13. Chemiepolitische Herausforderungen
Henseling-1992
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Auch wenn es in den vorangegangenen Kapiteln bereits mehrfach angesprochen wurde, muß hier noch einmal kurz die Bilanz des Zustandes der stofflichen Basis irdischen Lebens gezogen werden:
Die Luft ist nach wie vor so sehr mit Schadstoffen belastet, daß das Waldsterben unvermindert fortschreitet, Bauwerke einschließlich unwiederbringlicher Kulturdenkmäler verrotten und das Klimasystem der Erde dramatischen Veränderungen unterworfen ist.
In die Gewässer gelangen immer noch so viele Schadstoffe, daß sich die ökologische Situation in den Meeren bis hin zum Zusammenbruch von Ökosystemen verschlechtert hat.
Die Qualität des Grundwassers und damit auch des Trinkwassers ist durch Überdüngung, Pestizide, industrielle Schadstoffe und Altlasten bedroht.
Die Qualität der Böden wird durch zunehmende Schadstoffkonzentrationen, Versiegelung, Desertifikation und Erosion nachhaltig beeinträchtigt.
Wichtige Ressourcen wie Erdöl, Erdgas, metallische Rohstoffe oder der genetische Reichtum aussterbender Tier- und Pflanzenarten werden erschöpft und damit der Nutzung durch kommende Generationen entzogen.
Die Abfallhalden der Industriegesellschaften wachsen zu unlösbaren Problembergen heran.
In der antiken Naturphilosophie, deren Bestreben auf die Erkenntnis des Wesentlichen gerichtet war, wurde die materielle Welt in vier Elemente aufgeteilt: Feuer, Wasser, Erde und Luft. Die moderne Chemie hat in ihrer atomistischen Denkweise die materielle Welt in mehr als hundert Elemente aufgeteilt. Der Blick auf das Wesentliche ist ihr dabei weitgehend verlorengegangen. Die Elemente der Antike sind bis auf das Feuer, dem wir heute den Begriff Energie zuordnen können, mit den Umweltmedien Luft, Wasser und Boden identisch, die durch die gedanken- und gewissenlose Übernutzung der modernen Elemente und ihrer Verbindungen geschädigt werden.
Der Rückblick auf die Antike ist an dieser Stelle auch aus einem zweiten Grund angebracht. Aus dieser Zeit stammen Zeugnisse materieller Kultur von unschätzbarem Wert. Diese Schätze — Tempelreste, Pyramiden, Statuen, Fresken, Mosaike und vieles mehr — haben die Jahrtausende bis in das Industriezeitalter überdauert. Bereits im vorigen Jahrhundert stellten Wissenschaftler betroffen fest, daß diese Kulturschätze der aggressiven Luft industrieller Zentren nur wenige Jahrzehnte standhalten. Heute sind diese Kulturgüter auch an ihren Originalstandorten akut vom Zerfall bedroht. Die Akropolis zerbröselt unter dem Einfluß der Abgase Athens, und auch die Pyramiden Ägyptens halten den Einflüssen der modernen Zivilisation kaum noch stand.
Was aber bringt die moderne Zivilisation an eigenen dauerhaften Kulturgütern zustande? Die Antwort ist deprimierend: Die modernen Stahlbetonpaläste halten den aggressiven Luftschadstoffen oft noch weniger stand als die früheren Bauwerke, und den materiellen Gegenständen der Alltagskultur vom Auto bis zur Wohnungseinrichtung ist schon herstellungsbedingt ein frühes Ende auf dem Schrottplatz oder dem Müllhaufen bestimmt. Sollte es in tausend Jahren noch menschliche Kulturen geben, so werden ihre Archäologen von unserer Kultur im wesentlichen nur noch eines finden: gigantische Abfallmengen.
Obwohl die katastrophalen Auswirkungen der ungezügelten industriellen Ausplünderung der Natur bereits im vorigen Jahrhundert zumindest absehbar waren und zwei Weltkriege auch in der Umwelt bleibende Spuren hinterlassen haben, eskalierten die industriebedingten Umweltzerstörungen erst in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer globalen Bedrohung der Lebensgrundlagen.
Die stoffwirtschaftliche Nachkriegsstruktur
Nach dem Krieg befand sich die Wirtschaft in den am Krieg beteiligten Ländern hinsichtlich des Bedarfs und der Verfügbarkeit von Werkstoffen in einem extremen Ungleichgewicht. Einerseits bestand ein gewaltiger Nachholbedarf an Gütern des täglichen Lebens. Dieser Bedarf konnte in vielen Fällen auf herkömmliche Weise nicht befriedigt werden, weil die traditionellen Werkstoffe nicht in erforderlicher Menge zu beschaffen waren. Woher hätten beispielsweise die Schuh- oder Textilproduzenten plötzlich so viel Leder oder Naturfasern beschaffen sollen, um den jahrelang aufgestauten Bedarf an Schuhen oder Kleidungsstücken kurzfristig decken zu können?
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Andererseits standen insbesondere in Deutschland große rüstungsbedingte Kapazitäten für «Ersatzstoffe» wie PVC oder Zellwolle zur Verfügung oder konnten schnell wieder aufgebaut werden. Die stoffwirtschaftlichen Strukturen, die sich mit der Kriegswirtschaft herausgebildet oder verstärkt hatten, ermöglichten die massenhafte Produktion von Kunststoffen oder Kunstfasern. Für die chemische Industrie ergab sich hieraus eine günstige Ausgangsposition zur weiteren «Chemisierung» der gesamten Wirtschaft. In der Bundesrepublik bestanden damit für den wirtschaftlichen Neubeginn der Nachfolgegesellschaften des I.G.-Farben-Konzerns gute Voraussetzungen.
In der DDR war die «Chemisierung der Volkswirtschaft» ein zentrales Element der Wirtschaftsplanung, das unter der Losung «Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit» stand. Als besonderer Vorzug der chemischen Produktion wurde auf der Chemiekonferenz des ZK der SED und der Staatlichen Plankommission 1958 hervorgehoben:
«Bei chemischen Produktionsprozessen ist der spezifische Anteil lebendiger Arbeit relativ gering. Die chemischen Produktionsprozesse gestatten in den meisten Fällen durch ihren kontinuierlichen Ablauf eine umfassende Mechanisierung und Automatisierung, die zur weiteren Verringerung des Aufwandes an lebendiger Arbeit führen.» 2)
Ähnlich wie auf westlicher Seite wurde die Steigerung der Arbeitsproduktivität als entscheidendes Rationalisierungskriterium betrachtet. Dem rationellen Umgang mit Energie und Rohstoffen wurde demgegenüber weit weniger Aufmerksamkeit gewidmet.
Der mit der «Chemisierung» einhergehende Wandel der stofflichen Basis des Wirtschaftens fand ohne eine politische Auseinandersetzung über die möglichen Folgen in einer historischen Phase statt, in der der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und die Vorsorge für künftige Generationen im öffentlichen Bewußtsein keine Rolle spielten. Die fehlende Sensibilität gegenüber der sich verschärfenden Umweltzerstörung, die unter anderem mit den massenpsychologischen Folgen der Schrecken des Krieges zu erklären ist, und der kalte Krieg trugen dazu bei, daß sich in den westlichen Industrienationen eine Wirtschaftspolitik durchsetzte, in der qualitative Gesichtspunkte bezüglich dessen, was produziert wird, keine Rolle spielen. Erfolgskriterium wurde das Wirtschaftswachstum, gemessen als prozentuale Zunahme des Bruttosozialproduktes.
