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7.  Anatomie der <Geschlossenen Gesellschaft>  

 

 

   Das «Gefesseltsein an den Boden und die Maschinerie»  

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Die russische Geschichte hat uns den ersten Beweis dafür geliefert, daß die Aufhebung der asiatischen Produktionsweise nicht zur Herabsetzung der Bedeutung des außerökonomischen Zwangs und damit der Angst führt. Politökonomisch erklärt sich dieser Tatbestand aus der formationstypischen Ausgestaltung der Eigentumsverhältnisse im Staatssozialismus. 

Aus der grundsätzlichen Behauptung, die Produzenten seien im Staatssozialismus Eigentümer und Besitzer der Produktionsmittel, leitet sich für den Staat die Verpflichtung ab, das «Recht auf Arbeit» zu garantieren. 

Dessen juristische Kehrseite zeigt sich in einer mehr oder minder offen normierten Arbeitspflicht

Die weitgehend leistungs­unabhängige soziale «Sicherheit der Existenz», die der Staats­sozialismus heute tatsächlich gewährt, sollte schon nach den Vorstellungen Karl Kautskys dasjenige «Gefühl der Ruhe, der Sicherheit, des Gleichmutes» neu beleben, welches den Mitgliedern der alten russischen und indischen Dorfgemeinden zu eigen war.

Der Preis, den die Menschen dafür zahlen sollten, das sahen Kautsky und Genossen voraus, konnte nur im Verzicht auf die «Freiheit der Wahl der Arbeits­gelegenheit» bestehen.43  Nur, es blieb eben nicht bei der Einschränkung des Rechts auf freie Wahl des Arbeitsplatzes.

In der marktwirtschaftlichen Produktion ist es im wesentlichen die stillschweigende Drohung mit der Arbeitslosigkeit, die den unmittelbaren Produzenten diszipliniert und die ihn gleichzeitig an seinen Arbeitsplatz bindet. Dieser sachliche Zwang, den das Kapitalverhältnis auslöst, steht der Politbürokratie von vornherein nicht zur Verfügung. An dieser Sachlage ändert sich entgegen allem Gerede selbst dann nichts, wenn zeitweilig im Gefolge von Rationalisierungs­maßnahmen auch im Staatssozialismus ein Überangebot an lebendiger Arbeit zu verzeichnen ist. 

Eugen Varga, der gewesene Präsident des Wirtschaftsrates der Ungarischen Räterepublik, war bisher der einzige Staatsplaner, der an eine begrenzte, staatlich geplante Arbeitslosigkeit im Sozialismus ernsthaft gedacht hat. Praktiziert wurde allerdings sein Vorschlag nicht. Im Zusammenhang mit den Moskauer Reformen hat es bereits vergleichbare Vorstellungen gegeben, die jedoch allesamt von Gorbatschow empört zurückgewiesen wurden.

Wo es der Staat selber ist, der den Produzenten zugleich als Eigentümer und Souverän gegenübertritt, nimmt das ökonomische Abhängigkeits­verhältnis der Produzenten dieselbe Form an, «welche aller Untertanenschaft gegenüber diesem Staat gemeinsam ist». In der «Abgeschlossenheit» der sozialistischen Gesellschaft findet diese Unfreiheit ihre allgemeinste Formbestimmung. Die Bindung an den Boden, wie sie schon die alte tributäre Produktionsweise auszeichnet, wird in der industriellen Despotie ergänzt durch die Bindung an die Maschinerie und das Arbeitskollektiv. 

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Wir können deshalb in Anlehnung an den Sprachgebrauch von Karl Marx zur Kennzeichnung unserer Verhältnisse vom «Gefesseltsein an den Boden und an die Maschinerie als Zubehör» sprechen. Und dieses «Gefesseltsein» der Menschen ist die entscheidende Wirksamkeits­bedingung der Politischen Ökonomie des Sozialismus. Denn überall dort, wo sich die Produzenten dem Druck der Macht durch Aus- und Abwanderung ohne weiteres entziehen können, verringert sich die Schlagkraft der ökonomischen Despotie bei der Weiterführung der Industrialisierung.

Grundsätzlich ändert sich an dem hier gegebenen Zustandsbild einer «geschlossenen Gesellschaft» auch dann wenig, wenn die Politbürokratie «Reiseerleichterungen» gewährt oder Menschen aus der «Staatsbürgerschaft entläßt». Hier sind nicht irgendwelche Zahlen im grenzüberschreitenden Verkehr entscheidend. Entscheidend ist allein, ob die Politbürokratie das natürliche Recht eines Menschen achtet, sein Land dann zu verlassen, wenn er es will, und in dasselbe nach eigenem Gutdünken zurückzukehren.

Die Politbürokratie beutet ja inzwischen bereits nach Kräften das allgemeine Leiden der Menschen an der «Geschlossenheit» unserer Verhältnisse dadurch aus, indem sie Wohlverhalten mit dem Privileg einer temporären Freizügigkeit honoriert. Wollen wir bei dieser Lösung des Problems nicht stehenblieben, müssen wir stets vor Augen, behalten, daß es grundsätzlich zwei Formen gesellschaftlichen Wandels gibt: eine, die innerhalb des gegebenen Systems stattfindet, und eine, die aus dem System herausführt. Gegenwärtig versucht die Politbürokratie mit einer Erweiterung der Reisepraxis einen Wechsel in der Gesamtlage zu umgehen. 

Ein Spiel ohne Ende ist damit eingeläutet, denn es wird eine Lösung erster Ordnung dort versucht, wo uns nur der entschlossene «Sprung über den eigenen Schatten», die verfassungsrechtliche Normierung des subjektiven Rechts auf Freizügigkeit, weiterbringen könnte.

