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 18 Die Arbeitsverteilung   

 

 

   15  Das Problem der geistigen Führung  

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Denn selbst unter der Voraussetzung, daß sie den Wertgesichtspunkt Schillers, der die «Verbesserung des physischen Zustandes» nur als die unerläßliche «Bedingung, unter welcher allein der Mensch zur Mündigkeit seines Geistes erwachsen kann», der «Achtung und Aufmerksamkeit» wert hält, als <idealistisch> ablehnen, wäre es eine reizvolle Aufgabe, die verschiedenen sozialistischen Theorien daraufhin zu untersuchen, inwieweit es ihnen gelingt, das notwendige Übel - den <Leviathan> Staat - zu Ehren zu bringen oder ihn auch nur zu verteidigen. Im allgemeinen wird die Lösung darauf hinauslaufen, daß die Menschen zu ihrem Glück eben gezwungen werden müssen. 

Um diese gemeinsame Glückseligkeit aber nicht als Wunsch- oder Traumgebilde von schemenhafter Fragwürdigkeit erscheinen zu lassen, wird die <Erfahrung> eines, wenigstens die ökonomischen Elementar­bedürfnisse in ausreichendem oder gar vollkommenem Maße befriedigenden Anfangs- oder Endzustandes zu Hilfe gerufen, das heißt mit anderen Worten: religiöse oder magische Kräfte (der Propaganda, der Demagogie oder der Massenpsychose überhaupt) atavistischer oder chiliastischer Richtung werden eingespannt.

Der älteste bekannte Sozialist, der chinesische Philosoph Mo-ti (oder Me-ti) lehrte in diesem Sinne das «Vorbild des Himmels» nach dem klassischen Beispiel des <Tao> des Lao-tse und des <Li> des Khung-tse, aber unter ausdrücklicher Beschränkung des Glückseligkeits­begriffes auf rein körperliches und wirtschaftliches Wohlergehen, zu dem allein der Staat mit Hilfe einer sozialistischen Gesetzgebung führen kann. 

Diese aber soll «im Sinne eines mechanischen Ausgleichs der sozialen Ungleichheiten wirken»; der Staat hat also «die Aufgabe, für die Ernährung des Volkes Fürsorgen zu treffen, alle Quellen des wirtschaftlichen Notstandes zu verstopfen, jedes Übermaß zu beseitigen, in den Fragen der Wohnung, Bekleidung, Ernährung usw. auf Einfachheit, Beschränkung auf das Notwendige und rationelle Ausnützung der Kräfte und Mittel, kurzum auf eine <Planwirtschaft> zu dringen und jeden Luxus zu verbieten» (Zenker).

Obwohl diese Forderungen zweitausend Jahre zurückliegen, glaubt man Morus oder Campanella zu hören und stellt unwillkürlich wieder nur die Frage, wer den Staat darstellt, der diese Forderungen erfüllen soll. Die klassische Definition Ciceros, der die res publica als res populi bezeichnet, reicht hier offenbar nicht aus, eher schon seine Verteidigung der Aristokratie: 

«Wenn aber ein freies Volk wählt, wem es sich anvertrauen will, und, sofern es wohlberaten sein will, gerade die Besten wählt, so liegt sicher in der aristokratischen Regierung das Heil der Gemeinwesen, zumal die Natur es so eingerichtet hat, daß die sittlich und geistig Überlegenen nicht nur die Schwächeren beherrschen sollen, sondern daß diese jenen sogar gehorchen wollen

In dieser Überlegenheit aber, die eben nicht immer sittlich und geistig zugleich ist, liegt die Stärke und die Gefahr der Demagogie. Die Einzelnen sollen in Rat und Tat die Gesamtheit vertreten, sie sollen die Pläne machen, die der Gemeinschaft zu Glück und Wohlstand verhelfen. Sofern sie dazu des Verstandes und des individuellen Willens bedürfen, müssen sie sich zwangsläufig aus der natürlichen Gebundenheit, also dem Organismus der Gemeinschaft, herauslösen. 

