Anhang
Der
Lebensborn e.V. — Eine Legende ohne Ende?
Von Gisela
Heidenreich
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In den letzten fünf Jahrzehnten sind Tausende von Büchern über den Nationalsozialismus erschienen, seine Wurzeln und Ideologien, seine Organisationen und Verbrechen. Mit geringfügigen Abweichungen stimmen ernsthafte Historiker in der Einschätzung dieses verbrecherischen Regimes und seiner entsetzlichen Folgen überein, nicht zuletzt, weil es eine Fülle von Beweismaterialien in Form von Dokumenten und Augenzeugenberichten gibt. Nicht so beim Thema «Lebensborn», dem rassenpolitischen Machtinstrument, dessen Funktion noch immer umstritten ist.
Trotz einiger ernst zu nehmender wissenschaftlicher Veröffentlichungen halten sich Gerüchte, werden noch immer Legenden gesponnen über eine wichtige Institution der SS, die die rassistischen Wahngebilde der Nazis in die Praxis umsetzte. Besonders hartnäckig hält sich das Gerücht, die Lebensborn-Heime seien nichts anderes gewesen als «Zuchtanstalten», in denen «rassisch wertvolle» SS-Männer (und das waren sie per Definition, weil sie ohne entsprechende Einordnung auf der Werteskala der Rassengruppen gar nicht in die Elitetruppe Himmlers, die «Schutzstaffel», aufgenommen worden wären) vorzugsweise mit BDM-Mädchen (Bund deutscher Mädchen) «guten Blutes» arischen Nachwuchs produzierten.
Das Klischee, mit dem ich selbst als junges Mädchen konfrontiert und schwer belastet wurde, ist zu einer zählebigen Legende geworden. Sie begegnet mir bis heute.
Die Journalistin Dorothee Schmitz-Köster berichtet Ähnliches. Ihr 1997 erschienenes Buch «Deutsche Mutter, bist du bereit...» — Alltag im Lebensborn(1) — beginnt mit dem Vorurteil, auf das sie von Anfang an bei ihren Recherchen zum Thema stieß: «Ist es da wirklich so zugegangen? ... Dass ausgesuchte Frauen und Männer zusammengebracht wurden, um Kinder zu zeugen?»(2)
Nicht nur in Deutschland hält sich die Legende. Mehrere Hollywoodstreifen entstanden, zum Beispiel 1998 einer von David Stephans: «Lebensborn» — Strickmuster siehe oben. Am 21. Januar 2000 erschien auf der ersten Seite der Los Angeles Times ein Artikel unter dem Aufmacher:
«Breeding to Further the Reich: In Himmler's Lebensborn project 11.000 children were born to women who mated with elite SS-officers.»
Die Schlagzeile wollte nicht etwa ein altes Gerücht befragen, sondern fasste zusammen, was im Folgenden behauptet wird:
«... women who had the <desirable> physical qualities of blond hair and blue eyes were urged to have sexual relations with fall, fit ojficers of Hitler's elite SS troop toproduce a master racefor the Fuehrer.»
Und im Oktober desselben Jahres lud Hollywood ein zur Pressevorführung eines neuen, diesmal tschechischen Films: «Der Lebensborn — The Spring of Life», mit der Inhaltsbeschreibung:
«The film brings to light a little-known Operation of the Nazi SS, started just before the outbreak of World War II. Through the carefiil selection and re-education ofyoung women, it was the Nazis' mad dream to create an Aryan <master race>....»3)
Wie lange noch wird sich der Mythos von der «Zuchtanstalt» halten, warum ist das anscheinend noch immer die erste Assoziation zum Stichwort «Lebensborn», auch wenn danach meist eine vage Vorstellung von «Menschenraub» formuliert wird?
Georg Lilienthal erwähnt in der Einleitung seiner 1985 herausgegebenen, detaillierten wissenschaftlichen Publikation <Der Lebensborn e.V.>4) die spektakulären «Tatsachenromane», beispielsweise Will Bertholds in der Zeitschrift Revue (1958 als Serie erschienen und 1975 als Buch unter dem Titel «Lebensborn e. V.»5), dazu Filme und angebliche Interviews der sechziger und siebziger Jahre. Sie alle griffen das Gerücht auf, der Lebensborn sei nichts anderes als eine Zuchtanstalt gewesen.
