die alles Westliche ausübt, beruht überhaupt zum großen Teil darauf, daß man es nicht haben soll. Indem man es doch hat, und wenn auch nur aus dem Intershop, kommt darin ein versteckter politischer Protest zum Ausdruck, der sagt: Das ist aber doch das Bessere.
Der Übereifer, mit dem der Staat sich bemüht, alles »Westliche« zu verteufeln und seine Bürger vor seinem schädlichen Einfluß zu schützen, steht in einem peinlichen Kontrast zu der Ungeniertheit, mit der er selbst den »Westdrall« seiner Bürger auszunutzen versucht, wenn er ihm das Geld und ganz besonders sein Westgeld aus der Tasche ziehen will durch Verkauf hochwertiger Westwaren in den Exquisitläden und Intershops. Wie kann man den Bürger gegen die Faszination durch den Westen immunisieren, wenn man dieser Krankheit ganz offensichtlich selbst hoffnungslos erlegen ist! Früher fuhr man als Staatskarosse noch die russischen SIS und Tschaikas, phantastische Stilmixturen aus Rolls-Royce-Look und amerikanischen Superstraßenkreuzern. Heute bevorzugt man Wagen der westlichen Luxusklasse, Volvos und Mercedes Benz. Große Hotels und Bürohäuser ließ man sich komplett von westlichen Firmen bauen und einrichten, und selbst der Prunkbau des Palastes der Republik wurde zu wenigstens drei Vierteln mit westlichen Maschinen und Materialien gebaut und eingerichtet.
Man läßt es sich viel sauer erworbene harte Währung kosten, um der Hauptstadt der DDR das so sehr bewunderte Aussehen einer westlichen Metropole zu verleihen und merkt gar nicht, daß man dadurch in erster Linie nicht für sich selbst wirbt, sondern nur dem nachgeahmten Vorbild Bewunderungstribut zollt. Das Höchste, was die Leute sagen, die aus dem Westen kommen: Das ist ja beinahe schon wie bei uns! Und dieses »beinahe« ist nicht nur zu wenig, es ist eigentlich etwas sehr Schlimmes. Denn es zeigt, daß der reale Sozialismus es noch nicht verstanden hat, das Gesicht seiner Städte mit eigener Kraft selbst zu prägen.
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Was bewundert man eigentlich an den Betonkästen in den Schlafstädten des Kapitalismus, wo Hunderttausende in hunderttausenden von gleichen Wohnkabinen zusammengepfercht sind, wo das Individuum ausgelöscht und die menschliche Gemeinschaft in Atome zersplittert wird?
Und das hauptsächlich wegen der astronomischen Grundstückspreise, die ja schon im alten New York der eigentliche ökonomische Grund für das In-den-Himmel-Schießen der Wolkenkratzer waren. Wozu brauchten wir diesen Wahnsinn nun auch noch nachzumachen?
Es sind alles nur Folgen der allgemeinen inneren Unsicherheit, die man durch monumentale Demonstrationen zu kaschieren sucht. Das System des realen Sozialismus, das keine breite demokratische Kontrolle der Regierenden durch das Volk kennt, hat zu einer gründlichen Isolierung der Verantwortlichen geführt. Demokratische Kontrolle ist eben ein Schreckgespenst für Leute, die sich an ein selbstherrliches Regieren gewöhnt haben. Aber sie ist die wichtigste Voraussetzung für innere Stabilität. Sie sorgt dafür, daß eine enge Beziehung des Vertrauens zwischen Volk und Regierung besteht. Ihr Nichtvorhandensein ist der allgemeine Grund der Zerstörung fast jeden Vertrauens. Eine wirkliche Änderung kann nur vom Staat, von der Partei und der Regierung herbeigeführt werden. Statt immer wieder neuer Demonstrationen des staatlichen Mißtrauens warten alle auf sichtbare Beweise des Vertrauens.
Die Verfassung der DDR garantiert das Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung. Aber anstatt die verfassungswidrigen Paragraphen 106 und 220 des Strafgesetzbuches der DDR, die dieses Recht aufheben, abzuschaffen, verschärft man sie noch und fügt eine ganze Serie neuer Bestimmungen hinzu, die praktisch bedeuten, daß jede noch so geringfügige Kritik an der Regierung und den Regierenden zur strafbaren Handlung wird. Dichter und Schriftsteller werden wegen ihrer Gesellschaftskritik aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen und mit sanfter Gewalt zum Verlassen des Landes »überredet«. Tausende kleiner unbekannter Kritiker wandern für Jahre ins Gefängnis und werden rücksichtslos sozial deklassiert.