Der Grad ihrer von magischen und religiösen Kräften hervorgerufenen oder von kommunistischen und sozialen Werten gelenkten Gemeinschafts­verbundenheit allein kann ihnen die Berechtigung dazu geben. Daraus erklärt sich die historische Lebensdauer des Geburtsadels, dessen lange Erhaltung sonst - da seine Existenz rational nicht verteidigt werden kann - ganz unverständlich wäre, und ebenso die historische Volkstümlichkeit des <guten> Herrschers.

Die Staatstheorie Campanellas unterscheidet sich nun von vornherein von allen übrigen dadurch, daß seine Vorstellungen, von weit stärkerer Leidenschaft­lichkeit getragen als etwa die Mo-tis oder Mores, aus der Tiefe der angedeuteten metaphysischen Einheitsidee in Richtung auf den gottgewollten Endzustand der Welt ausgemalt werden. Daher sollte bei ihm «der rationale Machtstaat» lediglich «den Kulturstaat», freilich einen solchen von höchst eigenwilliger Prägung, vorbereiten. 

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Denn «sein höchstes Ideal war schließlich doch... der reine, auf sozialer Gemeinschaft und Gerechtigkeit beruhende Kulturstaat mit der Herrschaft der Philosophen und der idealen Interessen» (Meinecke).

Deshalb kommt auch bei ihm, entsprechend der intellektuellen Entwicklung und der besonderen Geistesart der Spätrenaissance, noch mehr als bei dem Chinesen jene Einstellung des Sozialismus zum Ausdruck, die einfach verlangt, daß sich die Gemeinschaft beglücken lassen müsse, ohne daran zu denken, «daß sie ihr Glück selbst begründen könne» (Zenker).

Bacon dagegen, der die Macht des Wissens zum Wohle der Menschheit einsetzen will, glaubt auch die Frage des besten Staates allein mit der Wissenschaft lösen zu können, so daß sich für ihn Staats- und Bildungsideal praktisch decken. In dieser Beziehung denkt er, wie, wenn auch in weit geringerem und immer wieder korrigiertem Maße, schon More und überhaupt alle Utopisten, ausgesprochen ungeschichtlich. Man kann jedoch im Hinblick auf die später von Hobbes verlangte Schaffung des «künstlichen» Menschen mit Recht fragen, ob ein «wahrer» Staat überhaupt ein geschichtliches Gebilde sein kann.

Der wirkliche «künstliche» Staat im Gegensatz zum wahren «natürlichen» jedenfalls ist «ausgesprochenermaßen gegründet und überschichtet überall, wo er zu Großformen gelangt, die Partikularität der organisch gewordenen lokalen Mächte» (Rothacker). Der ideale Staat aber ist offensichtlich in einem Kompromiß zwischen «natürlicher Unordnung» und «künstlicher Ordnung» zu suchen, in dessen Verfolg man freilich genauso leicht zu «künstlicher Unordnung» wie zu «natürlicher Ordnung» gelangen kann, wobei noch zweifelhaft ist, welchen von beiden Zuständen man mit «Anarchismus», welchen mit «Archismus» (Voigt) bezeichnen müßte.

Immer aber läuft es, wie die angeführten Beispiele: Mo-ti, Campanella, Bacon, More und Hobbes, in ihrer charakteristischen Staffelung klar genug zeigten, darauf hinaus, daß eine geistige Führung gefordert oder vorausgesetzt wird, die die Masse zu Staatsgesinnung und Ordnung und damit zu Wohlfahrt und Glückseligkeit zu führen vermag. 

Und diese grundsätzliche Forderung besteht auch heute noch in gleicher Stärke, wie es die modernen Utopien beweisen. Geistigkeit aber ist das Kennzeichen des Einzelmenschen und widerstrebt wesensgemäß jeder Art von Sozialisierung.  

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   16  Die Aufgliederung der Massen   

 

Das klassische Rezept zur Verwirklichung sozial-kommunistischer Ideen auf Erden ist ebenso alt wie einfach; man könnte es - mutatis mutandis - mit dem sprichwörtlichen Imperativ: Teile und herrsche! umschreiben. Es besteht in nichts anderem als der Teilung der Massen und der Verhinderung des übermäßigen Anwachsens der Teile.