1) Berlin 1997 2) a.a.O. S. 9 3) Einladungsschreiben an die Presse 4) Mainz, Stuttgart, New York 1985
Lilienthal meint, die strenge Geheimhaltung der Lebensborn-Einrichtungen habe wohl schon vor 1945 die sexuelle Fantasie der Menschen beflügelt. Geschichten über die Verkuppelung von rassisch ausgesuchten Mädchen mit SS-Elitemännern kursierten schon im Dritten Reich.
Von Anfang an unterlag die Arbeit des Lebensborn der Geheimhaltung, Veröffentlichungen zum Thema in der Presse waren verboten, über die «Erfolge» wurde nur SS-intern unterrichtet. Unter Umgehung von Rechtsvorschriften wurde der Meldepflicht scheinbar Genüge getan, die Geburten wurden von eigenen Standesämtern in den Heimen registriert — Einsicht in die Akten blieb aber der Öffentlichkeit verwehrt.
«Zusammengeführt» zwecks Zeugung wurde dort in den Heimen zwar niemand — aber es galt auch nicht als verwerflich, aufgrund einer kürzeren oder längeren unehelichen Liaison schwanger zu werden; es war im Gegenteil erwünscht. Nach Lilienthals intensiven Recherchen gibt es keine Belege für «gelenkte Zeugungen» und «Edelbordelle»; Grundlage für diese unwahren Annahmen sind lediglich einige wenig seriöse «Zeugenberichte», der erwähnte «Tatsachenroman» und als Hauptquelle ein Film mit dem Titel «... dem Führer ein Kind schenken» der französischen Journalisten Marc Hillel und Clarissa Henry, der 1975 auch im ZDF ausgestrahlt wurde, und deren gleichzeitig veröffentlichtes Buch «Lebensborn e.V. — Im Namen der Rasse».6)
Obwohl Lilienthal die Ernsthaftigkeit ihrer Recherchen würdigt, weist er den Autoren detailliert7) nach, dass ihre Behauptungen auf nicht belegbaren Thesen beruhen.
5) München 1975 6) Hamburg 1975 7) a.a.O. S. 155-160
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Legende ohne Ende?
Solange noch immer, vor allem in den USA, die genannten Autoren als Hauptquelle angegeben werden und selbst Forschungsinstitute wie das Simon Wiesenthal Center weiterhin behaupten, der Lebensborn war «a program to produce an Aryan master race by pairing males and females selected for their perfect Aryan features»s, bekommt vermutlich die Legende immer mehr den Anschein einer historischen Tatsache, wird ein Mythos zum Faktum.
Das ist umso bedauerlicher, als der rassistische Wahn des Lebensborn nicht nur im Versuch der Züchtung einer Rasse liegt, sondern in seiner Mitverantwortung an der Vernichtung von Leben:
Die «Züchtung» einer arischen Rasse war zwar geplant, erfolgte aber weniger in Form einer Zusammenführung zur Zeugung als vielmehr durch Kontrolle und Verhinderung von unerwünschten Ehen und Schwangerschaften und entsprechendem nichtarischen Nachwuchs. Für die SS-«Elite», die gewissermaßen als «Brutstätte» der neuen Rasse auserwählt war — und der die Lebensborn-Entbindungsheime auch zur Verfügung standen —, führte Himmler mit Wirkung vom 1. Januar 1932 eine «Heiratsgenehmigung» ein, die nur erteilt wurde, wenn auch die Bräute den für die SS-Männer notwendigen «Ariernachweis» vorlegen konnten und ihnen ärztlich «Erbgesundheit» und «Fruchtbarkeit» bestätigt worden waren:
«4. Die Heiratsgenehmigung wird einzig und alleine nach rassischen und erbgesundheitlichen Gesichtspunkten erteilt oder verweigert.
5. Jeder SS-Mann hat hierzu die Heiratsgenehmigung des Reichsführers-SS einzuholen.»
Wer versuchte, sich dieser absoluten Kontrolle zu entziehen, wurde «aus der SS gestrichen». Himmler schließt selbstzufrieden mit:
«10. Die SS ist sich selbst darüber im klaren, daß sie mit diesem Befehl einen Schritt von großer Bedeutung getan hat.»9
8) zit. Timm, Annette, Program for Advanced German and European Studies, FU Berlin
9) Schwarz, Gudrun, Eine Frau an seiner Seite, Hamburg 1997, S. 24/25
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Ganz sicher hat dieser Schritt entscheidend die weitere Richtung der Rassenpolitik bestimmt, es folgten 1935 die Nürnberger Rassengesetze, die Gesetze zur Vernichtung «unwerten Lebens» mit den Konsequenzen Euthanasie, Zwangssterilisation und schließlich Ermordung von Millionen.
