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Warum ich dieses Buch geschrieben habe 

 

 

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Ich wünsche mir, daß dieses Buch zu Diskussionen Anlaß gibt: Diskussionen über den Ursprung, das Wesen, die Funktionsweise des bürokratischen Sozialismus, wie wir ihn heute in der DDR und den anderen Staaten des Warschauer Paktes erleben — und über den Weg in eine bessere Zukunft.

Bei einer grundsätzlichen Kritik des Staatssozialismus liegt es in der Natur der Sache, daß sie über weite Strecken theoretisch und abstrakt gefaßt ist. Und doch war die Arbeit an diesem Buch für mich alles andere als ein akademisches Unternehmen: Es ist vor allem auch ein Produkt der Auseinandersetzung mit meinen eigenen politischen Erfahrungen als Bürger der DDR, als langjähriges Mitglied der SED. Ich will deshalb dieses Nachwort nutzen, um meinen persönlichen Werdegang und damit die Entwicklung meines politischen Denkens zu erläutern. Ich hoffe, daß dadurch auch die praktische politische Bedeutung mancher Gedankengänge verständlich wird, die auf den ersten Blick wie reine Theorie erscheinen mögen.

Man hat mich mehrfach gefragt, weshalb ich solchen Wert auf den marxistischen Gedanken der «ökonomischen Gesellschafts­formation» lege. Hätte ich mir nicht zum Vorteil des Lesbarkeit des vorliegenden Textes so manche diesbezügliche Passage ersparen können? 

Ich glaube nicht.

Denn es geht bei den Erörterungen der «ökonomischen Gesellschaftsformation» und des damit in engstem Zusammenhang stehenden Ost-West-Gegensatzes um mehr als nur um irgendeine marxistische Denkfigur. Es geht um die entscheidende Grundfrage, ob in der Geschichte der Menschheit der Staatssozialismus, und zwar so, wie wir ihn kennengelernt haben, tatsächlich weltweit die nächste Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung nach der bürgerlichen Gesellschaft darstellt oder nicht.

Wenn es denn stimmt, daß — wie Kant gesagt hat — «... das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei, und so fernerhin fortgehen werde ...», ist dann der real existierende Sozialismus dieser Fortschritt zum Besseren? Hat er sich in Theorie und Praxis als die Nachfolge­formation gegenüber dem Kapitalismus bewährt?

Viele Menschen können sich wahrscheinlich nur schwer vorstellen, wie sehr ich (und mit mir viele Genossen) vor noch gar nicht allzu langer Zeit die Gegenwart aus der Geschichte heraus begründen und begreifen wollte. Meine Freunde und ich, wir haben zeitweilig geradezu im Bann der Geschichte gelebt. Nicht selten fühlten wir uns in unserem politischen Handeln von «dämonischer Notwendigkeit» getrieben als die «prädestinierten Knechte, womit der höchste Weltwille seine ungeheuren Beschlüsse durchsetzt», um es mit Heinrich Heines Worten zu sagen.

Als prädestinierter Knecht des Weltwillens kann sich natürlich nur der richtig fühlen, der guten Glaubens ist. Und guten Glaubens waren wir, wenigstens zeitweilig. Ich habe wirklich daran geglaubt, daß die Gesellschaftsformation, in der wir leben, der praktische Fortschritt sei gegenüber dem kapitalistischen Westen; selbst wenn die spezifische Form, in der sich der Sozialismus im einzelnen konkret verwirklichte, zuerst durch «Geburtswehen», später hieß es dann «durch Deformationen» unübersehbar verunstaltet war.

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In einer solchen entwicklungslogischen Borniertheit befangen, haben wir nach dem 13. August 1961 unablässig die Formations­geschichte bemüht, um die mit dem Bau der Mauer einhergehende Unterdrückung zu rechtfertigen. Der Bau der Mauer war damals für mich durchaus eine notwendige, wenngleich vorübergehende Maßnahme politischer Machtausübung, Mit ihrer Hilfe wollten wir ja die Voraussetzungen schaffen, damit sich die Gesetzmäßigkeiten des Sozialismus unter den Bedingungen der Ost-West-Konfrontation ungestört entfalten konnten. Der Sozialismus sollte, wie wir unentwegt beteuerten, die Chance erhalten, in einem Industrieland im Herzen Europas seine Überlegenheit zu beweisen.

