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1. Teil

1. Kapitel

Witebsk – Leningrad – Wologda

 wikipedia  Wizebsk 

 

11-29

Der Sommer 1940 war schon nahezu vorüber, und ich war noch immer in Witebsk. Jeden Nachmittag schien die Sonne eine Weile auf die Pflastersteine des Gefängnishofes, später ging sie dann hinter der roten Mauer des benachbarten Häuserblocks unter.   

In der Zelle vernahmen wir die vertrauten Geräusche, die vom Hof zu uns herauf­drangen: die schweren Schritte der Gefangenen, die zum Badehaus geführt wurden, dazu russische Kommandoworte und das Rasseln von Schlüsseln.

Der Wächter im Flur sang leise vor sich hin; hin und wieder legte er die Zeitung fort und ging gemächlich zu dem kleinen runden Fenster in der Zellentür. Wie auf ein Zeichen wandten sich dann zweihundert Augenpaare von der Decke, auf die sie immer müde starrten, dem Guckloch zu. Ein drohendes Auge blickte in die Zelle, sah vom einen zum anderen und verschwand; gleich darauf fiel die Blechklappe, die auf der anderen Seite das Glas verdeckte, wieder herunter…. Klopfte es dreimal an die Tür, so bedeutete das: "Fertigmachen zum Abendessen". Halbnackt erhoben wir uns dann von dem Zementfußboden – mit diesem Klopfen war unser Nachmittagsschlaf beendet. Während wir mit den Tonschüsseln in den Händen auf den wäßrigen Brei warteten, der unser Abendbrot darstellte, benutzten wir die Zeit, um uns von dem flüssigen Brei, der unser Mittagessen gewesen war, zu befreien.

 

Wenn man mich fragen würde, was wir sonst noch in den Sowjetgefängnissen taten, wüßte ich dem eben Berichteten kaum etwas Wesentliches hinzuzufügen. Am Morgen wurden wir durch ein Klopfen an der Tür geweckt. Kurz darauf wurden unser Frühstück – ein Kübel Wasserkohlsuppe – und ein Korb mit unserer täglichen Brotration in die Zelle gebracht. Bis zum Mittagessen kauten wir an unserem Brot und unterhielten uns lebhaft dabei.

Die Katholiken scharten sich um einen asketischen Priester, die Juden um einen Armeerabbiner, der Fischaugen und einen völlig ausgemergelten Körper hatte. Die Männer aus dem Volk erzählten sich ihre Träume und sprachen voll Heimweh von ihrer Vergangenheit. Die Intellektuellen stöberten in der Zelle nach Zigaretten­stummeln, aus denen sie sich eine Zigarette drehen konnten, die sie dann gemeinsam rauchten. Wenn es zweimal an die Tür klopfte, verstummten die Gespräche, und die Gruppen der Gefangenen trotteten hinter ihren "geistigen Häuptern" her, hinaus in den Flur und versammelten sich um den Suppenkübel.

Aber eines Tages kam ein schwarzhaariger Jude aus Grodno in unsere Zelle, der bitterlich weinend verkündete, daß Paris gefallen sei. Von dem Augenblick an hatte das patriotische Geflüster und politische Diskutieren auf den Strohsäcken ein Ende.

Gegen Abend wurde die Luft etwas kühler, wattige Wolken segelten am Himmel, und die ersten Sterne schimmerten schüchtern auf. Einen kurzen Augenblick stand die rostfarbene Mauer unserem Zellenfenster gegenüber wie in glühenden Flammen, die dann gleich wieder erloschen, wenn die Sonne untergegangen war. Die Nacht brach an, und mit ihr kamen Erquickung für unsere Lungen und die ausgedörrten Lippen und lindernde Ruhe für unsere Augen.

Kurz vorm Abendappell ging das elektrische Licht in unserer Zelle an, und die jähe Helle drinnen ließ den Himmel draußen noch dunkler erscheinen. Doch da tasteten schon die Scheinwerfer von den Wachtürmen suchend den Hof ab und verscheuchten die Dunkelheit.

Ehe Paris gefallen war, kam jeden Abend um diese Zeit eine hochgewachsene Frau mit einem Schal um Kopf und Schultern das kleine Stück der Straße, das wir von unserem Zellenfenster aus sehen konnten, hinunter­gewandert. Unter der Laterne jenseits der Gefängnismauer blieb sie stehen und zündete sich eine Zigarette an, und mehrere Male geschah es, daß sie dann das Streichholz wie eine kleine brennende Fackel in die Höhe hob und eine kurze Weile in dieser seltsamen Haltung verharrte.

Wir deuteten uns das als ein für uns bestimmtes Zeichen der Hoffnung. Nach dem Fall von Paris sahen wir sie zwei Monate nicht mehr. Erst an einem Abend Ende August riß uns der Hall ihrer schnellen Schritte auf der kleinen Straße aus unseren Träumen. Wie in den Monaten vorher blieb sie unter der Laterne stehen, aber nachdem sie sich ihre Zigarette angezündet hatte, löschte sie das Streichholz aus, indem sie die Hand hin und her bewegte, so wie es die Kolben einer Lokomotive tun. Wir waren uns alle darüber einig, das sollte heißen, daß wir bald, vielleicht noch in der gleichen Nacht, verlegt werden würden; dennoch, man hatte es nicht eilig damit, wir blieben noch zwei weitere Monate in Witebsk.

 

Die Voruntersuchung meines Falles und die Verhöre waren schon vor vielen Monaten im Gefängnis in Grodno abgeschlossen worden. Ich bin bei diesen Verhören kein Held gewesen, und ich bewundere noch heute jene meiner Mitgefangenen, die den Mut hatten, die Vernehmenden zu verfänglichen dialekt­ischen Auseinandersetzungen zu zwingen.

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Meine Antworten waren kurz und bündig, und erst, wenn ich wieder draußen im Korridor war und man mich in meine Zelle zurückbrachte, fielen mir die glorreichen Sätze aus dem Katechismus des polnischen politischen Märtyrertums ein, und ich berauschte mich an ihnen.

Während der Verhöre aber hatte ich nur das Verlangen nach Schlaf. Physisch kann ich zweierlei nicht vertragen, einen leeren Magen und eine volle Blase. Beides quälte mich, wenn ich, mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen, auf einem harten Stuhl dem mich verhörenden Offizier gegenüber Platz nehmen mußte, wobei mir ein übergrelles Licht in die Augen schien.

 

Man warf mir anfangs zwei Dinge vor: einmal, daß ich lederne Schaftstiefel trug, was bewies, daß ich Major der polnischen Armee war.

(Meine jüngere Schwester hatte sie mir geschenkt, als ich nach Polens Niederlage und seiner Aufteilung zwischen Rußland und Deutschland im September 1939 auswandern wollte. Ich war damals 20 Jahre alt, und der Krieg hatte mein Studium unterbrochen.)