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Dieser alles beherrschende Wertmaßstab der Wirtschaftspolitik macht keinen Unterschied zwischen Wirtschaftsleistungen, die zur Befriedigung wichtiger menschlicher Bedürfnisse dienen, und solchen, die im Extremfall sowohl grob unsinnig als auch stark umweltbelastend sind. Die Ausblendung aller qualitativen Aspekte aus der Wirtschaftspolitik ist eine der bedeutsamsten Wurzeln der Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte. In der DDR und den übrigen RGW-Ländern orientierte sich die Wirtschaftspolitik weitgehend an der Technologieentwicklung und dem Konsummodell des Westens.
Das Konsumverhalten der Wirtschaftswundergesellschaft entstand aus der Mangelsituation der Nachkriegszeit. Der große Nachholbedarf bei der Versorgung mit Konsumgütern und die Gewöhnung an dürftige Ersatzangebote bereiteten den Weg in die Wegwerfgesellschaft. Sichtbarster — und riechbarer — Ausdruck dieser Entwicklung war die Plastikkultur der fünfziger Jahre. Eine ganze Epoche war geruchlich durch die Weichmacherdüfte geprägt, die einer Vielzahl von bunten Plastikprodukten, vom PVC-Fußbodenbelag über die (PVC-)«Wachstuch-Decke» bis zu den Plastikmöbeln oder Duschvorhängen entströmten. Mit der Gewöhnung an neue Materialien gewöhnten sich die Konsumenten auch an die geringere Lebensdauer der Produkte, die durch einen entsprechenden Wechsel der Moden psychologisch geschickt kaschiert wurde.
Ein weiteres wesentliches Merkmal des angestrebten «American way of life» der westdeutschen Wirtschaftswundergesellschaft war das private Auto. Für den Aufbau der Autoindustrie und den Straßenbau bot wiederum die rüstungsbedingte Produktionsstruktur nach Kriegsende günstige Voraussetzungen. Da ein großer Teil der materiellen Anstrengungen der Rüstungswirtschaft auf die Schaffung und den Erhalt der Mobilität der Truppen zu Land, in der Luft und zur See ausgerichtet war, standen in Bereichen wie Fahrzeug- und Motorenbau, Kraftstoff- und Schmiermittelerzeugung oder Reifenherstellung große Erfahrungen und Kapazitäten zur Verfügung.
Ein typisches Produkt der Rüstungskonversion der Nachkriegszeit war der Messerschmidt-Kabinenroller, ein auf der Basis der Pilotenkanzeln von Kampfflugzeugen entwickeltes Fahrzeug. Die deutsche chemische Industrie profitierte von der «Automobilisierung» gleich doppelt. Einerseits war der rüstungsbedingte Teil ihrer Produktionskapazitäten ohnehin stark auf die Bedürfnisse des Kraftverkehrs zugeschnitten. Andererseits erleichterte der Aufbau großer Raffineriekapazitäten für die Kraftstofferzeugung die Umstellung von der Kohle als Rohstoffbasis für organische Produkte auf petrochemische Grundstoffe, die in der westdeutschen chemischen Industrie in den fünfziger Jahren stattfand.
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Die Expansion der chemischen Industrie nach dem Zweiten Weltkrieg ist auch das Ergebnis einer Wirtschaftspolitik, die eine ihrer Hauptaufgaben in der Bereitstellung von billiger Energie und der Sicherung billiger Rohstoffbezüge sah, ohne auf die gesellschaftlichen Folgekosten steigenden Energie- und Rohstoffverbrauchs zu achten. Die chemische Industrie wurde vor allem durch Bereitstellung billiger Elektroenergie und die Abschaffung der Mineralölsteuer für chemisch weiterverarbeitetes Erdöl gefördert. Diese Steuerbefreiung, die von der chemischen Industrie in Verhandlungen mit dem Bundesfinanzministerium durchgesetzt werden konnte, wurde am 1. Februar 1953 wirksam.
Wegen ihres Interesses an billiger Elektroenergie, die vor allem für die Expansion der Chlorchemie wichtig war, engagierte sich die chemische Industrie frühzeitig im Kernenergiebereich. Vor allem die Hoechst AG beteiligte sich aktiv am Ausbau der Kernenergie. Sie gehörte zu den Gründern der Physikalischen Studiengesellschaft mbH, die als Vorbereitungsorganisation der deutschen Atomindustrie anzusehen ist. Hoechst gründete außerdem zusammen mit der Degussa, Siemens, dem Bund und dem Land Baden-Württemberg 1956 die Kernreaktor Bau- und Betriebs GmbH. Die Hoechster Vorstandsmitglieder Winnacker und Menne spielten in der Deutschen Atomkommission und beim Aufbau des Deutschen Atomforums eine entscheidende Rolle.
Auch der 1956 zum Minister für Atomfragen ernannte Siegfried Balke stammte aus dem Hoechst-Management. Heute ist die Hoechst AG der einzige Chemiekonzern, der über Tochterfirmen wie Uhde, Sigri oder Messer-Griesheim mit der Atomindustrie verknüpft ist.3) Durch die Befreiung von der Mineralölsteuer und günstige Stromtarife wurde die Chemieproduktion von einem Teil der Kosten entlastet, die insgesamt zur Bereitstellung von Energie und Rohstoffen und zur Bewältigung der gesundheitlichen und ökologischen Folgen ihrer Nutzung anfallen. Diese Kosten wurden ebenso auf die Gesellschaft abgewälzt wie die Kosten, die für die Bewältigung der immens ansteigenden Abfallmengen erforderlich sind.
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Giftmülldeponie Hamburg-Georgswerder
Abfall und Altlasten
Da nahezu alle Produkte irgendwann einmal und die Produkte der westlichen Konsumgesellschaften besonders schnell zu Abfall werden, wuchsen mit den Produktions- und Verkaufsrekorden der chemischen Industrie und der Weiterverarbeiter ihrer Erzeugnisse auch die Abfallberge rapide an.
Legt man die Anfang unseres Jahrhunderts von Bonne formulierten Anforderungen an den gesellschaftlichen Umgang mit Abfallstoffen zugrunde, befanden sich die Industriegesellschaften bis in die 70er Jahre in einem Stadium eskalierender Unkultur. Nicht einmal die geregelte Beseitigung der Abfälle wurde organisiert, obwohl sich das Abfallproblem drastisch verschärfte.
Mit dem Abfallbeseitigungsgesetz von 1972, das erstmalig die kontrollierte Einsammlung und Deponierung der festen Abfälle umfassend organisierte, begab sich die bundesdeutsche Gesellschaft auf den mühsamen Weg von der Unkultur zur niederen Kultur geregelter Abfallbeseitigung.