An die Möglichkeit, daß die Mauer über Jahrzehnte hinweg Bestand haben könnte, daran dachte kaum jemand. Allgemeiner Konsens unter uns war: Die mit der Mauer verbundenen, bedrückenden Beschränkungen unserer Freiheit waren deshalb gerechtfertigt, weil sie im Interesse eines in naher Zukunft zu erzielenden Freiheits- und Demokratiegewinns erfolgten. Anders wären derlei Maßnahmen auch kaum mit dem Gedanken der historischen Formationsabfolge Kapitalismus-Sozialismus vereinbar gewesen; denn diese Abfolge wurde stets als stufenweises Voranschreiten des Menschengeschlechts auf dem Wege zur Freiheit begriffen. 

(Mit welcher Überzeugung wir damals am Ende der Parteiversammlungen «Brüder zur Sonne, zur Freiheit» gesungen haben, kann sich heute wahr­scheinlich niemand mehr vorstellen.)

Es mag einer heute nur schwer verständlichen politischen Naivität geschuldet gewesen sein: Doch in der Mitte der sechziger Jahre gewann ich tatsächlich den Eindruck, die politökonomischen Verhältnisse in der DDR würden sich auf der ganzen Linie zum Besseren wenden, den Betrieben und Kombinaten wurden damals ansatzweise Formen der Arbeiter­selbstverwaltung ausprobiert (Produktionskomitees, gesellschaftliche Räte). Und unser Rechtswesen wurde gründlich reformiert.

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Erst mit dem Einmarsch deutscher Truppen in die CSSR wurde mein Glaube an die historische Überlegenheit des Sozialismus in seinen Grundfesten erschüttert. Gewiß waren Ethik und Politik seinerzeit durchaus nicht dasselbe für mich, aber wo sie derart zugespitzt in Gegensatz zueinander geraten konnten wie in Prag 1968, da konnte es, dachte ich mir, nicht allzuweit her sein mit dem Fortschritt zum Besseren. Schlagende Argumente konnte ich damals dem Gerede von der Konterrevolution, welches sich wiederum auf die marxistische Formationslehre stützte, noch nicht entgegensetzen. Dennoch: 1968 ist mir klargeworden, daß die marxistische Geschichtsauffassung in dieser konkreten Situation nurmehr beschworen wurde, um das imperialistische Macht­gebaren der Politbürokratie zu legitimieren.

Noch fehlte es uns allerdings an einer wirklichen gedanklichen Durchdringung des historischen Geschehens. Die brachte erst Jahre später Rudolf Bahros Buch «Die Alternative». Dieses Buch begeisterte mich, mit ihm war der ideologische Bann endgültig gebrochen: Bahro beschrieb den Weg der meisten sozialistischen Länder als einen Entwicklungspfad, der seinen Ursprung in der Hinterlassenschaft der «asiatischen Produktionsweise» hatte. Eine Epoche des Kapitalismus hatten diese Länder nie durch­schritten.

Bald jedoch wurde mir klar, wie inkonsequent und dem alten Schematismus verhaftet Bahro mit seinem Ansatz blieb, wenn er unsere Verhältnisse charakterisierte «als protosozialistisch, d.h., wir haben Sozialismus im Larvenstadium».

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Für mich stand nach dem Lesen der «Alternative» fest: Wir haben keinen Sozialismus im Larvenstadium, sondern wir leben in der Gesellschaftsform, die weltweit gesehen das Erbe der «asiatischen Produktionsweise» angetreten hat. Nach dieser Vorstellung ist der Sozialismus nicht mehr die Nachfolgeformation des Kapitalismus; er ist, jedenfalls in der Form, in der er in der Wirklichkeit existiert, allgemeiner Ausdruck eines selbständigen (industriellen) Entwicklungspfades der «östlichen Welt».

Rein äußerlich betrachtet zeigte sich mir in dieser Sichtweise der Hauptwiderspruch unserer Epoche, der Gegensatz zwischen Sozialismus und Kapitalismus, als die aktuelle Form des seit der Antike bestehenden Ost-West-Gegensatzes. Vorbedingung für den in der Gegenwart lebensnotwendig gewordenen Ausgleich dieses Gegensatzes ist es — und vielleicht kann uns hier eine Diskussion der Formationslehre weiterhelfen —, daß die Menschen in Ost und West eine möglichst genaue Vorstellung davon entwickeln, wodurch dieser Gegensatz bestimmt ist. Grundsätzlich gesehen ist ja der Widerspruch zwischen «Östlichem» und «Westlichem» nicht nur äußerlicher Natur. Nach Hegel hat jeder Mensch und jedes Ding seinen Osten und Westen «in sich». Die Aufhebung dieses Widerspruchs «in sich» ist in der Gegenwart dem Menschen aufgegeben.