Zum anderen, da mein Name in russischen Buchstaben sich als "Gerling" las, ich ein Verwandter eines sehr bekannten Feldmarschalls der deutschen Luftwaffe sei. Die Anklage lautete also: "Polnischer Offizier, im Solde einer Feindmacht".

 

Glücklicherweise konnte ich den Vernehmenden schließlich doch überzeugen, daß diese Anschuldigungen völlig unbegründet waren. Trotzdem blieb noch die eine unbe­streitbare Tatsache bestehen, daß ich bei meiner Verhaftung gerade die russisch-litauische Grenze hatte überschreiten wollen.

 

"Darf ich fragen, warum Sie das versucht haben?" — "Ich wollte gegen Deutsch­land kämpfen." – "Aber Sie wissen doch, daß Rußland einen Freund­schaftspakt mit Deutschland unterzeichnet hat?" – "Ja. Ich weiß jedoch ebenfalls, daß Rußland weder England noch Frankreich den Krieg erklärt hat." – "Das spielt hier gar keine Rolle." – "Und wessen klagen Sie mich nun an?" – "Des Versuchs, die russisch-litauische Grenze zu überschreiten, um gegen die Sowjetunion zu kämpfen." – "Könnten Sie nicht an Stelle gegen die Sowjetunion gegen Deutschland sagen?"

 

Ein Schlag ins Gesicht brachte mich wieder zur Raison.

"Das kommt im übrigen auf dasselbe hinaus", tröstete mich der Richter, als ich das Schuldbekenntnis, das er mir vorgelegt hatte, unterschrieb.

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Erst Ende Oktober, nachdem ich schon fünf Monate in Witebsk im Gefängnis gesessen hatte, wurde ich zusammen mit Fünfzig von den Zweihundert in meiner Zelle zur Urteilsverkündung herausgerufen.

Ohne eine Spur der Erregung betrat ich das Büro. Nachdem man mir das auf fünf Jahre Haft lautende Urteil verlesen hatte, führte man mich in eine andere Zelle im Seitenflügel des Witebsker Gefängnisses, wo ich bis zum Abtransport bleiben sollte. Dort kam ich zum erstenmal mit russischen Gefangenen in Berührung.

 

In der Zelle lagen mehrere Jungen im Alter von vierzehn bis sechzehn Jahren auf ihren Holzpritschen, und nahe beim Fenster, durch das ich einen Fetzen des bleigrauen Himmels sehen konnte, saß ein kleiner Mann mit roten Augen und einer Hakennase, der stumm an einem Stück hartem, dunklen Brot kaute. Seit mehreren Tagen schon regnete es. Ströme von schmutzigem Wasser ergossen sich aus der Dachrinne auf das Netz, das die untere Hälfte der Gitterstäbe an unserem Fenster bedeckte.

 

Jugendliche Verbrecher, wie diese Jungen in unserer Zelle, sind die Plage der Sowjetgefängnisse, aber fast nie begegnet man ihnen in Arbeitslagern.

Krankhaft erregt, fingern sie unablässig an den Pritschen der anderen und ebenso in ihren eigenen Hosen herum. Nur diesen beiden Beschäftigungen frönt ihre Leidenschaft: dem Diebstahl und der Selbstbefleckung. Fast alle von ihnen sind entweder Waisen oder wissen nicht, wo ihre Eltern leben.

 

Im weiten Bereich des russischen Polizeistaates gelingt es ihnen erstaunlich leicht, das typische Leben der "Besprisornijs" (der "Heimatlosen") zu führen.

 

Sie springen auf Güterzüge und gelangen so von Stadt zu Stadt, von Ort zu Ort. Sie leben nur vom Diebstahl und dem Verkauf der Waren aus Staatsläden, und sehr oft stehlen sie das wieder, was sie eben verkauft haben, indem sie den harmlosen Käufer mit der Drohung erpressen, ihn anzuzeigen. Sie nächtigen in Bahnhöfen, in städtischen Parkanlagen, in Straßenbahndepots. Meist besteht ihr ganzer Besitz aus einem kleinen Bündel, das mit einem Lederriemen verschnürt ist.


 

Erst viel später ist mir klar geworden, daß die Besprisornijs eine sehr gefährliche, halblegale Gruppe bilden, die nach dem Muster der Freimaurerlogen aufgebaut ist und nur von der noch mächtigeren Organisation der "Urkas", der kriminellen Gefangenen, übertroffen wird.


 

Der schwarze Markt in Rußland lebt von diesen Burschen, die immer und überall anzutreffen sind, die den "Spectorgs" (den Spezialgeschäften für die Elite der Sowjetbürokratie) schwer zu schaffen machen und sich in die Korn- und Kohlenlager einschleichen.


 

Die Sowjetregierung drückt ihnen gegenüber ein Auge zu. Für sie sind die Besprisornijs die einzigen echten Proletarier, die frei von jeder gegen­revolut­ionären Sünde sind und sich wie irgendein Rohmaterial in jede gewünschte Form umpressen lassen.

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Diese Nichtsnutze betrachten das Gefängnis als eine Art Ferienlager. Die Strafe, die sie dort verbüßen müssen, ist für sie gleichsam eine Erholung von den Mühen ihres Lebens außerhalb der Gefängnismauern. Hin und wieder kam ein "Wospitatel" (ein Erziehungsoffizier) mit engelsgleichem Gesicht, flachsblondem Haar und blauen Augen in unsere Zelle und zitierte die Jungen mit einer Stimme, die wie das sanfte Flüstern eines Beichtvaters klang, zu einer "Stunde". "Kommt, Kinder, kommt, wir wollen mal ein bißchen lernen."


 

Wenn die "Kinder" aus dem Unterricht zurückkamen, tat es unseren Ohren weh, hören zu müssen, wie sie mit den Standardphrasen der sowjetischen politischen Propaganda um sich warfen. Aus ihrer Ecke heraus beschimpften sie uns dauernd als "Trotzkisten", "Nationalisten" oder "Konterrevolutionäre", und dann versicherten sie, "Genosse Stalin habe gut daran getan, uns einzusperren" oder "die Sowjetmacht werde bald die ganze Welt erobern".


 

Und dies alles wiederholten sie immer von neuem mit der sadistischen Grausamkeit, die für diese heimatlose Jugend so typisch ist. Später begegnete ich in einem Arbeitslager einem achtzehn Jahre alten Jungen, der zum Leiter der örtlichen "Kulturno-Wospitatelnaja Tschast" (Kultur- und Erziehungsabteilung) gemacht worden war, nur weil er einmal als "Besprisornij" an einem solchen Kursus im Gefängnis teilgenommen hatte.


 

Mein Nachbar, der unter dem Fenster saß, musterte mich den ganzen Tag mißtrauisch, während er ununterbrochen trockene Brotkrusten kaute, die er in einem großen Sack aufbewahrte. Dieser Sack lag auf seiner Pritsche und diente ihm gleichzeitig als Kopfkissen. Er war der einzige Mann in der Zelle, mit dem ich gern ein paar Worte gesprochen hätte. So oft trifft man in sowjetischen Gefängnissen Menschen, in deren Gesichtern sich alle Tragik des Lebens spiegelt.