Der Hintergrund für die Gründung des Lebensborn war zunächst ein pragmatischer. Bereits um die Jahrhundertwende war die Zahl der Geburten in Deutschland gesunken, was schon im späten Kaiserreich zu den Befürchtungen führte, das deutsche Volk befinde sich im Niedergang.
Nach dem 1. Weltkrieg mit unzähligen Todesopfern sank die Geburtenrate in Deutschland weiter - so rapide wie in keinem anderen Industriestaat.10
Die Nazis sahen einen wesentlichen Grund für die extrem niedrige Geburtenstatistik in der erschreckend hohen Zahl der Abtreibungen — man schätzte sie im Jahr 1934 auf 800.000 bis eine Million — und verschärften das Abtreibungsgesetz mehrmals, 1943 stand auf Abtreibung die Todesstrafe.
1934 wurde die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt NSV gegründet, deren Hilfswerk für Mutter und Kind uneheliche Mütter betreute, sie unterstützte, wenn Väter die Alimente verweigerten, und versuchte, mit Darlehen einen Anreiz für Eheschließungen — allerdings nur für Paare mit «Ariernachweis» — zu bieten.
Als Chef der Gestapo und der Polizei war Heinrich Himmler durch die hohe Anzahl der rechtskräftig Verurteilten auf die Abtreibungsproblematik aufmerksam geworden. Er glaubte nicht, dass durch Strafmaßnahmen oder durch die Angebote der NSV die Abtreibungsdelikte entscheidend zu senken wären. Seiner Ansicht nach lag die Wurzel des Übels in der Gesellschaft, die nicht verheiratete Mütter ächtete und unehelichen Kindern den sozialen Aufstieg erschwerte, ja oft unmöglich machte.
10) Seidler, Franz, Lebensborn e. V. der SS, http://www.vaeter-aktuell.de/un-kinderrechtekonvention/Lebensborn01.htm
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Er kam zu der durchaus nachvollziehbaren Überzeugung, dass man schwangeren Frauen nur wirkliche Hilfe anbieten könne, wenn man sie der Diskriminierung der Gesellschaft erst gar nicht aussetzte. Er folgerte, man müsse diesen Frauen Gelegenheit geben, ihr Kind abgeschirmt von der Öffentlichkeit auszutragen und es unter Geheimhaltung zur Welt zu bringen. Dazu brauchte man geeignete Heime, Geld- und Rechtsmittel, die ein Verein zur Verfügung stellen sollte. Am 12.12.1935 wurde also auf Veranlassung des «Reichsführers-SS» Heinrich Himmler von zehn SS-Führern der Lebensborn e. V. gegründet. Als eingetragener Verein hatte der Lebensborn nach außen die Funktion einer selbständigen juristischen Person und konnte somit von Anfang an verschleiern, dass es sich de facto um eine SS-Organisation handelte.
Die Satzung definierte dagegen Zugehörigkeit und Zielsetzung ganz klar:
«Der Lebensborn e. V. wird vom Reichsführer-SS persönlich geführt, ist integrativer Bestandteil des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS und hat folgende Aufgaben:
1. Rassisch und erbbiologisch wertvolle kinderreiche Familien zu unterstützen.
2. Rassisch und erbbiologisch wertvolle werdende Mütter unterzubringen und zu betreuen, bei denen nach sorgfältiger Überprüfung der eigenen Familie und der Familie des Erzeugers anzunehmen ist, daß gleich wertvolle Kinder zur Welt kommen.
3. Für diese Kinder zu sorgen.
4. Für die Mütter dieser Kinder zu sorgen.»
Es wurde darin auch definiert, wie die SS in die Pflicht genommen wurde:
Es ist eine Ehrenpflicht für jeden hauptamtlichen SS-Führer, Mitglied des Lebensborn zu sein. Die Beiträge sind gestaffelt nach Alter, Einkommen und Kinderzahl der SS-Führer, wobei als Selbstverständlichkeit unterstellt wird, daß der SS-Führer mit 26 Jahren heiratet. Ist bis zum 28. Lebensjahr kein Kind da, so tritt die erste Beitragserhöhung ein. Mit 50 Jahren sollte das zweite Kind da sein, sonst wird der Beitrag wieder höher.»«
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Kein Wunder, dass verheiratete kinderlose SS-Führer schon zur Vermeidung der Beitragserhöhung gerne dem späteren Aufruf Himmlers zur außerehelichen Zeugung nachkamen ...