Zwar verbietet schon der erwähnte chinesische Sozialreformer Mo-ti das Halten von «Hunderten oder gar Tausenden von Haremsfrauen» (Witte) einzig und allein aus dem Grunde, «weil dadurch das Wachstum der Bevölkerung nachteilig beeinflußt werden könnte» (Zenker). 

Zwar ersinnt Platon zur Fortpflanzung der Wächter ein ausgeklügeltes System, dessen Zuständigkeit Campanella bis zur Beleidigung jeglichen persönlichen Gefühls durch die behördliche Regelung im Sinne einer biologischen Zuchtwahl ohne jede Rücksicht auf sittliches, geschweige denn individuelles Empfinden und menschliche Würde überhaupt erweitert. 

Jedoch steht einer solchen <gelenkten> Fortpflanzung hier wie dort eine vertikale oder horizontale ständische Gliederung gegenüber, die jeden neuen Staatsbürger nach Eignung und Begabung in leicht übersehbare Gruppen, Zellen und Blöcke einordnet. Denn gerade vom organisatorischen Standpunkte aus weisen die verschiedenen Sozialtheorien auf die Notwendigkeit möglichst begrenzter Gemeinwesen hin, wenn sie sich die Frage auch häufig durch den Hinweis auf den möglichen Abschub der überschüssigen Bevölkerung in Kolonien und sonstige unbesiedelte Ländereien leicht machen.

So verlangt Thomas Morus einen geregelten Ausgleich der Bevölkerung, damit der Staat nicht mehr als vierundfünfzig Städte, jede dieser Städte nicht mehr als sechstausend Familien, eine Familie nicht weniger als zehn und nicht mehr als sechzehn erwachsene Personen umfasse; bei Übervölkerung der Insel sieht er die staatliche, nötigenfalls mit Gewalt durchzuführende Kolonisation und Ansiedlung auf dem benachbarten Kontinent vor.

Etwa gleichzeitig empfiehlt Johann Eberlin von Günzburg: «So vyl dörfflein das sie zwey hundert hoffstet machen, sollen ein ritter zuo eim vogt haben» und «jetlich castel, stat, fürstenthuom, soll für sich selbs nützlich gebot vnd recht machen vnd do by bliben.»

Und, um nur noch ein besonders aufschlußreiches Beispiel anzuführen, das <Wirtschaftsgesetz> (Loix distributives ou economiques) des berüchtigten <Code de la nature> Morellys verfügt in seinen ersten drei Artikeln: 

«1. Zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zur Vermeidung aller Störungen und Unruhen wird jede Nation in Familien, Tribus und Stadtbezirke, und wenn sie besonders zahlreich ist, in Provinzen unterteilt. 2. Jede Tribus wird in eine gleiche Anzahl von Familien, jeder Stadtbezirk in eine gleiche Anzahl von Tribus usw. aufgeteilt. 3. In dem Maße, wie die Nation wächst, werden die Tribus und Stadtbezirke entsprechend vermehrt, jedoch nur, soweit man neue, ebenso zahlreiche Stadtbezirke bilden kann.» 

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Das <Ehegesetz> (Loix conjugales qui previendroient toute debauche) des gleichen Entwurfes kommt in seinem zwölften und dreizehnten Artikel zu folgendem Schluß: «Man soll, soweit es möglich ist, die Anzahl der Familien, die die Tribus bilden, ausgleichen; man soll neue bilden, und, wenn es notwendig ist, neue Stadtbezirke, wenn es so viele überzählige Tribus geben sollte, daß sie ausreichen, oder man soll die Tribus und Stadtbezirke, die durch irgendwelche Zufälle Einbuße an Bevölkerung erlitten haben, ausfüllen. Wenn die Nation an den Punkt des Wachstums gelangt ist, an dem die Zahl der Geburten ungefähr der Zahl der Todesfälle gleichkommt, so werden die Tribus, Stadtbezirke usw. ungefähr gleich gehalten werden.» Über die letzte Bestimmung macht sich Kleinwächter, dessen Kritik der Utopien sonst oft unberechtigt geringschätzig klingt, offenbar mit einigem Recht lustig.