Ich brauche die ganze Liste dieser enttäuschenden Ereignisse hier nicht noch einmal hervorzuholen. Daß mit dieser unseligen Praxis endlich Schluß gemacht wird und Kritik nicht mehr gefürchtet, sondern gewünscht wird, daß sich ein breites demokratisches Leben entwickelt, ist die zentrale politische Forderung. Noch trifft uns in voller Härte die prophetische Kritik Rosa Luxemburgs: »Das öffentliche Leben der Staaten mit beschränkter Freiheit ist eben deshalb so dürftig, so armselig, so schematisch, so unfruchtbar, weil es sich durch Ausschließung der Demokratie die lebendigen Quellen allen geistigen Reichtums und Fortschritts absperrt.«
Noch liegt die Wiedergeburt vor uns, von der Rosa Luxemburg sagt: »Der einzige Weg zu dieser Wiedergeburt: die Schule des öffentlichen Lebens selbst, uneingeschränkte breiteste Demokratie, öffentliche Meinung.«
Das gegenwärtig Wichtigste, das politisch in der DDR und auch den anderen Staaten des realen Sozialismus getan werden kann, ist die massenhafte Ausbreitung der Diskussion über Demokratie und Sozialismus, die sich überall, in privaten Freundeskreisen ebenso wie in den Betrieben, in der Partei und den anderen Massenorganisationen, an den Schulen und den Hoch- und Fachschulen entwickeln läßt. Dabei ist es ganz entscheidend, daß hierbei niemals die Legalität verletzt werden muß. Schritt um Schritt muß die Freiheit der öffentlichen Diskussion, Aussprache und Kritik erkämpft werden. Hierbei werden gute Beziehungen zu Genossen der eurokommunistischen Parteien sehr hilfreich sein. Zahlreiche wichtige politische Schriften führender Genossen dieser Parteien sind in verschiedene Sprachen, darunter auch in die deutsche übersetzt worden. Diese Schriften, die wohl kaum als gegnerisch verdächtigt werden können, zu verbreiten, wird von großem Nutzen sein und dazu beitragen, daß auch in der Partei die brennenden politischen Fragen offen und ernsthaft diskutiert werden.
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Kurze Schlußbetrachtung
Trotz der manchmal schier hoffnungslos erscheinenden Erstarrung der politischen Strukturen in den Ländern des realen Sozialismus, die unbedingt überwunden werden muß, wenn wir überleben wollen, dürfen wir die außerordentliche Wirkung nicht übersehen, die schon seit der Oktoberrevolution und bis heute fortdauernd von dieser unvollendeten Revolution auf den Lauf der Weltgeschichte ausgeübt wird. Die Sowjetunion leistete den entscheidenden Beitrag zur Vernichtung des verbrecherischen Hitlerregimes.
Seitdem beide Supermächte über die nuklearen Waffen verfügen, haben wir den vorläufigen Frieden des atomaren Patts. Dieser Frieden hat bisher der Menschheit eine Galgenfrist verschafft, die dazu genutzt werden muß, die Gefahr der Selbstvernichtung endgültig aus der Welt zu schaffen. Der Kapitalismus ist hierzu nicht fähig.
Darum hängt die Zukunft und das Überleben der Menschheit davon ab, ob die sozialistische Revolution in den industriell und militärisch höchst entwickelten Zentren des Kapitalismus noch rechtzeitig siegen wird.
Da die politischen Zustände in den Ländern des realen Sozialismus von den Arbeitern in den kapitalistischen Staaten abgelehnt werden, weil der Kapitalismus ihnen bei hohem materiellem Wohlstand sehr viele Rechte und Freiheiten gewährt, die der reale Sozialismus seinen Bürgern vorenthält, ist es für den Fortgang und Erfolg der sozialistischen Revolution in den kapitalistischen Staaten lebenswichtig geworden, daß diese Zustände im realen Sozialismus geändert werden.
Das bedeutet, daß der längst fällige zweite Schritt der Revolution getan werden muß, durch den nach der im ersten Schritt erreichten Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln nun der Übergang zur sozialistischen Demokratie vollzogen wird. Dann wird der Sozialismus bei den Arbeitern in aller Welt wieder seine Glaubwürdigkeit zurückgewinnen.
Dann und nur dann wird man sagen können, daß es die Oktoberrevolution in Rußland war, die die große Wende in der Geschichte der Menschheit eingeleitet hat.
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Ende
Robert Havemann 1980