Diese freiwilligen «Dienstleistungen» seiner Schutzstaffel-Männer brachten dennoch nicht den erwünschten Erfolg, die «Produktion» bis zum Kriegsbeginn reichte nicht aus und veranlasste den Reichsführer am 28. Oktober 1939 zum «SS-Befehl für die gesamte SS und Polizei», in dem er behauptete, dass im Krieg ruhig nur sterben kann,
«... der weiß, daß seine Sippe, daß all das, was seine Ahnen und er selbst gewollt und erstrebt haben, in den Kindern seine Fortsetzung findet. (...) Über die Grenzen vielleicht sonst notwendiger bürgerlicher Gesetze und Gewohnheiten hinaus wird es auch außerhalb der Ehe für deutsche Frauen und Mädel guten Blutes eine hohe Aufgabe sein können, nicht aus Leichtsinn, sondern in tiefstem sittlichen Ernst Mütter der Kinder der ins Feld ziehenden Soldaten zu werden. (...) Niemals wollen wir vergessen, daß der Sieg des Schwertes und das vergossene Blut unserer Soldaten ohne Sinn wären, wenn nicht der Sieg des Kindes und das Besiedeln des neuen Bodens folgen würden.»
Der Befehl endet mit dem Aufruf:
«SS-Männer und Ihr Mütter dieser von Deutschland erhofften Kinder, zeigt, daß Ihr im Glauben an den Führer und im Willen zum ewigen Leben unseres Blutes und Volkes ebenso tapfer, wie Ihr für Deutschland zu kämpfen und zu sterben versteht, das Leben für Deutschland weiterzugeben willens seid!»11)
Von Anfang an beherrschte also kein karitativer Gedanke die scheinbar soziale Einrichtung. Die wahren Motive für die Errichtung des Lebensborn lagen in Himmlers (und natürlich auch Hitlers) Weltanschauung, die Machtpolitik und Rassenideologie zusammenbrachte, indem
«der Aufbau eines <Germanischen Reiches> die gewaltsame Eroberung fremden Territoriums und die Schöpfung einer rassischen Elite (erforderte). Beides war auf Dauer nur zu erreichen, wenn der Nachwuchs vermehrt und qualitativ verbessert wurde.»12)
11) Kopie des O-Blattes liegt vor 12) Lilienthal, a.a.O. S. 42
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Dazu wurde der Lebensborn gebraucht, und ausschließlich Mütter, von denen erwünschter Nachwuchs zu erwarten war, profitierten von ihm; andere ledige Mütter wurden abgewiesen — und zwar mehr als die Hälfte der Hilfesuchenden —, auch wenn sie dringend Beistand gebraucht hätten. Letztlich wurde die soziale Notlage der Mütter durch den Verein ausgenutzt, der sie vorgeblich linderte.
Ebenso beutete er das soziale Engagement von Mitarbeiterinnen aus, die tatsächlich Müttern und Kindern helfen wollten und das Ausmaß der Täuschung nicht erkannten.
«Der Lebensborn war dem Rassengedanken verpflichtet, nicht der sozialen Idee, wie nach dem Krieg behauptet wurde.»13)
Doch die soziale Idee wurde mit Erfolg propagiert: Im «Nürnberger Prozess» wurde der Lebensborn 1948 vom Militärgericht der USA als Institution freigesprochen, die angeklagten Hauptfunktionäre erhielten ausschließlich wegen ihrer Mitgliedschaft in der SS, die als «verbrecherische Organisation» eingestuft worden war, geringfügige Gefängnisstrafen, nicht aber wegen ihrer Aktivitäten im Lebensborn!