Ich hoffe, vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung verständlich, die ich in meinem Buch einer Analyse der formativen Struktur des Ost-West-Gegensatzes zumesse.

Eine andere Frage, die mir gestellt wurde, betrifft meine Mitgliedschaft in der SED. Mit der Staatspartei gehe ich ja ziemlich schonungslos ins Gericht, habe aber selber noch immer das Parteibuch in der Tasche.

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Wenn dieses Buch erscheint, werde ich ein Vierteljahrhundert Parteimitgliedschaft hinter mir haben. Fallen da nicht Wort und Tat bei mir auseinander? Ich selber habe mich immer wieder gefragt, ob ich meine Mitgliedschaft in der Staatspartei vor mir selber weiter rechtfertigen kann. Um verständlich zu machen, warum ich letzten Endes meine Mitgliedschaft bisher nicht aufgekündigt habe, will ich kurz erläutern, wie meine Entwicklung in der Partei verlaufen ist.

Ich sagte bereits, daß mir im Zusammenhang mit den Prager Ereignissen 1968 klar wurde, wie borniert mein Weltbild damals war. Damals bereitete ich mich an der Berliner Universität auf mein Examen vor. Die wirtschaftlichen Reformvorhaben, die in der CSSR unter der Federführung Ota Siks versucht wurden, überzeugten mich nicht gerade, doch die dort geübte Form des politischen Diskurses begeisterte mich. Obwohl ich also nicht unbedingt zu den Anhängern der Prager Bewegung rechnete, bekam ich doch nach dem Einmarsch der Warschauer Paktstaaten in Prag im Zuge der innerparteilichen Auseinandersetzungen in der DDR hautnah zu spüren, wie unerwünscht jede eigene Meinungsäußerung war. Abgerechnet wurde nämlich damals, jedenfalls war es an der hauptstädtischen Alma mater so der Fall, nicht nur mit den Anhängern des Prager Reformkurses, sondern mit all denen, die sich überhaupt den Luxus selbständigen Denkens und Redens geleistet hatten. Wer niemals miterlebt hat, wie gestandene Hochschullehrer befohlene Selbstkritik übten, der kann sich schwerlich in die konkreten Zeitverhältnisse hinein­versetzen.

Am Ende kam ich persönlich ziemlich glimpflich davon. Ich mußte ein für mich vorgesehenes Forschungs­studium abbrechen. Und man auferlegte mir gewissermaßen «zur Bewährung» die Bearbeitung eines neuen Themas für meine Diplomarbeit, da ich mit dem alten Thema — ich hatte bereits über die «Verinnerlichung von Normen» geschrieben — angeblich den «Klassencharakter des Rechts» als Instrument politischer Machtausübung mißachtet hatte.

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Parteizensoren wollten entdeckt haben, daß ich bereits in einer Arbeit, die man mit dem Fichtepreis der Humboldt-Universität ausgezeichnet hatte, zu einer «Psychologisierung des Rechts» angestiftet hätte. Mit anderen Worten, mir wurde «revisionistisches Verhalten» in der Wissenschaftsarbeit vorgeworfen.

Nach dem Studium habe ich meinen Wehrdienst geleistet und bin kurze Zeit an der Akademie für Staats- und Rechts­wissen­schaften tätig gewesen, bevor ich 1973 meine Zulassung als Rechtsanwalt erhielt. Noch im selben Jahr wurde ich dann Parteisekretär eines Bezirkskollegiums der Rechtsanwälte. In dieser Funktion besuchte ich eine höhere Parteischule, ich wurde das, was man im Parteijargon einen «Nomenklaturkader» nennt.

Obwohl ich für mich in Anspruch nehme, in meiner zehnjährigen Tätigkeit als Parteisekretär die gegebenen Freiräume genutzt zu haben, war ich dennoch wegen der vielen kleinen «faulen Kompromisse» unzufrieden. Als Reaktion auf meine persönlichen und beruflichen Erlebnisse mit dem Staatssozialismus brachte ich schließlich zu Papier, was ich wirklich dachte.