 

Der schmale Mund dieses Juden, seine Hakennase, seine Augen, die immer tränten, als wären sie vom Staub entzündet, die leisen Seufzer und die krallenartigen Finger, die in dem Sack wühlten, all dies konnte viel oder wenig sagen. Am deutlichsten sehe ich ihn noch vor mir, wie er auf unserem täglichen Weg zur Latrine sich mit kleinen trippelnden Schritten vorwärts bewegte. Wenn dann die Reihe an ihm war, stand er ungeschickt über dem Loch, ließ seine Hosen herunter, hob sorgfältig sein langes Hemd hoch und drückte heftig, wobei er von der Anstrengung ganz rot wurde. Er war immer der letzte, der aus der Latrine herausgejagt wurde, und während wir durch den Flur gingen, knöpfte er sich seine Hosen wieder zu und hüpfte

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dann stets wie ein Vogel zur Seite, um den Püffen des Wächters zu entgehen. In der Zelle legte er sich sofort wieder auf seine Pritsche, atmete schwer, und sein altes Gesicht sah dann wie eine getrocknete Feige aus.


 

"Pole?" fragte er mich eines Abends. Ich nickte. – "Wenn ich nur wüßte, ob mein Sohn bei der russischen Armee in Polen ist!" – "Ja, wer soll einem das sagen können", gab ich zur Antwort. "Warum sind Sie hier?" – "Das ist ganz nebensächlich. Ich kann im Gefängnis verkommen, aber mein Sohn ist Hauptmann der Luftwaffe."


 

Nach dem Abendappell, als wir nebeneinander lagen, erzählte er mir flüsternd, um nur ja nicht die "Besprisornijs" zu wecken, seine Geschichte.


 

Viele Jahre hindurch war er Schuhmacher in Witebsk gewesen. Er erinnerte sich noch genau an die Revolution von 1917 und an all das, was ihm seit damals geschehen war. Man hatte ihn zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, weil er in der Schuhmacherinnung dagegen protestiert hatte, daß man neue Schuhe mit Abfalleder besohlte.


 

"Das war natürlich nur ein Vorwand", sagte er immer wieder, "aber Sie wissen ja, die Menschen sind immer mißgünstig. Ich habe meinem Sohn eine gute Ausbildung ermöglicht. Ich habe ihn Offizier werden lassen. Wie könnte man erwarten, daß sie es gern sähen, daß so ein alter Jude wie ich einen Sohn als Offizier bei der Luftwaffe hat. Aber er wird ein Gnadengesuch für mich einreichen, und man wird mich, ehe meine Zeit um ist, entlassen. Im übrigen aber — ist es nicht wirklich unerhört, solch schlechtes Zeug für neue Sohlen zu nehmen?"


 

Er richtete sich ein wenig auf seiner Pritsche hoch, um sich zu vergewissern, ob die Besprisornijs auch schliefen, riß dann das Futter an seinem Jackenärmel auf und zog aus der Watteeinlage ein ganz verknittertes Foto heraus, auf dem ein junger Mann mit intelligentem Gesicht und Hakennase in der Uniform der Roten Luftwaffe zu sehen war.


 

Wenige Minuten danach kletterte einer der Besprisornijs von seiner Pritsche herunter, erleichterte sich über dem Kübel an der Tür und klopfte dann an das kleine Fenster. Vom Flur hörte man das Klirren von Schlüsseln, ein langes, lautes Gähnen und dann das laute Klappern genagelter Schuhe auf dem Steinpflaster. "Was willst du?" fragte eine schläfrige Stimme durch das Fenster. "Geben Sie mir einen Zigarettenstummel, Genosse Aufseher." "Du solltest lieber an der Milchflasche saugen, du Ferkel!" kam es brummend zurück, und dann verschwand der Wächter wieder.

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Der Junge stellte sich auf die Zehenspitzen, wobei er sich mit beiden Händen an der Tür festhielt und rief laut: "Ich hab Ihnen noch was zu sagen!" – Darauf wurde der Schlüssel zweimal im Loch herumgedreht und die Zellentür halb geöffnet. Ein junger Aufseher, die Mütze schief auf dem Kopf, trat herein. "Was denn?" "Nicht hier... draußen im Flur."


 

Mit lautem Quietschen öffnete sich die Tür nun ganz, und der Junge schlüpfte unter dem Arm des Wächters hinaus. Nach kurzer Zeit kehrte er, eine Zigarre rauchend, in die Zelle zurück. Gierig inhalierte er den Rauch, sah ängstlich zu uns herüber und duckte sich in seine Ecke wie ein junger Hund, der Angst vor Schlägen hat. Etwa eine Viertelstunde später wurde die Tür wieder aufgerissen und der Aufseher betrat abermals die Zelle, wobei er laut brüllte: "Aufstehen! Stubenältester! Untersuchung!"


 

Der Stubenälteste begann bei den Besprisornijs mit der Untersuchung, während der Aufseher die beiden Reihen der übrigen Gefangenen, die mit den Rücken zu den Pritschen, die Hände an der Hosennaht, einander gegenüberstanden, nicht aus den Augen ließ. Die geübten Hände fuhren flink durch die Strohsäcke der Jungen, durchsuchten dann meine Pritsche und wühlten schließlich in dem Sack des alten Juden. Ich hörte das Knistern von Papier und gleich darauf:


 

"Was ist das? Dollars?" – "Nein, das ist eine Fotografie meines Sohnes, Natan Abramewitsch Zygfeld, Hauptmann der Roten Luftwaffe." – "Warum bist du hier?" – "Industriesabotage." – "Ein Saboteur der Sowjetindustrie hat nicht das Recht, das Foto eines sowjetischen Offiziers in seiner Zelle zu haben." – "Aber es ist mein Sohn…" – "Schweig! Im Gefängnis gibt es keine Söhne."


 

Als ich wenige Tage danach die Zelle verließ, weil ich einem Transport zugeteilt war, hockte der alte Schuster immer noch auf seiner Pritsche wie ein Papagei auf seiner Käfigstange, wobei er seine alten Brotkrumen kaute und monoton immer wieder die gleichen Worte murmelte.


 

Es war schon spät, als wir zum Bahnhof marschierten, und die Stadt war um diese Zeit fast menschenleer. Die regenfeuchten Straßen glänzten im dämmrigen Abendlicht. Die Luft war schwül und feucht, und man konnte kaum atmen. Die Dana, die bedenklich angestiegen war, floß tosend unter den schwankenden Brettern der Holzbrücke dahin.

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Als wir durch die kleinen Nebenstraßen kamen, war es mir, ohne daß ich sagen könnte warum, als ob man in jedem Hause uns durch die Spalten in den Holzläden beobachtete. In der Hauptstraße war mehr Verkehr, aber die Leute gingen hier schweigend an uns vorüber, ohne uns eines Blickes zu würdigen.