In ihrer Gesamtheit weichen diese Anordnungen kaum von denen ab, die Denis Vairasse fast hundert Jahre vor Morelly schon für die etwa tausend Personen zählenden Osmasien seines glücklichen Sevarambien gibt, und diese Osmasien selbst scheinen wiederum das Muster für die berühmten <Phalangen> Fouriers abgegeben zu haben, die etwa dreizehnhundert bis achtzehnhundert Personen stark sind und deren Wohnbezirke, die nicht minder berühmten <Phalansteres>, durchaus den Wohnungen der Osmasien entsprechen.

Auch in Utopien, wo bereits wie später bei Fourier die Wohnhäuser regelmäßig, und zwar alle zehn Jahre durch Auslosung, ausgetauscht werden, sowie im Sonnenstaat Campanellas, wo die Schlafräume sogar alle sechs Monate gewechselt werden müssen, und selbstverständlich auch in Andreas <Christianopolis> wohnen die Bürger in Stadtvierteln oder besser Häuserblöcken (vici) zusammen; in Fontenelles <Histoire des Ajoiens> sind je zwanzig Familien zu kleinsten Gemeinschaften zusammengefaßt, von denen sechshundert bis achthundert einen Stadtteil Ajaos bilden, und die Megapatagonen bei Restif de LA Bretonne wohnen zu achtzig bis hundert Familien in einem Hause, während je fünfundzwanzig Häuser ein Quartier ausmachen.

Man kann ganz allgemein sagen, daß «nur bei einer solchen Form des Wohnens eine mechanisch gleichförmige Regelung der Bevölkerung überhaupt möglich ist» (Gothein) und man «demokratische Verfassungen andauernd nur bey sehr kleinen Staaten» findet, zumal es überhaupt «besser seyn» wird, «wenn wenigere gut zusammen leben, als wenn noch so viele sich schlecht zusammen behelfen müssen» (Fries).

Eine derartige Dezentralisierung größerer und größter Gemeinschaften, deren Vorbild natürlich wieder bei Platon, dessen Egoismus Fourier allerdings hart tadelt, und zwar in den <Gesetzen>, wo die Höchstzahl der Bürger eines Staates auf fünftausendundvierzig erwachsene Männer festgelegt ist, gesucht werden muß, geht aber von der falschen Voraussetzung aus, daß ein sozialistischer Staat und eine sozialistische Vereinigung gleich welcher Art denselben Bedingungen unterliegen. Man darf nämlich zwischen ihnen nicht einmal einen «Vergleich anstellen, genausowenig wie zwischen einem Staat und einer Familie. Die seelischen Grundlagen dieser beiden Ordnungen sind sehr verschieden» (Baudin). 

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   17  Die Abschaffung des Privateigentums    

 

 

Alle den Interessen der staatlichen Gemeinschaft und ihrer Gliederungen entgegengesetzten Strebungen, seien sie nun gefühlsmäßiger oder intellektueller Herkunft, müssen aber beschnitten oder sogar vollständig ausgemerzt werden.

Eine große Anzahl radikal-kommunistischer Staatswesen, unter ihnen der Sonnenstaat Campanellas, sieht daher in der Ausschaltung der Familie als des Hortes aller Eigen- und Sonderinteressen das erste Gebot für die Errichtung eines vollkommenen Staates und die Entwicklung einer echten Gemeinschaft.

Denn die Bindungen der Familienmitglieder untereinander sind stärker und andersgeartet als die der Staatsbürger. 