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Aus dem politökonomischen Erfordernis der «Abgeschlossenheit» erklärt sich mühelos, warum beispielsweise das Präsidium des Obersten Sowjet noch 1940 jeden selbstbestimmten Arbeitsplatzwechsel kriminalisierte, nachdem schon 1932 mit der Einführung von Inlandspässen jeder freie Verkehr zwischen den Unionsrepubliken unterbunden wurde und bis auf den heutigen Tag das ungenehmigte Verlassen der Sowjetunion als «Landesverrat» strafrechtlich verfolgt wird. Nicht wenige Politökonomen wollen in der berüchtigten Stalinschen Arbeitsverfassung die Rücknahme des doppelt freien Lohnarbeiters und seine Verwandlung in einen Arbeitssoldaten sehen. In Wahrheit hat es den doppelt freien Lohnarbeiter als formations­bestimmenden Produzententypus weder vor noch nach den Oktober­ereignissen in Rußland gegeben, so wie es auch eine Herrschaft der Bourgeoisie niemals gegeben hat.

Sprechen wir es ruhig noch einmal aus: Selbst die Barbarei des Archipel GULAG ist nicht nur eine soziale Deformation! Der GULAG steht zuallererst für eine Arbeitsverfassung, die vorrangig auf den außerökonomischen Zwang in seiner extremsten Form setzt. Und so verschieden davon der gesellschaftliche Wandel im deutschen Staatssozialismus auch verlaufen sein mag, die Dialektik der Gewalt liefert uns auch hier den entscheidenden Schlüssel für das Verständnis der sozialen Verhältnisse.

Der außerökonomische Zwang ist also im Staatssozialismus Wirksamkeits­bedingung für die Inbetriebnahme und den Betrieb der Ökonomik. Der massenhafte Einsatz außerökonomischen Zwangs setzt die «geschlossene Gesellschaft» voraus. 

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Der deutsche Weg in eine solche Gesellschaft wird deutlicher, wenn wir die erste Verfassung der DDR mit der zweiten, der «sozialistischen» Verfassung vergleichen. Hatten die Autoren der ersten Verfassungsurkunde in Art. 10 noch das Recht zur Auswanderung für jeden Bürger formuliert, so wollten die Stifter der «sozialistischen Verfassung» (übrigens «das Werk der Verfassung vom 7. Oktober 1949 in ihrem Geiste weiterführend», wie es heißt) Freizügigkeit nurmehr «innerhalb des Staatsgebietes der Deutschen Demokratischen Republik» gewähren. 

Damit wurde eine Praxis grundgesetzlich besiegelt, die schon Jahre vor dem Verfassungs­entscheid mit dem Paßgesetz von 1954 eingeleitet worden war. Die zwischenzeitlich durch den Bau der Berliner Mauer faktisch vorweggenommene totale Bindung der Produzenten an das Territorium erfuhr auf diese Weise ihre letzte juristische Weihe. Wer heute ohne Genehmigung der Politbürokratie das Land verläßt oder in dieses nach einem Aufenthalt im Ausland nicht zurückkehrt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu acht Jahren bedroht.

Vorbereitung und Versuch des ungenehmigten Verlassens des Landes werden ebenso bestraft. Bestraft wird auch, wer als Bürger der DDR im Ausland staatliche Festlegungen über seinen Auslandsaufenthalt verletzt. Der Katalog von Maßnahmen, die das «Gefesseltsein» der Produzenten an das Territorium sichern sollen, wird seit dem Erlaß des Paßgesetzes ständig ergänzt. So verabschiedete erst unlängst die sich sonst sportbegeistert gebende Politbürokratie eine «Anordnung über Fluggerät», mit der sie den Besitz, die Herstellung, den Vertrieb und die Benutzung von Drachenseglern, Geräten zum Betreiben des Wasserskifliegens sowie Geräten mit gleicher oder ähnlicher Funktionsweise unter Strafe stellt. Man fürchtet sich vor «Mauerseglern»!

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Das alles ist bekannt. Der Gegensatz dieser Praxis zu dem in der Tradition verharrenden Rechtsbewußtsein der Deutschen wird beklagt. Aber nur am Rande gerät zumeist der allgemeine politökonomische Nenner der deutschen Malaise in den Blick. Dabei legt schon die vergleichbare Beschränkung der Freiheitsrechte in den meisten staatssozialistischen Ländern die Vermutung nahe, daß es weniger die Willkür der Politbürokratie ist, die den Strafzwang bewirkt, sondern dem Ganzen formationsspezifische Strukturen zugrunde liegen.

In den frühen sechziger Jahren gab es die verbreitete Illusion, eine prosperierende Ökonomie würde die zahlreichen Freiheits­beschränkungen überflüssig machen. Tatsächlich aber sind Staatssozialismus und verbürgte subjektive Freiheiten bis heute unvereinbare Größen geblieben. Noch immer ist der Politbürokratie jede Normierung subjektiver Freiheiten in durchsetzbaren Menschen- und Bürgerrechten «für sozialistische Verhältnisse obsolet», da sie derartige Rechte nurmehr als «Resultat und Ausdruck von Gebrechen und Insuffizienzen des Kapitalismus» verstehen will (wie sie ihren führenden Grundrechts­ideologen ausgerechnet anläßlich des 30.Jahrestages der UNO-Abstimmung über die «Allgemeine Erklärung der Menschenrechte» verkünden ließ!). 

Auf diese Weise wahrt die Politbürokratie ihre Salonfähigkeit auf dem internationalen Parkett und tritt ungeniert der «Konvention über Bürgerrechte und politische Rechte» bei (deren Art. 12 lautet: Es steht jedem frei, jedes Land, auch sein eigenes, zu verlassen). Sie verpflichtet sich in feierlicher Form in der KSZE-Schlußakte von Helsinki, freiere Bewegung und Kontakte auf individueller und kollektiver, sei es auf privater oder offizieller Ebene, zwischen Personen der Teilnehmer­staaten zu erleichtern.

