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"Ich vertraue dem Volk" Der
ehemalige Bürgerrechtler Rolf Henrich |
2000 Berliner Zeitung 2.10.2000 Von Jutta Kramm |
1) Herr Henrich, warum haben Sie sich 1990 zurückgezogen? Sie galten als einer der fähigsten Köpfe der Bürgerbewegung und hätten ein Leben in der Politik führen können.
Das hat man immer behauptet; merkwürdigerweise, kann ich da nur sagen. Ich habe entsprechende Angebote bekommen. Aber ich hätte mich für eine solche Funktion niemals geeignet. Ich bin viel zu temperamentvoll und viel zu wenig angepasst. Als professioneller Politiker können Sie doch nicht mehr mit Ihrer Meinung rausplautzen, da haben Sie gefälligst die Parteipolitik zu vertreten. Und das hatte ich lange genug über mich ergehen lassen. Ich bin eher geeignet, in Verhältnissen wie während der Wendezeit zum Zuge zu kommen.
2) Und was haben Sie in den vergangenen zehn Jahren gemacht?
Meinen Beruf. Ich hatte dieselben Mandanten wie vor der Wende. Hinzu kamen die Aufgaben, die die Vereinigung mit sich gebracht hat: Rückübertragungen, Staatskriminalität, Generäle, Staatsanwälte, Richter.
3) ... und Sie arbeiten an einem Roman.
Der Protagonist ist ein Anwalt, der nach der Wendezeit auf Grund von Freundschaften leichtfertig das Mandat annimmt, einen General zu verteidigen. Dieser General wird angeklagt wegen der Ereignisse an der Grenze. Als Antagonisten habe ich also einen Menschen gewählt, der für die Verhältnisse der DDR gar nicht untypisch war. Der General ist alter Spanien-Kämpfer, und wird in der ersten Hälfte des Jahrhunderts sehr positiv gesehen als Antifaschist. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ist er nun ein Verbrecher und wird angeklagt. An der Figur interessiert mich die Zerrissenheit.
4) Haben Ihnen frühere politische Freunde übel genommen, dass Sie einen der Verantwortlichen des DDR-Systems verteidigen?
Es ist mir von vielen vorgeworfen worden, aber ich selbst hatte noch nie Schwierigkeiten, jemanden zu verteidigen. Da wird ganz offensichtlich etwas missverstanden. Man meint, man ist Bürgerrechtler und kapiert nicht einmal, dass das Recht auf einen fairen Prozess und eine engagierte Verteidigung ein Essential des Rechtsstaates ist. Oder sie wollen es nur für bestimmte Zwecke gesichert wissen, nämlich wenn sie selbst betroffen sind.
5) Wenn Sie heute zurückblicken auf die Wendezeit und das, was Sie erreichen wollten, was haben Sie durchsetzen können?
Politisch war zunächst einmal klar, dass die Partei, die SED, abgeräumt werden sollte. Das ist ja wohl gelungen. Mehr hatte das Neue Forum nicht vor. Der einzige Konsens, der unter uns bestand, war der: Es muss anders werden. Und wir wollten Rechtsstaatlichkeit und Bürgerbeteiligung. Das waren sicher ernst gemeinte Ziele. Aber man darf nicht vergessen: Jeder Umbruch geht mit Illusionen los - das ist die Initialzündung. So war das auch bei uns. Trotzdem - was daraus geworden ist, ist positiv. Der flächendeckende Verfall der Städte ist umgekehrt worden in einen Aufbau. Schauen Sie sich Halle vor der Wende an, und schauen Sie sich die Stadt heute an. Oder nehmen Sie die Frage der Umwelt. Im Dreieck Leuna, Merseburg, Bitterfeld war kein Leben mehr. Und die Freiheit des Einzelnen ist natürlich heute eine andere. Ich persönlich fühle mich seit der Wende bedeutend wohler. Für mich war das größte Übel der vormundschaftliche Staat. Nun ja, in der DDR mag die Staatsquote 90 Prozent gewesen sein, jetzt haben wir eine von 50 Prozent. Dieses Übel ist heute auch klar zu ersehen.
6) Das klingt nach Enttäuschung.
Es hat eine kurze Phase gegeben, in der die Leute bereit waren, sich persönlich zu ändern und aus ihrer Mündelrolle herauszutreten. Das ist dann leider abgebrochen.
7) Wie erklären Sie sich das?