Allein auch das würde auf lange Sicht nicht genügen, da darüber hinaus auch innerhalb jeder Sondergemeinschaft andere, und zwar hauptsächlich gefühls- und willensbestimmte, also individuelle Bindungen bestehen oder sich entwickeln, wie es zweifellos unter den Angehörigen der verschiedenen Berufe und Stände und so natürlich auch unter den Vätern des Hauses Salomons von Neu-Atlantis und innerhalb von allen ähnlichen Vereinen und Vereinigungen, Zünften und Genossenschaften, somit auch der <Familien> des Sonnenstaates der Fall sein muß.

Solche Entwicklungen im Keime zu ersticken, ist die Aufgabe der, in diesem Falle rein diktatorischen, Gewalt der Staatsführung, also der schließliche Triumph des Machiavellismus oder aber des ragione di stato Boteros, ein Beweis mehr, wie eng sich die Extreme berühren.

Es wird immerhin lehrreich sein, die Methoden dieser Unterdrückung jeder Sonderentwicklung kurz zu beleuchten. 

Es erübrigt sich dabei, auf so äußerliche Maßnahmen wie die Verlosung der landwirtschaftlichen Parzellen in Platons <Gesetzen>, die stets offenstehenden, zweiflügeligen Verbindungstüren der Gärten in Utopien, den dort und im Sonnenstaat, sowie in anderen Idealstaaten üblichen Wohnungswechsel hinzuweisen. Das sind schließlich nur Auswirkungen der mehr oder weniger schroffen Ablehnung des Privateigentums überhaupt.

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Es ist ja aber gerade das gemeinsame Kennzeichen fast aller Utopien, daß kein Staatsangehöriger über eigenen Besitz verfügen darf. Mit dem Eigentum glaubt man alle Übel und Verbrechen, die aus Neid und Mißgunst entstehen, vermeiden zu können. 

Raphael Hythlodeus erklärt es dem skeptischen Thomas Morus rund heraus, daß er fest überzeugt sei, «daß der Besitz nur dann auf gleichmäßige und gerechte Weise verteilt oder die Geschicke der Menschen nur dann glücklich gestaltet werden können, wenn das Privateigentum aufgehoben worden ist»; und Campanella geht, wie immer, noch weiter, wenn er seinen Genuesen von den Sonnenstaatlern sagen läßt: «Sie behaupten, daß der Eigentumsbegriff daher komme, daß wir unsere eigenen Wohnungen und eigene Kinder und Frauen haben.»

 

Die Theoretiker vergessen dabei jedoch immer, daß mit dem Besitz auch die Ehrfurcht vor jedem Sachwert überhaupt zusammenhängt. Denn selbst noch derjenige, der das Eigentum eines anderen hochachtet, vergreift sich, wenn er selbst nichts besitzt, leicht und bedenkenlos am Eigentum der Gemeinschaft; wenn er es nicht einfach stiehlt, so behandelt er es nachlässig oder mindestens gleichgültiger, als wenn es ihm selbst gehörte. Diese Erfahrung macht jede Gemeinschaft, machten die Jesuiten in Paraguay und wahrscheinlich auch die Inka von Peru.

Deshalb aber ist in den Utopien, und ganz besonders im Sonnenstaat, aus dem Menschen als Feind seines Nächsten allgemein der Polizist des Nachbarn geworden, sofern die Beamtenschaft zur Überwachung nicht ausreicht; und aus dem Polizisten wird bekanntlich sehr leicht der Spitzel und Denunziant.

Nicht einmal in dem glücklichen Sevarambien des Denis Vairasse gibt es ein persönliches Eigentum, das allein die Achtung vor dem Sachwert gewährleistet, da ja die eigentlichen Ursachen aller Mißhelligkeiten unter den Menschen: der Geiz, der Müßiggang und der Stolz, der ja schon in Utopien und im Sonnenstaat als das Kapitalverbrechen gilt, nach der Meinung des Severias einzig und allein auf den Besitz und die durch ihn hervorgerufenen Standesunterschiede und Ungleichheiten zurückgehen. 