 

Fünf Monate vorher war ich durch die gleichen Straßen zwischen Bajonetten zu beiden Seiten ins Gefängnis marschiert. Es war ein heißer Junitag gewesen. Die Düna war damals in ihrem halb ausgetrockneten Bett träge dahingeflossen. Auf den Bürgersteigen waren Männer und Frauen müde dahingeschritten, hatten kaum einmal ein Wort miteinander gewechselt, nur darauf bedacht, nicht auch nur einen Augenblick stehen zu bleiben.


 

Beamte mit Schirmmützen, Arbeiter in mit Öl und Fett beschmierten Overalls, Schulkinder mit Ranzen auf den Rücken, Soldaten in hohen Stiefeln, die nach Schuhwichse rochen, Frauen in grauen Baumwollkleidern hatte ich da gesehen. Was hätte ich darum gegeben, einmal ein paar harmlos fröhlich plaudernden Leuten zu begegnen! Aus den offenen Fenstern der Häuser, an denen wir vorüberkamen, hingen keine hübschen bunten Bettdecken zum Lüften. Wir konnten verstohlen über Zäune und Höfe und Gärten blicken, aber nirgends flatterte Wäsche im Wind zum Trocknen. Wir sahen eine geschlossene Kirche, an der mit großen Buchstaben geschrieben stand: "Antireligiöses Museum". Wir lasen die über die Straße gespannten Spruchbänder. Wir starrten auf den riesigen roten Stern über dem Rathaus. Es war nicht so sehr eine Stadt der Trauer – es war eher eine Stadt, die keine Freude kannte.


 

*


 


 

Es war November, als ich mit einem Gefangenentransport nach einer Woche Eisenbahnfahrt in Leningrad ankam. Auf dem Bahnsteig wurden wir in Gruppen zu zehn Mann eingeteilt, die in kurzen Abständen in schwarzen Gefängniswagen zum "Peresylka" (dem Leningrader Durchgangsgefängnis für diejenigen Gefangenen, die in ein Arbeitslager überführt werden) gebracht wurden. Zwischen den anderen in dem engen Wagen, der keine Fenster und keine Lüftung hatte, eingezwängt, konnte ich nichts von der Stadt sehen. Aber als das Auto rasch um eine Ecke bog, wurde ich von meinem Platz geschleudert und erspähte dabei durch einen Spalt in der Bretterwand, die den Führersitz von dem übrigen Wagen trennte, einen Platz mit ein paar Häusern und Bäumen. Es war ein kalter, sonniger Tag. Die Leute draußen trugen hohe Winterstiefel, Pelzmützen und Ohrenschützer.


 

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Die Scheuklappen ähnlichen Ohrenschützer hinderten die Menschen, auf das zu achten, was um sie herum vorging; unser Transport wurde so von niemandem bemerkt.


 

Alte Gefängnisinsassen erzählten mir später, daß in den Leningrader Gefängnissen jeweils immer vierzigtausend Menschen säßen. Diese Berechnungen — und ich glaube bestimmt, daß sie richtig waren — beruhten auf den verschiedensten Beobachtungen. In jeder der tausend Einzelzellen des berüchtigten Krestij-Gefängnisses waren durchschnittlich dreißig Personen untergebracht, wie wir von Insassen jener Gefängnisse erfuhren, die, ehe sie in ein Arbeitslager transportiert wurden, gewöhnlich eine Nacht im Peresylka verbrachten. Die Zahl der Gefangenen hier schätzten wir auf zehntausend; die Belegschaft der Zelle 37, in die man mich steckte, bestand normalerweise aus zwanzig Gefangenen, jetzt waren es aber siebzig.


 

Es ist erstaunlich und bewundernswert, wie man sich in diesen Häusern des Todes geistig wach zu halten versucht und welche Fähigkeit im Beobachten und Kombinieren die erfahrenen Insassen entwickelt haben. Jede Zelle hat ihren Statistiker, der mit wissenschaftlicher Akribie sich ein Mosaikbild des gesamten Gefängnisses zusammensetzt. Im Flur aufgefangene Gesprächsfetzen, in der Latrine gefundene alte Zeitungen, die Maßnahmen der Verwaltung den Gefangenen gegenüber, das Geräusch eines Fahrzeuges im Hof, ja selbst die Schritte vor dem Tor — all dies zusammen dient ihm dazu, sich eine klare Vorstellung von der ihn umgebenden Wirklichkeit zu machen.


 

In Leningrad hörte ich zum erstenmal eine Gesamtschätzung der Zahl der Gefangenen, Deportierten und weißen Sklaven in der Sowjetunion. Man berechnete sie auf achtzehn bis fünfundzwanzig Millionen.


 

Als wir Neuangekommenen durch den Gefängnisflur geführt wurden, begegnete unsere Gruppe einer anderen, die in umgekehrter Richtung zum Haupteingang marschierte. Beide Gruppen blieben einen Augenblick wie gelähmt stehen. Mit gesenkten Köpfen standen wir einander gegenüber, Menschen des gleichen Schicksals und doch durch eine Mauer von Angst und Furcht getrennt. Die Wächter sprachen hastig miteinander und entschieden, daß die Gruppe, zu der ich gehörte, Platz machen müsse. Mit einem eisernen Klopfer wurde an eine Seitentür gepocht. Hinter dem Fenster erschien ein Gesicht. Wieder folgte ein kurzes Palaver, und dann führte man uns in einen weiten, hellen Flur. Er gehörte zu einem Flügel des Gebäudes, der so ganz anders war als alles, was ich bis dahin in meiner Gefängniszeit gesehen hatte.

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Mit seinen großen Fenstern und den spiegelblanken Fluren wirkte dieser Teil des Peresylka im Gegensatz zu allen sonstigen sowjetischen Gefängnissen geradezu luxuriös. Große Eisengitter, die auf Schienen liefen, ersetzten die Zellentüren und täuschten so die innere Freiheit von Menschen vor, die in selbstgewählter Einsamkeit und strenger Selbstdisziplin fern von der Welt leben. Man sah niemand in den Zellen und konnte glauben, ihre Bewohner seien eben einmal ausgegangen.


 

Die Betten waren bezogen; auf den Nachttischen standen Familienbilder in Silber- oder bunten Papierrahmen. Kleiderständer, große Tische, auf denen Bücher, Zeitschriften, Schachfiguren verstreut lagen, weiße Waschtische, Rundfunk­apparate und Bilder von Stalin bildeten die übrige Einrichtung. Am Ende des Korridors befand sich ein gemeinsamer Eßraum mit einer kleinen Empore, auf der wahrscheinlich Gefangene, die ein Instrument spielen konnten, Konzerte gaben.


 

Um mir nachfühlen zu können, wie sehr mich gerade die dort hängenden Stalinbilder überraschten, muß man wissen, daß in Rußland der Gefangene gewissermaßen "exkommuniziert" wird, d. h. er darf nicht mehr am politischen Leben mit all seinen feierlichen Riten und Liturgien teilnehmen. Die Zeit der Buße muß man ohne den "großen Gott" verbringen, ohne freilich deshalb zum politischen Atheisten werden zu dürfen. Wenn man Stalin also auch nicht loben und preisen darf, kann man ihn doch nicht leugnen.


