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Der Großvater ging nie aus, er hatte keine Freunde, nie kam er später heim, weil er etwa mit Kollegen noch ein Bier getrunken hätte. Zum wöchentlichen Stammtisch der Männer aus der Nachbarschaft in der Wirtschaft «Zum Sängereck» war er bis zur Geburt des ältesten Sohnes gegangen, dann meinte er sich die «Halbe Bier» dort nicht mehr leisten zu können.
Meine Großmutter hielt das allerdings für eine Ausrede, weil das Bier in der Wirtschaft gerade mal zehn Pfennig mehr kostete als am Ausschank. In Wirklichkeit mochte er das «dumme Geschwätz» der anderen nicht, hatte wohl den Stammtisch eher als eine Art Pflichtübung betrachtet, um nicht ganz isoliert zu sein von den Nachbarn, und war froh, einen guten Grund für seine Ungeselligkeit angeben zu können.
Sie beneidete die anderen Frauen um den «freien Abend», gerne wäre sie auch mal ohne das «grantige Mannsbild» beim Flicken am Radio gesessen und hätte sich fröhliche Musik angehört, die bei ihm als «Gedudel» verpönt war.
«Das hätt mir nichts ausgemacht, wenn er auch mal einen über den Durst getrunken hätt, vielleicht war er dann auch mal so lustig gewesen wie andere Männer», würde sie später erzählen.
So aber holte er sich die «Halbe» im Glaskrug an der «Gassenschänke», bis der Sohn alt genug war, das für ihn zu tun. Dann brauchte er das Haus am Abend gar nicht mehr zu verlassen, er konnte lesend und schweigend im Sessel sitzen bleiben und sich danach zurückziehen in seine höchstpersönliche Klause im Alkoven.
Das Leben in der Großstadt muss dem Bauernsohn eine Qual gewesen sein. Einziger Lichtblick waren ihm wohl die Sonntage. Man ging hinaus nach Sendling, das damals tatsächlich noch ein Dorf war, und gleich hinter der alten Sendlinger Kirche auf die Felder und Wiesen. Da schien er sich wohl zu fühlen, und wenn er Kartoffeln und Korn begutachtete, sprach er sogar mit den Kindern. Er lehrte sie, Getreidesorten zu unterscheiden und die vielen Wiesenblumen beim Namen zu nennen, schien zufrieden, wenn die Kinder ihm sagen konnten, was sie gelernt hatten — da soll er sogar manchmal gelächelt haben. Seinen gesamten Jahresurlaub nahm er gegen Ende September.
Wenn seine Frau zum Oktoberfestauftakt am Samstagmittag vom Fenster aus zusah, wie die geschmückten Rösser die schweren Bierwägen am Haus vorbei zur nahe gelegenen «Wiesn» zogen, und die Kinder mit vielen anderen aufgeregt hinterherliefen bis zu den großen Bierzelten, saß er schon mit einem kleinen Koffer und einem großen leeren Rucksack im Zug nach Kissingen, um am Abend dann von dort aus mit dem einzigen Postbus des Tages weiterzufahren in die Rhön.
Ein wichtiger Grund, genau an diesem Tag aufzubrechen, war für ihn, diesem «Irrsinn» auszuweichen, den «Verrückten», die nichts Besseres zu tun hatten, als ihr sauer verdientes Geld irgendwelchen hergelaufenen Schaukelburschen nachzuwerfen oder ins törichte Gelächter vor den Schaubuden einzustimmen.
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Geschmacklos sei es und ohne Moral, «Damen ohne Unterleib» auszustellen, beim «Schichtl» sich scheinbar köpfen zu lassen. Er konnte da keinen Grund zum Lachen finden und sah keinen Sinn darin, Geld auszugeben, um sich in der düsteren «Geisterbahn» von lächerlichen Grimassenschneidern erschrecken zu lassen. Im Gegenteil, man hätte ihm viel Geld geben müssen, um dafür in einen Wagen der Achterbahn einzusteigen oder sich «wie ein Äff'» an den langen Ketten eines bunt bemalten Karussells festzuklammern.
Und das «alberne Gedudel» der Leierkästen — nicht auszuhalten!
Nur einmal war er mit seiner jungen Frau im Jahr ihres Umzugs nach München durch die breiten Wies'n-Straßen gegangen, hatten doch die wenigen zu Hause, die je die große Reise zum größten Volksfest der Welt gemacht hatten, so davon geschwärmt. Das musste man sich schon einmal ansehen. Meine Großmutter war aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen; alles, was sie bisher an öffentlicher Lustbarkeit gesehen hatte, war der kleine Wanderzirkus gewesen, der sich alle paar Jahre in ihr Dorf verirrt hatte, und das kleine Variete-Theater in Bad Kissingen. Sie hatte dafür einmal von ihrer «Herrschaft» eine Eintrittskarte zum Geburtstag bekommen. Was für ein Unterschied! Zu gerne wäre sie in den schwankenden Sitzen der behäbigen «Krinoline» mitgefahren, voller Neid sah sie den lachenden Menschen zu, die im Walzertakt unter den bunten Baldachinen schaukelten!
Viel später hat sie sich diesen Wunsch erfüllt: Mit mir, der Enkeltochter, ist sie auf die Wies'n gegangen, und fast war es mir peinlich, wie die alte Frau in ihren Witwengewändern — sie hat nach dem Tod ihres Mannes bis an ihr Lebensende nur noch Schwarz getragen — lachend ihren Hut festhielt!
Wie gern wollte sie damals mitschunkeln in einem Bierzelt, eine frische Brez'n wenigstens essen, wenn schon die Schweinswürstl vom Rost unerschwinglich waren, und sich eine echte Wies'nmaß im Steinkrug mit ihrem Mann teilen!
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Über solche Wünsche konnte er nur den Kopf schütteln, seine Geduld war am Ende. Eine «Halbe Bier» gab's dann daheim, Schweinswürstl standen auch dort nicht auf dem Verzehrplan, die gab's nur einmal im Jahr: an Weihnachten.
Er hat die «Wies'n» nie wieder zur Festzeit betreten. Auch die Gerüche von «Steckerlfisch» und «Hendl», die bei günstigem Wind herüberzogen ins geöffnete Fenster, konnten ihn nicht reizen. Kaufen hätte man die unverschämt teuren Luxusgüter ohnehin nicht können. Seine Frau und die Kinder aber sogen den Duft ein und träumten davon, eines Tages reich genug zu sein, um sich solche Köstlichkeiten leisten zu können. Die laute Musik und das Johlen der Betrunkenen, die am Haus vorbeitorkelten, raubten ihm die kostbare Nachtruhe. So war es die beste Lösung für ihn, zu seiner Schwester zu fahren, die mit ihrem Mann den kleinen väterlichen Hof übernommen hatte, als der Älteste alles stehen und liegen ließ, um nach Ohio auszuwandern, und der Jüngere nach München versetzt worden war.
Nun half er in seinem Urlaub bei der Kartoffel- und Gemüseernte, kelterte Äpfel und hackte Holzvorräte für den Winter.
Wenn auf der Wies'n die Schausteller abgefahren waren und die Bierzelte abgebaut wurden, kam er zufrieden und sonnengebräunt zurück. Der schwere Rucksack war bis obenhin voll gepackt mit Kartoffeln und Kohlköpfen, und in der Hand schleppte er noch einen Korb mit Äpfeln.
Feierlich überreichte er jedem Kind einen ganz besonders schönen, sorgfältig polierten Apfel. Seine Frau bekam das große Stück geräuchertes Wammerl aus dem Koffer — für die Speisekammer.
*
Die tief stehende Sonne auf der Fahrt zurück nach Oslo blendet mich, ich stehe auf und setze mich wieder auf die andere Busseite neben meine Mutter. Sie schaut mich an, lächelt ein wenig. Um wieder mit ihr ins Gespräch zu kommen, frage ich: «Dein Vater war doch schon tot, als du nach Tölz gezogen bist?»
«Wie kommst du denn jetzt auf meinen Vater?»
«Weil ich über deine Familie nachdenke.»
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«Ja, freilich, der ist doch schon 1935 gestorben», antwortet sie bereitwillig, «ausgerechnet am Faschingsdienstag! Einen besseren Tag hätt er sich net aussuchen können, da hat er uns das bisserl Spaß auch noch verpatzt.»
Er hatte seit Tagen vor sich hin gekränkelt, eine schwere Bronchitis gehabt wie schon seit Jahren im Winter, das war nichts Außergewöhnliches um diese Jahreszeit. So ging seine Frau wenigstens am Vormittag für ein Stündchen zum Viktualienmarkt.
Wie konnte sie lachen über die grell geschminkten dicken Marktweiber, die an diesem Vormittag ihren Kunden zuprosten und ausgelassen tanzen. Und sie konnte ihr schlechtes Gewissen, den kranken Mann allein in der Wohnung gelassen zu haben, mit dem Einkaufen am Markt beruhigen. Eine kräftige Kalbsknochenbrühe mit Wurzelgemüse würde ihm gut tun, er hatte seit Tagen fast nichts gegessen.
Auf die Brühe konnte er nicht mehr warten. Kaum hatte die Großmutter Feuer gemacht und die Zutaten im großen Topf auf den Herd gesetzt, hörte sie den Großvater heftig husten und schwer atmen. Als sie rasch nach ihm sah, hatte er ein Taschentuch vor den Mund gepresst, und sie sah den blutigen Auswurf. Sie bekam es mit der Angst zu tun, und sie wollte den Doktor holen.
«Später hat die Mama uns erzählt, dass sie sich noch mal umgedreht hat an der Tür, weil sie sich solche Sorgen g'macht hat um ihn, und da hätt er den Kopf g'schüttelt und sie so fest ang'schaut mit seinen schönen blauen Augen wie schon lang nicht mehr»,
erzählt meine Mutter weiter ganz lebhaft vom Tod ihres Vaters. Sie scheint froh zu sein, über ein anderes Thema als den Lebensborn sprechen zu können.
«Als die Mama zurückkam, lag er ganz friedlich da mit geschlossenen Augen. Er ist einfach eingeschlafen. Als wir heimgekommen sind, waren wir natürlich ganz fröhlich, weil der halbe Tag frei war und wir uns gleich maskieren und ins Faschingstreiben in der Innenstadt stürzen wollten. Aber das hat ihm ja sowieso nie gepasst. An diesem Faschingsdienstag sind wir daheim geblieben.»