Und im Grunde genommen ist das eine uralte Erkenntnis, die nicht zuletzt der römische Historiker Sallust in seinen grundsätzlichen Erwägungen über den Niedergang der Sitten im republikanischen Rom in wahrhaft klassischen Sätzen ausführt: 

«Zuerst jedoch wuchs die Begierde nach Geld, dann die nach Herrschaft; beide aber waren gleichsam der Urstoff aller Übel. Denn die Habsucht zerstörte Treue, Verläßlichkeit und andere gute Eigenschaften; an Stelle dieser lehrte sie Hoffart, Grausamkeit, Gottlosigkeit und Käuflichkeit in allem und jedem.»

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Indessen wird schon der bloße Gedanke an solches Verhalten bereits im ersten Buch der <Utopia> mit sonst ungewöhnlicher Leidenschaftlichkeit abgelehnt: in Utopien, wo eben der Hochmut als Ursache alles Übels unter den Menschen auf Grund der Gesamtheit ihrer Einrichtungen vollständig ausgeschaltet ist, gibt es weder Eigennutz noch Begehrlichkeit. «Denn wie könnte jemand etwas Überflüssiges verlangen, der die Gewißheit hat, daß ihm niemals etwas fehlen wird?»

Nicht anders steht es im Sonnenstaat. «Alles ist Gemeinbesitz. Die Verteilung liegt in den Händen der Behörden», und die «achten streng darauf, daß keiner mehr erhält, als er verdient, jedoch auch keinem etwas Notwendiges vorenthalten wird.»

Gleichmäßiger Eifer und Fleiß, Neidlosigkeit und uneigennützige Brüderlichkeit werden also vorausgesetzt. 

 

 

   18  Die Arbeitsverteilung   

 

Soweit die genannten häßlichen Regungen des Menschen: Neid, Mißgunst und Geiz, Müßiggang und Stolz, Hoffart und Egoismus nicht in den engeren Bereich der Ethik oder Moral gehören, ist es zweifellos richtiger, ihren Ursprung in der verschiedenen Leistung als in dem doch erst darauf beruhenden Besitz der Menschen zu suchen. 

Denn tatsächlich ist das Minderwertigkeitsgefühl im Hinblick auf die Mehrleistung des Nächsten der hauptsächlichste und nur zu oft der einzige Anlaß zu allem Streit und Unheil auf der Welt; darauf weist schon der biblische Mythos von Kain und Abel.

Gerade deshalb sieht sich der Sozialismus in Theorie und Praxis immer wieder vor die Aufgabe einer «gerechten» Verteilung der Arbeit gestellt. Er versucht sie auf zweierlei Art zu bewerkstelligen: einmal indem nicht nur «alle Menschen arbeiten sollen» (Saint-Simon), sondern alle Arbeiten von allen verrichtet werden müssen, dann aber auch, indem jeder die ihm und seiner Leistungsfähigkeit und Begabung entsprechende Arbeit zugewiesen bekommt.

In beiden Fällen bedarf der Staat einer ausgesprochen rationalistischen, also individualistischen Führung, die den richtigen Grundgedanken Campanellas von der Arbeit als «Grundlage der Gesellschafts­verfassung» (Gothein) durchführt.

Im ersten Falle nun werden die Zwangsmaßnahmen zu ungenügenden, den Bestand des Staates gefährdenden Leistungen führen, im zweiten braucht jener einen unverhältnismäßig großen Beamtenapparat und eine komplizierte Organisation, die wiederum nur durch strengste Überwachung jedes durch jeden sowie durch eine Art von Loix des etudes qui empecheroient des egaremens de l'esprit humain et toute reverie transcendante (Morelly) verwirklicht werden kann.

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Die radikale Lösung ist, wie immer, die einfachste. Sie ist bei Campanella, wo die Beichte den Behörden das letzte und entscheidende Mittel, das bei den Jesuiten Paraguays zum Selbstzweck erhoben wurde, zur Beherrschung der Seelen in die Hand gibt, wie auch noch oder wieder bei Morelly bis zum Äußersten getrieben und, mindestens bezüglich der landwirtschaftlichen Arbeiten, zum unabdingbaren Staatsgesetz der Dienstpflicht erhoben; dieser Zwang besteht sogar schon bei den Utopiern, bei denen die Landarbeit «offenbar schon das Ansehen und die Anziehungskraft verloren hatte, welche Plato ihr zuschrieb» (Voigt).