 

Dies war das "Intourist-Gefängnis" und wohl jenes, das man Lenka von Körber gezeigt, die so begeistert über das russische Gefängnissystem geschrieben hat. Während der wenigen Minuten, die wir dort warten mußten, gelang es mir, ein paar Worte mit einem Gefangenen zu wechseln, der die Zellen aufräumte, während die anderen bei der Arbeit waren. Ohne mich anzublicken und dabei an einem Radioapparat drehend, erzählte er mir, daß die Insassen hier "Voll-Sowjetbürger seien, deren Strafen höchstens achtzehn Monate betrügen und die Vergehen wie "mjelkaja Krasha" (kleiner Diebstahl), "Progul" (Unpünktlichkeit bei der Arbeit), "Chuliganstwo" (zu langsames Arbeiten) und ähnliches büßten.


 

Tagsüber arbeiteten sie in Werkstätten innerhalb des Gefängniskomplexes; sie wurden dafür gut bezahlt, bekamen anständiges Essen, und ihre Familien durften sie zweimal wöchentlich besuchen. Wenn die Sowjetregierung für die übrigen zwanzig Millionen Gefangenen und Verbannten ähnliche Lebensbedingungen schaffen würde, könnte Stalin wahrscheinlich die Armee, die NKWD und die Partei mit Hilfe einer vierten Macht in Schach halten.

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Der Gefangene, der mir das alles berichtete, beklagte sich nicht über den Freiheits­entzug — er fühlte sich ganz wohl. Ich fragte ihn, ob er etwas von dem Schicksal der anderen Gefangenen, hier und in den tausend Arbeitslagern, die es überall in der Sowjetunion gibt, wisse. Ja, er wußte Bescheid darüber. Aber das waren ja auch alles "Politische". "Die" — er deutete mit dem Kopf zu den kleinen vergitterten Fenstern hinüber — "sind lebende Tote. Hier aber kann man freier atmen als draußen." Und dann setzte er zärtlich hinzu: "Dies ist unser Winterpalais."


 

Stalin weiß ganz genau, daß wohl die "Bytowiks", d. h. die für kurze Zeit inhaftierten Kriminellen, durch menschliche Behandlung zu Reue und Demut gebracht werden können, niemals aber die "Politischen". Ja, es ist sogar so, daß der Politische sich um so mehr nach Freiheit sehnt und um so stärker gegen die Staatsgewalt rebelliert, die ihn eingesperrt hat, je besser die Lebensbedingungen in den Gefängnissen sind. Die Gefangenen und Verbannten der zaristischen Zeit konnten ein recht behagliches und bequemes Leben führen, und doch haben gerade sie den Zaren gestürzt.


 

Ein Bytowik — wie der Gefangene, mit dem ich sprach — ist alles andere als ein "Urka", ein Schwerverbrecher. Obwohl man auch in den Arbeitslagern hier und da einem Bytowik begegnet — falls er mehr als zu zwei Jahren verurteilt ist —, nimmt er doch in der Hierarchie des Lagers eine besondere Stellung ein, und seine Rechte entsprechen mehr denen des Verwaltungsstabes als denen des durchschnittlichen Gefangenen.


 

Ein Bytowik wird erst zum Urka, wenn er mehrmals rückfällig geworden ist. Ein Urka wird selten für immer aus dem Lager entlassen, er genießt nur gelegentlich ein paar Wochen der Freiheit, die gerade dazu ausreichen, daß er sich um seine dringendsten Geschäfte kümmern und sein nächstes Verbrechen begehen kann.


 

Welche Rolle er im Arbeitslager spielt, hängt nicht nur von der Länge der Zeit ab, die er in den verschiedensten Lagern verbracht, noch von der Größe seiner Straftat, sondern auch von dem Vermögen, das er sich auf dem schwarzen Markt, durch Diebstahl oder häufig auch durch Ermordung eines "Bjelorutschki" ("weiße Hände"), wie man die politischen Gefangenen nennt, erworben hat; von der Zahl der Köche und Lagerbeamten, die ihm zugetan; von seiner Fähigkeit, eine Arbeitsgruppe oder "Brigade" zu überwachen, und den Frauen in den Lagern, die ihm zu Willen sind.


 

Der Urka ist sozusagen die Säule des Arbeitslagers, die wichtigste Person nach dem Kommandanten; er beurteilt die Arbeitskraft und die politische Recht­gläubig­keit der Gefangenen seiner Brigade, und oft vertraut man ihm die verant­wortlichsten Funktionen an, wobei er notfalls von einem technischen Experten, der nicht über die gleiche Lagererfahrung wie er verfügt, unterstützt wird.

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Alle neuankommenden Mädchen gehen erst durch seine Hände, ehe sie in den Betten der Lagerleiter landen. Dem Urka untersteht sogar die "Kultur- und Erziehungsabteilung" des Lagers. Für diese Männer ist der Gedanke an die Freiheit ebenso schrecklich wie für einen normalen Menschen der an ein Leben im Arbeitslager.


 

Es war reiner Zufall, daß ich in die Zelle 37 im Leningrader Gefängnis geriet.


 

Als die Gefangenen des Transports im Flur neu eingeteilt und dann in ihre Zellen gebracht wurden, stellte es sich heraus, daß mein Name auf der Liste fehlte. Der Wächter kratzte sich hilflos am Kopf, ging darauf langsam noch einmal den Buchstaben G durch, fragte mich nach meinem Namen und Vornamen und zuckte schließlich die Schultern. "In welche Zelle sollten Sie kommen?" fragte er. Durch die Türen zu beiden Seiten des Korridors hörte man unruhiges Gemurmel, manchmal auch laute Unterhaltungen oder heiseres Singen. Allein in einer Zelle, etwas weiter hinten im Korridor, schien wohltuende Stille zu herrschen, nur hin und wieder ertönte der seltsame Refrain eines fremdländischen Liedes, den eine rauhe, asthmatische Stimme sang, und gleich darauf folgte ein harter Akkord, der auf einem Saiteninstrument angeschlagen wurde. Ich sagte darum kurz entschlossen: "In Zelle 37."


 

Die Zelle war fast leer. Die beiden Reihen eng nebeneinanderstehender Holzpritschen mit Strohsäcken wirkten fast einladend; aber als ich dann auf dem Boden längs der Wand die improvisierten Lagerstätten aus Mänteln und Jacken und die unter dem Tisch aufgestapelten Kleiderbündel sah (in überbelegten Zellen, wo jeder Zentimeter auf dem Boden, den Bänken oder Tischen zum Schlafen gebraucht wird, werden diese nur des Nachts ausgepackt und ausgebreitet), wußte ich, daß hier schon viel zu viele waren.


