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2. KAPITEL

NÄCHTLICHE JAGD

 

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Das Wort "Proiswol" (Willkür) kennen heute wahrscheinlich die wenigsten Gefangenen in Sowjetrußland noch. Roh übersetzt bedeutet es das Regiment, das die Urkas in der Zeit vom späten Abend bis zur Morgendämmerung in dem von Stacheldraht eingezäunten Lagerbereich führen. Das "proiswol", das man in den meisten russischen Arbeitslagern seit 1937 kannte, wurde gegen Ende 1940 beseitigt.

Als "Pionier"-Zeit der Arbeitslager werden meistens die Jahre 1937 bis 1940 bezeichnet, obwohl es da je nach den örtlichen Verhältnissen große Unterschiede gab. Für die "alten" russischen Häftlinge, die das große Glück hatten, die Jahre der "großen Säuberung" und des "sozialistischen Aufbaus des Landes" — der vor allem mit Hilfe des unerbittlichen Arbeitszwanges durchgeführt wurde — zu überleben, ist das Jahr 1937 ebenso bedeutsam wie das Jahr der Geburt Christi für die Christen, oder das der Zerstörung Jerusalems für die Juden.

"Das war 1937"immer wieder hörte ich sie diese Worte mit einer Stimme flüstern, in der noch das ganze Grauen des damals Erlebten mitschwang. Im Kalender der Revolution gibt es eine ganze Anzahl solcher geschichtlich entscheidender Ereignisse, deren jedoch von der "Neuen Ära" nur selten ausdrücklich gedacht wird.

Für sehr alte Leute bedeutet die Oktoberrevolution den großen Wendepunkt, und es wäre deshalb nach ihrer Ansicht sinnvoller, die Zeitrechnung damit beginnen zu lassen, denn alles was sich je in der Geschichte der Menschheit zugetragen hat, wird ja nach einem "vor" oder "nach" eingeordnet. Und je nach der politischen Einstellung des Einzelnen bedeuten "vor" und "nach" entweder Armut und Zufriedenheit oder Zufriedenheit und Armut; in beiden Fällen jedoch versinkt alles, was vor der Erstürmung des Winterpalais in St. Petersburg geschehen ist, im Nebel der Vorgeschichte.

Die Jüngeren dagegen (ich spreche natürlich immer noch von den Arbeitslagern) betrachten die "Neue Ära" anders. Für sie ist der Zar gleichbedeutend mit Armut, Sklaverei und Unterdrückung, und Lenin mit Weißbrot, Zucker und Speck. Diese Maßstäbe haben sich in ihrem primitiven Geschichtsbewußtsein durch die Erzählungen ihrer Väter festgesetzt; als den eigentlichen Wendepunkt jedoch sehen sie das Jahr 1937 an, das Jahr der "zweiten Revolution".

Die beiden, mit denen ich zuerst im Lager Freundschaft schloß, gehörten noch zur "Alten Garde" von 1937.

Den einen, Polenko, einen Landwirtschaftsingenieur, hatte man der Sabotage an der Schaffung von Kolchosen für schuldig befunden, und den anderen, Karbonski, einen Funkingenieur aus Kiew, hatte man eingesperrt, weil er die Beziehungen zu seinen Verwandten in Polen aufrechterhalten hatte. Von ihnen erfuhr ich, daß das Lager Kargopol vor vier Jahren gegründet worden war. Als ich dorthin kam, also 1940, bestand es aus mehreren Einzellagern (die größten waren Mostowitza, Ostrownoje, Kruglitza, Njandoma, die beiden Alexejewkas und mein eigenes, Jercewo). Sie waren in einem Umkreis von 35 Meilen verteilt, und in allen zusammen lebten ungefähr 30.000 Gefangene.

Als das Lager Kargopol errichtet werden sollte, hatte man kurzerhand sechshundert Gefangene in der Nähe des Bahnhofs Jercewo inmitten des noch völlig unberührten Waldes aus einem Transportzug entladen. Die Lebens­bedingungen waren sehr hart. Nicht selten fiel das Thermometer auf mehr als 40° unter Null. Die tägliche Brotration betrug 300 g, und alle vierundzwanzig Stunden bekamen die Gefangenen eine Schüssel warme Suppe. Sie schliefen in Hütten aus Tannenästen, die sie rings um ein immer brennendes Feuer gebaut hatten, während das Wachpersonal in kleinen, auf Schlittenkufen stehenden Baracken hauste.