Meiner Ansicht nach ist dieses Buch, wie es nunmehr vorliegt, von größter Bedeutung für alle an einer Verbesserung des deutschen Staatssozialismus interessierten Kräfte. Das gilt natürlich zuerst für die Mitglieder meiner Partei selbst. Denn die Partei als eine große Gruppe von Menschen, aus der die Leiter in der sozialistischen Gesellschaft hervorgegangen sind und weiterhin rekrutiert werden, lebt in großen Teilen fort in jenen Anschauungen, die heute in fast allen Ländern des Sozialismus berechtigt in Zweifel gezogen werden; und sie will bis heute den Zusammenhang zwischen ihrer dogmatischen Weltanschauung und dem kulturellen Niedergang der sozialistischen Gesellschaft nicht sehen.

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Genau diesen Zusammenhang, der sich seinem Wesen nach im Staatssozialismus überall gleicht, will ich meinen Lesern exemplarisch vor Augen führen.

Mir ist selbstverständlich bewußt: Mit der Veröffentlichung meines Buches «Der vormundschaftliche Staat» begehe ich in den Augen meiner Parteioberen «Verrat am Sozialismus»! Lange Zeit, ich denke zu lange, hat mich die Aussicht auf diese Bewertung meines Tuns abgeschreckt. Und zwar nicht etwa, weil mir noch etwas am bürokratischen Sozialismus gelegen wäre — der ist sowieso heutzutage reformbedürftiger als je zuvor. Nein, mich hat die Verratsvorstellung an sich geschreckt, denn unbewußt wollte ich lieber mit der Macht und der Mehrheit sein.

Inzwischen bin ich mir jedoch sicher: Die Vormundschaft der Politbürokratie kann ohne Handlungen, welche den Machthabern als Verrat erscheinen müssen, gar nicht gebrochen werden. Anders gesagt: Wir müssen endlich das Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung mit Leben erfüllen.

Dieses Recht umfaßt aber das Recht (lt. Art.19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte), Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.

Vielen Menschen bei uns wird solche Einsicht ebenso schwerfallen wie mir, denn Infomationen und Ideen ohne Rücksicht auf Grenzen zu verbreiten, das bedeutet aus der Sicht unserer Strafrechtspraxis nicht mehr und nicht weniger als das, was das Strafgesetzbuch als «nachrichtendienstliche Tätigkeit» umschreibt!

Wenn die Wahrnehmung des Rechts auf freie Meinungsäußerung besonders Parteimitgliedern häufig Schwierigkeiten bereitet, dann nicht nur deshalb, weil die Partei in großen Teilen eingeschüchtert ist. Das ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte der Wahrheit ist, daß bis heute viele Mitglieder der Partei meinen, mit dem Eintritt in die Reihen der Partei sei für sie die «Zeit des Sich-Entscheidens» endgültig vorbei. Fortan brauche man nur noch die einzelnen politischen Manöver der Partei mitzumachen. Nach dieser Geisteshaltung trägt «die Partei» die Last der Verantwortung! Eine so verstandene Parteidisziplin gehört überall zu den Grundfesten der vormundschaftlichen Gesellschaft.

Ich kann Menschen, die so denken, nicht verurteilen, weil ich inzwischen weiß, wie gerne wir Verantwortung auf andere übertragen. Ich behaupte aber, daß der einzelne, der moralisch leben will, seine gesamte politische Tätigkeit letztendlich nur von jenem Grunde seines Daseins her bestimmen kann, wo er der Wegweisung des «innerlichen Menschen» gewahr wird, wo die Stimme des Gewissens lauter klingt als der Ruf der Partei.

Zwischen der Parteilinie und dem Gewissen des einzelnen Mitglieds kann es immer wieder zu Divergenzen kommen. Das wird zuweilen dazu führen, daß Menschen ihre Mitgliedschaft beenden. Man kann aber auch den Kampf für die Wahrheit und die Gerechtigkeit, die man meint, innerhalb der Partei aufnehmen und auf diese Weise diejenige allgemeinmenschliche Front in der Partei stärken, die Martin Buber gewollt hat: Diese innere Front kann....

«... da sie, wenn überall aufrecht und stark, als eine heimliche Einheit quer durch alle Gruppen liefe — für die Zukunft unserer Welt wichtiger werden als alle Fronten, die heute zwischen Gruppe und Gruppe, Gruppenverband und Gruppenverband sich ziehen».

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Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real-existierenden Sozialismus. Rolf Henrich. 1989.