 

Auf einem Strohsack neben dem Kübel, gleich bei der Tür, lag ein großer, bärtiger Mann mit einem prachtvollen, wie aus Stein gemeißelten Kopf und rauchte gelassen seine Pfeife, wobei er unentwegt zur Decke starrte. Die eine Hand hatte er unter den Kopf geschoben, mit der anderen strich er seine Militäruniform, an der die Abzeichen fehlten, glatt. Jedesmal, wenn er an der Pfeife zog, hüllte sich sein Bart in dichten Rauch. In einer anderen Ecke lag ein Mann, etwa Ende vierzig, mit intelligentem, glattrasierten Gesicht, der Breeches, hohe Stiefel und eine grüne Windjacke trug. Auf die Knie hatte er ein Buch gelegt.

wikipedia Breeches


 

Dem Riesen gegenüber saß ein korpulenter Jude in einer Uniform, die über der schwarz behaarten Brust offenstand. Seine nackten Beine baumelten von der Pritsche herab.

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Sein Kopf war mit einem kleinen Barett bedeckt, und der wollene Schal, den er sich um den Hals gewunden hatte, ließ seine Lippen noch wulstiger erscheinen. Die Augen wirkten in dem aufgedunsenen Gesicht wie zwei Korinthen in einem Kuchenteig; die Nase hatte die Form einer Gurke. Er sang unter vielem Würgen und Prusten ein Lied, das ich damals für italienisch hielt und schlug dazu mit der einen Hand den Takt auf dem Knie.


 

Neben ihm stand an die Wand gelehnt ein athletisch gebauter Mann mit Matrosenmütze und einer gestreiften Jacke, der nachlässig an den Saiten einer Guitarre zupfte, während er durch das Fenster auf die in Nebel gehüllten Dächer blickte. Mir war's, als wäre ich in eine Matrosenkneipe in einem französischen Hafen ingekehrt.


 

Kurz vor dem Mittagessen wurde die Eisentür weit aufgerissen, und etwa siebzig Gefangene traten, die Hände auf dem Rücken, paarweise herein, während der Aufseher sie mit monotoner Stimme zählte. Sie kamen von ihrem Spaziergang zurück; es waren in der Mehrzahl ältere Männer in Militäruniformen und -mänteln ohne Abzeichen. Einige von ihnen humpelten, sich auf ihre Stöcke oder die Schultern ihrer Kameraden stützend, zu ihren Pritschen. Den Schluß des Zuges bildeten ein paar jüngere Matrosen und Zivilisten, die gleich dem Tisch zudrängten. Dreimal Klopfen an der Tür bedeutete hier genau wie in Witebsk: Mittagessen.


 

Während des Essens fiel mir ein hochgewachsener, gut aussehender Mann auf, der mich interessiert ansah, während er still und nachdenklich, fast elegant, seine Grütze löffelte. Er hatte ein knochiges, faltiges Gesicht, und die großen, klugen Augen lagen tief in den Höhlen. Nach jedem Bissen bewegte er seine Backenknochen langsam, als verzehre er eine seltene Delikatesse. Er war der erste, der mich ansprach und mir seine Geschichte in einem altmodisch gestelzten Polnisch (er hatte offensichtlich seit langen Jahren nicht mehr polnisch gesprochen) erzählte.


 

Er stammte aus einer polnischen Familie, die 1863 nach der Niederwerfung des polnischen Aufstandes gegen Rußland nach Sibirien verbannt worden war. Sein Name war Schlowski, und vor seiner Verhaftung war er Kommandeur eines Artillerieregiments in Puschkino (dem ehemaligen Zarskoje-Selo) nahe bei Leningrad gewesen. Rußland nannte er "mein Land", von Polen sprach er als von dem "Land meiner Väter". Es war im Gefängnis, weil er sich als Oberst und gebürtiger Pole nicht genügend um die politische Erziehung seiner Soldaten gekümmert hatte. "Wissen Sie", sagte er sanft, "als ich jung war, lehrte man uns, daß die Armee nicht denken, sondern das Vaterland verteidigen solle."

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Ich fragte ihn, warum die anderen hier seien. "Die Generäle?" Er zuckte die Schultern. "Sie sind hier, weil sie sich zu viel um Politik gekümmert haben."


 

Schlowskis Nachbar am Tisch war der Mann mit der grünen Windjacke. Es war Oberst Lawrenti Iwanowitsch (unglücklicherweise habe ich seinen Nachnamen völlig vergessen), neben Schlowski der jüngste Offizier in der Zelle. Als er herausbekommen hatte, daß ich Pole war und während des Feldzuges 1939 in Polen gelebt hatte, begann er sich für mich zu interessieren und mir Fragen zu stellen.


 

Er erzählte mir, daß er vor seiner Verhaftung beim Geheimdienst der russischen Armee an der polnischen Front gewesen sei. Er kannte die ganze Gegend wie seine Westentasche und hatte trotz vier Jahren Gefängnis all seine glänzenden Informationen von damals noch genau im Kopf. Er erinnerte sich haarscharf an jede Frontstellung, wußte über die verschiedenen Regimenter und Divisionen der polnischen Armee ebenso Bescheid wie über die Namen und Eigentümlichkeiten der sie befehligenden Offiziere; z. B. daß dieser ungeheure Summen verspielte, jener ein Pferdenarr war, daß ein anderer in Lida lebte, aber eine Geliebte in Baranowicze hatte und ein vierter als Muster eines Offiziers gelten konnte.


 

Er fragte mich erregt, wie die einzelnen sich im Septemberfeldzug verhalten hätten, wie ein bankrotter Rennstallbesitzer sich nach dem Verhalten seiner ihm jetzt nicht mehr gehörenden Pferde auf einem Rennplatz im Ausland erkundigt haben würde.


 

Ich wußte nur wenig und spürte auch keine Lust, ihm selbst dieses wenige zu erzählen, denn ich lebte noch immer unter dem Eindruck der bitteren Niederlage, die Polen in den ersten Kriegswochen erlitten hatte. Durch unsere Gespräche wurden wir bald enge Freunde, und so kam es, daß wir uns eines Tages auch über unsere Zellengenossen unterhielten. Ich erinnere mich des Abends noch so deutlich, als wäre es erst gestern gewesen. Wir saßen auf einer Pritsche. Neben uns döste ein junger Medizinstudent aus Leningrad vor sich hin. Er hatte ein mädchenhaftes Gesicht und mich einmal in der Latrine flüsternd gefragt, ob ich Gides "Zurück aus der UdSSR" gelesen habe, das nach den Kritiken in der sowjetischen Presse sehr interessant sein müsse.


 

Die elektrischen Lampen brannten schon, und die Matrosen saßen um den Tisch herum und spielten Karten, während die Sowjetgeneräle, in tiefes Nachdenken versunken, wie zu Steinbildern erstarrt auf ihren Pritschen lagen. Lawrenti Iwanowitsch deutete nur mit einem Blick auf sie und gab dann kurze Erläuterungen, wie ein Führer in einem Museum, in dem Sammlungen ägyptischer Mumien ausgestellt sind.