Nun, es wurde sehr schnell klar, dass mit Jammern die Sache auch weitergeht, und zwar gar nicht so schlecht. Das beginnt mit dem Schreien nach einem ABM-Sozialismus, und das endet bei Holzmann: Der Konzern wird gerettet, der Kanzler hebt die Hand. Tatsache aber ist, dass ein Haufen kleinerer Betriebe dadurch zu Bruch geht. Sie kriegen hier in der Gegend keinen, der ihnen auch nur mal den Rasen mäht. Die Leuten schieben den Rasenmäher eben nur im Rahmen von ABM für die Gemeinde.
8) Also stimmt das Bild vom "Jammer-Ossi", immer noch?
Ob das im Westen so viel anders ist, das wage ich sehr zu bezweifeln. Das Jammern zeichnet die Deutschen aus, es wird über alles gejammert. Der Grundoptimismus fehlt. Aber wo könnte die Hoffnung herkommen, dass die Vormundschaft ein Stück weiter abgebaut wird? Es hängt mit Eigeninitiative im produktiven Bereich zusammen. Nehmen Sie zum Beispiel die Gründerinitiativen im Internet-Bereich - das bedeutet: weg von der Vormundschaft. Und das ist für mich ein Stück Hoffnung.
9) Worin sehen Sie die Ursachen für Rechtsextremismus?
Bis zur Wende gab es beispielsweise hier in der näheren Umgebung viele Mosambikaner, die in der Forstwirtschaft gearbeitet haben. Aber es gab keinen Fall von Übergriffen gegen Schwarze. War das nur die Angst vor der Repression? Heute wird als Erklärung angeboten, es habe in der DDR keine Streitkultur gegeben. Das ist absolut nicht überzeugend. Ich muss keine Streitkultur entwickeln, um zu wissen, dass ich einem anderen nicht den Schädel einschlagen darf. Mit der Wende aber war plötzlich angesagt: Disziplin zählt gar nichts. Das bedeutet auch, dass bestimmte gesellschaftliche Standards untergepflügt wurden.
10) Verstehe ich Sie richtig, dass Sie meinen, da war zunächst, in der DDR, eine Gesellschaft, die auf Vormundschaft aufgebaut war, die aber auch verbindliche Regeln hatte. Und dann kam plötzlich ein System, in dem absolutes Laisser-faire gilt?
Nun, zumindest gab es früher eine bestimmte Etikette, die eingehalten wurde. An den Schulen zum Beispiel war es zu Beginn der 90er-Jahre so: Das erste Mal, als ich an einer Elternversammlung teilgenommen habe, beklagte sich die Lehrerin, dass die Schüler ihren Müll einfach überall hinwerfen. Da verlangte ich, dass meinem Sohn gewaltig in den Hintern getreten wird, wenn er sich so benimmt.
11) ... die Lehrer sind die gleichen geblieben.
Das stimmt. Es ist das einzige geschlossene Milieu, das übernommen wurde. Dieses Milieu versuchte sich umzuorientieren und anzupassen, aber auf eine Weise, dass das Positive, was es zuvor tatsächlich gegeben hatte, links liegen blieb. Es stimmte nichts mehr in dem Gefüge. Die Werteorientierung brach radikal weg. Was haben wir denn für Werte in dieser Gesellschaft? Ich kann keine erkennen. Das Geld ist der Wert.
12) In einer Umfrage zum Thema Einheit sagen 70 Prozent der Westdeutschen, sie seien "zufrieden mit der Demokratie", aber nur 46 Prozent der Ostdeutschen sehen das so. Wie ist das zu erklären?
Da sind die Ostdeutschen eben klüger. Denn von echter Demokratie im Sinne einer Entscheidung der Bürger in wichtigen Fragen kann doch nicht gesprochen werden. Was ich am meisten bedauere ist, dass wir es nach der Wende nicht geschafft haben, das Element einer Volksabstimmung zu verankern. Es ist doch ein klarer Mangel an Demokratie, dass in entscheidenden Fragen - wie der des Kriegseintritts im Kosovo, der Einführung des Euro oder der EU-Erweiterung - die Bevölkerung nicht gefragt wird.
Ich glaube auch, dass wir das damals hätten durchsetzen können. Denn es gab auch im Westen das starke Bedürfnis nach direkter Demokratie. Ich weiß wohl, dass es gegen eine Volksabstimmung viele Argumente gibt. Immer wieder kommt dann der Hinweis auf die Einführung der Todesstrafe. Aber ich halte die Leute nicht für so dumm. Ich vertraue dem Volk.
13) Fühlen Sie sich durch die gewählten Abgeordneten nicht vertreten?
Also, ich wüsste wirklich nicht, wer das sein sollte. Da fällt mir niemand ein.
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