Zunächst mußten die Gefangenen ein Stück Wald roden. In der Mitte dieser Lichtung wurde eine Lazarettbaracke aufgestellt. Bald entdeckten sie, daß eine Selbstverstümmelung bei der Arbeit dem Gefangenen das Vorrecht gab, mehrere Wochen unter einem richtigen Dach zu verbringen, von dem nicht unaufhörlich der schmelzende Schnee auf einen herabtropfte und wo immer ein kleiner eiserner Ofen brannte. Aber die Zahl der Unfälle stieg so sehr an, daß man die Verletzten meist in einem Schlitten in das nächste Krankenhaus, in Njandoma, etwa 25 Meilen von Jercewo entfernt, fuhr.

Zur gleichen Zeit nahm die Sterblichkeitsziffer erschreckend zu. Die ersten, die starben, waren polnische und deutsche Kommunisten, die aus ihren Heimatländern nach Rußland geflohen waren, um einer Verhaftung zu entgehen. Nach den Berichten meiner beiden Freunde war es besonders erschütternd, die Polen sterben zu sehen, weil ihr Tod so plötzlich kam. Diese polnischen Kommunisten, meist Juden, endeten jäh, wie Vögel, die bei starkem Frost von einem Zweig herabfallen, oder wie Fische, die krepieren, wenn man sie an die Meeresoberfläche bringt. Ein kurzes Aufhusten, ein kaum hörbares Seufzen, eine dünne weiße Hauchwolke, die einen Augenblick in der Luft schwebte, und der Kopf sank schwer auf die Brust herab, während die Hände noch ein letztes Mal nach dem Schnee auf dem Boden griffen. Weiter nichts – kein Schrei – nicht einmal ein Klagen...

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Nach ihnen kamen die Ukrainer an die Reihe und dann die aus Mittelasien stammenden, die Kasaken, Usbeken, Turkmenen, Kirgisen, alle die man "Nacnemij" nennt. Russen, Balten und Finnen (die ausgezeichnete Waldarbeiter sind) hielten am besten durch, und darum wurde ihre Tagesration um 100 g Brot und eine Kelle Suppe erhöht.

In den ersten Monaten, als die Menschen wie die Fliegen starben und die Verhältnisse im Lager mehr als primitiv waren, konnten die Wachhabenden die Gefangenen kaum dauernd unter Kontrolle halten, und oft wurden die schon ganz gefrorenen Leichen in den Hütten versteckt, damit man so in den Genuß ihrer Lebensmittelrationen kam. Bald wurden in der Lichtung, die bereits mit Stacheldraht eingezäunt war, neue Baracken aufgestellt, und täglich drangen die Brigaden der "Lesorubis" (Waldarbeiter), die immer wieder mit frischen Kontingenten aus den Gefängnissen aufgefüllt wurden, weiter in den Wald vor.

1940 war Jercewo schon ein bedeutendes Zentrum der Kargopol-Holzindustrie, mit einer Sägemühle, zwei Bahnlinien, einer eigenen Lebensmittelzentrale und einem jenseits der Lagergrenze liegenden Dorf, in dem der Verwaltungsstab lebte. All dies hatten die Gefangenen gebaut.

Aus dieser ersten Pionierzeit wurde die Tradition der "Proiswol" übernommen.4 Als es noch keine Schuppen gab, die in der Nacht verschlossen werden konnten und in denen die Gefangenen ihr Handwerkszeug, wie Sägen, Äxte und Beile, abstellten, und als die Wächter die Gefangenen nur so weit in der Gewalt hatten, wie ihre Bajonette und die Strahlen ihrer Scheinwerfer reichten, wanderten einige dieser Werkzeuge nachts in die Baracken.

Die ersten Urkas, die 1938 ins Lager kamen, machten sich diese Zustände zunutze, proklamierten innerhalb der Lagerzone vom Abenddämmern bis zum Morgen­grauen eine Art Miniaturstaat, hielten nächtlicherweile Gericht über die politischen Gefangenen ab und vollstreckten dann sofort die Urteile.