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Wie fragwürdige Giftmüllexporte, Fehldeklarierungen von Abfällen und die ungeklärten Fragen einer sicheren Sonderabfallbehandlung zeigen, ist auch auf diesem Weg das Ziel noch lange nicht erreicht. Selbst bei den geordneten Deponien wurden die Auswirkungen auf das Grundwasser lange Zeit unterschätzt, so daß heute auch viele dieser Deponien neben der Unzahl alter ungeordneter Deponien problematische Altlasten sind. Seit den 50er Jahren hat sich die Menge an Hausmüll, die jeder Bürger der alten Bundesrepublik durchschnittlich verursacht, verfünffacht. 1987 wurden pro Einwohner 375kg Hausmüll «entsorgt». Die neuen Bundesbürger, die es zu DDR-Zeiten nur etwa auf die Hälfte dieses Wertes gebracht hatten, sind dabei, ihren «Rückstand» zügig aufzuholen. Der Hausmüll ist bloß die Spitze des Eis- oder besser Müllberges. Er macht nur etwa zehn Prozent des gesamten Abfallaufkommens aus.
1987 fiel in der Bundesrepublik beispielsweise eine Abfallmenge von 242,6 Mio. Tonnen an, die folgenden Bereichen zuzuordnen ist:
Siedlungsabfälle (Hausmüll u. ä.) 27,072 Mio. t
Produktionsabfälle 103,828 Mio. t
Klärschlämme (Trockensubstanz) 3,362 Mio. t
Bauschutt, Bodenaushub 108,366 Mio. t
Für die Bewältigung dieser gewaltigen Müllflut existieren bisher keine langfristig tragbaren Lösungsansätze. Die umstrittene Müllverbrennung reduziert zwar die Müllmenge und inertisiert einen Teil der Schadstoffe, kann den Müll jedoch auch nicht verschwinden lassen. Die bestehenden Deponien sind in absehbarer Zeit voll und neue Deponiestandorte kaum noch zu finden. Besonders dramatisch ist die Situation hinsichtlich der Sonderabfälle. Sonderabfälle sind Abfälle, die nach ihrer Art und Menge nicht mit den in Haushalten anfallenden Abfällen entsorgt werden können. Sie unterliegen der Nachweispflicht. 1984 fielen in der Bundesrepublik nach Angaben des Statistischen Bundesamtes insgesamt 8,6 Mio. Tonnen Sonderabfälle an. Unter Zugrundelegung aktuellerer Kriterien des Bundesumweltministeriums hätten 1984 sogar 15,62 Mio. Tonnen als Sonderabfall eingestuft werden müssen. Von dieser hypothetischen Sonderabfallmenge wurden 43 Prozent von der chemischen Industrie verursacht. 7)
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Obwohl besonders fragwürdige Methoden der Beseitigung von Sonderabfällen wie die Einbringung von «Dünnsäure» in die Nordsee oder die Verbrennung hochchlorierter Kohlenwasserstoffe auf See inzwischen aufgegeben werden mußten und insbesondere von der chemischen Industrie mit hohem technischen und finanziellen Aufwand Sonderabfallverbrennungsanlagen installiert wurden, kann insgesamt von einer sicheren Beseitigung der Sonderabfälle bislang keine Rede sein. Es ist beispielsweise nicht auszuschließen, «daß ursprünglich für die Seeverbrennung vorgesehene hochchlorierte Kohlenwasserstoffe illegal beseitigt werden, etwa durch Zumischung zu Altölen oder durch Deklarierung und Weitergabe als Wirtschaftsgut».8)
Die grenzüberschreitende Verschieberei von Sonderabfällen ist zu einem internationalen Problem geworden, auf das nicht zuletzt von Greenpeace mit einer umfangreichen Studie und öffentlichen Aktionen hingewiesen wurde.9)
Die EG-Staaten haben sich 1989 in einem Abkommen mit 68 afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten (AKP-Staaten) auf ein Verbot von Müllexporten aus der EG in diese Länder geeinigt. Im November 1990 wurde von zahlreichen Industrie- und Entwicklungsländern in Basel eine Konvention unterzeichnet, nach der der internationale Mülltourismus wenigstens reguliert und kontrolliert werden soll.10)
Die bleibenden Spuren des Chemiebooms der Nachkriegsjahrzehnte in den Abfallbergen mehr oder weniger geordneter Deponien und in den Böden von Betriebsgeländen, schamhaft als Altlasten bezeichnet, beeinträchtigen die künftige Nutzung dieser Flächen und stellen vor allem für das Grundwasser eine Gefahr dar. Die skandalträchtigen Deponiestandorte Georgswerder und Münchenhagen sind heute mahnende Beispiele für die kaum zu bewältigenden Folgen einer Politik des «Vergrabens und Vergessens».
Die Rückstände von vierzig Jahren sozialistischer Chemieproduktion haben in dem alten Braunkohlentagebaurestloch «Johannes», dem sogenannten «Silbersee», eine traurige Berühmtheit in den Medien erlangt. Neben derartigen Altablagerungen stellen vor allem kontaminierte Altstandorte eine Vielzahl heutiger Altlasten. In der alten Bundesrepublik sind beispielsweise die Boden- und Grundwasserbelastungen, die von dem Betriebsgelände der Firma Boehringer in Hamburg und der Chemischen Fabrik Marktredwitz ausgingen, öffentlich bekanntgeworden.
Zu den Altablagerungen und Altstandorten gesellen sich noch zahlreiche kriegs- und rüstungsbedingte Altlasten, die unter anderem von den Resten chemischer Kriegführung im Ersten Weltkrieg über die Rückstände der Sprengstoff- und Munitionsherstellung im Zweiten Weltkrieg bis zu den mit Altöl und Kraftstoffen verseuchten Böden heutiger Militärstandorte reichen.
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Im vereinigten Deutschland hat die stoffwirtschaftliche Barbarei des Industriezeitalters bisher etwa 150.000 Altlasten und Verdachtsflächen produziert. Die Kosten der Altlastensanierung im vereinigten Deutschland werden auf insgesamt bis zu 130 Milliarden Mark geschätzt.11) Wie dieses Geld beschafft werden soll, ist bis heute unklar. Die Industrie hat sich geweigert, einen Solidarfonds zur Sanierung von Altlasten einzurichten.
Solange die heutige (Un-)Art industrieller Stoffbewirtschaftung nicht grundsätzlich in Frage gestellt und geändert wird, werden zu den bisherigen Altlasten immer neue hinzukommen.
Eine wirksame Abfallpolitik, die in Wahrnehmung des Vorsorgeprinzips zukünftige Altlasten vermeiden will, muß auch und vor allem Produktpolitik sein. Der stoffliche Aufwand, mit dem wir heute unsere Bedürfnisse befriedigen, verursacht die Abfall- und Altlastenprobleme von morgen. In der aktuellen Diskussion wird vor allem die Reduzierung des Verpackungsaufwandes als Weg zur Verringerung des Abfallaufkommens angesehen.
Die grundsätzliche Frage, welchen stofflichen Aufwand wir langfristig treiben dürfen, um uns zu ernähren, zu kleiden, zu behausen oder fortzubewegen, ohne die Lebensgrundlagen auf der Erde zu zerstören, wird bisher erst ansatzweise diskutiert. Die Brisanz dieser Frage kann am Beispiel der Abfallträchtigkeit der automobilen Art der Fortbewegung aufgezeigt werden:
Bei der Herstellung der für ein einziges Auto durchschnittlich benötigten Materialien (Eisen und Stahl, NE-Metalle, Kunststoffe, Glas etc.) entstehen insgesamt fast 25 Tonnen Abraum und Abfälle.