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«Das klingt nicht so, als ob ihr sehr um ihn getrauert hättet!»
«Ganz ehrlich g'sagt — nein. Freilich, er war unser Vater, aber seit die Maria aus dem Haus war, ist er noch schweigsamer geworden und hat sich immer weniger um uns gekümmert. Und ich glaub fast, dass die Mama eigentlich froh war. Seit seiner Pensionierung war er ja nur noch unerträglich, den ganzen Tag dahoam rumg'hockt, und wenn er was g'sagt hat, dann hat er sie kritisiert, nix hat ihm 'passt. Natürlich hat sie g'weint bei der Beerdigung, aber schon ein paar Tag danach hat sie laut g'sungen in der Küch' — das hat sie vorher lang nicht mehr gemacht. Ich glaub, sie war dann noch ein bisserl glücklich, weil sie auch so stolz war auf den Fritz. Aber auch nicht mehr lang.»
Jetzt schweigt sie und schaut wieder aus dem Fenster. Ich muss sie zu ihrem jüngsten Bruder auch nichts fragen. Meine Großmutter hat mir am meisten über ihn erzählt, nie ohne feuchte Augen.
*
Fritz bestand ein Jahr nach dem Tod seines Vaters sein Abitur mit Auszeichnung. Er war sehr ehrgeizig und brauchte ein hervorragendes Zeugnis, weil er sich um eine Einstellung als Offiziersanwärter bei den Gebirgsjägern bewerben wollte.
Früher wollte er unbedingt Abitur machen, weil er Sport, Physik und Mathematik studieren und Gymnasiallehrer werden wollte, nicht auf die «Lehrerbildungsanstalt» gehen wie sein älterer Bruder und Volksschullehrer werden wie schon der Großvater und der Onkel mütterlicherseits. Er wollte der Erste sein in der Familie mit einem richtigen Universitätsstudium. Inzwischen hatten sich die Zeiten geändert, die «Aufbruchstimmung» seit 1933 hatte auch ihn erfasst, und er wollte aktiv im Militärdienst dazu beitragen, aus Deutschland wieder eine starke Nation zu machen.
Die Abweisung seines Gesuchs vom Reichswehrministerium, angeblich wegen des «großen Überangebots voll geeigneter Bewerber», traf ihn schwer. Er hatte schon befürchtet, dass nicht seine schriftlichen Unterlagen und das gesundheitliche Tauglichkeitszeugnis ausschlaggebend gewesen waren.
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Er war in ausgezeichneter körperlicher Verfassung, seit Jahren schon Mitglied in der Jungmannschaft der Alpenvereinssektion Hochland und extremer Kletterer. Mehrmals wöchentlich fuhr er mit dem alten klapprigen Fahrrad nach Grünwald zum «Klettergarten» am felsigen Hochufer der Isar, um sich fit zu halten. Er wurde von zwei liebenswürdigen jungen Leutnants zu einem persönlichen Vorstellungsgespräch ins Offizierskasino eingeladen, bei dem ganz offensichtlich seine Tischmanieren begutachtet werden sollten — er wusste freilich wenig anzufangen mit den vielen Bestecken und diversen Gläsern.
Es war ihm klar, dass die anderen Bewerber meist aus Offiziersfamilien oder anderen «besseren Kreisen» stammten, aber er hatte bis dahin nicht geglaubt, dass dies als eigentliche Qualifikation gewertet würde. Es sei doch sehr ungewöhnlich, dass er sich als Waise eines «wie war das gleich? — ach ja — Postassistenten» für eine gehobene Laufbahn interessiere. Er habe doch gewiss im Verwandten- oder Bekanntenkreis wenigstens zwei Vorbilder im Offiziersrang, die ihn gut genug kannten, um gewissermaßen für ihn zu bürgen?
Fritz kannte nur einen Offizier, den künftigen Schwager seines Bruders, einen Major, den er auch namentlich und mit Regimentsadresse nennen konnte. Diese Beziehung allein reichte aber anscheinend nicht aus.
Als große Demütigung empfand er es, dass ihm sogar mitgeteilt wurde, dass «wegen der großen Zahl von Gesuchsstellern eine etwa im nächsten Jahr beabsichtigte Wiederholung des Bewerbungsgesuchs auch bei einem anderen Truppenteil kein günstigeres Ergebnis erzielen dürfte», und es wurde ihm sogar «deshalb im eigenen Interesse geraten, davon abzusehen»!
Seine Schwester war nicht minder empört, war sie doch stolz auf den «kleinen» sportlichen, gut aussehenden Bruder und hatte sich schon vorgestellt, wie gut er in der feldgrauen Uniform mit Leutnantsspiegeln aussehen würde — ein bisschen schwärmte sie ja für den genannten Major, der sie auch schon zum Tanzen ausgeführt hatte, leider zusammen mit seiner Verlobten, einer hochnäsigen Generalstochter. Man musste sich jetzt ja vor der künftigen Verwandtschaft direkt schämen!
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So musste Fritz wie andere Jungmannen auch erst einmal seinen Arbeitsdienst antreten, wurde aber aufgrund seines Abiturs immerhin gleich als «Feldmeister» eingestuft, das heißt, er übernahm von Anfang an die Leitung und Verantwortung für die Gruppe, die im Allgäu Buckelwiesen begradigen musste. Er hat hart gearbeitet und das auch von seinen Leuten verlangt und sich so bewährt, dass er nach Ausbruch des Krieges den Wehrdienst sofort als «Fahnenjunker» antreten durfte. Leider nicht bei den Gebirgsjägern, sondern nur bei der Infanterie, dafür aber hat er sein Ziel, Offizier zu werden, doch noch erreicht: Er wurde noch im selben Jahr zum Leutnant befördert, erhielt für seine mutigen Einsätze in vorderster Front das Eiserne Kreuz II. Klasse — denen hat er es bewiesen, dass auch der Sohn eines Postassistenten als Offizier «seinen Mann stehen» konnte.
Oder auch: «den Kopf hinhalten». So haben sie es aber erst nach dem Krieg genannt. In der Todesanzeige stand noch:
24 Jahren sein hoffnungsvolles Leben für Führer und Vaterland. Er war unser aller Stolz. Unser Schmerz um ihn ist unsagbar.»«Im großdeutschen Freiheitskampf gab am 6. April 1940 in Jugoslawien unser heißgeliebter Sohn, Bruder, Schwager und Onkel F. K., Leutnant in einem Inf-Rgt. / Inh.d.E.K II, Teilnehmer am Feldzug in Polen und Frankreich, im Alter von
*
Noch aber dachte damals niemand an einen Krieg. Meine Mutter bedauerte es sehr, dass der Fritz nur noch gelegentlich zum Wochenende nach Hause kommen konnte. Lieber wäre ihr gewesen, der Martin, der Älteste, wäre ausgezogen.
Obwohl er selbst sehr unter der unnachgiebigen Strenge seines Vaters gelitten hatte, so meinte der Älteste doch, ihn nach seinem Tod ersetzen zu müssen, und spielte sich nun mit der Autorität des Familienoberhauptes auf, der die Mutter kontrollieren und die Geschwister noch mehr maßregeln musste, als er es immer schon getan hatte.
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Schlimm genug, dass er die Heirat der Schwester Maria nicht hatte verhindern können, ausgerechnet mit einem Bekannten von ihm, den er auch noch selbst vor einigen Jahren ins Haus gebracht hatte, nicht ohne zu zögern. Aus der gemeinsamen Studentenverbindung, der «Ludvigia», kannte er dessen Wirkung auf Frauen. Aber er war dem Kameraden, der ihm die Freundschaft aufdrängte, ebenso wenig gewachsen, wie seine Schwester sich dessen Faszination entziehen konnte. Hals über Kopf verliebte sie sich in den gut aussehenden Charmeur. Sie wollte dem Bruder nicht glauben, der vergeblich versuchte, ihr klar zu machen, ihr neuer Verehrer sei «ein Hallodri, wie er im Buche steht».
Wenigstens hat der seine Schwester nicht gleich «rumgekriegt» wie die vielen Frauen vor ihr. Eine Affäre war bei ihrer Vorstellung von Anstand und Moral unvorstellbar, mehr als die heftigen Umarmungen im Hausflur ließ sie nicht zu. So hoffte der Bruder inständig, der Draufgänger würde sich nach einer anderen umsehen, als er nach Norddeutschland versetzt wurde, und seine Schwester würde dem Werben eines anderen Verehrers nachgeben. Sie sehnte sich zwar danach, der erdrückenden Enge des Elternhauses zu entrinnen, schlug aber alle Angebote aus, selbst die von der ganzen Familie favorisierte «gute Partie»: den Sohn eines Brauereibesitzers — man stelle sich vor, wie wohlhabend sie geworden wäre!
Ihre Liebesbriefe nach Pirmasens wurden tatsächlich erhört, und sie konnte warten, bis der Auserwählte ihr einen Heiratsantrag machte. Sosehr der Bruder gegen diese Verbindung stimmte, so gelang es Maria doch, dem Vater, der damals noch lebte, die Erlaubnis zur Hochzeit abzuringen. Sie hatte es schon als Kind verstanden, ihm «um den Bart zu gehen»: Als Einzige durfte sie sich sogar auf seinen Schoß setzen und ihm mit der kleinen Bürste aus Ebenholz mit Perlmuttintarsien den Bart striegeln, was er mit geschlossenen Augen und winzigem Lächeln über sich ergehen ließ.
Maria hatte seine scharfe Strenge und harte Hand nicht so zu spüren bekommen wie Martin, und so war er wohl auch hier zu nachgiebig. Leider hat ihr Bruder Recht behalten: Meine Tante ist nicht glücklich geworden in ihrer Ehe. Sie wusste genau, dass ihr Mann zu ihrem großen Leid nicht auf andere Frauen verzichtete, auch wenn er versuchte, seine häufige Abwesenheit mit seinem großen politischen Engagement als frühes Parteimitglied zu kaschieren.
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Da die ältere Schwester nun nicht mehr zu retten war, konzentrierte Martin sich umso mehr auf die jüngere, auf die musste man ohnehin besonders aufpassen. Sie hatte schon früh alle Gelegenheiten genutzt, um sich aus dem Haus zu stehlen: Der Turnverein, die Pfarrjugend, der Chor, und schließlich war es ihr tatsächlich sogar gelungen, einen Tanzkurs bei Thea Sämmer im Deutschen Theater als «Schulveranstaltung» zu deklarieren.