In der Urteilsverkündung heißt es:
«Aus dem Beweismaterial geht klar hervor, daß der Verein Lebensborn, der bereits lange vor dem Krieg bestand, eine Wohlfahrtseinrichtung und in erster Linie ein Entbindungsheim war. Von Anfang an galt seine Fürsorge den Müttern, den verheirateten, sowie den unverheirateten, sowie den ehelichen und unehelichen Kindern. Der Anklagevertretung ist es nicht gelungen, mit der erforderlichen Gewißheit die Teilnahme des Lebensborn und der mit ihm in Verbindung stehenden Angeklagten an dem von den Nationalsozialisten durchgeführten Programm der Entführung zu beweisen. Der Lebensborn hat im allgemeinen keine ausländischen Kinder ausgewählt und überprüft. In allen Fällen, in denen ausländische Kinder von anderen Organisationen nach einer Auswahl und Überprüfung an den Lebensborn überstellt worden waren, wurden die Kinder bestens versorgt und niemals in irgendeiner Weise schlecht behandelt. Aus dem Beweismaterial geht klar hervor, daß der Lebensborn unter den zahlreichen Organisationen
13) Seidler, a.a.O.
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in Deutschland, die sich mit ausländischen nach Deutschland verbrachten Kindern befaßten, die einzige Stelle war, die alles tat, was in ihrer Macht stand, um Kindern eine angemessene Fürsorge zuteil werden zu lassen und die rechtlichen Interessen der unter seine Obhut gestellten Kinder zu wahren.»14)
Auch bei nachweislicher «Fürsorge» für die Kinder war die Institution durchaus an den verbrecherischen Aktivitäten des Menschenraubs beteiligt, unterstand der Lebensborn doch den Anweisungen der «anderen Organisation», des Rasse- und Siedlungshauptamtes — siehe Satzung!
Davon war auch der deutsche Anklagevertreter im Spruchkammerverfahren 1950, dem so genannten «Münchner Prozess», gegen die Hauptakteure des Lebensborn überzeugt. Dennoch fielen die Urteile sehr milde aus: Freispruch für sechs der acht Angeklagten; geringfügige Bestrafung (die mit der Verurteilung von Nürnberg «verrechnet» werden musste!) für die Hauptverantwortlichen, den Geschäftsführer SS-Standartenführer Max Sollmann, früherer Adjutant von Himmler, und den Leitenden Arzt SS-Oberführer Dr. Gregor Ebner, Duzfreund und früherer Hausarzt des Reichsführers-SS ...15)
Schon vor dem Krieg, nämlich 1938, war Himmler bereits entschlossen, zur Durchführung seiner Idee vom «germanischen Reich» Gewalt anzuwenden und «germanisches Blut in der ganzen Welt zu holen, zu rauben und zu stehlen».16 Erstes Aktionsfeld für solche «Beutezüge» waren die Ostgebiete. Es ging um die «Eindeutschung fremdvölkischer Kinder», deren «äußere Rassemerkmale» erwünscht waren. Zunächst wurde behauptet (und im Nürnberger Prozess darauf bestanden), dass man Waisenkinder aus polnischen Waisenhäusern zurückgeholt habe, weil sie angeblich von Volksdeutschen Eltern stammten und «polonisiert» worden seien.
14) Zitiert z. B. bei Seidler
15) Div. archiv. Zeitungsberichte über den Prozess
16) Rede Himmlers, zitiert bei Lilienthal a.a.O. S. 30
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So der Deckmantel der «Fürsorge»: Tatsächlich war der Leiter der Fürsorgeabteilung in der «Gauselbstverwaltung» im Warthegau (Gebiet um Posen), Dr. Fritz Bartels, zugleich als Lebensborn-Beauftragter für die Koordination und den Transport der «einzudeutschenden Waisen- und Pflegekinder» zuständig ...17)
Jenem Dr. Bartels ist es mit seinen Aussagen als Zeuge im Nürnberger Prozess gelungen, die Amerikaner davon zu überzeugen, dass die verwirrende, oft mehrfache Umbenennung der Kinder ihre Ursache in der mangelhaften Verwaltung der polnischen Organisationen gehabt habe und nicht dazu dienen sollte, Menschenraub zu verschleiern.
Bartels, der sicher einen erheblichen Beitrag zum Nürnberger Freispruch geleistet hat, war übrigens kurz nach dem Krieg bereits wieder im Fürsorge-Amt: als Referent des «Deutschen Instituts für Jugendhilfe» und ehrenamtlicher Geschäftsführer der «AG freie Wohlfahrtsverbände», einem Zusammenschluss der Arbeiterwohlfahrt, der Caritas, des Deutschen Roten Kreuzes, der Inneren Mission und der Jüdischen Wohlfahrtsverbände ...