Da die Rohstoffgewinnung und -verarbeitung überwiegend in Ländern der dritten Welt stattfindet, sind die hiermit verbundenen Umweltzerstörungen vor allem dort zu beklagen.
Bei der Automobilherstellung selber fallen etwa 0,8 Tonnen Abfälle pro Fahrzeug an. Darunter befinden sich hochproblematische Sonderabfälle wie Lack- und Farbschlämme, Bohr- und Schleifemulsionen, cyanid- und schwermetallhaltige Galvanikschlämme, Säure- und Laugengemische, Beizen, halogenhaltige und halogenfreie Lösemittel(gemische), aluminiumhaltige Leichtmetallkrätzen, synthetische Kühl- und Schmiermittel, cyanidhaltige Härtesalze, halogen- und lösemittelhaltige Schlämme, Asbeststaub, metallsalzhaltige Konzentrate und Halbkonzentrate, cyanidhaltige Konzentrate und Halbkonzentrate, nitrit- und nitrathaltige Härtesalze, chrom(VI)haltige Konzentrate und Halbkonzentrate und sonstige Sonderabfälle. 12)
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Beim Betrieb eines Autos fallen über die gesamte Nutzungsdauer gerechnet neben rund 25 Tonnen Abgas weitere Schadstoffe und Sonderabfälle wie Altöle, Altreifen, verbrauchte Kühl- und Reinigungsmittel, Reifen- und Bremsenabrieb an.
Nach einer im Vergleich zu anderen technischen Produkten wie Maschinen oder Anlagen außerordentlich geringen Nutzungsdauer von etwa 3000 Betriebsstunden ist das Auto nur noch eine gewaltige Blechbüchse voller Sondermüll. Selbst der Eisen- und Stahlanteil kann als Schrott nur zur Herstellung minderwertiger Stahlsorten und nicht zur Herstellung neuer Autos wiederverwendet werden. Die Shredderabfälle, die bei der Aufarbeitung von Autowracks anfallen, wurden trotz ihres Gehalts an Schwermetallen, halogenierten Kohlenwasserstoffen, Altöl und anderen Problemstoffen bis in die jüngste Zeit einfach auf Hausmülldeponien gekippt. Erst nach der Abfallbestimmungs-Verordnung vom 3. April 1990 sind Shredderrückstände künftig als Sonderabfall zu behandeln.13)
Die folgenden Zahlen sollen einen Eindruck von den jährlichen Abfallmengen geben, die in der alten Bundesrepublik ganz oder überwiegend der Herstellung, Nutzung oder Entsorgung von Kraftfahrzeugen zuzuordnen waren:14)
Abfallart Produktionsabfälle Altöle Altreifen Shreddermüll |
Menge 3.820.000 t 470.000 t 418.000 t 540.000 t |
Bezugsjahr 1987 1986 1987 1988 |
Der motorisierte Individualverkehr zeichnet sich durch eine extreme Ineffektivität hinsichtlich der Energie- und Rohstoffnutzung aus. Vom Gesamtenergieverbrauch für die Herstellung und den Betrieb von Kraftfahrzeugen wird nur knapp ein Prozent für die eigentliche Transportfunktion ausgenutzt. Der stoffliche Aufwand für einen gefahrenen Autokilometer entspricht einer Gesamtmasse von durchschnittlich rund 500 Gramm, die in Form von Abraum, Abgasen, Schlacken, Schrott, Produktionsabfällen, Altöl, Altreifen und sonstigem (Sonder-)Müll anfällt. Der ebenfalls beträchtliche energetische und stoffliche Aufwand für Straßenbau etc. ist hierbei noch nicht einmal mit berücksichtigt worden.
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Die von Bonne 1907 formulierten Anforderungen an eine höhere stoffwirtschaftliche Kulturstufe, in der die Abfallstoffe verwertet, das heißt «in wirtschaftlich und hygienisch einwandfreier Form dem Kreislauf der Natur und des Nationalhaushaltes»15) wieder zugeführt werden, sind erst in jüngster Zeit wieder in die Diskussion aufgenommen worden. Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen hat in seinem Sondergutachten «Abfallwirtschaft» vom September 1990 aus seiner Analyse der katastrophalen Entsorgungssituation die Forderung abgeleitet:
«Es muß daher erreicht werden, Versorgung und Entsorgung kreislaufartig möglichst so miteinander zu verbinden, daß die «Abprodukte» nur in solchen Konzentrationen, Mengen und Zusammensetzungen in den Naturhaushalt zurückgegeben werden, wie dieser sie schadlos aufnehmen kann.»16
Aus diesem übergeordneten Ziel ergibt sich die Notwendigkeit, Versorgung und Entsorgung in einem übergreifenden stoffwirtschaftlichen Systemansatz in ihrem Zusammenhang zu betrachten:
«Abfallwirtschaft in einer umweltbewußten Gesellschaft verlangt eine Lenkung von Stoffströmen lange vor der Entscheidung, ob ein Gegenstand zu Abfall wird. Daher bleibt kein anderer Weg als die Einflußnahme auf unternehmerisches Handeln in der Weise, daß Herstellungsverfahren und Erzeugnisse, die mit größeren Abfallproblemen verbunden sind, von vornherein gar nicht oder so entwickelt werden, daß die sich daraus ergebenden Umweltbelastungen internalisiert werden können. Um dies zu erreichen, muß das gesamte wirtschaftliche Geschehen im Hinblick auf Abfallentstehung und -behandlung systematisch durchdacht und durchleuchtet werden, wobei ökologische Überlegungen voranzustellen sind.»17
Das Abfall- und Altlastenproblem zeigt ebenso wie die katastrophale Belastung der Umweltmedien Wasser, Boden und Luft, daß eine radikale Neuordnung der stoffwirtschaftlichen Grundlagen unseres Wirtschaftens erforderlich ist.
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Anforderungen an eine umweltverträgliche Stoffwirtschaft
Unsere gegenwärtige Wirtschaftsweise zeichnet sich bezüglich der Stoffnutzung durch geringe Effizienz und Zukunftsunverträglichkeit aus. Alle stoffwirtschaftlich relevanten Bereiche der heutigen industriellen Produktion von der Rohstoffnutzung über die Stoffentwicklung und Produktplanung bis zur Abfallwirtschaft müssen einer kritischen Analyse und tiefgreifenden Umgestaltung unterzogen werden. Eine Produktions- und Konsumweise, die auf den langfristigen Erhalt der Lebensgrundlagen der Erde ausgerichtet ist, darf Stoffe und Produkte nur in solchen Mengen und von solcher Qualität nutzen, daß keine gravierenden Störungen der bio-geo-chemischen Stoffkreisläufe bzw. der betroffenen Ökosysteme oder der menschlichen Gesundheit verursacht werden.
Eine solche Produktionsweise kann nur verwirklicht werden, wenn die stoffliche Seite des Wirtschaftens systematisch erfaßt wird und deren Folgen für die natürlichen Stoffströme und -kreisläufe so weit wie möglich verstanden werden. Die Beschaffung und Aufarbeitung von umfassenden Kenntnissen über alle Stufen der wirtschaftlichen Stoffströme ist eine vordringliche umweltpolitische Aufgabe. Der bisherige Kenntnisstand über die wirtschaftlichen Stoffströme ist äußerst mangelhaft. Die chemische Industrie weigert sich nach wie vor, umfassende Daten über Art und Menge der von ihr hergestellten und vertriebenen Stoffe zu veröffentlichen. Diese Daten müssen jedoch öffentlich verfügbar sein, wenn die Gestaltung eines zukunftsverträglichen Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur demokratisch bewältigt werden soll.