Da der Kurs von der Handelsschule organisiert wurde, gaben die Eltern zögerlich ihr Einverständnis. Es war Martin unbegreiflich, und er machte den Eltern bittere Vorwürfe: Die Mutter habe keine Ahnung von der Verdorbenheit des Großstadtlebens und der Vater sei wohl schon zu senil, um zu begreifen, welchen Gefahren ein Tanzkurs Vorschub leiste!
Ihm selbst, als jungem Mann, bei dem das doch etwas ganz anderes sei, hätte der Vater zehn Jahre zuvor die Teilnahme an einem Kurs mit seiner Abschlussklasse untersagt.
Der Vater habe überhaupt bei den beiden Jüngeren zu wenig durchgegriffen und die Erziehung mehr und mehr seiner Frau überlassen, bei der es zwar hin und wieder eine Ohrfeige setzte, aber die Schläge, die er hatte einstecken müssen, hätten die «Kleinen» auch nötig gehabt, und er werde schon sehen, was aus denen noch werden würde!
Die «kleine Schwester» tanzte nun für ihr Leben gern, obwohl es nicht leicht war, bei ihrer ungewöhnlichen Größe passende Tanzpartner zu finden. Sie war 1,75 m groß; das war deutsches Durchschnittsmaß für Männer, Frauen waren meist mindestens zehn Zentimeter kleiner! Es war normal für einen Mann, einer Frau von oben herunter in die Augen zu sehen, selbst wenn sie hochhackige Schuhe trug. Eine, die gleich groß oder gar größer war, passte schlecht ins Bild der Idealfrau. «Stöckelschuhe» mussten vorläufig ein Traum bleiben für meine Mutter. Selbst mit den flachsten Ballerinas, die gar nicht elegant aussahen zum schwingenden Tanzkleid, war es nicht einfach.
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Manchmal war sie frustriert, weil es so wenige größere Männer gab, aber glücklicherweise hatte sie eine Freundin, die fast genauso groß war und der es ähnlich ging. Wenn eine von beiden bei der Damenwahl wieder mal versehentlich einen erwischte, der ganz betreten zu ihr aufsah, konnten sie wenigstens gemeinsam darüber lachen. Wie gut, dass der große Bruder sich ein wenig in ihre lebenslustige Freundin verliebte, sich von ihr die Grundschritte zeigen ließ und mit den beiden Damen am Sonntagnachmittag zum Tanztee ging! Das hatte den Vorteil, dass auch sie einen entsprechenden Tanzpartner hatte, und den Nachteil, dass er sie auch da noch überwachte. Glücklicherweise gelang es der Freundin, ihn gelegentlich abzulenken.
Wenn er nicht dabei war, bestand er darauf, dass sie pünktlich nach Hause kam, und wann immer es ihm möglich war, holte er sie ab, auch vom Geschäft in der Sendlingerstraße. Ihre Kollegen sollten nur wissen, dass er auf den guten Ruf der Schwester achtete.
Es passte ihm nämlich gar nicht, dass deren Chef sich beim Diktat zu nah über seine Schwester beugte — sie hatte das erzählt zu Hause, weil es ihr unangenehm war und sie nicht recht wusste, wie sie sich dessen erwehren sollte. Der Umgang mit Vorgesetzten war ihm selbst ein Problem und sollte es ein Leben lang bleiben; er wusste da keinen rechten Rat und war heilfroh, als der Herr sich kurze Zeit später entschloss, nach Amerika auszuwandern, weil er sich nicht mehr wohl fühlte in Deutschland ...
Um so einen war es nicht schade, es war schon in Ordnung, dass der Staat das Geschäft übernahm und die Firma jetzt nicht mehr «Rosenbaum und Partner» hieß, sondern nur noch «Münchner Farben und Lacke», und ein ordentlicher Deutscher das Geschäft führte. Der allerdings zeigte sich nicht weniger angezogen von der hübschen Sekretärin und pflegte sogar den Arm um sie zu legen beim Diktat.
Meine Mutter hatte noch ein anderes Hobby, bei dem die Größe keine Rolle spielte: Erst war sie im Kinderchor, und schon mit 15 sang sie im «richtigen» Kirchenchor in der St.-Pauls-Kirche gleich um die Ecke. Das war nicht nur erlaubt, sondern im streng katholischen Haus sogar erwünscht, man konnte auch aus dem Fenster schauen und sie beobachten, bis sie die Straße überquert und in die Kirche gegangen war.
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Und man konnte ein wenig stolz sein, wenn sonntags die Nachbarn nach der Kirche stehen blieben und sagten: «Schön hat s' wieder g'sungen, die Anni, so eine glockenreine Stimme!»
Später wechselte sie zum Domchor, das war ein gern gesehener Aufstieg, zumal auch der ältere Bruder dort schon seit längerer Zeit als Bassist mitsang.
«Da haben sie nicht jeden genommen, der vorgesungen hat», berichtete sie viele Jahre später noch stolz, als sie mich gegen meinen Willen in der Münchner Singschule anmeldete und ihre eigene Gesangsbegeisterung zum Anlass nahm, meine Anmeldung zu begründen. Ich hatte nämlich auf die Frage: «Und du singst besonders gern?» heftig den Kopf geschüttelt, was den Chorleiter verständlicherweise irritierte. Meine Mutter war zwar der Meinung, dass ich überhaupt nicht singen könne, und hielt sich die Ohren zu, als ich noch unbefangen die im Kindergarten erlernten Lieder vor mich hin trällerte: «Hör auf! Das tut ja weh, so falsch wie du singst!»
Sie wollte aber die Hoffnung nicht aufgeben und hoffte auf eine verspätete musikalische Entwicklung durch die besondere Förderung in der Musikschule, war doch mein mangelndes Singvermögen besonders unverständlich, weil die ganze Familie so musikalisch war! Schließlich war man mit dem Komponisten Armin Knab verwandt, ein Umstand, der den Singschullehrer anscheinend so beeindruckte, dass auch er hoffte, mein verborgenes Talent noch wecken zu können. So ordnete er mein «Brummen» beim Vorsingen als Schüchternheit ein, verlangte allerdings später von mir, bei öffentlichen Auftritten nur die Mundbewegungen zu machen. Weil mich die Töne, die schwer kontrollierbar aus meinem Mund kamen, selbst erschreckten, lernte ich es, wenigstens den Vokalen Form zu geben. Ich bewegte meine Lippen so professionell, dass niemand auf die Idee gekommen wäre, dieser ausdrucksstarke Mund sei stumm.
«Das mütterliche Erbe kann's ja nicht sein», meinte der Lehrer einmal, «vielleicht ist dein Vater nicht so besonders musikalisch?»
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Ich zuckte die Achseln, und die zu Hause weitergegebene Frage wurde wie alle Fragen nach dem Vater überhört.
Wahrscheinlich hat er mich nur im Chor behalten, weil ich ohne zu murren die Tafel blitzblank wischte und weil er fand, dass ich so nett aussah mit meinen langen blonden Zöpfen.
Meine Mutter aber hatte es sogar in den «Münchner Domchor» geschafft. Als es dort an Altstimmen mangelte, wurde bei anderen Pfarreien nachgefragt. Der Chorleiter von St. Paul ermunterte sie zum Vorsingen, obwohl er nicht gern auf ihre Solostimme verzichtete, und sie wurde sofort aufgenommen. Der Domchor war sehr bekannt, gab viele Konzerte auch andernorts und wurde einmal sogar nach Rom eingeladen.
Die «Missa Solemnis» im Petersdom zu singen, das war schon aufregend genug - aber es war auch das erste Mal, dass meine Mutter eine so weite Reise machen durfte. Bislang endete der Radius bei den Verwandten in der Rhön, die abwechselnd mit wenig Begeisterung die armen Großstadtkinder in den Ferien aufnahmen. Man sah zwar ein, dass die blassen Kinder ab und zu frische Landluft brauchten, auf die hungrigen Mäuler hätte man jedoch lieber verzichtet. Also mussten sie sich das Brot schon durch Mithilfe in Stall und Garten verdienen.
Meine Mutter konnte diese so genannten «Ferien auf dem Land» nicht leiden. Sie hasste es, im Garten zu graben und ganz besonders im stinkenden Stall zu arbeiten.
Ich tat das als Kind hingegen sehr gern, und wenn sie gelegentlich an den Wochenenden auftauchte, rümpfte sie sofort die Nase, wenn ich ihr zu nahe kam, und ehe sie mich umarmte, wusch sie mir als Erstes die Haare, weil sich da der Stallgeruch besonders festgesetzt hatte. Auch mit den Tieren konnte sie nichts anfangen, anders als ihre Schwester, die sich darauf freute, die Hühner zu füttern und mit jungen Katzen zu spielen.
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Einmal ist sie in der Rhön weggelaufen von der Tante, die ihr sogar verboten hatte, Äpfel vom Boden aufzuheben und zu essen. Als sie sich einmal vor Hunger beim Fallobstklauben über das Verbot hinwegsetzte und beim raschen Verschlingen eines Apfels erwischt worden war, wurde sie eingesperrt und bekam zur Strafe einen ganzen Tag lang nichts zu essen. Da ist sie aus dem Fenster gesprungen und stundenlang zum nächsten Dorf gelaufen. Dort war ein anderer Onkel Lehrer, der Mitleid hatte und sie bis zum Ende der Schulferien bei sich behielt. Sie musste sich zwar ausfragen lassen und gelegentlich ein Diktat schreiben, damit der Onkel nicht aus der Übung kam, aber das fiel ihr leicht, und sie durfte sich dafür endlich wieder einmal satt essen.
Nach dem Tod des Vaters konnte sie niemand mehr zwingen hinzufahren, nie mehr würde sie ihre kostbare Urlaubszeit in einem Dorf verbringen!
Wie glücklich war sie also in Rom! Sie war begeistert von der wundervollen Stadt, konnte sich nicht satt sehen an den Kunstschätzen und den «alten Trümmern», wie manche spotteten. Da war sie sich ausnahmsweise mit ihrem Bruder einig, Geschichte war immer beider Lieblingsfach gewesen. Sie genoss den viel zu kurzen Aufenthalt und schwor sich, bald wiederzukommen. Dann würde sie nicht in dem bescheidenen Kloster auf den spartanischen Feldbetten im «Schlafsaal für Frauen» übernachten, sondern in einem richtigen Hotel.