Kein Wachposten hätte es gewagt, nach Anbruch der Dunkelheit eine Baracke zu betreten, selbst dann nicht, wenn das furchtbare Stöhnen und Schreien der langsam zu Tode gemarterten Politischen im ganzen Lager zu hören war. Denn er konnte nicht wissen, ob nicht jemand hinter einer Baracke mit einem Beil bewaffnet auf ihn lauerte, um ihm den Schädel einzuschlagen.

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Da die tagsüber dem Lagerkommandanten vorgetragenen Beschwerden wenig Erfolg hatten, gründeten die Politischen eine eigene Verteidigungsgruppe, und dieser Bürgerkrieg zwischen dem demoralisierten Proletariat und der revolutionären Intelligenz dauerte, obwohl er mit der Zeit an Heftigkeit nachließ, bis Anfang 1939. In jenem Jahr konnte die NKWD dank neuer technischer Einrichtungen und einer Verstärkung der Bewachungstruppen selber die Initiative ergreifen.

1940 diente das, was von dem Gefangenen-“Staat" noch übriggeblieben war, nur noch dazu, den Urkas ihre nächtlichen Jagden auf die neu ankommenden Frauen zu erleichtern. Eineinhalb Jahre bevor ich dorthin kam, hatte man die erste Frauenbaracke im Lager eröffnet. Gerechterweise muß erwähnt werden, daß die NKWD diese nächtlichen Jagden nur außerhalb der Baracken duldete. Die Tür zur Frauenbaracke lag in Schußweite vom Wachhaus entfernt. Neuankommende Frauen wurden meist von den schon erfahrenen weiblichen Gefangenen vor der drohenden Gefahr gewarnt, hörten jedoch manchmal nicht auf diese Warnungen. Wenn sie sich dann aber am Morgen nach dem "Unfall" im Wachhaus beklagten, ernteten sie nur Hohn und Spott. Und außerdem, welche Frau hätte es gewagt, sich der gnadenlosen Rache der Urkas auszuliefern!

Von dem Augenblick ihrer Ankunft im Lager an lernte jede Frau die Kampfregeln, mit denen sich die Lagerzeit überleben ließ, und hielt sich instinktiv an sie. Entweder blieb sie nach Einbruch der Dunkelheit in ihrer Baracke, oder sie suchte sich unter den Urkas einen Beschützer. Anfang 1941 wurden auch diese nächtlichen Jagden von der NKWD unterbunden. Das Leben wurde für einige erträglicher, für andere "sterbenslangweilig".

Da bei meiner Ankunft im Lager die Gefangenen bei der Arbeit waren, verbrachte ich den Tag in einer leeren Baracke, und gegen Abend, als ich einen Schüttelfrost und Fieber bekam, schleppte ich mich auf Anraten des Priesters Dimka zum Krankenrevier. Dimka, ein alter Mann mit einem Holzbein, war so eine Art Baracken-"Ordonnanz". Er riet mir, den Arzt solange zu beknien, bis er bereit sei, mich ins Lazarett zu schicken. "Nach so langer Gefängniszeit", sagte er, "brauchst du etwas Ruhe, ehe du wieder mit ehrlicher Arbeit beginnen kannst."

Wir lächelten beide über das "ehrlich". Dann legte sich der Priester ein Joch auf die Schultern, an dem zwei Eimer hingen. Dies war der wichtigste Augenblick seines mit Arbeit nicht gerade angefüllten Tages. Er hatte schon den Boden aufgewischt, Holz in den Ofen geworfen und holte nun Trinkwasser, mit dem er "Hwoja" bereitete, einen dunkelgrünen Aufguß von Tannennadeln, der die fehlenden Vitamine ersetzen sollte.

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Die wenigen glücklichen an Skorbut Leidenden im Lager konnten vom Arzt eine Bescheinigung erhalten, auf die sie "Zyngtonoje Pytanje" erhielten, d. h. täglich einen Löffel geriebenes rohes Gemüse, meist Zwiebel, Mohrrüben, rote Rüben und Steckrüben. Die immer wieder vorgetragenen Bitten um Zyngtonoje galten freilich weniger der Medizin als der zusätzlichen Nahrung.