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Von dem korpulenten Juden, der wie immer mit baumelnden Beinen, ein Lied vor sich hin summend, auf seiner Pritsche hockte, sagte er: "Politischer Kommissar bei einer Division in Spanien. Bei den Verhören hat man ihm schwer zugesetzt." Der bärtige Riese war Ingenieur und General der Luftwaffe und vor kurzem in den Hungerstreik getreten, weil er eine Revision seines Verfahrens forderte "im Hinblick auf die Bedürfnisse der sowjetischen Flugzeugindustrie".


 

All die Generäle hier waren 1937 wegen Spionageverdacht verhaftet worden, und nach Lawrenti Iwanowitschs Meinung hatten sie das vor allem den Deutschen zu verdanken. Der deutsche Geheimdienst hatte dem sowjetischen Geheimdienst durch einen neutralen Zwischenträger Beweismaterial über vollendete Spionage übergeben,1 durch das viele Angehörige des sowjetischen Generalstabes, die während ihrer militärischen Laufbahn mehrmals vorübergehend in Deutschland gewesen waren, schwer belastet wurden.


 

Die Deutschen hofften, das sowjetische Oberkommando dadurch zu lähmen, und der sowjetische Geheimdienst neigte seit dem Tuchatschewski-Komplott immer noch zu übertriebenem Argwohn. Wenn 1938 ein russisch-deutscher Krieg ausgebrochen wäre, hätte die russische Armee nur über äußerst dürftige Führerreserven verfügt. Der Ausbruch des zweiten Weltkrieges hatte die Gefangenen der Zelle 37 vor dem Todesurteil gerettet und den Verhören und Qualen, an denen sie langsam zerbrachen, jäh ein Ende gemacht.


 

Ihre ganze Hoffnung richtete sich auf einen russisch-deutschen Krieg, weil sie erwarteten, daß man sie dann freilassen, wieder in ihre Stellungen und Kommandos einsetzen und den ihnen vier Jahre entgangenen Sold nachzahlen werde.2


 

Die auf zehn Jahre Gefängnis lautenden Urteile, die man ihnen nach dreieinhalb Jahren Haft, einen Monat, ehe ich zu ihnen stieß, verlesen hatte, hielten sie nur für eine Formalität, die dazu dienen sollte, das Gesicht der NKWD zu wahren. Und selbst im November 1940 glaubten die Insassen der Zelle 37 fest an einen russisch-deutschen Krieg, der mit einem russischen Siege enden würde, aber es kam ihnen niemals der Gedanke, daß sich dieser Krieg auf russischem Boden abspielen könnte.


 

Nach dem Abendappell, wenn der "fliegende Laden",3 in dem man Zeitungen, Zigaretten und Würstchen kaufen konnte, in die Zelle gefahren kam, kletterte Lawrenti Iwanowitsch, als der nach Alter und Rang Jüngste, auf den Tisch und las die neuesten Heeresberichte von der Westfront aus der Prawda und Iswestija vor.


 

Das war immer der einzige Augenblick am ganzen Tag, da die Generäle aus ihrer Lethargie erwachten und leidenschaftlich die Chancen auf beiden Seiten diskutierten.

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Besonders fiel mir auf, daß, sobald sich die Unterhaltung der militärischen Stärke Rußlands zuwandte, keine Bitterkeit, Auflehnung oder Klage hörbar wurde, sondern nur die dumpfe Trauer von Männern, die man aus ihrer Lebensarbeit herausgerissen hatte. Ich befragte Lawrenti Iwanowitsch einmal darüber. Er antwortete: "In einem normalen Staat ist es den Menschen freigestellt, zufrieden, halbzufrieden oder unzufrieden zu sein. In einem Staat, in dem angeblich alle zufrieden sind, werden alle immer verdächtigt, unzufrieden zu sein. So oder so — die Menschen bilden immer ein unteilbares Ganzes."


 

General Artamian, der bärtige Armenier von der Luftwaffe, erhob sich jeden Abend für einige Minuten und bewegte sich mit seinem riesigen Körper ein paarmal um die Pritschen, "um die Knochen ein wenig zu strecken". Danach legte er sich wieder auf die alte Stelle und atmete mehrmals tief ein und aus. Er tat das mit großem Ernst und erstaunlicher Pünktlichkeit: seine Abendgymnastik war das Zeichen, daß das Abendbrot nicht mehr lange auf sich warten lassen würde.


 

Mein erster Tag in der Zelle 37 war der dritte Tag seines Hungerstreiks. Als ich schon zehn Tage dort war, streikte er noch immer. Er wurde blaß und blässer, er konnte kaum noch gehen und atmen, und nach jedem neuen Zug an seiner Pfeife hustete er heftig. Er verlangte, daß man ihn freilasse und wieder als General verwende, wobei er vor allem auf seine revolutionäre Vergangenheit und seine Verdienste um den Staat hinwies. Die NKWD war auch bereit, ihn unter Bewachung in einer Leningrader Flugzeugfabrik arbeiten zu lassen und ihm eine Einzelzelle im "Winterpalais" zu geben.


 

Jeden dritten Tag brachte ihm der Wärter ein prächtiges Lebensmittelpaket "von seiner Frau", obgleich er sonst nichts von ihr hörte noch wußte, da sie wahrscheinlich in irgendeinen weit entfernten Teil Rußlands zwangsweise evakuiert worden war. Artamian stand dann von seiner Pritsche auf und bot allen von den Eßwaren an. Wurde das Angebot aber schweigend abgelehnt, rief er den Wärter von draußen herein und schüttete in dessen Gegenwart alles in den Kübel. Obgleich ich auf dem Boden neben dem Kübel schlief und also Artamians Nachbar war, sprach er nicht ein einziges Mal zu mir. In der letzten Nacht, die ich im Leningrader Gefängnis verbrachte und in der man wie sonst nie draußen ein stetes Kommen und Gehen hörte — wir ahnten alle, daß dies eine dicht bevorstehende Veränderung zu bedeuten hatte — konnte keiner von uns schlafen.


 

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Ich lag auf dem Rücken, hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und lauschte auf die immer lauter anschwellenden Geräusche draußen. Es klang wie das Rauschen eines Flusses, der sich vor einem Damm staut. Die Rauchwolken aus Artamians Pfeife verhüllten das Licht der Lampe, und die Zelle lag im Halbdunkel. Plötzlich tastete seine Hand nach meiner. Dann richtete er sich ein wenig auf und führte meine Hand an seine Brust. Durch das Hemd konnte ich Schwellungen und Vertiefungen fühlen und ebenso unter seinem Knie, zu dem er meine Hand darauf gleiten ließ.


 

Lawrenti Iwanowitsch hatte mir erzählt, daß man die meisten Generäle während ihrer Verhöre geschlagen hatte. Aber ich hatte nicht geahnt, daß ihnen dabei die Knochen gebrochen worden waren. Ich wollte etwas zu Artamian sagen, er schien jedoch ganz in Gedanken verloren zu sein, und aus seinem unbeweglichen, bärtigen Gesicht sprach völlige Erschöpfung. Nach Mitternacht wurde es im Flur immer lauter. Ich hörte, wie man Zellentüren öffnete und wieder schloß und wie monotone Stimmen Namenslisten verlasen. Ein geflüstertes "Hier" war jedesmal die Antwort.