Als Frau allein wäre das nicht so einfach, vielleicht würde sie also doch heiraten müssen, jedenfalls aber dann nur einen, der ihr das bieten könnte.
Im Grunde gehörte Heiraten nicht zu ihren Lebensplänen. Ein ganzes Leben mit ein und demselben «Mannsbild» an der Seite, das konnte sie sich nicht vorstellen. Und gar noch Kinder kriegen! Wie hatte sich ihre Mutter tagaus, tagein abrackern müssen. Nach der Geburt des jüngsten Kindes war sie völlig erschöpft, und als sie alle großgezogen hatte, sah sie aus wie eine alte Frau, dabei war sie erst Anfang fünfzig.
Auch die Großmutter hätte sich ein anderes Leben vorstellen können, wenn sie nur die Möglichkeit dazu gehabt hätte. Zu gern wäre sie Lehrerin geworden, hätte wohl auch «das Zeug» dazu gehabt. Aber von den sieben Kindern durfte nur eines eine höhere Schule besuchen, das war selbstverständlich der Älteste.
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Ihre eigene Mutter hatte daran nichts ändern können, obwohl sie selbst so gelitten hatte, dass sie sich nicht der Musik widmen konnte wie ihr Bruder, sondern den Dorfschullehrer heiraten musste. Manchmal allerdings ließ sie die Hausarbeit liegen, und wenn die Kinder im Bett waren, setzte sie sich ans Klavier und spielte die halbe Nacht.
Meine Mutter würde sich ihr Leben nicht so verpfuschen lassen wie ihre Mutter und Großmutter, sie würde es ganz anders planen. Gott sei Dank hatte sie ihren Beruf, und einen Heiratsantrag würde sie sehr genau abwägen und nicht genauso ins Unglück rennen wie ihre Schwester. Allerdings gab es auch keinen ernsthaften Bewerber, der ihr so gefährlich hätte werden können, wie anscheinend der Hans ihrer Schwester geworden war.
Gewiss, sie war ein bisschen in den Lorenz aus dem Domchor verliebt. Er war Medizinstudent, ein Stückchen größer als sie und sah gut aus. Sie gefiel ihm anscheinend auch, jedenfalls war den anderen Männern im Chor die Zuneigung der beiden nicht entgangen. Sobald er auftauchte, wurden sie geneckt:
«Antonia, der Lenz ist da!», stimmten sie in der Manier der «Comedian Harmonists» an, «Die Vöglein singen trallala, die ganze Welt ist wie verhext, Antonia, der Spargel wächst!»
Sie errötete tief, wenn Lorenz ihr dann lächelnd in die Augen schaute, was wiederum der große Bruder mit Argusaugen beobachtete. Das war vermutlich auch der Grund, warum sie vergeblich darauf wartete, dass Lorenz sie zum Ausgehen einlud.
Die ältere Schwester war nun seit ein paar Jahren verheiratet und lebte mit ihrem Mann, einem Inspektor der Stadtverwaltung, in Bad Tölz. Er hatte dort ein Grundstück geerbt, und mit viel Eigenleistung hatten sie ein kleines Haus gebaut. Sie waren im Winter in das noch feuchte Haus eingezogen, um die Miete für eine Wohnung zu sparen, obwohl Maria hochschwanger mit dem zweiten Kind war.
Sie hatte sich eine Nierenbeckenentzündung zugezogen, vom notwendigen Kaiserschnitt war sie so entkräftet, dass sie nur langsam wieder auf die Beine kam und kaum noch den Haushalt versorgen konnte.
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Kurz zuvor hatte die Kurstadt einen gewaltigen Aufstieg erfahren: Der neue Reichskanzler Adolf Hitler hatte beschlossen, dort seine erste «Reichsführerschule» zu errichten. Möglicherweise aus Dankbarkeit, hatten ihm doch die Tölzer schon früh ihre Sympathie gezeigt seit seiner viel beachteten Rede dort im Jahr 1922. Beim Verbot der NSDAP 1923 jedenfalls hatte die Partei in der Kleinstadt schon 186 Mitglieder.
Das Nachbardorf Wackersberg hatte ihm im Frühjahr 1933, also kurz nach der Ernennung zum Reichskanzler, als eine der ersten Ortschaften in Deutschland die Ehrenbürgerschaft zuerkannt und im Juli desselben Jahres auf einem in «Hitlerberg» umbenannten Berg ein zehn Meter hohes Hakenkreuz mit Widmung an den «Führer» errichtet. Das gigantische stählerne Symbol des Nationalsozialismus, das 24 Zentner gewogen haben soll, wurde nachts mit Fackeln illuminiert und leuchtete weit in den Isarwinkel hinaus. Vielleicht sah der «Führer» das als gutes Vorzeichen für den richtigen Standort, zumal auch Heinrich Himmler ihn wegen seiner Grenznähe und seiner «ausgezeichneten Ausbildungsmöglichkeiten zu Lande, zu Berge und zu Wasser» empfohlen hatte.
Die Stadtverwaltung zeigte sich hochzufrieden mit dem Plan und akzeptierte klaglos die von der NSDAP gestellten Bedingungen, auf gemeindliche Abgaben zu verzichten, auf Wasser- und Stromverbrauch 50-prozentige Ermäßigung zu gewähren, ja sogar einer unentgeltlichen Behandlung aller Angehörigen der Reichsführerschule im Städtischen Krankenhaus zuzustimmen! Man erhoffte sich einen gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung durch die Beschäftigung einheimischer Handwerker, mehr Umsatz für die Geschäftsleute und glaubte an «eine lebendige Reklame für den Badeort» und dass «der Verkehr in Bad Tölz sich belebt» durch die «zu erwartenden Besucher von auswärts».
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Ein Nachteil war allerdings, dass der Neubau der Schule im Kurbezirk lag, wo von der Partei gleich noch 34 Villen und ein Hotel für Angehörige des Schulungspersonals angekauft wurden. Nach dem ersten erfolgreichen Schulungsjahr für 100 «Junker» plante man bereits eine Erweiterung und wollte ein unmittelbar an das «Badeteil» anschließendes Stadtviertel aufkaufen und militärisch nutzen.
Solche unerwarteten Dimensionen beunruhigten die Tölzer denn doch, zumal man sich die Belebung des Ortes nicht so vorgestellt hatte, dass nun Ruhestörung an der Tagesordnung war und auch nachts betrunkene SS-Männer laut singend durch die «Ruhezone» marschierten!
Die Stadt wurde tatsächlich bekannter, aber immer weniger als Kurstadt. Schon im zweiten Jahr des Schulungsbetriebes verringerten sich die Einnahmen im Kurbetrieb um 50 %, «denn das sonst ruhigste und von den Kurgästen bevorzugte Vierteides Badeteils wird heute von den Gästen gemieden, weil die Unruhe sich nicht mit der Kur vereinbaren läßt».
Der Stadtrat war in eine Zwickmühle geraten zwischen den berechtigten Beschwerden der Bürger und dem Anspruch der SS-Ausbildungsstätte.
«Wo in aller Welt gibt es ein Bad für die Allgemeinheit, wo mittendrin eine Kaserne sitzt?», empört sich der Besitzer eines Kurhauses in einem Brief, und weiter: «Ich habe seit Juli das Haus halb leer und bringe jederzeit Beweise, daß viele der Schiesserei wegen nicht gemiethet haben, mehrere überhaupt nach Wiessee gehen.»
Dagegen erklärt SS-Standartenführer Paul von Lettow als damaliger Leiter der Junkerschule der Stadt unmissverständlich, dass «es im Interesse des ganzen deutschen Volkes und seiner Wehrhaftmachung notwendig ist, daß die deutsche Jugend zur Verteidigung des Vaterlandes ausgebildet wird», und schreibt nach Beschwerden über die Lärmbelästigungen bei Weckruf und Zapfenstreich bezeichnend für den arroganten Anspruch der Militärs:
«Nachdem die ersten künstlerischen Leistungen meiner nicht gut ausgebildeten Spielleute wenig erfreulich klangen, dürfte das saubere Blasen jetzt für die Ohren eines alten Soldaten angenehm und erfreulich sein, und auf einen großen Teil der Kurgäste, der soldatisch denkt, dürfte die Erinnerung daran, daß das neue Deutschland arbeitet, nur beruhigend wirken. Die anderen, die nicht soldatisch denken und keinen Sinn dafür haben, interessieren uns nicht.»
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Leider haben sich 1935 wohl die meisten von denen, die «nicht soldatisch» dachten, ihrerseits nicht für solche «von Let-tows» interessiert und die Drohung in solchen Sätzen überhört.
Der Stadtrat in Bad Tölz jedenfalls fand eine für alle Beteiligten befriedigende Lösung. Er konnte die hochrangige Parteidelegation bei der Besichtigung des ins Auge gefassten neuen Geländes davon überzeugen, dass es aus geographischen Gründen ungeeignet sei, und bot stattdessen ein weitläufiges Wiesengebiet auf der anderen Seite weit außerhalb der Stadt an.
Der Vorschlag wurde sofort angenommen, ermöglichte er doch, ein Projekt von ganz anderer Dimension zu realisieren. Noch im selben Jahr wurden die Pläne erstellt und mit dem Bau begonnen. Für ca. 35 Millionen Reichsmark entstand in Windeseile eine SS-Kaserne riesigen Ausmaßes mit Paradehof und Reithalle, großem Hör- und Kinosaal, Unterrichtsräumen, unterirdischem Schwimmbad und Kegelräumen. Außerhalb des Geländes wurden Tennisplätze und an einem Südhang mit Gebirgsblick das Kommandeurshaus und die Wohnhäuser für die Ausbilder und ihre Familien erstellt. Bereits im Frühjahr 1937 konnte man mit dem Umzug beginnen, und nach kurzer Sommerpause wurde der Betrieb der Junkerschule in großzügig erweiterter Form mit wesentlich mehr Personal wieder aufgenommen.