Es dämmerte bereits, aber draußen war es immer noch ziemlich milde. Die ersten dünnen Rauchfahnen stiegen schon über den Baracken auf, während durch die zugefrorenen Fenster ein trüber Lichtschein fiel. Rings um das Lager erhob sich die dunkle Wand des Waldes. Die Wege innerhalb des Lagers bestanden aus Holzbrettern, die immer zu zweit nebeneinander gelegt waren. Jeden Tag fegte der alte Priester mit Holzschaufeln den Schnee von ihnen fort, so daß sich zu beiden Seiten hohe Schneehaufen bildeten, die einem manchmal bis zur Hüfte reichten. Das ganze Lager sah wie eine große Lehmgrube aus, durch die ein spinnwebeartiges Schienennetz lief. Die Tore am Wachhaus waren schon für die ersten von der Arbeit heimkehrenden Brigaden geöffnet. Auf einer Plattform vor der Küche stand eine Schlange armseliger Schattengestalten, die Pelzmützen mit Ohrenklappen trugen. Ihre Füße und Beine waren mit alten Lumpen umwickelt, die mit Bindfaden festgebunden waren. Ungeduldig klapperten sie mit ihren Blechnäpfen, um den Koch daran zu erinnern, daß sie hier warteten.

Das Krankenrevier lag unweit der Frauenbaracke. Der Arzt und sein Helfer empfingen die Kranken hinter einer Sperrholzwand. In der Ecke neben der Tür saß ein alter Mann mit zottligem Haar und Stahlbrille, der jeden Herein­kommenden mit einem freundlichen Blick begrüßte und mit sichtlicher Freude und einer wie gestochenen Schrift die Namen der Patienten in eine Liste eintrug. Er schien sich hier ganz zu Hause zu fühlen, warf zwischendurch immer wieder ein paar Scheite in den Ofen, fragte jeden Ankömmling mit komischem Ernst nach seinen Leiden und den Krankheitssymptomen und rief hin und wieder über die Sperrholzwand hinweg: "Tatjana Pawlowna, dies scheint mir ein sehr bedenklicher Fall zu sein". Dann lehnte er sich befriedigt zurück und rührte den Rest seiner Suppe, der in einem Blechgefäß auf dem Ofen stand. Eine angenehme Frauenstimme antwortete jedesmal: "Bitte, gedulde dich noch etwas, Matwei Kiryllowitsch", worauf der alte Mann wie ein überlasteter Beamter bedauernd die Arme hob. Solch eine übertriebene Höflichkeit begegnete einem in den Lagern nur bei älteren Leuten.

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Die meisten, die hier in der Krankenhütte warteten, waren Nazmenis, d. h. Mongolen aus Mittelasien. Selbst hier im Warteraum betasteten sie unaufhörlich ihren kranken Magen, und sobald sie hinter die Sperrholzwand traten, brachen sie in Stöhnen und Wimmern aus, das mit Klageworten in einem seltsam gebrochenen Russisch abwechselte. Es gab kein Mittel für ihr Leiden, und meistens hielt man sie für Simulanten. Sie starben an übergroßem Heimweh, an der unstillbaren Sehnsucht nach ihrer Heimat, an Hunger und Kälte, die ihre letzte Kraft verzehrten. Ihre Schlitzaugen, die nicht an das nördliche Klima gewöhnt waren, tränten unaufhörlich, und ihre Augenlider waren von einer schmalen gelben Kruste verklebt.

An den seltenen freien Tagen versammelten sich die Usbeken, Turkmenen und Kirgisen in einer Ecke der Baracke, mit ihrem Festtagsstaat aus langen bunten Seidengewändern und bestickten Kappen angetan, und niemand vermochte zu erraten, worüber sie so erregt sprachen. Sie gestikulierten dabei wild, überschrien sich gegenseitig oder nickten sich traurig zu. Nur ein einziges Mal in den anderthalb Jahren, die ich dort war, kam eine Turkmenin ins Lager. Die Gruppe der Mongolen empfing sie wie einen Ehrengast in ihrer Barackenecke und geleitete sie vor Einbruch der Nacht zur Frauenbaracke zurück. Aber schon am nächsten Morgen mußte sie mit einem anderen Transport das Lager wieder verlassen.