Auf der Basis möglichst genauer Kenntnisse über die wirtschaftlichen Stoffströme und ihre ökologischen Schwachstellen müssen ressourcensparende und Umweltbelastungen vermeidende Produkt- und Produktionsentwicklungen gezielt gefördert werden. Gleichzeitig muß das wirtschaftlich genutzte Stoffspektrum einer ökologischen Bereinigung unterzogen werden. Beide Ansätze sollten sich im Sinn eines umfassenden «Stoffregimes» ergänzen.
Ein solches « Stoffregime » kann nicht allein als staatliche Aufgabe ordnungspolitisch bewältigt werden. Dazu sind vielmehr Verantwortungsbewußtsein und Kreativität aller Beteiligten gefordert. Der Staat hat allerdings die Aufgabe, Rahmenbedingungen zu schaffen, die einen Anreiz zur Entwicklung umweltverträglicher Lösungen bieten.
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Der Entwicklung grundsätzlich neuer Produktlinien oder Dienstleistungsstrukturen stehen häufig erstarrte soziotechnische Strukturen entgegen, die nur durch einschneidende Veränderungen der politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen überwunden werden können. Die Entwicklung systemarer Alternativen zu bisherigen umweltunverträglichen soziotechnischen Strukturen stellt erhebliche Anforderungen an die politische Gestaltungskraft moderner Demokratien. Die demokratische Bewältigung dieser Aufgabe erfordert ein Höchstmaß an Öffentlichkeitsbeteiligung und Mitbestimmung und neue kooperative Politikformen.18)
Ein wichtiger Ansatz der Diskussion über grundsätzliche Stoff- (und energie-)wirtschaftliche Neuorientierungen geht von der Betrachtung der tatsächlichen volks- (und weltwirtschaftlichen Kosten der Übernutzung natürlicher Ressourcen und der übermäßigen Belastung der Ökosysteme aus. Die Belastung von Stoffen und Produkten mit den Kosten der Umwelt(ver)nutzung, die bisher auf die Allgemeineheit abgewälzt worden sind, verteuert die umweltunverträglichen Bereiche in der Volkswirtschaft. Das in Form von Abgaben oder Ökosteuern eingenommene Geld kann zur Förderung umweltverträglicher Entwicklungen verwendet werden.
Bei der Entwicklung ihrer Stoff- und energiewirtschaftlichen Strukturen haben die Industrieländer auch eine Mitverantwortung für die Länder der dritten Welt, auf deren Kosten die heutigen zerstörerischen Strukturen zu einem beträchtlichen Teil entwickelt worden sind. Nur die hochentwickelten Länder verfügen über die technischen, ökonomischen und politischen Voraussetzungen für den sozialökologischen Umbau von Technik und Wirtschaft. Es sollte der folgende globalökologische kategorische Imperativ gelten: Der Stoff- und Energiebedarf soziotechnischer Systeme ist so zu gestalten, daß diese Systeme weltweit etabliert werden können, ohne die Lebensgrundlagen auf der Erde insgesamt zu gefährden. Hierüber besteht ein großer und wachsender internationaler Verständigungsbedarf.
Die Einsicht in die Notwendigkeit umfassender stoffbezogener Betrachtungsweisen ist nicht neu. Abgesehen von den verschütteten Diskussionsansätzen aus der Zeit der Jahrhundertwende spielten derartige Betrachtungsweisen schon in der Auseinandersetzung über die Einführung des Chemikalienrechts Ende der 70er Jahre eine Rolle, ohne damals jedoch weiterreichende politische Folgen zu zeitigen.
Der Begriff «Chemiepolitik» wurde 1983 vom BUND (Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V.) in die politische Debatte eingebracht. Die Chemiepolitik soll als neuer Politikbereich auf die Eingrenzung der chemiebedingten Gefahren für Mensch und Umwelt hinwirken.
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Die chemiepolitischen Grundsätze des BUND
Der BUND hat — orientiert am Vorsorgeprinzip — die folgenden chemiepolitischen Grundsätze formuliert:
1. Die Ressourcenübernutzung und der Grad heutiger Umweltbelastungen zwingen zu einer drastischen Reduzierung des Stoffverbrauchs. Ausgehend von der Kenntnis bereits eingetretener Schäden und der erheblichen «Risikounschärfe» im Hinblick auf weitere durch Chemikalien zu erwartende Schäden für Mensch und Umwelt, ist ein Minimierungsgebot für den Chemikalienverbrauch einzuführen.
2. Sofern Chemikalien in geschlossenen oder zumindest gut kontrollierbaren teiloffenen Systemen mit Rückführungsmechanismen eingesetzt werden, werfen sie deutlich geringere Risiken auf als bei umweltoffener Anwendung. Daher muß das Recyclinggebot als Grundsatz für eine umweltverträgliche Stoffwirtschaft auf allen Ebenen — von der Produktion bis zur Abfallbeseitigung — durchgesetzt werden. Aus Gründen der Energieersparnis und Stoffökonomie hat das primäre Recycling, also die Wiederverwendung eines Produkts (etwa als Mehrwegverpackung) Vorrang vor dem sekundären oder tertiären Recycling, bei dem aus komplexen Produkten nur noch einzelne Stoffe für die Weiterverwendung oder Weiterverwertung zurückgewonnen werden.
3. Chemikalien sollen nach dem Grundsatz des ökologischen Designs prinzipiell so konzipiert sein, daß sie störungsfrei in natürliche Stoffkreisläufe eingebunden werden können. Dieser Grundsatz ist insbesondere bei solchen Stoffen zu beachten, die bei ihrem Einsatz offen in die Umwelt eingebracht werden.19)
Minimierungsgebot, Recyclinggebot und ökologisches Design von Stoffen lassen sich nur dann hinreichend verwirklichen, wenn sie bereits bei der Produktentwicklung berücksichtigt werden. Chemiepolitik ist daher ganz wesentlich auch Produktpolitik. Als Instrumente für eine ökologische Produktpolitik sind das Öko-Controlling und die Produktlinienanalyse entwickelt worden. Beide Ansätze ergänzen sich.
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Ökologische Produktpolitik:
Öko-Controlling und Produktlinienanalyse
Grundlage einer ökologisch orientierten Produktpolitik ist die Kenntnis der Umweltrelevanz der jeweiligen Produkte und ihrer Herstellung. Als Instrument für eine umfassende ökologische Produktbewertung aus betrieblicher Sicht ist das Öko-Controlling entwickelt worden.20 Da die Berücksichtigung ökologischer Belange für Unternehmen ein großes Informationsproblem darstellt, bedarf es eines eigenen Managements. Öko-Controlling «soll im Konzept der Unternehmenspolitik die Umweltschutzzeile moderieren, sie formulieren, umsetzen, realisieren und kontrollieren helfen».21
Für die Gestaltung eines betrieblichen Öko-Controllings sind zunächst eine sorgfältige Datenerhebung und die ökologische Bewertung der Eingangsstoffe, der Produktionsprozesse, der Emissionen sowie der Produkte nötig. Die ökologische Produkt- und Produktionsplanung erfordert unkonventionelle Herangehensweisen, da im Umweltbereich überwiegend auf nichtmonetäre, sogenannte «weiche» Daten zurückgegriffen werden muß. Die ökologische Produktplanung erfordert außerdem eine Betrachtung über die Grenzen des Unternehmens hinaus, da sich die Umweltauswirkungen von Produkten und Produktionsverfahren nicht nur aus betrieblicher Sicht bewerten lassen. Hierbei überschneiden sich die Konzeptionen für Öko-Controlling und Produktlinienanalyse.