Inzwischen hatte bereits das nationalsozialistische Gedankengut bei jungen Männern in ganz Europa Anhänger gefunden, immer mehr «Freiwillige» aus anderen Ländern suchten den Anschluss an Hitlers Elitetruppe: Österreicher und Franzosen, Holländer und Belgier, Dänen und Norweger. Bis zum Kriegsende sollten es Junker aus zwölf Nationen werden, die dort nach einem militärisch und weltanschaulich ausgeklügelten Lehrplan ausgebildet wurden.
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Nationalsozialistische Begeisterung alleine genügte freilich nicht, um als Junker zugelassen zu werden, auch körperlich mussten die Herren bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Der SS-Reichsführer Heinrich Himmler hatte nämlich ganz besondere Vorstellungen von seiner Schutz-Staffel. Selbst wenn einer das vorgeschriebene Mindestmaß von 1,80 m erreichte, war das Soll noch nicht unbedingt erfüllt.
Himmler war sehr genau in seiner eigenwilligen «Ästhetik»: «Leute, die zwar groß sind, aber irgendwie falsch gewachsen sind», waren ihm ein Gräuel. Einem SS-Mann dürfe es auf keinen Fall an «Ebenmäßigkeit des Baues (fehlen), wo also zum Beispiel die Unterschenkel in einem völlig falschen Verhältnis zu den Oberschenkeln stehen, wo die Unter- und Oberschenkel in einem völlig falschen Verhältnis zum Oberkörper stehen, so daß der Körper bei jedem Schritt eine unerhörte Hubleistung aufwenden muß, einen unerhörten Kräfteaufwand treiben muß, um Marschleistungen zu vollbringen».
Es war sicher nicht einfach, so wohlproportionierte Bewerber zu finden, die außerdem in einem Stammbaum bis 1750 nur «arische» Vorfahren nachweisen konnten und auch noch blond und blauäugig waren. Da musste der Chef sicher Kompromisse eingehen und schon mal ein Auge zukneifen, braune Haare als dunkelblond durchgehen lassen und braune Augen akzeptieren, wenn sie nicht allzu dunkel waren. Von seinem Idealtyp, dem eigentlich der «SS-Einheitsmann» entsprechen sollte, konnte er vorläufig nur träumen. Der blauäugige, blonde, nordische Herrenmensch musste erst noch gezüchtet werden, ehe er in Serie auftreten konnte. Pläne zur «Aufnordung» wucherten bereits in seinem kranken Gehirn und dem seines Chefideologen vom Rasse- und Siedlungshauptamt, Hauptsturmbannführer Professor Dr. Bruno K. Schultz.
Von all dem hat meine Mutter nichts geahnt, als ihr Schwager ihr den Vorschlag machte, sich um den Posten einer Sekretärin in der neuen Junkerschule zu bewerben. Er wusste freilich viel mehr, hatte er doch am Stammtisch des Gauleiters und der Parteigenossen, an dem sich auch die Herren Offiziere blicken ließen, erfahren, dass man eine gute und zuverlässige, auch in ihrem äußeren Erscheinungsbild passende Schreibkraft suche.
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Hans empfahl gleich seine junge, hübsche, ungewöhnlich große und auch noch tüchtige Schwägerin; es konnte für ihn auch durchaus von Vorteil sein, auf diese Weise eine Verbindung zur Junkerschule zu bekommen.
Vor allem brauchte er selbst dringend eine Hilfe im Haushalt, eine Angestellte konnte man sich nicht leisten, und die Schwägerin war bisher nur gelegentlich am Wochenende eingesprungen. Wenn sie in der Junkerschule arbeiten würde, die nur eine halbe Stunde zu Fuß entfernt lag, konnte sie bei ihnen wohnen und nach Dienstschluss die kranke Schwester unterstützen und die Kinder mitversorgen. Das nannte er «Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen», und er war sicher, dass ihm der Plan gelingen würde, weil seine Schwägerin in Sorge um die geliebte Schwester war.
*
Die Straße windet sich wieder hinunter, mündet in die Autobahn entlang dem Oslofjord.
«Was die da für eine riesige Straße gebaut haben, das ist auf jeden Fall ein großer Umweg. Früher ist man nicht am Meer vorbeigefahren, da ging die Straße gleich hinauf in die Berge», sagt meine Mutter, wie um noch einmal ihre Behauptung zu rechtfertigen, dass der Weg damals kürzer war.
Ich kann sie wieder fragen.
«Du hast wahrscheinlich gar nicht überlegt damals, dass es auch eine politische Entscheidung war, in der Junkerschule zu arbeiten?»
Freilich nicht.
«Das hat doch mit Politik nichts zu tun gehabt! Politik war doch Männersache! Das hat mich überhaupt nicht interessiert. Im Gegenteil, schon das Wort war mir unheimlich, <Politik> — das war gefährlich und bedrohlich, weil ich mich genau erinnert hab, wie ich es zum ersten Mal gehört hab. Ich weiß noch genau, wie der Vater den Martin g'schimpft hat: <Du mit deiner Politik! Du stürzt uns noch alle ins Unglück!> Das war beim ersten Putschversuch vom Hitler am 9. November '23 an der Feldherrnhalle.»
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Mitglieder verschiedener politisch rechts außen stehender Verbände hatten sich mit Hitler zusammengeschlossen, um gegen die Weimarer Demokratie vorzugehen. Einer der deutschnationalen Wehrverbände war das <Freikorps Oberland>.
Obwohl meine Mutter damals erst acht Jahre alt war und natürlich die Zusammenhänge nicht verstanden hat, ist ihr die Stimmung in der Familie noch deutlich in Erinnerung:
«Ich spür des heut' noch, die Aufregung und die Angst, dass ihm was passiert ist. Der Martin war doch im <Bund Oberland>, da ist er mit seinem besten Freund, dem Sepp, eingetreten, das war halt so ein Jungmännerbund, ham's g'sagt, so was wie die Pfadfinder vielleicht. Der Vater hat schon g'schimpft, dass er fast jeden Abend zum Treffen gegangen ist, und auf oamal hat er dauernd was von einem <Hitler> erzählt, der so guat reden kann und große Pläne hat und dass der Bund ihm helfen wird.
An dem Tag dann hat er g'sagt, es gibt an Aufmarsch an der Feldherrnhalle, und - ganz geheimnisvoll - danach wird sich einiges verändern in Deutschland, und loszog'n is' er in seiner kurzen Lederhos'n im November. D' Mama hat eam noch im Treppenhaus nachg'rufen: <Zieh doch eine lange Hose an, Martin! Du holst dir noch den Tod in der Kälte !>
<Das verstehst du nicht, Mutter, die kurze Wichs mit weißem Hemd, das ist doch unser Markenzeichen! Grad heut' müssen wir die anhaben! >, hat er geantwortet und ist losgerannt.
Der Vater hat nur den Kopf g'schüttelt und hat den Radio aufdreht, als ob er geahnt hätt, dass das nicht gut geh'n kann. Es hat net lang 'dauert, bis s' es durchg'sagt ham, dass ein gewisser Hitler an der Feldherrnhalle aufmarschiert ist und an Putsch machen wollte und dass die berittene Polizei die Versammlung aufgelöst hat. Schießereien hätt's gegeben, und der Anführer selbst und viele der jungen Burschen, die <Sieg Heil> gerufen hätten, seien verhaftet worden. Der Putsch sei niedergeschlagen worden, man suche noch nach Teilnehmern des Marsches, die geflohen seien.
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Die Mama is' kreidebleich wor'n, und der Vater hat gemeint: <Hab ich ihn nicht gewarnt und gewarnt, er soll die Finger lassen von der Politik, das ist nichts für unsereins! Der dumme Bub — von der Lehrerbildungsanstalt werden sie ihn werfen und dann waren alle Entbehrungen umsonst und — gnade ihm Gott, wenn er im Gefängnis landet — mein Sohn ist er dann nicht mehr!>
Und die Mama hat geweint und gejammert: <Des hat er jetzt von seiner Politik. Was hat er nur g'habt mit dem damischen Hitler, der stürzt uns noch alle ins Unglück!>»
Die ganze Nacht seien die Eltern aufgeblieben, und sie und ihre Schwester hätten auch nicht geschlafen, weil sie die Angst sehr wohl gespürt hätten. Man habe vergeblich auf den Bruder gewartet. Erst am nächsten Tag habe er sich spätabends ins Haus geschlichen.
Er und der Sepp und ein anderer Kamerad seien gemeinsam getürmt. Als sie die Polizei aufreiten sahen, sei es ihnen doch mulmig geworden und drum seien sie noch rechtzeitig davongekommen. Sie hätten von weitem die Schüsse gehört und himmelangst sei es ihnen geworden und der Kamerad, der draußen am Land wohnt, habe einen Stadel gewusst, wo sie die Nacht im Heu verbracht hätten. Am Morgen habe der Kamerad dann ihm und dem Sepp lange Hosen gebracht und so seien sie schließlich heimgekommen, ohne von den Polizeipatrouillen angehalten zu werden.
«Die Eltern waren dann doch froh, dass ihm nichts passiert ist, und er hat ihnen versprochen, dass er mit dem Hitler nichts mehr zu tun haben will. — Der ist ja dann erst mal nach Landsberg gekommen.»
«Da hat er auch hingehört, offensichtlich ist er nicht lange genug im Gefängnis gesessen.»
«Ja, später haben wir das auch gesagt — aber damals haben wir ihm halt doch geglaubt!»
«Vor allem die SS, die in den Junkerschulen ausgebildet wurde.»
«Glaub mir doch, ich hab mir damals gar keine Gedanken über die Junkerschule gemacht, für mich war des eine Kaserne wie jede andere auch, und warum sollte ich was gegen Soldaten haben?»
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«Und du hast nicht gewusst, dass das ganz besondere Soldaten waren, vor allem ganz besonders große?»
«Des schon», gesteht sie zögerlich, «der Hans hat mich schon gelockt mit den gut aussehenden Offizieren im Gardemaß! Des geb ich doch zu, dass es mich schon gereizt hat, endlich mal lauter große Männer kennen zu lernen!»