Die Pflicht zur Arbeit besteht hier wie da für jeden, und selbst der ihr aus irgendeinem Grunde Enthobene erfüllt sie dennoch, um, wie die Syphogranten Utopiens, durch sein Beispiel «die übrigen um so mehr zur Arbeit anzuspornen». Auch die Frauen müssen arbeiten, im Sonnenstaat wie in Utopien, wenn auch ihren Kräften entsprechend, ja sogar die Körperbehinderten werden, je nach Maß und Möglichkeit, zur Gemeinschaftsarbeit herangezogen. So ergänzt diese praktisch und theoretisch den Gemeinbesitz.

Der marxistische Kommunismus hat die Auswirkung eines derartigen kompromißlosen Radikalismus' infolge der «Enthüllung des Mehrwerts» (Engels) und ihrer Folgen durch Marx grundsätzlich dadurch abgeschwächt, daß er lediglich Gemeinsamkeit der Produktionsmittel, die für die Wächter Platons wegen ihrer Beschränkung auf das Kriegshandwerk nicht in Frage kam, nicht aber ihres Verbrauchs und auch nicht im Sinne einer Verteilung unter die Einzelnen, sondern im Sinne einer Planwirtschaft fordert; diese fand ihren historischen Ausdruck in der Aufstellung des ersten Fünfjahresplans, der auf der 16. Partei­versammlung der bolschewistischen Partei im April 1929 in der «optimalen Variante» angenommen wurde und von dem Stalin selbst sagte: 

«Die grundlegende Aufgabe des Fünfjahresplans bestand darin, in unserem Lande eine Industrie zu schaffen, die imstande sein würde, nicht allein die ganze Industrie, sondern auch das Verkehrswesen und die Landwirtschaft auf der Grundlage des Sozialismus neu auszurüsten und zu reorganisieren.»

Neben der mehr äußerlichen, organisatorischen Frage der Arbeitsverteilung, die im Sonnenstaat problematisch genug erscheint, während sie in Utopien in liberalerer Weise durchgeführt wird, ist die nach der grundsätzlichen Einstellung zur Arbeit natürlich von besonderer, ja ausschlaggebender Bedeutung. Denn «der Reichtum liegt in der Arbeit, und zwar einzig und allein in ihr. Er ist kein festes, ein für allemal erworbenes Gut, sondern ein bewegliches, veränderliches, den Anstrengungen des Menschen entsprechendes.» 

Die Verfassung muß also der Arbeit «einen kräftigen und unmittelbaren Anreiz» geben. Diesen aber gewährleistet allein das «persönliche Eigentum und niemals der Gemeinbesitz» (Reybaud), geschweige denn der Zwang. 

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   19  Das Arbeitsethos   

 

Da somit der Individualismus, und mit ihm natürlich auch der Kapitalismus, behauptet, daß der Mensch nur in seinem Eigeninteresse, also zu seinem eigenen Nutzen, etwas zu leisten gewillt sei, kommt es für den Sozialismus wesentlich darauf an, ein neues Ethos der Arbeit zu schaffen, um sie aus Zwang und Fron «in eine Sache der Ehre und Würde, des Ruhmes und Heldentums» (Stalin) zu verwandeln.

Gewiß greifen Theorie und Propaganda hier dem Urteil und noch mehr der Empfindung und Neigung des durchschnittlichen Einzelmenschen, der nach allgemeiner Ansicht von Natur aus faul und gefräßig ist, vor, auch in der <Utopia> und im <Sonnenstaat>, wo die vaterländische Gesinnung und Opferfreudigkeit der Staatsbürger rühmend ins Feld geführt werden. Aber, abgesehen von der Einschränkung der Arbeitszeit auf sechs Stunden in jener und auf vier Stunden in diesem, abgesehen selbst von der Arbeitskraft und Arbeitslust anfeuernden Liebe zur Gemeinschaft, ist, jedenfalls bei Campanella, der Ansatz zu einer völligen Ausrottung jeglicher Eigenwertung überhaupt weit früher getroffen, also zu einer Grundfrage der Erziehung gemacht.