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Man könnte meinen, mit dem Bau der Berliner Mauer wären für das Gesellschaftsinnere Verhältnisse gesetzt worden, die wenigstens den Abbau mancher anderer für den Staatssozialismus untypischen Rechte hätte überflüssig erscheinen lassen. Wer dieser Auffassung ist, der übersieht jedoch die zunehmende Bedeutung der «Bindung an die Maschinerie». Die Entwicklung des Arbeits- und Genossenschafts­rechts liefert eine Fülle belehrender Beispiele dafür, wie die Politbürokratie beharrlich die Bindung der Produzenten an das Territorium Schritt für Schritt in dieser Richtung ergänzt. 

Seit Jahrzehnten wird den Bauern die Kündigung ihrer Mitgliedschafts­verhältnisse in der Genossenschaft verwehrt. Auch Lehrer, Bauarbeiter, Absolventen der Hochschulen und andere Beschäftigten­gruppen sind von der Einschränkung der Kündigungsrechte betroffen. Teilweise waren die zahlreichen Anordnungen, mit denen die verfassungsmäßig garantierten Rechte beschnitten wurden, sicherlich zeitweilig entstandenen Disproportionen in der Volkswirtschaft geschuldet. Die wesentliche Ursache dafür sind aber die ohne Rücksicht auf die Gesamterfordernisse der Volkswirtschaft beschlossenen Schwerpunktvorhaben (z.B. Ausbau der Hauptstadt mit dem Nikolaiviertel als «Schaufenster zum Westen»), die ohne die autoritätsmäßige Steuerung des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens grundsätzlich nicht durchführbar wären.

Im übrigen entspricht die Vorstellung einer individuellen Wahl des Arbeitsplatzes ohnehin nicht den Grundsätzen einer sozialistischen Planwirtschaft. Unbemerkt von der Öffentlichkeit hat die Politbürokratie unlängst den logischen Schluß aus dieser Erkenntnis gezogen und eine «Anordnung» erlassen, mit deren Hilfe auf indirekte Weise die «freie Wahl des Arbeitsplatzes» unterbunden werden kann.

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Augenscheinlich nicht stark genug, um das traditionelle Kündigungsrecht der Produzenten gesetzlich aufzuheben, ließ sie ihren Staatssekretär für Arbeit und Löhne die Verfassungsänderung kurzerhand auf dem Verwaltungswege erledigen. Die Produzenten behalten zwar formal weiterhin ihr hergebrachtes Kündigungsrecht, die Betriebe aber dürfen Arbeitsverträge nur noch mit der Genehmigung durch die Ämter für Arbeit abschließen, gleichgültig ob die Betriebe Arbeitskräfte benötigen oder nicht. Mit der datenmäßigen Erfassung des gesamten gesellschaftlichen Arbeitsvermögens, die mit dieser Aktion in aller Stille vollzogen wurde, sind nunmehr alle Voraussetzungen für eine uneingeschränkte Zwangslenkung der Arbeitskräfte gegeben.

Angesichts dieser Entwicklung des sozialistischen Rechts ist es angebracht, ehemals als «vertragliche» Beziehungen begriffene Bindungen der Produzenten an die Betriebe nunmehr als Beziehungen öffentlich-rechtlicher Natur zu verstehen. Was das Recht dazu auch sagen mag, der «Arbeitsvertrag» der Werktätigen in der sozialistischen Produktion beinhaltet nichts anderes als deren Dienstpflicht gegenüber dem Staat (den auf sie entfallenden Anteil an der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, wie ihn die Politbürokratie festlegt). Was «vereinbart» wird, ist sowieso im Normativen vorgegeben. Man kann sagen, je weniger der Individualwille im konkreten Fall beim Abschluß eines Arbeitsvertrages eine Rolle spielt, um so deutlicher wird, daß es sich dabei gar nicht mehr um eine vertragliche Absprache, sondern um den Arbeitsbefehle des sozialistischen Staates handelt. 

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Natürlich leuchtet dieses wahre Wesen ihres «Arbeitsvertrages» den meisten Produzenten erst in dem Moment ein, wenn der mit Macht gesteuerte Prozeß der staatssozialistischen Produktion in diese Phase der «intensiv erweiterten Reproduktion» übergeht und sich damit das Angebot an offenen Stellen drastisch verringert. Augenscheinlich ist der deutsche Staatssozialismus Mitte der achtziger Jahre in diese Phase eingetreten.

Seitdem wird die in «Staat und Revolution» von Lenin entworfene Arbeitsverfassung annähernd buchstabengetreu verwirklicht: «Alle Bürger verwandeln sich... in entlohnte Angestellte des Staates... Alle Bürger werden Angestellte eines das gesamte Volk umfassenden Staats<syndikats>.»44

 

   Treuepflicht oder Freiheit?  

 

Die in letzter Instanz mit strafrechtlichen Mitteln abgesicherte Bindung der Produzenten «an den Boden und die Maschinerie als Zubehör» ist nicht nur Voraussetzung für den Betrieb einer staatssozialistischen Ökonomik. Sie ist gleichermaßen Bestandteil einer Politik, die jede freiheitliche Stellungnahme der Menschen zur bestehenden Herrschaftsform mit Macht unterbinden will. Denn formal setzen Freiheit und Selbstbestimmung im Handeln voraus, daß es dem Mitglied einer Gesellschaft nicht nur erlaubt ist, auf die Imperative der Macht mit einem begründeten Nein zu erwidern, sondern ihm ebenso die Möglichkeit gegeben ist, seiner Gesellschaft aus eigenem Entschluß den Rücken zu kehren.

Ist den Menschen die Möglichkeit der Wahl eines eigenen Lebenswegs außerhalb der staatlich gesetzten Grenzen genommen oder unerträglich erschwert, verliert auch das in der sozialistischen Kooperation der Produzenten enthaltene «Ja zum Bestehenden» an Gewicht, da dieses einzig im gequälten Tonfall eines Gebundenen ausgesprochen werden kann. 