Unbegreiflicherweise fand das Militärgericht nicht heraus und konnte auch im Münchner Spruchkammerprozess nicht überzeugend nachgewiesen werden, was Lilienthal mit seinen Recherchen so belegt:
«Das Ausleseverfahren war folgendermaßen geregelt: Die Jugendämter des Reichsgaues Wartheland <erfassen> die Kinder, die in ehemaligen polnischen Waisenhäusern und bei polnischen Pflegeeltern leben. Anschließend werden sie von der Außenstelle des RuSHA in Litzmannstadt rassisch überprüft. Die als eindeutschungsfähig bezeichneten Kinder werden der Gauselbstverwaltung übergeben, die sie in das Gaukinderheim in Brockau (...) bringt. Hier werden sie psychologisch begutachtet, anschließend beobachtet, und nach sechs Wochen wird vom Heimleiter über jedes Kind eine <charakterologische Beurteilung> abgegeben.»
Nach weiterer Überprüfung und Entscheidung durch den RKFDV (Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums) sind dann
«Abnahmestellen für die als eindeutschungsfähig erkannten Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren der Lebensborn e. V. und für die Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren der Inspekteur der Deutschen Heimschulen>. Der Verein vermittelt dann die Kinder kinderlosen SS-Ehepaaren mit dem Ziel einer späteren Adoption.»18)
17) Verhör von Fritz Bartels v. 29. i. 1948, Protokoll Nürnberger Prozess
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In einem erst jüngst produzierten, am 8.03.2002 ausgestrahlten Fernsehfilm des WDR begleiten dessen Autoren zwei über sechzigjährige Männer, ehemals «eingedeutschte Ostkinder», die in deutschen Adoptivfamilien aufgewachsen waren und die seit Jahrzehnten auf der Suche nach ihrer wirklichen Herkunft sind, auf ihrer Spurensuche: Zeugen werden ausfindig gemacht und gehört, in Polen zusammengetragene Dokumentationen eingesehen. Daraus ergibt sich ein erschreckendes Bild menschlichen Leides.
Nur ein Bruchteil der ursprünglichen Unterlagen wurde gefunden — man hat freilich das gesamte Material polnischer Waisenhäuser und Adoptionsstellen bei der «Eindeutschung» vernichtet. Das nur zu diesem Zweck ins Leben gerufene «Standesamt L» (mit Hauptsitz in München und Nebenstelle in Posen) hat den Kindern Geburtsscheine ausgestellt und ihre ursprünglichen Namen in deutsche geändert, wenn möglich in ähnlichem Lautklang. Rechtliche Probleme hat man in der erprobten SS-Manier umgangen, gesetzliche Vorschriften so umzufunktionieren, dass Vorgänge den Anschein der Legitimität erhielten: Man erklärte die Kinder, die man aus rassischen Gründen «ins Reich» holen wollte, kurzerhand, auch wenn die leiblichen Eltern noch lebten, zu «Findelkindern» ohne Papiere, bei denen nach § 25 des Personenstandsgesetzes Tag und Ort der Geburt nach Altersschätzung einzutragen und Vor- und Nachnamen zu bestimmen waren.
Bei Adoption erhielten sie den Namen der Pflegeeltern, oft genug auch einen neuen Vornamen, wenn den neuen Eltern der alte nicht gefiel, sodass häufig genug Kinder mehrmals umbenannt wurden, was sich gleichzeitig hervorragend zur Tarnung verbrecherischer Machenschaften eignete.
18) Lilienthal a.a.O. S. 219
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Der Lebensborn konnte in Nürnberg mit der Behauptung, in den Ostgebieten keine Heime unterhalten zu haben, den Vorwurf der Beteiligung am Menschenraub, für den angeblich der RKFDV (Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums) und das RuSHA (Rasse- und Siedlungshauptamt) die Verantwortung zu tragen hatten, zurückweisen. Richtig ist, dass die vom NSV, der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, getragenen Heime in den Ostgebieten tatsächlich der so genannten «Volksdeutschen Mittelstelle» zugeordnet wurden, die wiederum unter der Gauselbstverwaltung stand.
