Das Manifest als pdf        Start   Weiter

4  Sprung in den großen Organismus: Differenzierung von Subsystemen

 5 Die praktische Kernforderung

 

31-

Statt des in den letzten Jahrzehnten von Freund und Feind arg strapazierten System-Jargons soll hier gleichbedeutend, aber anders klingend, der Begriff des Organismus mit eingeführt und verwendet werden. Auch dieser hat zwar eine leidvolle Geschichte, insofern oft biologische Modelle und Analogien recht unbesehen auf die soziale Wirklichkeit übertragen wurden.

Mit dem Prinzip der sozialen Reflexion (und allein mit ihr) ist jedoch das benannt, was das soziale Leben tatsächlich in Analogie setzt zum biologisch-organischen Leben, ohne dass wir Berührungsängste vor bloß äußerlicher Analogiebildung haben müssten.

Was den Organismus auszeichnet, ist besonders dies, dass er für sich selbst ein Zweck ist, also eine Selbstbezüglichkeit im weiteren Sinn von Selbstzwecklichkeit hat, allerdings nicht in dem strengen Sinn von Selbstbewusstsein, und dass er autopoietisch ist, das heißt, sich unter bestimmten Bedingungen selbst herstellt und wieder herstellt. Das gilt für soziale Organismen in hohem Maße: Sie sind zwar nicht ohne die Handlungen und Bewusstseinshandlungen der Individuen möglich und erklärbar. Das heißt jedoch nicht, dass sie nur aus dem bewussten Willkürwollen der Beteiligten hervorgehen. Vielmehr machen sich gerade die "organisch" gewachsenen (nicht willentlich organisierten) sozialen Einheiten unbewusst oder wie über die Köpfe der Beteiligten von selbst. Eben das darf nicht dazu verleiten, diesen autopoietischen Zug mit dem Abschneiden des Zusammenhangs zwischen den handelnden Einzelnen und dem Systemen zu verwechseln (wie bei Luhmann und seiner Schule).

Die Struktur, die im vorigen Kapitel an der primären, privaten Interpersonalität aufgezeigt wurde, soll nun "kühn", aber trotz der Kürze nicht ganz unbegründet, auf die großen sozialen Systeme übertragen werden, insbesondere auf die staatlich organisierte Gesellschaft. Auch hier kennt man zwar die Unterscheidungen irgendwie schon immer, z.B. aus Politikerreden. Der für Theorie und Praxis entscheidende Fortschritt liegt indessen zwischen dem "Irgendwie" und der reflexionslogisch klar fundierten Unterscheidung.

Was nämlich oben an der Intentionalität der einzelnen Akteure als Reflexionsstufung sichtbar wurde, das führt in bereits gebildeten Sozialsystemen zu analogen Systemfunktionen:

(1) Das instrumentale Behandeln oder der Umgang mit dem Andern in Bezug auf objektive Güter führt vom Ganzen des sozialen Organismus her zur Systemfunktion Wirtschaft. Das Subsystem Wirtschaft wird von einer bestimmten Entwicklungs- oder Differenzierungsstufe an gebündelt in dem Medium Geld, das heute ja ein merkwürdiges Eigenleben über den realwirtschaftlichen Vorgängen entfaltet.

(2) Das strategische Handeln in der Sphäre der unmittelbaren Interpersonalität führt vom Ganzen her zum Subsystem Politik, gegründet auf dem alle willkürliche Macht der Akteure bändigenden Medium Recht, der Grundlage des neuzeitlichen Rechtsstaates.

(3) Das kommunikative, verständigungsorientierte Handeln der Einzelnen ergibt in seiner systemischen Summe vom Ganzen her das Subsystem Kultur, dem Inbegriff der Kommunikation, der Sitten und Gebräuche eines sozialen Organismus bis hin zu den künstlerischen Äußerungen eines Gemeinwesens. Für alles Kulturelle ist Sprache das grundlegende Interaktions-Medium. (Kunst selbst ist, was hier nicht näher ausgeführt werden kann, eine gelebte, nicht bloß nachträglich beredende Meta-Sprache, eine Sprache jenseits der Sprache.)

(4) Das metakommunikative, normenorientierte Handeln der Einzelnen bildet im Gesamtsystem die Handlungsgrundlage und Analogie für das Subsystem Legitimations- oder Grundwerte das sich heute in einer Pluralität von Weltanschauungen, ethischen Einstellungen und Lehren, Religionen und transreligiösen, spirituellen Einstellungen zeigt. Als gemeinsames Medium ist auszumachen: die zugrunde liegenden Axiome und Riten.


  32/33

Der Übergang von der subjektiven oder personalen Perspektive (Systemreferenz) zur sozialen oder kollektiven Perspektive ist vielleicht das Schwierigste, aber auch das Wichtigste, damit die Systemebenen in Zahl und Reihenfolge nicht als willkürlich konstruierte erscheinen. Denn mit willkürlichem Konstruktivismus lässt sich das soziale Leben vielleicht noch analysieren, aber nicht verändern und steuern.