Die Produktlinienanalyse ist von der Projektgruppe Ökologische Wirtschaft am Öko-Institut Freiburg als konzeptioneller Ansatz zur Verwirklichung einer umweltverträglichen Produktpolitik entwickelt worden:
«Die Produktlinienanalyse soll sowohl antizipativ wie auch korrektiv für die Erfassung und Abwägung ökologischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Voraussetzungen, Auswirkungen und Konsequenzen von Produkten verwendet werden und damit eine Möglichkeit bieten, auch aus der Produktperspektive die ökologische Krise anzugehen und ein konzeptionelles Hilfsmittel für eine strukturelle Ökologisierung des Wirtschaftens zu sein.»22
Die Produktlinienanalyse beruht auf den vier Leitlinien Bedürfnisorientierung, Vertikalbetrachtung, Horizontalbetrachtung und Variantenvergleich:
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Zu Beginn der Untersuchung wird ein Produkt auf das zugrundeliegende Bedürfnis hinterfragt. Das Produkt wird über seinen ganzen stofflichen Lebenszyklus hin untersucht, also von der Rohstofferschließung und Verarbeitung über den Transport, den Handel und Vertrieb, den Konsum bis hin zur Beseitigung (Vertikalbetrachtung). Entlang der Vertikalen einer Produktlinie werden für jede Lebenszyklusphase die jeweiligen Auswirkungen auf drei Dimensionen, nämlich Natur, Gesellschaft und Wirtschaft, untersucht (Horizontalbetrachtung).
In der Produktlinienanalyse werden mehrere unterschiedliche Alternativen verglichen (Variantenvergleich). Dabei sind als Alternativen auch der Produktverzicht und Dienstleistungen als Lösung zur Befriedigung des zugrundeliegenden Bedürfnisses zu berücksichtigen.23 Die Ergebnisse einer Produktlinienanalyse liefern die Informationsgrundlage für eine qualifizierte demokratische Auseinandersetzung über die umwelt- und gesellschaftspolitischen Maßnahmen, die zur Durchsetzung einer strukturellen Ökologisierung hinsichtlich eines bestimmten Produkts, einer Produktgruppe oder eines bestimmten Verfahrens erforderlich sind.
Sanfte Chemie
Der bei den Grünen entwickelte Ansatz der «sanften Chemie» bezieht sich schwerpunktmäßig auf die Herkunft der Stoffe und den Umgang mit ihnen. Die Kritik an der herkömmlichen Chemie setzt an deren Produktionsprinzipien an:
«Die synthetische Chemie, das gezielte Synthetisieren von Stoffen aus isolierten und gereinigten Ausgangschemikalien der Petro- und anorganischen Chemie und insbesondere das Herstellen naturfremder (xenobiotischer) Stoffe, wie sie z. B. die meisten technisch eingesetzten halogenierten Kohlenwasserstoffe darstellen, ist ein besonders tiefgreifender und folgenschwerer Eingriff in die Natur, am ehesten vergleichbar mit denjenigen der Atomtechnik und der Gentechnik.»24
Von zentraler Bedeutung für die wissenschaftstheoretisch begründete Kritik an diesen drei Techniklinien ist der Begriff der «Eingriffstiefe» in Naturzusammenhänge.
Das Machtverhältnis zwischen Mensch und Natur hat sich durch diese Techniken geradezu umgekehrt. Waren frühere Generationen einer übermächtigen Natur weitgehend ausgeliefert, so ist heute die Natur nicht zuletzt durch diese drei Techniklinien dem Menschen ausgeliefert. Daraus wird gefolgert, daß, nachdem früher die Natur den menschlichen Eingriffsmöglichkeiten Grenzen setzte, heute politische und ethische Grenzen für den Umgang des Menschen mit der Natur gesetzt werden müssen.
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In diesem Zusammenhang ist auch das Ansteigen der Risikopotentiale zu sehen, das mit der Verlängerung der raumzeitlichen Wirkungsketten dieser Techniken verbunden ist. Damit wächst auch die Kluft zwischen der Reichweite unseres Wissens und der Reichweite unserer Eingriffe in die Natur.25
Diese Kluft hat, auf die handelnde Einzelperson bezogen, ihre Entsprechung in der Unvereinbarkeit der erkenntnistheoretisch begründeten Bescheidenheit des Wissenschaftlers mit dem handlungsethisch anmaßenden Scheuklappentum des Experten. In der Konsequenz führt dies dazu, daß die Experimente den bescheidenen Rahmen des kontrollierten Labors immer häufiger verlassen und statt dessen die Ökosphäre zum Großlabor wird, das der Kontrolle zwangsläufig entgleitet.26
Auf der Basis der skizzierten Kritik wird von den Grünen eine «Konversion» der chemischen Industrie von der bisherigen «harten» zu einer umweltgerechten «sanften» Chemie gefordert.
Die Haltung der chemischen Industrie:
Produktionsintegrierter und produktorientierter Umweltschutz
Den chemiepolitischen Herausforderungen können sich auch die offzielle Politik und die Industrie immer weniger entziehen. In der Eröffnungsansprache der ACHEMA, einer Ausstellungstagung für chemische Technik und Biotechnologie in Frankfurt/Main, forderte sogar Bundesforschungsminister Heinz Riesenhuber Anfang Juni 1991 eine «sanfte Chemie», die mit Rohstoffen und Energie sparsamer umgehen und von Anfang an bedenken müsse, was am Ende herauskommt.27
Die chemische Industrie hat für ihre Anstrengungen, durch die Chemieproduktion bedingte Umweltbelastungen zu verringern, den Begriff «produktionsintegrierter Umweltschutz» geprägt. Die in einer entsprechenden Broschüre angeführten Beispiele zeigen, daß hiermit prozeßtechnische Innovationen und verfeinerte Entsorgungstechniken gemeint sind, die zu einem geringeren Rohstoff- und Energieverbrauch und zu einer Verminderung von Emissionen und Produktionsabfällen führen sollen.28
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Die Verfahrensentwicklung im Sinne des «produktionsorientierten Umweltschutzes» bedeutet eine bewußte Akzentuierung bestehender positiver Tendenzen der chemischen Verfahrenstechnik, die darin zu sehen sind, daß verfahrenstechnische Optimierung seit jeher auch Minimierung des Rohstoff- und Energieeinsatzes und des Anfalls an Neben- und Abprodukten bedeutet. Mit Maßnahmen im Sinne des produktionsorientierten Umweltschutzes will die chemische Industrie einen «wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Umweltbedingungen an den Produktionsstandorten» leisten.29 Sie schließt damit an erfolgreiche Anstrengungen im Bereich des nachsorgenden Umweltschutzes (Luft- und Wasserreinhaltung, Abfallbeseitigung) an. Das grundlegende Problem, daß bisher alle positiven Entwicklungen hinsichtlich des spezifischen Rohstoff- und Energiebedarfs und des spezifischen Abfallaufkommens chemischer Verfahren durch die Zunahme der Mengen und der Anzahl chemischer Produkte weit überkompensiert wurden, wird durch dieses Konzept nicht berührt.