Das Wort «Mittelstelle» spricht für sich: Es handelte sich dabei um die «Zwischenstationen» für einen mehrwöchigen Aufenthalt zur psychologischen Begutachtung durch ausgewähltes Erziehungspersonal und zum Erlernen der deutschen Sprache. Danach wurden die Kinder bis zu sechs Jahren in kleinen Gruppen in Lebensborn-Heime gebracht, die schulpflichtigen in staatliche Internate und so bald wie möglich an «gute deutsche» Familien der Napola (Nationalpolitische Erziehungsanstalten) vermittelt. Diese gingen kein Risiko ein — wenn ihnen das Kind nicht die erwünschte Freude bereitete, konnten sie es ohne weiteres zurückgeben oder umtauschen: «Kinder, die nicht einschlagen, sind zurückzugeben», hatte Himmler schon zu Beginn der Ostaktion beschlossen.19
Je weiter die Gewaltmaßnahmen fortschritten, umso mehr Menschenverachtung zeigen die Vorgänge, in die der Lebensborn auf Anordnung seines obersten Dienstherrn, des Reichsführers-SS, eingebunden wurde. So beauftragt der Reichsführer-SS den Geschäftsführer des Lebensborn, Sollmann, zum Beispiel nach der Strafaktion in Lidice (Litzmannstadt), das als Rache für das Attentat auf Heydrich in Prag 1943 dem Erdboden gleichgemacht wurde, sich sofort mit SS-Obergruppenführer Frank in Prag in Verbindung zu setzen:
19) «Münchner Merkur» vom 25.3.1955
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20)«Die zur Lösung bestimmte Frage ist die Versorgung, Erziehung und Unterbringung von tschechischen Kindern, deren Väter bzw. Eltern als Angehörige der Widerstandsbewegung exekutiert werden mußten. Die Entscheidung muß selbstverständlich eine sehr kluge sein. Die schlechten Kinder kommen in bestimmte Kinderlager. Die gutrassigen Kinder, die selbstverständlich die gefährlichsten Rächer ihrer Eltern werden könnten, wenn sie nicht menschlich und richtig erzogen werden, müssen, wie ich mir vorstelle, über ein Kinderheim des Lebensborn, in das sie zunächst probeweise aufgenommen werden und in denen sie möglichst charakterlich erkannt werden, in deutsche Familien als Pflege- oder Adoptionskinder vermittelt werden.»
Der Geschäftsführer des Lebensborn, Standartenführer Max Sollmann, musste in Nürnberg immerhin zugeben, dass der Lebensborn an der «Eindeutschung» von «bindungslosen Kindern» aus dem Warthegau beteiligt war, weil das vermutlich nach der Aktenlage nicht zu leugnen war. Die Verantwortung für irgendwelche Aktionen, die mit «Menschenraub» zu tun gehabt hätten, wies er zurück — mit Erfolg.
Dabei sind — nach neueren Forschungsergebnissen auch polnischer Behörden — ebenso wie aus Osteuropa auch aus Südosteuropa Tausende von Kindern verschleppt worden. Die Aktionen gingen vom subtilen, scheinbar fürsorglichen «Umorganisieren» bis zu brutalen, überfallartigen Wegnahmeaktionen.21) Man spricht immer wieder von bis zu 200 000 Kindern. Eine so hohe Zahl erscheint angesichts der weitgehend noch erhaltenen Heime mit einer relativ geringen Aufnahmekapazität eher unwahrscheinlich. Es ist bei den «Vomi»-Heimen immer wieder von kleinen Gruppen von 15 bis 20 Kindern die Rede, eine solche überschaubare Gruppengröße erscheint glaubhaft, wenn man bedenkt, dass diese Kinder in wenigen Wochen nach den Auslesekriterien beobachtet und schriftlich begutachtet werden mussten.
Letzlich ist es ähnlich wie bei dem unsäglichen Feilschen um «eine Million mehr oder weniger» in Konzentrationslagern vernichteter Menschen: Jeder Einzelne, den das Terrorregime ermordete, war einer zu viel, und jedes einzelne Kind, das seiner Identität beraubt wurde, jede Familie, die durch die rassenpolitischen Machenschaften lebenslanges Leid erfahren hat, ist als Opfer des Nationalsozialismus zu beklagen.