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Insofern wird die faktische Zustimmung der Menschen, die in dieser historischen Form einer Doppelbindung miteinander kooperieren müssen, von vornherein entwertet. Der mit bombastischer Dramaturgie bei jeder Gelegenheit inszenierte «Stolz unserer Werktätigen auf die sozialistischen Errungenschaften», der eben dieses faktische Einverständnis mit der Politik der Staatspartei gefühlsmäßig symbolisieren soll, geht unter dem Eindruck des erzwungenen Konsenses nur noch bei denen unter die Haut, die sich selber mit der Propaganda verwechseln können, die mit ihnen betrieben wird. 

Wer dagegen den bitteren Beigeschmack nicht los wird, den solcherlei Schaustellungen gewöhnlich selbst bei einigermaßen hartgesottenen Gemütern hinterlassen, und wer es nicht fertigbringt, sich selber als Helden einer Arbeit anzusprechen, zu der es ohnehin keine Alternative gibt, der erlebt sich ohnmächtig gegenüber dem Bestehenden. Unter diesen Umständen ist es kein Wunder, wenn sich auf der Grundlage einer Seinsweise im Schatten der Mauer über drei Jahrzehnte hinweg ein schizoides Bewußtsein entwickelt hat, welches in immer verdrehteren Wendungen über den heißen Wunsch hinwegredet, noch in diesem Leben die verhaßte Mauer zu stürmen. Und doch weiß jeder, was er gemeinsam mit allen anderen verschweigt.

Die Staatspartei hat unverständlich lange Zeit gezögert, bis sie auch in der Theorie die zentrale Rechtsfigur über die Lippen gebracht hat, in der die Gebundenheit des kollektivierten Individuums und die Abgeschlossenheit der Gesellschaft ihren idealen Ausdruck findet. Seit kurzer Zeit ist es nun die «Treuepflicht des einzelnen zu seinem sozialistischen Staat», mit der die juristische Dogmatik die synthetisierende Form fassen will, in welcher sich die

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Rechtsposition des Menschen im Sozialismus zusammenschließt, «Die Zugehörigkeit des Bürgers zum Staatsvolk mit der Konsequenz, daß ihm alle staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten gegeben sind, läßt von ihm — unabhängig vom Ort seines Aufenthaltes — eine Haltung erwarten, die nicht nur den einzelnen Bürgerpflichten entspricht, sondern die auch das Bekenntnis zu dieser Staatsordnung mit ihren Grundlagen und Zielen einschließt.»45)  

Eine so verstandene Treuepflicht «ist nicht mit einer lediglich juristisch zu erfassenden Pflicht identisch, obwohl sie natürlich juristische Komponenten einschließt. Vor allem aber ist sie eine politisch-moralische Kategorie, die den gesellschaftlich möglichen und gebotenen Minimalanspruch an jeden Bürger enthält.»46)

Der Bürger soll sich also nicht nur rechtlich «gebunden» fühlen. Gesetzestreues Verhalten allein reicht im Staatssozialismus nicht aus, um den Ansprüchen der Macht zu genügen. Der Bürger soll darüber hinaus eine Art «moralisches Gefühl» für seine «Bindung an das Territorium» entwickeln. Und er soll vor aller Welt ein Bekenntnis zum Sozialismus ablegen. Eine Pflichtenregelung in dieser Form kann natürlich schon aus ganz pragmatischen Gründen niemals zu den von der Macht bezweckten Ergebnissen führen (der aufmerksame Leser wird die darin enthaltene «Sei spontan!»-Paradoxie bemerken); wozu eine solche Pflichtenregelung aber führen kann, ist, daß Lippenbekenntnisse abgegeben werden und diejenigen Menschen Nachteile erleiden, die sich an der allgemeinen Speichelleckerei nicht mehr beteiligen wollen.

An der bürokratischen Rechtskonstruktion einer Treuepflicht fallen sofort zwei Momente auf: Einerseits der Versuch, mit dieser Pflichtregelung die seit Jahrhunderten das moderne Recht kennzeichnende Ablösung von der Ethik rückgängig zu machen; zum anderen der dieser «Kategorie» anhaftende Sinn für das Vor-Vernünftige, Urtümliche, der unbekümmert auf archaische Relikte im Rechtsbewußtsein der Menschen setzt. 

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Mit ihrem gezielten Rückgriff auf die das ganze Mittelalter beherrschende Kategorie der Treue verfolgt die Politbürokratie zweifellos nicht nur propagandistische Zwecke. Mit der Konstruktion einer «Treuepflicht» im Sozialismus richtet sich die Politbürokratie direkt gegen den modernen Freiheitsbegriff. Auf der Grundlage einer Neuordnung des moralischen Pflichtenkatalogs will man Einstellungen erzeugen, welche die Selbstbindung an das Territorium, die Maschinerie und die Grundlagen und Ziele der Staatsordnung als Selbstverständlichkeit empfinden.

Wie die Geschichte zeigt, geht die Überwindung der tributären Produktionsweise in ihren klassischen Zentren nirgendwo mit einer konsequenten Normierung und Gewährleistung subjektiver Rechte einher. In diesem Rechtskreis zielt die Normierung einer Treuepflicht lediglich auf die Erhaltung überkommener Erwartungen ab. Wie liegen die Dinge aber im deutschen Staatssozialismus (dieselbe Frage stellt sich naturgemäß auch für die CSSR, die VR Polen, die UVR und andere Länder diesseits der Grenzscheide)?

Immerhin sieht sich dieser mit einer Rechtskultur im Widerspruch, die es dem einzelnen nach wie vor erlaubt, Freiheit als Recht zu verstehen, ohne dabei zwanghaft an korrespondierende Pflichten denken zu müssen. Das aber hat praktisch-politische Folgen: Beschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung, der Gewissensfreiheit, überhaupt der persönlichen und politischen Rechte können vor diesem Hintergrund nicht mehr überzeugend mit dem Hinweis begründet werden, daß die davon Betroffenen ihnen auferlegte staatsbürgerliche Pflichten nicht erfüllt haben (z.B. nicht arbeiten, Steuern nicht abgeführt haben, ihrer Wahlpflicht nicht nachgekommen sind usw.).