 

Endlich wurde auch die Tür der Zelle 37 geöffnet — für Schlowski und mich. Während ich niederkniete, um in aller Eile mein Bündel zu packen, griff Artamian noch einmal nach meiner Hand und drückte sie fest, ohne ein Wort zu sagen und mich anzusehen. Wir traten in den Flur hinaus und schlossen uns den vor Angst schwitzenden, verschlafenen Gefangenen an, die geduckt an den Wänden lehnten.


 

Schlowski und ich fuhren in dem gleichen Abteil in einem "Stolypin-Wagen" (einem Gefangenenwagen mit vergitterten Scheiben, der nach dem zaristischen Minister, der ihn in Rußland eingeführt hat, so benannt wird). Er legte seinen Militärmantel auf die Bank und saß während der ganzen Fahrt aufrecht und stumm in der Ecke des Abteils, seine Uniform hatte er bis zum Hals zugeknöpft und die Hände auf den Knien gefaltet.


 

Außer uns saßen hier noch drei Urkas, die sofort auf der oberen, herunter­klappbaren Bank Karten zu spielen begannen. Einer von ihnen, ein wahrer Gorilla mit einem flachen Mongolengesicht, erzählte uns, noch ehe der Zug den Leningrader Bahnhof verlassen hatte, er habe fünfzehn Jahre bekommen, weil er den Koch im Lager Pechora, der sich geweigert hatte, ihm noch eine zweite Portion Grütze zu geben, mit der Axt erschlagen habe. Er berichtete das mit sichtlichem Stolz, ohne das Spiel dabei zu unterbrechen. Schlowski saß unbeweglich mit halbgeschlossenen Augen in seiner Ecke, während ich mich zu einem Lächeln zwang.


 

Es muß sehr viel später gewesen sein — denn über den schneebedeckten Höhen draußen dämmerte es schon — als der Gorilla


 

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plötzlich seine Karten hinwarf, von seiner Bank herunterkletterte und auf Schlowski zukam.


 

"Gib mir den Mantel", gröhlte er, "ich habe ihn beim Spiel verloren."


 

Schlowski schlug die Augen auf und zuckte die Schultern, ohne sich von seinem Sitz zu erheben. "Gib ihn mir", brüllte der Gorilla noch einmal wütend, "gib ihn mir, oder — glasa vykolu — ich werde dir die Augen ausstechen."


 

Der Oberst stand langsam auf und reichte ihm den Mantel.


 

Erst viel später, im Arbeitslager, habe ich den Sinn dieser unglaublichen Szene begriffen. Eins der Hauptvergnügen der Urkas besteht darin, beim Kartenspiel etwas zu setzen, was anderen Gefangenen gehört, und der besondere Reiz dieses sonderbaren Spaßes ist es, daß der Verlierer das betreffende Stück dem rechtmäßigen Eigentümer entreißen muß.


 

1937, als die ersten Arbeitslager errichtet wurden, spielten die Urkas um Menschenleben, weil damals niemand etwas Begehrenswertes besaß. Ein politischer Gefangener, der in einer Ecke der Baracke saß, ahnte nicht, daß die fettigen Karten, die mit lautem Krach auf das kleine Brett auf den Knien der Spieler geworfen wurden, sein Schicksal besiegelten.


 

"Glasa vykolu" war die schlimmste Drohung, deren sich die Urkas bedienten: zwei erhobene Finger der rechten Hand in der Form eines V waren bereit, dem Opfer die Augen auszudrücken. Man konnte sich nur dagegen verteidigen, indem man die Hand ergriff und sie blitzschnell gegen Nase und Stirne preßte. Die Finger des Angreifers prallten dann daran ab, wie die Wogen am Bug eines Schiffes.


 

Später erst bemerkte ich, daß der Gorilla kaum seine Drohung hätte verwirklichen können, denn ihm fehlte an der rechten Hand der Zeigefinger. Diese Art der Selbstverstümmelung kam in den Anfangszeiten der Arbeitslager nicht selten vor. Gerade bei den Waldbrigaden konnte jemand, der am Ende seiner Kraft war, nur dann ins Lazarett kommen, wenn er sich auf einem Holzklotz einen Arm oder ein Bein abhackte.


 

Dank der unmenschlichen Gedankenlosigkeit der sowjetischen Arbeitslager­verwaltung ist es soweit gekommen, daß ein Gefangener, der während der Arbeit vor Erschöpfung tot zu Boden sinkt, weiter nichts als eine Zahl ist, die mit einem Bleistift vom Produktionsplan gestrichen wird, während man jemand, der sich bei der Arbeit verletzt, wie eine beschädigte Maschine schleunigst zur "Reparatur" schickt.

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Als der Zug Wologda erreichte, war ich der einzige, den man aus unserem Abteil holte. "Auf Wiedersehen", sagte ich zu Schlowski. "Auf Wiedersehen", antwortete er, als wir uns die Hände gaben, "mögen Sie in das Land unserer Väter zurück­kehren!"

 

Einen Tag und eine Nacht verbrachte ich im Gefängnis in Wologda, das durch seine Ecktürme und die roten Mauern, die einen großen Hof umschlossen, an eine mittelalterliche Burg erinnerte. In einer kleinen Zelle im Keller, in der es statt eines Fensters nur ein männerkopfgroßes Loch in der Wand gab, schlief ich auf dem kahlen Boden.

 

Um mich herum lagen Bauern aus der Gegend, die nicht mehr Tag und Nacht unterscheiden konnten, nicht mehr wußten, was es für eine Jahreszeit, was es für ein Monat war, die keine Ahnung hatten, warum sie im Gefängnis waren, wie lange man sie schon eingesperrt hatte und wie lange sie hier noch bleiben müßten.

 

Am nächsten Abend fuhr ich mit einem anderen Transport nach Jercewo, unweit von Archangelsk. Auf dem Bahnhof, wo wir im Morgengrauen ankamen, erwartete uns eine Wachmannschaft. Wir wurden aus den Wagen herausgelassen und stapften, von Bluthunden umbellt, zwischen den Posten über den knirschenden Schnee. Am frostklaren Himmel leuchteten noch ein paar Sterne. Ich hatte das Gefühl, daß sie jeden Augenblick erlöschen würden, und daß dann alles in dunkler tiefer Nacht versänke.

 

Aber als wir um die erste Wegbiegung kamen, sah ich am Horizont die Silhouetten von vier Wachtürmen, die wie riesige Krähennester auf den Holzgerüsten saßen und von Stacheldraht umgeben waren. Aus den Barackenfenstern fiel ein Lichtschein, und man konnte das Rasseln der Brunnenketten hören, die über die gefrorenen Winden glitten.

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 Ende 1

 

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