20) Prozess gegen Hauptkriegsverbrecher, Nürnberg, 1948 21) Lilienthal a.a.O. S. 220
22) Drolshagen, Ebba: Nicht ungeschoren davonkommen (Hamburg 1998 / München 2000)
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Ein weiterer Aufgabenbereich fiel dem Lebensborn durch die «Besatzungskinder» zu, freilich in enger Verbindung mit dem Ziel der «Aufnordung» der Deutschen. Die Zeugung von Kindern in den besetzten Ländern mit der überwiegend «nordischen Menschengruppe» oder den noch akzeptierten «Mischgruppen» wurde gerne toleriert. Der klare Zusammenhang zwischen der angeblichen Fürsorge für uneheliche Mütter und dem rassenpolitischen Machtinstrument wird auch hier wieder klar: Wie bereits erwähnt, wurden in Osteuropa keine Lebensborn-Heime eingerichtet, die NSV-Heime dienten als Zwischenstationen für dort bereits vorhandene «eindeutschungsfähige» Kinder. Die Zeugung «neuer» Kinder durch deutsche Soldaten «guten Blutes» war dort unerwünscht, hätte dies doch die gefürchteten «ostischen Anteile» in so erzeugten «Mischgruppen» zur Folge gehabt...
Im Westen gab es insgesamt nur fünf Heime, während Nord-europa nach Rassenlogik als bevorzugtes Gebiet zur «Aufnordung» angesehen wurde. Da Dänemark trotz deutscher Besatzung seine staatliche Souveränität bis 1943 aufrechterhalten konnte, erließ Himmler erst 1944 den Auftrag zur Errichtung einer Lebensborn-Dienststelle. Das zugehörige Heim in Kopenhagen konnte erst unmittelbar vor dem Zusammenbruch des Dritten Reiches im Mai 1945 fertig gestellt werden und diente dann dem Roten Kreuz als Frauenklinik für Ostflüchtlinge.
So konzentrierte sich das «Aufnordungsprogramm» auf Norwegen. Gleich nach der Besetzung Norwegens im April 1940 wurde vom «Reichskommissar für die besetzten norwegischen Gebiete» die Einrichtung von Lebensborn-Heimen geplant. Damit wollte man einerseits verhindern, dass der in Aussicht genommene Geburtenzuwachs eine «Vergrößerung der Deutschfeinde» zur Folge hätte, und andererseits durch entsprechende Neufassungen der norwegischen Gesetze die SS in die Lage versetzen, «rassisch -wertvollen Nachwuchs zu übernehmen und dadurch unserer Volksgemeinschaft rassisch wertvolles Blut zuzuführen».
Zu Beginn des Jahres 1942 wurde von München aus durch SS-Sturmbannführer Tietgen eine Dienststelle beim Reichskommissar in Oslo errichtet und kurz danach das erste Heim in Oslo in Betrieb genommen. Bis Kriegsende gab es in ganz Norwegen verteilt neun Heime, das nördlichste in Trondheim, in denen bis Kriegsende mindestens 9000 Kinder geboren wurden.
Der Lebensborn betreute die unehelichen Kinder deutscher Soldaten und norwegischer Mütter, gewährte für Mütter, die einen Deutschen heiraten wollten, Unterhaltsbeihilfe und Umzugskosten. Man richtete «Schulungsprogramme» zur Integration ein. Die Heirat mit Frauen aus Norwegen, Holland und Dänemark war erlaubt — mit Frauen der anderen besetzten Länder war sie verboten.
Im Laufe des Krieges wurden hunderte der «Norweger Kinder» nach Berlin und von dort in die Heime Kohren-Salis bei Leipzig oder Hohehorst bei Bremen gebracht, manche wurden den Familien ihrer Väter zugeführt, die meisten zur Adoption freigegeben.
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Dass das Kapitel Lebensborn-Kinder in Norwegen auch ein sehr trauriges Nachspiel von Seiten des norwegischen Staates hatte, sei hier angemerkt: Norwegen ist nach dem Krieg mit den zurückgebliebenen oder zurückgekehrten Frauen und Kindern deutscher Soldaten ähnlich rassistisch umgegangen wie die verhassten ehemaligen Besatzer.(22)
Mehr als 150 ehemalige «Kriegskinder» strengten im Oktober 2001 in Oslo einen Prozess gegen den norwegischen Staat an. Wenn ihre Klage auch zunächst zurückgewiesen wurde, so haben sie doch erreicht, dass der Staat Geld für ein Forschungsprojekt zur Verfügung gestellt hat, das endlich nach Jahrzehnten des Schweigens die traumatisierenden Umstände untersucht, unter denen in der Kindheit vieler «Deutschenkinder» Misshandlungen und Übergriffe zur Tagesordnung gehörten.
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Ende