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Grundsätzlich dürfen Freiheitsbeschränkungen aus der Sicht dieser Freiheitsauffassung nur noch um der Freiheit selbst willen erzwungen werden. Und eine Politik, die diesen Grundsatz verletzt, wird als Unterdrückung verstanden.

Wenn der Staatssozialismus heute eine Treuepflicht seiner Bürger zum Staat postuliert, dann geht er zurück zu archaischen, vom europäischen Rechtsdenken längst überwundenen Rechtsvorstellungen. Mit dem bürokratischen Dogma der «Einheit von Rechten und Pflichten» wird der Versuch unternommen, einen Großteil der rechtsgeschichtlichen Entwicklung rückgängig zu machen, die mit den naturrechtlich begründeten Menschenrechtserklärungen ihren Anfang nahm. Indem sie allesamt behaupteten, der Mensch sei von Natur aus frei geboren, formulierten sie das normative Kontra gegen die enge Verflechtung von Rechten und Pflichten, mit deren Hilfe der mittelalterliche Mensch in naturwüchsige Bindungen gezwängt wurde.

Mit der Konzeption unveräußerlicher Menschenrechte, deren Gewährleistung nicht mehr abhängig sein sollte von der Erfüllung korrespondierender Pflichten, wurde der ganzen Menschheit die Möglichkeit eröffnet, Freiheit als Recht zu denken. «Die Gesetze sind...» schrieb der junge Marx unter dem Eindruck dieses Novums, «die positiven, lichten, allgemeinen Normen, in denen die Freiheit ein unpersönliches, theoretisches, von der Willkür des einzelnen unabhängiges Dasein gewonnen hat...»47) Marxens Euphorie wird verständlich, wenn man begreift, welcher geistig-praktische Sprengsatz gezündet wurde, als Menschen erstmalig in der Geschichte dazu übergingen, massenhaft ihre Freiheit als angeborenes Recht zu verstehen und dieselbe in ein System subjektiver Rechte umzuformen. 

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Über die Konstruktion einer Treuepflicht, mit deren Hilfe man den Menschen entgegen dem Recht auf Meinungsfreiheit ein Bekenntnis zum sozialistischen Staat abpressen will, hätte es einem Mann wie Marx glattweg die Sprache verschlagen. Wahrscheinlich hätte Marx eine derartige Zumutung als Versuch aufgefaßt, die im Augsburger Religionsfrieden zwischen den Reichsständen und Ferdinand I. ausgehandelte Formel des «cuius regio, eius religio» in die Moderne hinüberzuretten. Und das ausgerechnet auf einem Staatsgebiet, innerhalb dessen vor 400 Jahren Johann Sigismund als erster deutscher Fürst auf die Konfessionshoheit verzichtet hatte und in dem man Wert darauf legte, Menschen nach ihrer eigenen Facon selig werden zu lassen. (Wer mag heute eigentlich noch daran glauben, unser Land könnte wieder zur Heimstatt politischer Emigranten und religiös Verfolgter werden, was es doch einmal wegen seiner ideologischen Toleranz gegenüber Hugenotten, Salzburger Protestanten, Waldensern, schottischen Presbyterianern und Juden wirklich gewesen ist?)

Natürlich enthält der moderne Freiheitsbegriff — gemessen an mittelalterlichen Gesellschaftsvorstellungen — in gewisser Weise einen Freibrief für individuelle Willkür! Daran besteht gar kein Zweifel. Deshalb hängt jeder modernen Freiheitsauffassung der Geruch von Anarchie und Asozialität an. Und diesen Geruch wittern Staatsideologen prompt, sobald von einer Freiheit die Rede ist, die sich nicht in die Einsicht der bürokratischen Notwendigkeiten bescheiden will. Dabei übersehen alle besoldeten Gesinnungs­schnüffler jedoch tunlichst, daß die moderne Freiheit, welche die Aufklärung von Kant bis Marx meint, immer schon zweistufig konzipiert wurde und sich zu keiner Zeit darin erschöpfen sollte, daß der einzelne Mensch nur nach seinem Gutdünken den Erwartungen der Staatsmacht widerspricht.

Das JA oder NEIN, mit dem der aufgeklärte Mensch auf die Angebote der Macht antwortet, sollte weder auf äußeren Druck noch auf Leidenschaften oder Launen zurückgehen. Wie keine andere Bewegung es jemals getan hat, verweist die Aufklärung den Menschen auf den Gebrauch der eigenen Vernunft. Als «vernünftig» aber sollte menschliches Handeln allein dann gelten, wenn es sich mit guten Gründen an Wahrheit und Gerechtigkeit auszurichten wußte.

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    Warum die Mauer «unmoralisch» ist  

 

Daniel Vernet:
Im Westen, und insbesondere in Frankreich verbindet sich das Bild der DDR zunächst mit der Mauer. Können Sie sich eine Situation in Europa vorstellen, die den Abriß der Mauer gestattet?

Erich Honecker: 
Sie wissen, daß es bis zum 13. August 1961 weder in Berlin noch an der Grenze zur BRD eine Mauer gab. Diese Lage wurde ausgenutzt, um die DDR auszuplündern. Wenn die Ursachen, die zum Bau der Mauer führten, verschwinden, wird auch die Mauer verschwinden. Solange die Ursachen bestehen, bleibt auch die Mauer. 
Die Existenz dieser kontrollierten Grenze führte in Europa eine Situation herbei, die später die Konferenz von Helsinki ermöglichte. Die durch die Existenz der Mauer geschaffene Stabilität führte zur Anerkennung der beiden deutschen Staaten und schließlich zur KSZE... Im übrigen fällt die Art der Kontrolle einer Grenze in die Souveränität eines jeden Staates.

Aus einem Interview, das Daniel Vernet 1985 mit Erich Honecker für die französische Zeitung Le Monde geführt hat.