Genauso nämlich wie bei der Fortpflanzung — und die Ausschreitungen des Geschlechtstriebes gelten ja nicht nur für den sagenhaften Gesetzgeber Severias als gleich schädlich und unheilvoll wie Stolz und Neid — ist der Selbsterhaltungstrieb des Einzelnen auch hinsichtlich der Arbeitsleistung von vornherein nicht so sehr für dessen persönliche Erhaltung oder auch nur für die seiner Familie, sondern vielmehr einzig und allein für die Erhaltung und Sicherung des Bestandes der Gesamtheit der Gemeinschaft in Anspruch genommen und eingespannt. 

Genau wie beim Fortpflanzungstrieb ist das allen Gemeinsame, «was... alle bändigt, das Gemeine» (Goethe), unter Ausschaltung aller eigensinnigen und eigenwilligen Neigungen und Bestrebungen, unter Zurückdrängung des Besonderen jedes Einzelnen und Betonung des allen und für alle Gleichen auf ein gemeinsames Ziel gerichtet. «Formen eines Lebensgefühls» werden hier herausgebildet, «das, kurz gesagt, <sich>, das heißt seinen selbstanerkannten Persönlichkeitskern, mit anderen Schichten der Gesamtpersönlichkeit identifiziert als mit der... Ichschicht des individualisierten Willens und des prometheisch selbstvertrauenden Intellekts» (Rothacker).

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Nachdem also mit der vollständigen Auflösung der Familienbande, wenigstens bei Platon und Campanella sowie in Morellys <Basiliade>, und des Privateigentums jegliches Eigeninteresse gegenstandslos geworden ist, kommt es darauf an, dem menschlichen Streben einen neuen Sinn zu geben. Dieser Sinn kann aber nur dem Leben und Erleben der Gemeinschaftsseele entnommen werden, wenngleich er doch wieder von einem Einzelnen gefunden und formuliert werden muß; er wird in dem Wohlergehen und in der Glückseligkeit der Gemeinschaft, also «durchaus im Diesseitigen» (Oncken) erblickt.

 

Man kann nicht leugnen, daß alle beide im Christentum, insofern es erlaubt ist, dessen Gemeinden in ihrer in der Apostelgeschichte (4, 33-37) beschriebenen Urform als Verwirklichung einer sozialistischen Lehre religiöser, also nicht etwa ökonomischer Prägung in asketischer Observanz anzuführen, am vollkommensten erstrebt und erlebt wurden, obwohl oder gerade weil Christi Reich «nicht von dieser Welt» (Joh. 18, 36) und im letzten gleichgültig gegen irdische Verhältnisse ist. Deshalb weist ja auch der Gewährsmann Mores mit besonderer Genugtuung daraufhin, daß Christus «den Seinen die gemeinschaftliche Lebensführung (communem suorum victum) empfohlen habe, die heute noch in den Kreisen der echtesten Christen (apud germanissimos Christianorum conventus) üblich sei». Andererseits muß man aber gerade diesem Beispiel entnehmen, daß ein derartiger Sinn des Lebens und Strebens überhaupt nur mit Hilfe gesamtmenschlicher Sinnrichtungen einigermaßen begrifflich und begreiflich gemacht werden kann, also schlechterdings — irrational ist.

Es ist daher kein Wunder, wenn alle sozialen Reformer in den fragwürdigen Ruf von Schwärmern und Ideologen, Phantasten und Ekstatikern gekommen sind. Dieser Gefahr ist am wenigsten Tommaso Campanella trotz all seiner notgeborenen Klugheit und Wendigkeit, mit der er sich nacheinander den politischen Forderungen der Spanier, der Kurie, Kaiser Ferdinands II. und schließlich seines mächtigen Beschützers Richelieu anzupassen versuchte, weder zu seinen Lebzeiten noch nach seinem Tode, entgangen. 

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