Sie habe geplant, nur so lange dort zu arbeiten, bis es ihrer Schwester wieder besser ginge und auch der Kleine aus dem Gröbsten raus wäre, ein Jahr höchstens. In ihrer Firma zeigte man Verständnis, zumal ihre Schwester früher auch einmal dort gearbeitet hatte, und man versicherte ihr sogar, sie wieder einzustellen, wenn sie in längstens einem Jahr wieder zurückkäme. Das war eine gute Perspektive, sie wollte auf jeden Fall zurück nach München, ein Leben in der Kleinstadt konnte sie sich fast ebenso wenig vorstellen wie das auf dem verhassten Lande. Und schließlich verzichtete sie ungern auf den Chor. Die Freude daran war allerdings zu jener Zeit ein wenig getrübt, musste sie doch endlich einsehen, dass es keinen Sinn mehr hatte, auf eine Einladung vom Lorenz zu warten. Tief enttäuscht hatte sie gesehen, wie er eines Abends Hand in Hand mit einer zierlichen Sopranistin wegging! Er gehörte halt auch zu denen, die es genießen, wenn ein zartes weibliches Wesen den Kopf an die starke Männerschulter lehnt. Es war wahrscheinlich nicht schlecht, für eine Weile nicht zu den Proben zu gehen, bis der Schmerz sich gelegt hätte.
Für meine Mutter war es also eine reine Zweckentscheidung, den Posten in der Junkerschule anzunehmen, den sie bei ihrer Qualifikation, ihrem Aussehen und der Empfehlung des zuverlässigen Parteigenossen sofort bekam.
Und ich glaube ihr, dass sie nicht ahnte, wie folgenschwer diese Entscheidung für sie sein würde.
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Das Einstellungsgespräch hatte sein Stellvertreter geführt, ihren neuen Chef bekam sie erst an ihrem ersten Arbeitstag zu Gesicht. Sie saß mit dem Rücken zur Tür und hatte nicht gehört, dass diese geöffnet wurde, weil sie eifrig in das Abschreiben eines Stenogramms, das ihr ein Offizier gerade zum Einarbeiten gegeben hatte, vertieft war.
Erst als eine tiefe Stimme hinter ihr sagte: «Diese Festung werde ich auch noch einnehmen», drehte sie sich erschrocken um und sah den blonden Mann in seiner schmucken schwarzen Uniform hinter ihrem Stuhl stehen.
Er lachte sie an: «Ich glaube, ich hatte noch nicht das Vergnügen, darf ich zum Diktat bitten?»
Er reichte ihr den Arm, sie hakte sich völlig verwirrt bei ihm ein und ließ sich so zur Tür seines Arbeitszimmers führen.
*
Wir sind wieder in Oslo angekommen. Wegen der Erzählung von der ersten Begegnung mit meinem Vater haben wir die Haltestelle an der Universität gerade verpasst, wir steigen in der Karl Johans Gate am Parlament aus.
Meine Mutter hat Hunger, will essen gehen und über etwas anderes reden jetzt. Ich finde, es ist ein Grund zum Feiern, dass wir nach der schwierigen Suche meinen Geburtsort gefunden haben. Ich lade sie ein ins «Grand Hotel» gleich gegenüber. Sicher gab es das ehrwürdige Gebäude schon damals.
«Kennst du das, warst du schon hier?»
«Ja, ich hab schon mal Kaffee getrunken da drin, damals», und: «Meinst net, dass des zu teuer ist für uns, traust du dich da rein?»
Und ob ich mich traue. Ich bestelle sogar als Erstes zwei Gläser Champagner. Da spricht sie tatsächlich zum ersten Mal in meiner Gegenwart meinen Vater direkt an:
«Prost, Karl!», sagt sie und hebt ihr Glas ein Stückchen höher als gewöhnlich, blickt zur Zimmerdecke.
«Ich bin sicher, dass du uns von da oben zuschaust — ohne dich wären wir jetzt nicht hier!»
Und dann stößt sie fröhlich lachend mit mir an.
Die Tränen sind wieder nur in meinen Augen.
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Am nächsten Morgen bleibt noch Zeit, der Rückflug ist erst am Nachmittag.
Ich werde mir noch den «Vigeland-Park» ansehen, bei der Stadtrundfahrt sind wir nur daran vorbeigefahren. Die Hostess erzählte, dieser gigantische Skulpturenpark von über 32 Hektar sei das Ergebnis eines über 40-jährigen schöpferischen Prozesses des Bildhauers Gustav Vigeland - neben Edvard Munch der bedeutendste norwegische Künstler des 20. Jahrhunderts. Er habe die gesamte Anlage auch geplant und über Jahrzehnte hinweg der Stadt Oslo immer neue Aufstellungsentwürfe vorgelegt. Unglaublich großzügig habe die Stadt ihrem großen Künstler das riesige Areal zur Verfügung gestellt, Bearbeitung und Aufstellungen finanziert, auch freies Wohnen und Atelier im palastähnlichen Haus am Ende des Gartens gewährt. Als Gegenleistung habe er für seine Skulpturen von der Stadt kein Honorar verlangt - er konnte mit anderen Skulpturen und Porträts anscheinend genug verdienen - und habe sein gesamtes Werk schon zu Lebzeiten der Stadt vererbt.
Meine Mutter möchte nicht mitkommen, es sei ihr zu anstrengend, durch den großen Park zu laufen, auch mein Angebot, sie im Rollstuhl zu fahren wie im Park auf Bygdoy, lehnt sie ab. Die lapidare Antwort auf meine Überredungsversuche heißt:
«Den Park kenn ich schon, de Nackerten muss ich mir net noch einmal anschau'n.»
*
Ich bin gespannt auf dieses gigantische Skulpturenensemble; die Bemerkung der Fremdenführerin, man habe Vigeland verdächtigt, während der Okkupation mit den Nazis kooperiert zu haben, hat mich besonders neugierig gemacht:
«Es gab Stimmen, die bezweifelt haben, dass er ungestört seine Arbeit am und im Park hätte fortführen können und ihm weiter Gelder bewilligt worden wären, wenn er sich nicht zur Zusammenarbeit mit den Deutschen bereit erklärt hätte. Aber Vigeland war nichts als ein leidenschaftlicher Künstler, der sein Werk vollenden wollte. Er ließ sich von den politischen Wirren jener Zeit nicht beirren und arbeitete wie ein Besessener weiter, um seinen Lebenstraum zu erfüllen. Er schien zu ahnen, dass er nicht mehr viel Zeit hatte; kurz vor Vollendung des Parks starb
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er 74-jährig im Frühjahr 1943. Der Park wurde erst nach seinem Tod seinen letzten Entwürfen entsprechend im Herbst desselben Jahres ganz fertig gestellt.»
Gleich hinter den hohen schmiedeeisernen Toren am Hauptportal kommt man zu einer langen und breiten Brücke, auf deren Steinbrüstung ich den ersten «Nackerten» begegne: Bronzefiguren in Lebensgröße von Menschen verschiedenen Alters in ruhigen oder dynamischen Positionen, allein oder in Gruppen, deren Motiv «Beziehung» ist: liebevolle Umarmungen und erotische Spiele zwischen Mann und Frau, Eltern mit Kindern in verschiedensten Versionen, Zweiergruppen von Mutter und Kind, Vater und Kind.
Ich bin nicht besonders begeistert von den naturalistischen Darstellungen fast makelloser Körper, zu sehr erinnern sie mich tatsächlich an Naziskulpturen und die Kunst des sozialistischen Realismus. Dennoch rühren sie mich an, manche Szenen wirken tatsächlich wie dem Leben nachgestellt - mit Ausnahme der Tatsache, dass hier nackte Eltern mit nackten Kindern spielen, was generell nicht den üblichen Gepflogenheiten entsprechen dürfte.
Eine Figur zieht mich besonders an: Eine junge Frau hebt ein Baby mit ausgestreckten Armen hoch. Sie macht einen großen Schritt, die langen Bronzehaare scheinen tatsächlich so im Wind zu wehen, dass ich die junge Frau laufen und sich im Kreise drehen sehe. Mit glücklichem Lächeln schaut sie zu dem Kind auf, das die Arme nach der Mutter ausstreckt und zurückstrahlt.
Ich fotografiere die Plastik von allen Seiten, die Szene ist mir vertraut: Ich erinnere mich, wie ich meine Kinder, als sie so klein waren, ähnlich glücklich durch die Luft wirbelte und wie sie glucksten vor Vergnügen. Warum denn werde ich traurig, werden meine Augen schon wieder feucht?
Auf dieser Reise komme ich wohl aus dem Heulen nicht mehr raus, werfe ich mir vor, bis es mir einfällt: Es gibt eine ähnliche Szene auf einem der wenigen frühen Fotos von meiner Mutter und mir. Sie steht im Garten vor dem Haus meiner Tante und hält lachend den lachenden Säugling mit ausgestreckten Armen in die Luft.
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Wir sind natürlich beide angezogen, und sie hat die Haare ordentlich im Nacken zusammengesteckt — jedenfalls aber sieht sie glücklich aus! Ich erinnere mich genau, als junges Mädchen klebte ich das Bild in mein Fotoalbum und schrieb darunter:
«Wer strahlt hier mehr?»
Das Bild wurde vermutlich kurz nach unserer Ankunft in Bad Tölz Ende Oktober 1943 aufgenommen, als ich dort das «norwegische Waisenkind» war.
Aber auf diesem Bild ist sie Mutter, da erscheint sie stolz und glücklich!
War es einfach das ganz normale Glück, ein gesundes Kind geboren zu haben, oder der Stolz, dem Führer (oder meinem Vater?) ein «arisches» Kind schenken zu können? War ihr die spätere Belastung, die «Schande», ein uneheliches Kind zu haben, noch gar nicht bewusst? Gab es in diesen ersten Wochen die ganz normale Bindung zwischen Mutter und Kind, die abgerissen ist, als sie mich bei ihrer Schwester zurücklassen musste? Musste? Hätte sie mich nicht mitnehmen können? Ihre Dienststelle in Steinhöring war auf demselben Gelände wie das Heim, Angestellte konnten dort grundsätzlich ihre Kinder betreuen lassen. Oder hat sie mich gerade deshalb nicht mitgenommen, weil sie bei aller Solidarität zur Organisation doch glaubte, ihr Kind sei in einer richtigen Familie besser aufgehoben? Ich glaube, ich hätte mein Kind mitgenommen, außerhalb der Dienststunden blieb doch die Freizeit, um es zu füttern und zu pflegen, mit ihm zu spielen und zu sprechen, gab es doch die Nächte, um es in die Arme zu nehmen!