 

Wer die monströse Beziehungsfalle öffnen will, in die wir seit dem dreizehnten August 1961 geraten sind, der wird nach einem Durchgang der Politischen Ökonomie des Sozialismus enttäuscht feststellen, daß allein in der üblichen Form einer «Kritik der politischen Ökonomie» die Rechtfertigung der «Abgeschlossenheit» des Staatssozialismus kaum zu erschüttern ist. In gewisser Weise wird mit einer Kritik der politischen Ökonomie der Schein der Unvermeidlichkeit des Bestehenden sogar bestätigt. Denn die Menschen billigen oftmals dem, was unvermeidlich zu sein scheint, Legitimität zu. 

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Wer fragt sich denn schon einmal, wem die allseits geforderten Einsichten in die von der Politbürokratie verkündeten Notwendigkeiten dienen? Solange das Gefühl der Unvermeidlichkeit des Bestehenden solche Selbstbefragung lahmt, wird es aber weder moralische Empörung noch praktisches Handeln geben. Bevor dergleichen geschieht, müssen Menschen die Ungerechtigkeiten, die sie erdulden, überhaupt erst einmal als solche ansehen.

 

Diese Einsicht in die Unmoral des Bestehenden kann dann bedeutsam werden, wenn dieselben Menschen sich in ihr Bewußtsein zurückrufen, daß die Welt, in der wir leben, stets eine Welt ist, in der «die Dinge auch anders sein könnten als sie sind». Bewußtsein in dieser Form ist nicht angewiesen auf ein Denken in den moralisch sterilen Kategorien des «wissenschaftlichen Sozialismus». Empören sich mittelalterliche Bauern beispielsweise darüber, daß sie in Schuldknechtschaft leben, und sagen diese Bauern sich, die Freiheit von jeder Schuldknechtschaft sei Gottes Gebot, denn Gott habe den Menschen nicht hörig, sondern frei geschaffen, dann spricht sich in dieser Idee und dem darauf gründenden Bewußtsein von Freiheit ergreifend die moralische Nötigung zum Handeln aus. 

Die Nötigung aber entspringt in letzter Instanz weder der materiellen Not (ein Grund, der in den reichen Industrieländern ohnehin immer seltener wird) noch der Entwicklung des «gesellschaftlichen Denkens»! Insofern ist es gar keine Frage, daß so mancher Bibelspruch (etwa Matth. 5,6) den menschlichen Gerechtigkeitssinn mehr schärft als der ganze «wissenschaftliche Sozialismus» zusammengenommen. Natürlich führt die Schärfung des Gerechtigkeitssinnes für sich genommen keine politischen Veränderungen herbei. Doch ohne die Stärkung der moralischen Urteilskraft der Menschen dürfte eine Veränderung der Verhältnisse zum Besseren nicht möglich sein.

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Das vorausgeschickt soll nunmehr unter dem Blickwinkel einer universalistischen Ethik die spezielle «Rechtfertigung der Bindung des Individuums an den Boden», wie sie das herrschende Bewußtsein prägt, geprüft werden. Wie nachzulesen ist, sind die dazu von der Politbürokratie vorgetragenen Begründungen mit der Zeit immer dürftiger geworden. Vom «antifaschistischen Schutzwall», der die Berliner Mauer doch einst sein sollte, spricht inzwischen niemand mehr. Der sprachliche Wandel verdeutlicht bereits die Untauglichkeit der nach dem dreizehnten August verkündeten amtlichen Rechtfertigung des Mauerbaus. Ehemals wurden aber die entsprechenden «Maßnahmen» tatsächlich damit begründet, «daß eine dem Frieden äußerst gefährliche Situation durch die Maßnahmen der Regierung der DDR auf friedlichem Wege bereinigt worden ist» (Walter Ulbricht). Heute ist dieses Argument verschlissen, da nicht einzusehen ist, daß eine dem Anspruch der Menschen nach Aufenthalts- und Bewegungs­freiheit genügende, staatlicherseits kontrollierte Aus- und Einreise den Frieden gefährden könnte. Eher schon ist das Umgekehrte der Fall.

Ethisch verfänglicher ist hingegen ein anderes zeitgenössisches Argument, das den «größten wirtschaftlichen Aufschwung» zwischen Elbe und Oder mit der Tatsache in Zusammenhang bringen will, daß seit den Grenzmaßnahmen «keine fremden Finger mehr in unsere Tasche greifen können» (Willi Stoph). Unbestreitbar hatte der in den fünfziger Jahren außer Kontrolle geratene grenzüberschreitende Verkehr zu wirtschaftlichen Verlusten geführt. Gleichwohl stand diesbezüglich von vornherein fest, daß die Kontrolle des Devisenumlaufs ebenso wie die Sicherung des staatlichen Außenhandels­monopols nicht auf die im Zusammenhang mit dem Grenzregime verhängten Freiheitsbeschränkungen gegenüber der Bevölkerung angewiesen waren.

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Ungeachtet dessen sollte der mit der Nacht-und-Nebel-Aktion des Mauerbaus gewaltsam erzwungene Verzicht auf verbriefte Grundfreiheiten — das war und ist der einzige rationale Grund aller Rechtfertigungsparolen — durch das Zugeständnis wirtschaftlicher Vorteile gegenüber jedem einzelnen wettgemacht werden. Damit wollte man schrittweise machtpolitisch gesicherteren Verhältnissen den Weg bereiten.

Ethisch konnte diese vulgäre Nutzenrechnung schon deshalb nicht aufgehen, da die ihr zugrundeliegende praktische Vorschrift: «Verzichtet auf die Freiheit, dahin zu gehen, wohin ihr wollt, damit ihr im Wohlstand lebt!» von vornherein ausschließlich an den materiellen Begierden der Menschen anknüpfte. Der Mensch als moralische Person wurde in dieser Argumentation nicht ernst genommen. Im Grunde genommen ist damit gar keine so unpopuläre Anordnung der Werte gesetzt, vorausgesetzt, die Politbürokratie ist ausreichend bei Kasse. Es ist genau die Moral, die der Brechtsche Macheath im zweiten «Dreigroschen»-Finale aller Welt verkündet:

«Wie ihr es immer dreht und wie ihr's immer schiebt, 
Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.» 