Man sollte, um den Perspektivenwechsel zu üben, z.B. verstehen, dass im wirtschaftlichen Leben durchaus alle Handlungskomponenten und Handlungsarten der einzelnen Akteure möglich und nötig sind: nicht nur sachbezogenes Behandeln des Anderen, auch strategisch berechnendes, auch angenehme, echt menschliche Kommunikation, sogar ethisches Verhalten. Dennoch wird für die Systemebene Wirtschaft als solche der Sachbezug maßgebend. Und dieser wird vor allem hergestellt, geradezu erzwungen durch das vereinheitliche Medium der wirtschaftlichen Vorgänge, somit dieses ganzen Subsystems, das Geld.

Ähnlich ist auf allen Systemebenen die systemische, vom sozialen Ganzen her bestimmte Perspektive von der individuellen streng zu unterscheiden - obwohl die Subsysteme nur von der Analogie zum Handeln und seinen Reflexionsstufen in Zahl und hierarchischer Reihenfolge unterschieden werden können.

Die Systemebenen sind nach demselben Reflexionsstufenprinzip weiter zu untergliedern. Dies lässt sich für das staatliche Haus zusammenfassend so darstellen:


34

 

Diese Subsysteme oder organismischen Ebenen sind bei aller Gesellschaftsbildung stets latent vorhanden, deshalb ja auch stets in der Diskussion, aber meist auf unklare und daher folgenlose Weise.

Die "Moderne" ist nun aber gerade zutiefst durch den Prozess der realen Differenzierung dieser Systemebenen gekennzeichnet: Trennung von Politik und Weltanschauung/Religion, ebenso wesentlich die Trennung von Religion und autonomer, emanzipierter Kultur in Wissenschaft, Kunst usw. Es handelt sich, wie man leicht sieht, nicht um Kleinigkeiten und intellektuelle Feinheiten, sondern um weltgeschichtliche Dramen, deren Austrag viel Blut gekostet und auch geistig ungeheure Kämpfe erfordert hat - die noch keineswegs abgeschlossen sind, nicht einmal in Europa.

Das Erregende ist, dass wir den tieferen Anliegen der Moderne noch längst nicht in allem gerecht geworden sind und lieber ins unbestimmt "Postmoderne" ausweichen, als unsere modernen, evolutionär anstehenden "Schulaufgaben" zu machen: Das bedeutet, jener latenten "Viergliederung" in politischen Institutionen auf theoretisch klare und praktisch wirksame Weise Rechnung zu tragen.

Es braucht nicht betont zu werden, dass das Modell des Hauses nicht dazu verleiten darf, die Beziehungen zwischen seinen "Stockwerken" statisch zu sehen. Ganz das Gegenteil ist der Fall. Auch werden die hierarchischen Beziehungen bald durch den zirkulären Gesichtspunkt von Kreisläufen ergänzt werden.

Für die inzwischen oft eher modischen als besonnenen Nachhaltigkeits-Beflissenen: Wenn "Nachhaltigkeit" in einem spezifisch sozialen Sinn nicht länger ein bloßes Anhängsel an die Natur-Ökologie sein soll (was aber in der viel bemühten, nur scheinbaren Dreiheit von ökologisch - ökonomisch - sozial stets der Fall ist), dann muss sie als Kreislauffähigkeit eben dieser sozialen Organismus-Ebenen verstanden und verwirklicht werden.

Nur eine selbst nachhaltige, d.h. kreislauffähige Gesellschaft kann auch mit der Natur nachhaltig umgehen. 

Damit kommen wir allmählich zum praktischen Kern der ganzen Untersuchung.

  35

#


 

5  Die praktische Kernforderung:  Vier "Herzkammern" der Demokratie  

 

  Kommunikation als Schlüsselfrage   

37

Alle, aber auch wirklich alle Probleme unserer Gesellschaft hängen an der einfachen Frage: Wer kommt zu Wort, und wie können die Wortmeldungen geordnet aufeinander bezogen werden?

Die Probleme der Gerechtigkeit, also von Arm und Reich, die Ernährungsprobleme der Welt, die Probleme mit der Natur und ihren Schätzen, Arbeitslosigkeit und Verkehr, Frieden und gerechte Grenzen, Gerechtigkeit auch in den Bildungschancen - alles das ist sachlich lösbar, hängt aber von der einen Schlüsselfrage ab: Wie können die Menschen sachlich und friedlich, womöglich Verständnis- und vertrauensvoll diese Lösungen aushandeln? Und zwar indem alle Betroffenen, das sind alle, zu Wort kommen?

Dies scheint eine Frage der persönlichen Anständigkeit und Friedfertigkeit zu sein, aber gerade das ist eine naive oder bewusste Täuschung: Es ist vor allem eine Frage der öffentlichen Institutionen.

Das fatale Gefühl, in der Gesellschaft gar nicht erst gehört zu werden, das ist der Kern des Ohnmachtgefühls, das die große Mehrheit unserer Mitbürger beschleicht, und zwar durch alle Schichten hindurch: Vom Obdachlosen, der aus der angeblichen Leistungsgesellschaft heraus gefallen ist und sich nur noch geduldet und mitgeschleppt fühlt, zum sozial eng benachbarten Sozialhilfeempfänger und zum (soeben teils gleichgestellten) Arbeitslosen, über den "einfachen Arbeiter" bis hin zum kreativen Selbstdenker und hochkarätigen Spezialisten, Erfinder, Wissenschaftler, Schriftsteller: unzählige Männer und Frauen, welche die Dinge klarer zu sehen glauben, als sie in der veröffentlichten Meinung zur Sprache kommen - millionenfach


38

 

 

 

 


 

 

www.detopia.de     ^^^^