Direkt neben derjenigen, die ich so lange betrachtete, gibt es noch eine andere Mutterfigur:
Eine Frau drückt ein Neugeborenes mit verschränkten Armen eng an ihre Brust, das Kind ruht sicher auf dem rechten Arm, der linke stützt den Kopf, und die linke Hand umfasst zärtlich das Körperchen. Das Baby, in noch fast embryonaler Haltung die Beinchen angewinkelt, die Füßchen auf dem linken Oberarm der Mutter, scheint sich dicht an sie zu schmiegen. Die Frau senkt den Kopf tief hinunter, berührt mit ihrer Stirn sanft die des Kindes.
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Beide haben die Augen geschlossen, ein weiches Lächeln im Gesicht. Es ist ein Bild der innigen Verbundenheit, des Geborgenseins, des Urvertrauens.
Die andere Figur zeigt den Stolz und den Spaß, das Kind zu betrachten, dabei wird es aber vom Körper weg, zugleich also auf Distanz gehalten. Stolz und Spaß sind sicher auch ein Anteil der Mutter-Kind-Beziehung, aber der innige Körperkontakt darf nicht fehlen.
Jetzt wird mir klar, warum ich so traurig geworden bin. Warum gibt es kein einziges Foto aus Oslo, aus den ersten Lebenswochen? Hat sie mich je so im Arm gehalten?
Ich erinnere mich, wie ich während meiner Ausbildung zur Therapeutin in einem Seminar zur Körperarbeit vergeblich versuchte, ein «inneres Bild» von Zuflucht in den Armen meiner Mutter, von zärtlichem Streicheln und Festhalten zu erzeugen. Ich war die Einzige in der Gruppe, der dies nicht gelang, die in tiefe Traurigkeit verfiel - ähnlich wie jetzt. Ich habe meine Mutter damals gefragt, ob sie ein solches Bild von mir im Kopf hat.
«Nein», antwortete sie, «weil du dich ja nie in die Arme nehmen und streicheln hast lassen. Du warst immer schon wie eine kleine Kratzbürscht'n und hast dich nicht anfassen lassen.»
«Das gibt es doch nicht, als Baby doch nicht!»
«Doch, bei dir schon, du hast es von Anfang an nicht gewollt!»
Ich war sehr erschrocken über diese Auskunft damals, habe aber nicht ausgesprochen, was ich dachte: Was muss alles geschehen sein, schon vor der Geburt, wenn ein kleines Kind «von Anfang an» den lebensnotwendigen Körperkontakt zurückweist? Kinder verhalten sich nur dann so paradox, wenn sie nicht daran glauben, etwas zu bekommen, wonach sie sich sehnen.
Wie an eine so innige Umarmung und das glückliche Lächeln kann ich mich auch kaum an ein solches Strahlen, wie ich es von jenem Foto kenne, im späteren Leben erinnern. Damals hat sie es jedenfalls gehabt, vielleicht ist es ihr abhanden gekommen beim Zusammenbruch des Dritten Reiches. Selbst wenn sie es damals gewollt hätte, nach 1945 konnte sie nicht mehr zu ihrer Mutterschaft stehen.
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Nach dem Krieg, ohne die «Lebensborn-Ideologie», blieb nur noch die Schande, folgte daraus das Verdrängen und Verleugnen, das «Abspalten» eines Teiles von sich selbst, um den Zusammenbruch von allem, woran sie geglaubt hatte, psychisch überleben zu können. Und wenn jene Zeit länger gedauert hätte, in der es zur Normalität erklärt wurde, Kinder «guten Blutes» auch ohne Vater zur Welt zu bringen und alleine großzuziehen? Hätte ich dann vielleicht eine ganz andere Mutter gehabt, eine, die zwar auch hätte arbeiten müssen, die dann aber zufrieden nach Hause gekommen wäre, mich mit diesem glücklichen Lächeln in die Arme genommen, sich meiner nicht geschämt hätte, die stolz auf mich gewesen wäre?
Ich erschrecke über meine eigenen Gedanken. Welche Macht hat diese nie befriedigte Sehnsucht nach der «verlorenen Mutter» noch immer, dass ich sogar imstande bin, eine Verlängerung des verbrecherischen Regimes zu fantasieren, in dem ich vielleicht eine bessere Beziehung zu meiner Mutter gehabt hätte!
Außerdem, beruhige ich mich selbst, ganz so schlimm war es doch nicht: Gelegentlich war sie stolz auf mich.
Mir fällt mein erster «Auftritt» beim Krippenspiel an Weihnachten im Kindergarten ein. Das war nicht nur eine kleine Feier für die Eltern, sondern es kamen auch die Vertreter von Kirche und Stadt. Der Herr Stadtpfarrer jedenfalls saß in der ersten Reihe in der Mitte, das weiß ich noch (ich mochte ihn besonders gern, weil er immer sehr freundlich zu uns Kindern war), sicher saßen dort auch Honoratioren aus dem Stadtrat. Und ich durfte die Heilige Maria spielen! Ein Umstand, den ich vermutlich meiner damaligen «Reinheit» zu verdanken hatte, nachdem ich nicht weiter als «Heidenkind» ohne Taufschein im katholischen Kindergarten geduldet worden war und endlich ordentlich katholisch getauft wurde. Eine SS-Urkunde über die «Namensweihe» hat meine Großmutter bei der Einschreibung sicher nicht vorgelegt, und die Bezeichnung «gottgläubig», wie sie in der Zeit zuvor üblich war für die vielen, die aus den Kirchen ausgetreten waren oder gar nicht mehr getauft wurden, haben die Ordensschwestern sicher auch nicht akzeptiert.
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Eigentlich war ich ein sehr schüchternes Kind, das sofort einen roten Kopf bekam, wenn es angesprochen wurde, und nur mit Herzklopfen antworten konnte. Und einfach so hätte ich wohl nie hintreten können vor Erwachsene, aber in eine Rolle zu schlüpfen, das gelang mir damals zum ersten Mal. Ich machte die Erfahrung, dass in einem Kostüm und mit fremdem Text, den zu lernen mir sehr leicht fiel, das Herzrasen schnell aufhörte und ich mich wohl fühlte. Eine andere Person darzustellen gelang mir immer sehr gut, Theaterspielen wurde zu meiner Passion.
Sicher habe ich nicht gewagt zu widersprechen, als die Schwester die Rollenbesetzung anordnete:
«So rein und keusch wie die Jungfrau Maria kann man nur nach der Taufe sein, darum spielst du sie!»
Bestimmt gefiel ich mir auch im Kostüm, das der lebensgroßen Holzfigur der Heiligen Maria aus der Krippe vom Hochaltar in der Stadtpfarrkirche nachgeschneidert war: ein rotes, bodenlanges Kleid mit blauem Umhang, ein großes blaues Umschlagtuch über den blonden Haaren.
Das anfangs rasende Herzklopfen verging, vermutlich sprach ich laut und deutlich und spielte so gut, dass ich beim Applaus Bravo-Rufe bekam, obwohl sie mich nicht kannten wie den Heiligen Josef, der ein Sohn aus renommierter Tölzer Familie war. Und ich sehe meine Mutter noch immer ganz hinten im überfüllten Raum stehen, und da lacht sie mich strahlend an, bewegt die klatschenden Hände so in meine Richtung, dass ich verstehe, sie meint mich mit ihrem Applaus. Ich war sehr glücklich, habe wahrscheinlich in diesem Moment gelernt, dass es einen Weg gibt, auch sie glücklich zu machen, einen Umweg eigentlich: wenn ich nämlich anderen gefalle. Auf die Frage der Leute: «Wem g'hert denn die scheene Maria?», konnten die Schwestern keinen in Tölz bekannten Namen nennen. Meine Mutter hat nicht gerufen: «Das ist meine Tochter!», aber sie hat auf mich im Flur gewartet und mich lachend hochgehoben und gelobt. Ich hielt ihre Hand ganz fest beim Vorbeigehen an den anderen Eltern, die mich anlächelten oder gar sagten:
«Guat hast es g'macht!»
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Während ich mich erinnere, habe ich die Brücke im Vigeland-Park überquert, halte kurz an im «Kindergarten». Was für eine merkwürdige Idee, ein neugeborenes Bronzebaby in Embryohaltung mit dem Kopf auf einer Stele balancieren zu lassen! Die am Boden spielenden kräftigen Kleinkinder wecken meine Sehnsucht nach meinen eigenen Kindern, die längst diesem Alter entwachsen sind. Die Gruppe von zwanzig Bronze-Bäumen rings um einen großen Brunnen, die wiederum verschiedene Lebensstadien symbolisieren, beeindruckt mich in ihrer asymmetrischen Jugendstil-Ornamentik. Jeder Baum umschließt einen Menschen oder eine Gruppe wie ein Raum, bis die Menschen mit zunehmendem Alter immer mehr hineinzuwachsen scheinen und sich am Ende mit ihm vereinigen. Wie Äpfel hängen Kleinkinder im ersten Baum, und im letzten verschmelzen die Teile eines menschlichen Skeletts mit den Zweigen des Baumes.
Schließlich erreiche ich den höchsten Punkt des Parks, gehe durch schmiedeeiserne Tore, deren Eisenstangen alle die Gestalt menschlicher Körper haben, und stehe vor dem hohen Obelisken, der den ganzen Park überragt, eine 17 Meter hohe Menschensäule, die als «Monolith» bezeichnet wird, weil sie aus einem einzigen riesigen Granitbrocken besteht. Von weitem glaubt man, geschwungene Ornamente zu sehen, in der Nähe erweisen sie sich als menschliche Körper. Nackte Leiber von Frauen, Männern und Kindern jeglichen Alters übereinander getürmt, sich gegenseitig stützend oder verdrängend, die untersten leblos, die anderen sich in einer Spirale nach oben windend, erst die obersten Kinderfiguren aufrecht. Es ist nicht die Nacktheit der Figuren, die in mir ein Gefühl des Unbehagens erzeugt. Auch wenn diese glatt und wohlgenährt sind und die Skulptur die Form eines riesigen Phallus hat, erinnert sie mich an die Fotos von den Leichenbergen in den Konzentrationslagern.
Vigeland hat freilich solche Bilder nicht gekannt, er hat das maßstabsgetreue Gipsmodell bereits 1925 hergestellt, seine Steinmetzen arbeiteten dann an dem riesigen Monolithen aus Granit von 1929 bis 1943. Er selbst nannte sein Werk einfach «Menschensäule» und meinte, jeder könne es so auslegen, wie er wolle.