Man darf wohl bezweifeln, ob die «Dreigroschen»-Moral dort noch gilt, wo große Teile der Bevölkerung an Fettleibigkeit leiden. Der wirkliche Springpunkt ist das jedoch nicht. Wissen muß man vielmehr, daß mit der Vorrangregel, die Macheath sich zu eigen gemacht hat, jede polizeistaatliche Macht mitsamt den dazugehörigen Freiheitsbeschränkungen gerechtfertigt werden kann. Eine solche Macht ist nach dieser Moral nämlich nicht nur zulässig, sie ist sittlich geradezu geboten, wenn es mit ihrer Hilfe möglich ist, den Gesamtwohlstand in einer Gesellschaft weiter anzuheben.

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Mit ihrer Mauer-Moral trübt die Politbürokratie das öffentliche Bewußtsein. Verworrenheit, innere Bedrängnis und Wahnvorstellungen der Menschen werden verstärkt. Für ihre lebensweltlichen Beziehungen brauchbare Hinweise enthält diese Moral nicht. Vor die konkrete Frage gestellt, wie der einzelne sich dem Ausreisewunsch und damit dem Anspruch seines Mitbürgers auf Freizügigkeit gegenüber verhalten soll, muß jeder selbst mit sich zu Rate gehen. (Man müßte sich die Frage stellen: Wenn sich ein jeder, sobald es seiner Meinung nach dem Sozialismus dienlich ist, für berechtigt hielte, andere daran zu hindern, da hinzugehen, wohin sie wollen, und wir wären an diese Ordnung der allgemeinen Angelegenheiten gebunden, wären wir dann in dieser Ordnung in freier Übereinstimmung mit unserem eigenen Willen?)

Geschieht das ehrlich und offen, so gelangt jeder vernünftige Mensch alsbald zu der Gewißheit, daß eine Institution moralisch schlecht und damit ungerecht ist, die den Menschen dauerhafte Freiheits­beschränkungen auferlegt, gleichgültig ob damit die Machterhaltung der Politbürokratie oder die Anhebung des allgemeinen Wohlstands bezweckt ist. Bemerkt jemand anläßlich einer solchen Selbstbefragung, daß es ihm klammheimlich Freude bereitet, wenn andere, die ihrem Wunsch nach Freizügigkeit Ausdruck verleihen, von der Polizei schikaniert werden, weiß er ebenfalls, daß seine Haltung unmoralisch ist. Denn alle Freude, die aus der Benachteiligung anderer herkommt, ist in sich selbst unrecht.

Mit ihrer schikanösen Praxis spekuliert die Politbürokratie auf die unausge­sprochenen Ressentiments der Zurück­bleibenden. (Wenn ich schon hierbleiben und die verordneten Freiheitsbeschränkungen ertragen muß, dann soll es anderen nicht besser gehn!)

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Deren widernatürliche Duldsamkeit wird moralisch aufgemöbelt mit dem Hinweis auf den Grundsatz, daß derjenige, der die Vorteile des Staatssozialismus in Anspruch nimmt, auch dessen erklärte Nachteile in Kauf nehmen muß. Der richtige Grundsatz, den die Politbürokratie in diesem Zusammenhang verballhornt, ist der, daß man als Nutznießer eines kollektiven Unternehmens, welches ohne freiheits­beschränkende Regeln nicht auskommt, denen die Einhaltung dieser Regeln schuldig ist, aus deren normgerechtem Verhalten man selber Vorteile zieht. Denn andere auszunutzen ist unmoralisch. So zutreffend dieser Grundsatz ist, er gilt natürlich nur unter der Voraussetzung, daß die betreffenden freiheits­beschränkenden Regeln die Vermutung zulassen, sie würden unter Freien und Gleichen aus guten Gründen vereinbart werden.

An den Maximen einer universalistischen Ethik gemessen, ist die «Bindung des Individuums an das Territorium und die Maschinerie als Zubehör» gewiß nicht weniger archaisch als die Schollengebundenheit des Feudalismus. Dingliches Symbol dieser Bindung an das Territorium ist die Mauer. Sie steht im direkten Gegensatz zu dem Sinnbild europäischer Freiheit, das in mancherlei Formen selbst dem Mittelalter gegeben war, der Freizügigkeit. Unvermeidlich erzeugt dieses Symbol Gefühle des Gefangenseins. Für das gegenwärtige Zeitalter ist es aber geradezu charakteristisch, daß sich die räumliche Reichweite menschlichen Handelns in einem zuvor nie gekannten Maße ausgeweitet hat. Es entspricht dem Zeitgeist, wenn der moderne Mensch überall in der Gewißheit lebt, er könne die Welt auch noch in deren ihm unbekannten Räumen erreichen.

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Gemessen an diesem Horizont gegebener Möglichkeiten, unsere Welt in die eigene Reichweite zu bringen, ist jede Fesselung an ein Territorium hinterwäldlerisch. Freilich schließt das nicht aus, daß die durch den Mauerbau erzwungene unnatürliche Gemeinsamkeit, in der wir leben, von manchen als «Geborgenheit» erlebt und genossen wird. Vielleicht ist es ratsam, noch weiter in die Vergangenheit zurückzublicken, um sich der Archaik des Lebens im Sozialismus bewußt zu werden. Wiederholen wir am Ende gar den atavistischen Streit zwischen «Seßhaften» und «Nomaden», den das moderne Recht ein für allemal mit der Anerkennung des Anspruchs auf die freie Wahl des Aufenthalts schlichten wollte? Weniges dürfte wohl die Gewalt des wieder erwachten Wandertriebes so anstacheln wie die Verweigerung der Freizügigkeit.

Nach dieser Andeutung auf das, was sich heute als «Vergangenheit» breitmacht, will ich jetzt noch einmal an die Weisheit des kulturellen Erbes erinnern. Im europäischen Denken findet sich eine Fülle wohldurchdachter Einwendungen gegen jede Form der Bindung des Menschen an ein staatliches Territorium mittels Gewalt. 