Tatjana Pawlowna, die Ärztin, erwies sich als eine höfliche ältere Frau, die mich ohne irgendwelche Schwierigkeiten ins Lazarett überwies, als sie merkte, daß ich wirklich hohes Fieber hatte. "Die Karte, die ich Ihnen gegeben habe, nützt oft nur bedingt", sagte sie, als ich ging. "Manchmal muß man lange auf ein freies Bett warten." Als ich in meine Baracke zurückkehrte, um meine Sachen zusammenzupacken, lag das Lager schon in tiefem Dunkel. Während ich über den Weg stolperte, begegneten mir einige, die an Nachtblindheit — einer Folge der schlechten Ernährung — litten. Sie tasteten sich vorsichtig an den glitschigen, vereisten Barackenwänden entlang und bemühten sich vergeblich, mit den Fingern den schwarzen Vorhang vor ihren Augen fortzuschieben. Hier und da fiel einer von ihnen in einen Schneehaufen, aus dem er sich verzweifelt herauszuarbeiten versuchte, wobei er leise um Hilfe schrie. Die gesunden Gefangenen gingen achtlos an ihnen vorüber und eilten, die Augen nur auf die erhellten Barackenfenster gerichtet, weiter.

Im Lazarett hatte ich nur eine Nacht auf dem Fußboden im Gang schlafen müssen, dann durfte ich zwei Wochen in einem reinen Bett in der Krankenstube verbringen. Ich denke noch gern an diese Zeit zurück, die eine der glücklichsten meines Lebens war. Mein Körper, der schon seit einem Jahr kein richtiges Bett mehr kannte, war wie erlöst und ich versank in einen Dauerschlaf von vierundzwanzig Stunden.

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Mein Bettnachbar litt an "Pylarga", einer seltsamen Krankheit, bei der man die Haare und Zähne verliert und unter lange anhaltenden Anfällen von Melancholie und außerdem wohl auch noch unter Knochen­brüchen leidet. Jeden Morgen, nach dem Erwachen, warf er seine Bettdecken zurück und wiegte mehrere Minuten lang seine Hoden in der Hand. Als einzige Medizin bekam er große Stücke Margarine, die man ihm außer Weißbrot zum Frühstück brachte. Aber die einmal von Pylarga Befallenen wurden nie wieder vollkommen gesund. Wenn sie aus dem Lazarett entlassen worden waren, brachte man sie gleich in die Baracke, in der die nicht mehr Arbeitsfähigen den ganzen Tag auf ihren Pritschen verbringen durften, wofür sie kleinere Essenrationen bekamen. Im Lager nannte man diese Baracke den "Knochenladen" oder die "Leichenhalle".

Im Lazarett befreundete ich mich mit der Krankenschwester, einer ungewöhnlich aufopferungsvollen und hilfreichen Russin aus Wjatka, die zu zehn Jahren verurteilt worden war, weil ihr Vater sich konter­revolutionär betätigt hatte. Man hatte ihn seit 1937 in völlig von der Außenwelt abgeschlossene Lager eingesperrt, wo er weder schreiben noch Briefe erhalten durfte, und die Tochter wußte nicht, wo, wie und ob er überhaupt noch lebte. Schwester Tamara gab mir Gribojedows gesammelte Werke; sie sind neben Dostojewskis "Totenhaus" die einzigen Bücher gewesen, die ich während meines Lageraufenthaltes gelesen habe.

Nach meiner Rückkehr in die Baracke durfte ich mich noch drei Tage ausruhen und hatte so genügend Zeit, mich auf das Weitere vorzubereiten. Theoretisch gab es für mich drei Möglichkeiten: entweder wurde ich einer Waldarbeiterbrigade zugeteilt oder in ein anderes Lager nach Kargopol geschickt, oder aber, wenn ich beides nicht wollte, mußte ich mich selbst um etwas kümmern.

Die Arbeit im Wald, bei der man vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung manchmal bis an die Hüften im Schnee stehen mußte, ließ sich von einem gesunden jungen Mann wohl bewältigen, aber ich fürchtete mich vor den drei Meilen, die man täglich zum und vom Arbeitsplatz zurücklegen mußte: der Weg führte durch tiefen Wald, in dem es viele Schneelöcher und Wolffanggruben gab.

Meine Beine waren aber im Gefängnis so angeschwollen, daß ich schon das Schlangestehen bei der Essenausgabe kaum aushielt. Aus den Berichten der anderen Gefangenen entnahm ich, daß Jercewo noch das beste der Kargopol-Lager war; in den anderen, besonders im Straflager Alexejewka II. waren vor allem Polen untergebracht, die langsam dahinsiechten.