Eine grundsätzliche Hinterfragung des Nutzens von Produktionsprozessen und Produkten, wie sie das Konzept der Produktlinienanalyse beinhaltet, ist im Ansatz «produktionsintegrierter Umweltschutz» ausdrücklich nicht enthalten. Daher ist mit dieser Strategie auch nur eine begrenzte ökologische Wirkung zu erzielen. Das Erreichen globaler Umweltziele kann durch die Methoden des produktionsintegrierten Umweltschutzes alleine nicht gewährleistet werden. Dieses Konzept läuft Gefahr, auf der Stufe einer unzulänglichen ökologischen Modernisierung stehenzubleiben. Die Notwendigkeit für eine umfassendere Betrachtungsweise wird von der chemischen Industrie immerhin verbal anerkannt : « Natürlich beinhaltet ein umfassender Umweltschutz nicht nur die Herstellung chemischer Stoffe, sondern auch die dem Markt angebotenen Produkte. »30)
An anderer Stelle heißt es:
«Aber auch die produzierten Güter werden zu Abfall. Produktion und Abfall sind aus stofflicher Sicht zwei Seiten einer Medaille. Sie müssen als nicht voneinander trennbare gekoppelte Vorgänge anerkannt werden. Nicht nur jeder Produzent eines Gutes sollte in diesem den späteren Abfall oder die Abfalleigenschaften sehen und lernen, «produktorientierten Umweltschutz» zu entwickeln, sondern auch jeder Erwerber und Verwender eines Gutes, also jeder Bürger muß wissen, daß die Verwendung des Gutes unvermeidlich Abfall erzeugt oder daß das Gut — wenn auch vielleicht erst nach Jahrzehnten — zu Abfall wird, dessen Schicksal vorsorglich bedacht werden muß. »31)
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In der Praxis ist von derartigen Einsichten, die letztlich eine Anerkennung der Notwendigkeit des ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft bedeuten, bei der chemischen Industrie bisher noch wenig zu spüren. An der Frage, mit welchen politischen Strategien sich ein sozialverträglicher Umbau von Produktions- und Konsumstrukturen möglichst zügig herbeiführen läßt, versagen die Verantwortlichen der chemischen Industrie, Chemiker, Ingenieure und Manager, bisher vollständig. Konzepte für die Gestaltung einer zukunftsverträglichen Stoffwirtschaft sind von der chemischen Industrie bisher nicht vorgestellt worden.
Die deutsche chemische Industrie verteidigt statt dessen auch stark umweltbelastende Produktionslinien und beharrt auf ihrem Gewohnheitsrecht, Stoffe beliebig zu verändern, zu kombinieren und zu verkaufen. Der Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur wird von ihr weitgehend als private Geschäftsangelegenheit angesehen. Den Anforderungen des in der Umweltpolitik geltenden Kooperationsprinzips kommt die chemische Industrie nur sehr zögerlich nach. Freiwillige Vereinbarungen über die Produktionseinstellung bei stark umweltbelastenden Stoffen (PCBs, PCP, FCKWs) werden erst dann eingegangen, wenn damit drohende gesetzliche Verbote abgewendet werden können.32
Eine offene gesellschaftliche Auseinandersetzung über die stoffwirtschaftlichen Perspektiven der Industriegesellschaft wird von der chemischen Industrie als unnötig abgelehnt. Die Einrichtung der Enquete-Kommission «Schutz des Menschen und der Umwelt — Bewertungskriterien und Perspektiven für umweltverträgliche Stoffkreisläufe in der Industriegesellschaft» des Deutschen Bundestages wurde von ihr abgelehnt.
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Ökonomische Instrumente in der Chemiepolitik
«Auch für die Wirksamkeit im Umweltschutz braucht die Marktwirtschaft klare staatliche Rahmenbedingungen, gewissermaßen als Ergebnis gesellschaftlicher Wertvorstellungen. Es sollte das Prinzip herrschen: Wer die Umwelt entlastet, hat finanzielle Vorteile, und wer die Umwelt belastet, sollte finanzielle Belastungen tragen. Umweltschutz muß sich lohnen.»33)
Dieses Zitat aus einer Schrift der chemischen Industrie zeigt, daß das Prinzip, nach dem Umweltbelastungen finanzielle Belastungen und Umweltentlastungen finanzielle Entlastungen zur Folge haben sollen, verbal weitgehend unstrittig ist. In die politische Praxis hat es bisher jedoch noch kaum Eingang gefunden. Im Gegenteil werden bislang umweltbelastende Wirtschaftsweisen weiter subventioniert und ökologische Folgekosten weiter auf die Allgemeinheit abgewälzt:
«Wer die Natur belastet, erschöpfbare Ressourcen verbraucht oder Landschaft zerstört, der zahlt dafür bisher nichts oder nur einen Spottpreis. Entsprechend sorglos wird gewirtschaftet — in Unternehmen, in privaten Haushalten und auch beim Staat.»34
Während sich der Preis einer Ware im wesentlichen aus den Produktionskosten und dem am Markt erzielten Gewinn zusammensetzt, gehen sogenannte externe Kosten, die bei Herstellung, Gebrauch und Entsorgung entstehen, nicht mit in den Preis ein. Die Kosten der Umweltverschmutzung, Ressourcenverschwendung, Gesundheitsbelastung, Müllentsorgung, des Landschaftsverbrauchs, um nur einige zu nennen, werden vom Hersteller auf Konsumenten, Staat oder Kommunen oder gar auf nachfolgende Generationen abgewälzt. Bei der Einführung ökologischer Steuerungsinstrumente geht es darum, diese Kosten korrekt zu ermitteln und über den Preis weiterzugeben.35
In der Diskussion über geeignete Formen der Internalisierung der externalisierten Folgekosten einer umweltverbrauchenden und -zerstörenden Produktion wird zwischen «Ökosteuern» und «Ökoabgaben» unterschieden. Während Steuern in den allgemeinen Staatshaushalt eingehen, sind Abgaben zweckgebunden. Umweltsteuern sind in der Regel mit einem geringeren bürokratischen Aufwand verbunden als Sonderabgaben. Sie können darüber hinaus in erheblich höherem Umfang erhoben werden. Da gleichzeitig mit der Erhebung von Umweltsteuern andere Steuern wie die Lohn- und Einkommensteuer gesenkt werden können, kann eine ökologische Steuerreform so durchgeführt werden, daß die durchschnittliche Gesamtbelastung bei einer hohen ökologischen Lenkungswirkung gleich bleibt. Eine Senkung von Lohn- und Einkommensteuern führt zu einer Verbilligung des Produktionsfaktors Arbeit. Die gegenwärtige, volkswirtschaftlich und politisch schädliche Überbetonung der Arbeitsproduktivität kann dadurch abgebaut werden, während die Besteuerung der Umweltnutzung und -belastung einen starken Druck in Richtung auf eine höhere Stoff- und Energierationalität ausübt.36
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Während eine tiefgreifende ökologische Steuerreform als langfristig erfolgversprechendes umweltpolitisches Instrument diskutiert wird, haben Sonderausgaben kurzfristig den Vorteil, daß sie leichter in das bestehende Steuersystem integrierbar sind und nicht nur über den ökonomischen Belastungseffekt, sondern auch über den verwendungsspezifischen ökologischen Entlastungseffekt schnell und direkt umweltpolitisch wirksam werden können.