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Wahrscheinlich stimmt die Interpretation des Parkführers eher als meine:
«Die Säule kann als metaphysische Vision vom Leben des Menschen nach dem Tod aufgefasst werden.»
Immer wieder Geburt und Tod, Leben und Sterben und Wiederauferstehung - ich bin erschöpft, verlasse den Platz mit den großen Granitfiguren, die die Säule umstellen, bleibe noch einmal stehen vor der Skulptur einer nackten alten Frau mit schlaffen Steinbrüsten, die wie erschrocken die Hand vor den Mund hält und zurückzublicken scheint auf ihr Leben.
Meine Mutter sitzt inzwischen startbereit im Hotelfoyer, sie blättert in einer Zeitschrift und macht einen heiteren Eindruck. Sie bedankt sich bei mir für die interessante Reise.
«Und ich danke dir, dass du mitgekommen bist, es war mir sehr wichtig, mit dir zusammen hier zu sein», antworte ich.
«Wenn's dir nur g'fallen hat hier, dann bin ich schon froh, dass ich mir Oslo als deinen Geburtsort ausgesucht hab!»
«Nicht genau, eigentlich war's ja dieses schwer zu findende KaffKlekken!»
«Nein, tatsächlich geboren bist du schon hier, im Lazarett, mir ging's doch so schlecht!»
Und dann erfahre ich wieder eine neue Variation meiner Geburt:
Am Sonntag zuvor sei sie mit einer Kollegin mit dem Auto von Klekken nach Oslo gefahren, um den Vigeland-Park zu besichtigen, dort seien sie lange umhergegangen - schon auch, weil sie jetzt endlich die für Ende August angekündigte Geburt hinter sich bringen wollte:
«Viel Bewegung ist wichtig, ham s' uns g'sagt. Dann ist's mir aber auf einmal schlecht 'worden, ich hab mir gedacht, kein Wunder bei den vielen Nackerten, de ham mich eigentlich ganz schön aufg'regt, so was waren wir doch net g'wohnt.»
Der Park, aus dem ich eben zurückkam, war also der Ort, an dem sie sich sehr unwohl fühlte, weil ich mich dort gewissermaßen zur Geburt entschloss. Kein Wunder, dass sie nicht mit-
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gehen wollte, kein Wunder, dass ich dort so emotional auf die Skulpturen von Mutterschaft, Leben und Sterben reagierte. Warum hat sie mir das nicht heute Morgen erzählt?
«Im Auto ist's mir ganz schlecht gegangen, die vielen Kurven, und jede Bodenwelle hat mir wehgetan, des war ja eine unge-teerte Landstraß' damals! Ich hab schon gemeint, das sind die Wehen, aber im Heim haben die Schmerzen wieder aufg'hört. Trotzdem hat mich die Hebamme gleich im Kreißsaal untergebracht und des war gut so, weil mitten in der Nacht das Fruchtwasser weggebrochen ist. Da war ich schon sehr erschrocken. Die Hebamme hat g'meint, jetzt würd's gleich losgehen mit den Wehen, aber Wehen hab ich keine gekriegt, dafür Fieber. Da is' sie doch sehr unruhig 'worden, weil ich doch erst sechs Wochen zuvor wegen einer Nierenbeckenentzündung im Krankenhaus in Oslo g'wesen bin.»
Die Hebamme habe mit der Klinik telefoniert und die Auskunft bekommen, dass Komplikationen zu befürchten seien und die betreffende Frau auf jeden Fall im Krankenhaus entbinden solle. «Gern hat sie's nicht gemacht, die Schwester Adelheid, des war eine ganz Resolute, und sie hat bisher alle Geburten im Heim allein erledigt.»
Aber sie habe wohl eingesehen, dass die Gefahr eines Nierenversagens bestand und das nicht ohne entsprechende ärztliche Hilfe zu bewältigen gewesen wäre.
«Drum ist sie in aller Herrgottsfrüh mit mir wieder nach Oslo gefahren! Ich hab natürlich Angst g'habt - was, wenn die Wehen unterwegs ang'fangen hätten? Mitten auf der Straß' ein Kind kriegen - eine Horrorvorstellung. Und ich hab die ganze Zeit auf d' Uhr geschaut! Der Fahrer is' g'fahrn wia der Teifi und genau in einer halben Stunde waren wir am Krankenhaus, des weiß ich noch so genau, wie wenn's gestern g'wesen war!»
Das Krankenhaus sei ein scharf bewachtes «Kriegslazarett» gewesen, und sie habe zwar die Pforte nach Ausweiskontrolle passieren dürfen^ weil schon ein vorbereiteter Passierschein dagelegen habe, aber der Schwester Adelheid habe der Wachtposten den Zutritt verweigert, weil es sich bei dem Lazarett um «militärisches Sperrgebiet» handle, das nur meine Mutter als «medizinischer Notfall» betreten dürfe.
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Es habe auch nicht geholfen, dass die Hebamme getobt habe:
«Diese Mutter und ihr Kind sind mir anvertraut worden, es handelt sich hier um eine deutsche Mutter und um einen besonderen arischen Nachwuchs, für dessen Wohlergehen ich in den vergangenen Wochen die Verantwortung übernommen habe, und ich bin nicht bereit, diese zu delegieren, ich bestehe darauf, bei dieser Geburt dabei zu sein.»
Der Posten habe geantwortet, dass ihr wohl nichts anderes übrig bliebe, als die Verantwortung zu delegieren, weil sie für das Lazarett keine Arbeitsgenehmigung hätte, und sie müsste sich keine Sorgen machen:
«In diesem Haus gibt es einen deutschen Arzt, der sich gewiss der Verantwortung für arischen Nachwuchs bewusst ist. Sie können Ihre Schützlinge wieder abholen und weiterbetreuen, wenn aus ärztlicher Sicht kein Einwand mehr dagegen vorliegt.»
Unter heftigem Protest und der Androhung, sich beim Reichskommissar Terboven persönlich zu beschweren, sei sie gegangen, habe uns beide aber schon zwei Tage später wieder aus dem Kriegslazarett abgeholt.
Jetzt erinnere ich mich, auf einer meiner Geburtsurkunden wird ein «Kriegslazarett» erwähnt. Ich weiß nicht mehr, ob auf dem Original oder der Bescheinigung vom Standesamt L in München. Ich habe diese Bezeichnung früher wahrscheinlich für eine Camouflage des Begriffs «Lebensborn-Heim» gehalten. Es ist fast zwanzig Jahre her, seit ich die beiden Papiere in der Hand hatte, ich muss zu Hause nachsehen.
«Bei mir haben s' dann die Wehen eingeleitet, es war eine einzige Qual, zwanzig Stunden lang, und dann bist auch noch stecken geblieben, und der Arzt hat dich endlich mit der Zange rausgeholt um 4 Uhr früh, des hab ich dir doch schon erzählt, drum warst ja so greißlich.»
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Stimmt, den Teil hat sie mir erzählt, nur die zugehörigen Umstände nicht:
«Das schon, aber ich habe nicht gewusst, dass das nicht im Heim passiert ist, warum hast du das denn gestern nicht erzählt, ich dachte doch, wir hätten meinen Geburtsort gesucht!»
«Des hast du doch net gesagt, du hast doch immer gesagt, du willst das Lebensborn-Heim finden! Da hab ich doch gewohnt, und da hast du doch die ersten Wochen mit mir verbracht!»
«Ja schon, aber gestern habe ich noch geglaubt, dass ich darin auch geboren bin, du hättest es mir doch gestern sagen müssen, dass das nicht stimmt!»
«Woher soll ich denn wissen, was du denkst, du hast mich nicht gefragt.»
Stimmt, gestern an Ort und Stelle habe ich nicht noch mal gefragt. Gestern hing ich meinen Gedanken dort hinten auf der Wiese alleine nach, das ist wahr. Da hat sie aber vorher gesagt, dass sie alleine nachdenken will. Und meine Gedanken haben sich auf jahrzehntelange Teilauskünfte verlassen. Auf die Frage: Wo bin ich geboren?, hieß es schon früh: in Oslo. Da hatte ich bestimmt noch keine Urkunde gesehen. Dann war die Auskunft: in Oslo in einem Lebensborn-Heim. Dann: in einem Lebensborn-Heim bei Oslo. Dann: das Lebensborn-Heim war in Hönefoss bei Oslo. Und seit gestern weiß ich, dass es in Klekken bei Hönefoss war, und jetzt erfahre ich, dass ich doch direkt in Oslo geboren bin, wenn auch nur medizinischer Not gehorchend. Aus den beiden Geburtsurkunden hätte ich das später vermutlich erkennen können, wenn ich sie ganz genau angeschaut hätte und die verschiedenen Aussagen meiner verschiedenen Mütter mich nicht so verwirrt hätten. Dieses schreckliche Gefühl, dass nichts stimmt, dass ich mich auf nichts verlassen kann, ein merkwürdiges, wattiges Gefühl im Kopf, ist wieder da. Man kann einen Menschen nicht nur mit Lügen verrückt machen, auch mit dosierten Teilwahrheiten. Nein, ich werde es nicht zulassen. Lieber flüchte ich mich in Ärger und Wut.
Aber auch das hat keinen Sinn. Als ich Luft hole, um loszu-schimpfen, schaut sie mich nur kopfschüttelnd an:
«Ich kann doch net ahnen, dass du den greißlichen Krankenhauskasten sehen wolltest, wo du nur zwei Tage warst! Statt dass du froh bist, dass du in Oslo geboren bist, wo dir die Stadt doch so gut gefällt, machst schon wieder ein Problem daraus! Manchmal versteh ich dich wirklich nicht!»
Genau das ist unser Problem, liebe Mutter. Ich glaube nicht, dass du je versucht hast, mich zu verstehen, sonst hättest du meine Fragen anders beantwortet. Ohne Fragen und ehrliche Antworten ist Verständnis nicht möglich. Das sage ich aber nicht laut.
Ich hätte tatsächlich geschaut, ob es den «greißlichen Krankenhauskasten» noch gibt, wenn ich es nur ein paar Stunden früher gewusst hätte.
Dazu ist es jetzt zu spät, unser Taxi ist da, wir müssen zum Flughafen.
79-80
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