Für die Aufklärung ist insoweit das epochale Werk «Dei delitti e delle pene» bedeutsam, das der Humanist Carl Ferdinand Hommel unter dem Titel «Des Herrn Marquis von Beccaria unsterbliches Werk von Verbrechen und Strafen» kommentiert und in Deutschland verbreitet hat.48

In diesem Buch wirft Cesare Beccaria vor mehr als zweihundert Jahren die uns berührende Frage auf, «ob es der Nation schädlich oder nützlich ist, einem jeglichen Mitglied die Freiheit zu gestatten, das Land zu verlassen?». Die wichtigsten Gründe, die der Marquis von Beccaria gegen ein gesetzliches Verbot des Verlassens ins Feld führt, haben nichts von ihrer Gültigkeit verloren.

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Erstens: Damit das Recht als Institution das leisten kann, was vernünftige Menschen von ihm erwarten, müssen wenigstens seine grundlegenden Normen zustimmungsfähig sein. Kein Mensch aber würde sich freiwillig «einmauern» lassen.

Zweitens: Wenn die gesetzlich verordnete «Bindung an das Territorium» nicht vernünftig begründet werden kann, dann muß die daraus resultierende Rechtslage demoralisierend auf die Menschen wirken. Das Volk sieht «die Strafe», wie Marx einmal gesagt hat, «aber es sieht nicht das Verbrechen, und weil es die Strafe sieht, wo kein Verbrechen ist, wird es schon darum kein Verbrechen sehen, wo die Strafe ist»49. — «Aus diesem kann ein weiser Vorsteher der öffentlichen Glückseligkeit einige nützliche Folgen ziehen», sagt Beccaria — nämlich: «Daß man aus einem Staate kein Gefängnis machen müsse... Das Verbot selbst, nicht außer Landes zu gehen, macht die Eingeborenen nur noch lüsterner, ihr Vaterland zu verlassen, und dient Ausländern zur Warnung, sich nicht darinnen niederzulassen. Was soll man von einer Regierung denken, die außer der Furcht und Strafe kein anderes Mittel hat, die Menschen im Schöße ihres Vaterlandes zu erhalten, an welches sie doch bereits ohnehin durch einen selbst eigenen Hang von erster Kindheit an, durch die Natur, gleichsam gefesselt sind?»

Drittens: Das betreffende Verbot muß notgedrungen schon die Absicht des Verlassens bestrafen, denn: «Hat der Entwichene alles mit sich weggenommen, so kann er ja nicht mehr gestraft werden. Man kann ja die Entweichung nicht eher bestrafen als bis sie begangen und er außer unsren Händen ist...» Wie die sozialistische Strafrechtspraxis zeigt, sind die Befürchtungen des Marquis nur allzu begründet. Auf der Grundlage geltenden sozialistischen

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Strafrechts wird beispielsweise derjenige bestraft, der am 1. Januar in der Absicht eine Eisenbahnfahrkarte löst, dieselbe am darauffolgenden 31. Dezember für die Fahrt an den ausgewählten Ort des ungesetzlichen Grenzübertritts zu benutzen. Im Vergleich dazu: Wer sich am selben Tage Einbruchswerkzeug besorgt, der kann erst dann bestraft werden, wenn er mit der Ausführung seines Einbruchs beginnt. Bestraft wird demnach bereits der Gedanke, die Bindung an das Territorium und die Untertanen­schaft aufzukündigen. Gesinnungsgesetze dieser Machart sind, wie Marx einmal gesagt hat, nichts weiter als «positive Sanktionen der Gesetzlosigkeit». Da solche Gesetze immer noch nicht anerkennen wollen, daß wenigstens die Gedanken frei sind, verletzen sie die Gerechtigkeitsgefühle der moralischen Person, ganz zu schweigen von der Gesinnungs­schnüffelei, die mit ihrer Hilfe in Gang gesetzt wird.

Viertens: «Wollte man den Schuldigen nach seiner Rückkunft strafen, so wäre dieses ebensoviel, als geflissentlich die Zurück­kehrung eines verlorenen Bürgers unmöglich machen und die Abwesenden mit Verschließung der Tore zu einem immer­währenden Außenbleiben zu nötigen.» 

 

Die empirische Wirkung der angedrohten und ausgesprochenen Strafen, mit deren Hilfe ein gesellschaftlicher Verkehrs­zusammenhang zwangsweise aufrechterhalten werden soll, erzielt also zuletzt das genaue Gegenteil des angestrebten Zwecks. Die Rückkehr der Rückkehrwilligen wird vereitelt. Nicht Versöhnung ist damit das Ergebnis dieser Rechtsanwendung, sondern der totale Abbruch gewachsener menschlicher Beziehungen.

In diesem Rahmen wird dem, der sich kompromißlos für den Anspruch auf Freizügigkeit einsetzt, immer wieder die besorgte Frage gestellt, ob nicht gerade die sozialistische Gesellschaft auf die Menschen angewiesen ist, die unter ihren Verhältnissen leiden? Unbestritten werden diese Menschen gebraucht. Sind sie es doch, die sich am klarsten dessen bewußt sind, wie unerträglich die Bindung an das Territorium ist. Für sich genommen ist das aber kein Grund, die politbürokratische Schollengebundenheit zu rechtfertigen!

Unter das vor fünf Generationen in deutschen Ländern etablierte Niveau formaler Freiheit können wir nicht einfach zurückfallen. Wer das wirklich will, der muß sich sagen lassen, daß er einen minderen Rechtsstatus für sich reklamiert, als ihn sächsische Hintersassen am Vorabend der bürgerlichen Revolution von 1848 innehatten (Sachsen, Verfassung vom 4. September 1831 Art. 29: "Jedem Untertan steht der Wegzug aus dem Lande ohne Erlegung einer Nachsteuer frei...").

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Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real-existierenden Sozialismus.