Im Vordergrund der Umweltsteuerdebatte steht heute die Frage der Besteuerung des Energieverbrauchs in Form einer Primärenergiesteuer, einer Erhöhung der Mineralölsteuer oder einer CO2-Abgabe. Da die Entwicklung der chemischen Produktion in ihrer heutigen Form stark durch die Befreiung von der Mineralölsteuer und die Bereitstellung billiger Elektroenergie geprägt wurde, sind von einer Verteuerung der Energie erhebliche Auswirkungen auf die Produktionsstruktur der chemischen Industrie zu erwarten. Am Beispiel der Chlorchemie wurde dieser Aspekt an anderer Stelle bereits diskutiert. Eine Energiepreisgestaltung, die die ökologische Wahrheit widerspiegelt, würde indirekt auch erhebliche Strukturveränderungen in der chemischen Produktion bewirken.
Eine direkte Lenkungsfunktion bezüglich der Produkte der chemischen Industrie wird von Chemiesteuern erwartet. Durch eine so bewirkte Verteuerung gefährlicher Chemikalien soll erreicht werden, daß diese in möglichst geringen Mengen und weitgehend geschlossenen Kreisläufen verwendet werden. Die Höhe der Steuer oder Abgabe soll sich nach Kriterien wie Giftigkeit, Persistenz und Recycelbarkeit richten.37 An speziellen Chemiesteuern werden eine Stickstoffsteuer oder -abgabe und die Chlorsteuer diskutiert.
Zukunftsperspektiven
Die gesundheits- und umweltverträgliche Gestaltung der Stoffwirtschaft ist neben der Energieproblematik ein zweiter zentraler Bereich der erforderlichen sozialökologischen Umgestaltung der Industriegesellschaft. Die Beendigung des Waldsterbens, die Bewahrung bzw. die Wiederherstellung der Lebensbedingungen in den Meeren, die Reinhaltung des Grundwassers, die langfristige Sicherung der Bodenfruchtbarkeit, der Schutz der Erdatmosphäre und des Klimas und der Schutz unersetzlicher Kulturgüter vor zerstörerischen Umwelteinwirkungen sind Zukunftsaufgaben, die alle Teile der Gesellschaft herausfordern.
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Der Deutsche Bundestag hat im Herbst 1991 mit der Einrichtung der Enquete-Kommission «Schutz des Menschen und der Umwelt — Bewertungskriterien und Perspektiven für umweltverträgliche Stoffkreisläufe in der Industriegesellschaft» gezeigt, daß er sich dieser Herausforderung stellen will.
Die Chemie und die chemische Industrie sollten diese Herausforderung ebenfalls annehmen und als Chance begreifen. Traditionelle Unternehmensziele werden obsolet, während sich eine Fülle neuer Aufgaben abzeichnet. Galt bisher die Umwandlung möglichst großer Rohstoffmengen in vermarktbare Produkte (und damit letztlich in Müll) als Erfolgsrezept der Chemie, so gilt es in Zukunft, die gesellschaftlichen Bedürfnisse mit einem minimalen Aufwand möglichst wiederverwertbarer und umweltverträglicher Stoffe zu befriedigen. Die chemische Industrie muß sich von einer Stoffverwertungsindustrie zu einer stofflichen Dienstleistungsbranche wandeln.
Die chemische Industrie hat in ihrer Geschichte gezeigt, daß sie auf veränderte Rahmenbedingungen überaus flexibel reagieren kann. Die bundesdeutsche Chemieindustrie hat beispielsweise mit der schnellen Umstellung ihrer organischen Grundstoffbasis von Kohle auf Erdöl in den 50er und 60er Jahren ihre Wandlungsfähigkeit eindrucksvoll unter Beweis gestellt.
Für Unternehmen, die den sozialökologischen Umbau der Industriegesellschaft als positive Herausforderung annehmen, zeichnen sich unter der Voraussetzung geeigneter ökonomischer und ordnungspolitischer Rahmenbedingungen vielfältige Aufgaben im Bereich stoffbezogener Dienstleistungen ab. Dazu gehören die Entwicklung rohstoff- und energiesparender Lösungen bei Wahl und Verwendung von Werkstoffen, die gemeinsame Entwicklung recyclingfreundlicher Produkte mit Abnehmern von Chemieerzeugnissen, die Beteiligung an Recyclingverfahren und -systemen, die Entwicklung von Entgiftungsverfahren für nicht vermeidbare schadstoffhaltige Abfälle und Abwässer sowie Aufgaben im Bereich der Altlastensanierung. Die Fülle dieser Aufgaben läßt erwarten, daß ein derartiger Strukturwandel eher zur Schaffung als zum Abbau von Arbeitsplätzen führen wird.
Die Analyse der stoffwirtschaftlichen Effizienz heutiger industrieller Formen der Bedürfnisbefriedigung zeigt, daß im Falle der Bereitschaft zu prinzipiell neuen Lösungen Ressourcenverbrauch und Umweltbelastungen um Größenordnungen gesenkt werden können. Durch die konsequente Anwendung ökologischer Kriterien wie Energie- und Stoffeffizienz, Langlebigkeit und Recycelbarkeit können große Einsparpotentiale ausgeschöpft werden. Bei der Befriedigung des Mobilitätsbedürfnisses durch private Kraftfahrzeuge wird die knappe Ressource Erdöl beispielsweise nur zu etwa einem Prozent für den eigentlichen Zweck genutzt.
Für umweltverträgliche Verkehrssysteme mit vergleichbarer oder besserer Transportleistung und vielfach geringerem stofflichem und energetischem Aufwand gibt es realistische Konzepte. Die Landwirtschaft kann in Europa den Nahrungsmittelbedarf mit einem Bruchteil des heutigen Energie-, Düngemittel- und Chemikalienbedarfs befriedigen und dabei auch noch nachwachsende Rohstoffe für umweltverträgliche Produkte liefern. Eine umwelt- und zukunftsverträgliche Wirtschafts- und Lebensweise ist auch unter Beibehaltung eines hohen Wohlstandsniveaus technisch und strukturell realisierbar.
Weil die Herausforderungen eines sozialökologischen Umbaus der Industriegesellschaft in komplexer Weise die verschiedensten Bereiche in Wirtschaft und Gesellschaft betreffen, bedarf es zu ihrer Bewältigung auch neuer Formen der Politik und der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Die existentielle Bedeutung zukünftiger soziotechnischer Entwicklungen macht die Einrichtung demokratischer Institutionen erforderlich, in denen systematische Alternativen zu den zerstörerischen Bereichen der heutigen Industriegesellschaft unter Beteiligung aller betroffenen gesellschaftlichen Gruppen38) entworfen werden können.
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