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Ich folgte dem Rat von Dimka, der mein bester Freund geworden war, und verkaufte meine hohen Offiziersstiefel für 900 g Brot an einen Urka, der als Träger bei der Eisenbahnbrigade arbeitete. Am gleichen Abend noch bekam ich die Antwort: der Lagerkommandant willigte ein, daß ich der 42. Brigade zugeteilt würde und wies mich an, mich bei der Lagerkammer zu melden. Dort bekam ich eine "Bushlat" (eine langärmlige wattierte Weste), ein Paar wattierte Hosen, wasserdichte Handschuhe aus Segeltuch und "Walonkis" (Schuhe, die aus Schaffell, Kuh- und Pferdehaut gemacht waren), alles ganz neu und nur wenig getragen, eine Ausrüstung, wie sie sonst nur die besten Stachanow-Gefangenen-Brigaden erhalten.

Ich wußte von Dimka, was mich als Träger bei der Nahrungsmittelzentrale erwartete. Die Arbeit war schwer, denn an einem durchschnittlichen Zwölfstundentag mußte man 25 Tonnen Mehl in Säcken, oder 18 Tonnen Roggen ohne Säcke, dreißig Meter weit vom Güterwagen in den Lagerraum tragen; standen aber einmal mehr Güterwagen auf dem Abstellgleis als gewöhnlich, konnte sich die Arbeitszeit auf vierundzwanzig Stunden ausdehnen.

Andererseits aber bot sich einem dort Gelegenheit — da die Lebensmittelzentrale jenseits der Lagerzone lag — Nahrungsmittel zu stehlen. "Du wirst tüchtig schuften", sagte Dimka, "aber du wirst dafür auch gut essen können. Im Walde kannst du dich am Feuer wärmen und vor Hunger sterben. Von Baumrinde kann man sich nicht ernähren, aber hier werde ich des Abends immer Hwoja für dich bereithalten."

Für den Augenblick war ich also gerettet. Auf der oberen Pritsche nahe am Fenster liegend, spähte ich nach der 42. "Internationalen Brigade" aus. Die acht besten der zweihundert Plätze in der Baracke waren von einer Gruppe Urkas belegt, die Kowal, der pockennarbige ukrainische Räuber, dem ich meine Stiefel verkauft hatte, anführte und deren Mitglieder Kommunisten aus allen europäischen Ländern und ein Chinese waren.

Am selben Abend, kurz vor Mitternacht, — meist erhob sich Dimka um diese Zeit, um in den Abfalleimern nach Heringsköpfen zu suchen, aus denen er sich am nächsten Tag eine Suppe kochen konnte — sprang Kowal, der auf dem Bauch auf seiner Pritsche liegend, das Gesicht an die Scheibe gepreßt hatte, plötzlich auf und weckte mit kleinen leisen Püffen seine Gefährten. Gleich darauf versammelten sie sich alle am Fenster, lugten durch einen kleinen Spalt in der gefrorenen Scheibe hinaus, flüsterten miteinander und verließen dann die Baracke. All das hatte kaum länger als eine Minute gedauert, während der ich mit festgeschlossenen Augen so getan hatte, als schliefe ich. Danach kehrte wieder tiefe Stille in die Baracke ein.

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Kaum hatte der letzte Urka die Tür hinter sich zugemacht, drehte ich mich schnell auf meiner Pritsche um und hauchte an die Scheibe, bis ein kleines Guckloch entstanden war. Hundert Meter von unserer Baracke entfernt, senkte sich der Boden und bildete eine große Kuhle, die sich noch über den Stacheldraht hinaus erstreckte. Die Nachbarbaracken lagen am Rande dieser Kuhle, so daß man sie vom Wachhaus und dem höher gelegenen Teil des Lagers aus nicht sehen konnte. Nur von der Spitze des höchsten Wachturms konnte man die Kuhle überblicken. Stand der Posten dort oben jedoch mit dem Gesicht zum Lager, sah er nur, was vor der Kuhle geschah.

Vom Lazarett her kam eine gut gebaute junge Frau durch das wie ausgestorbene Lager. Sie wollte zur Frauenbaracke, und wenn sie den Weg abkürzen und nicht in die Nähe des äußeren Stacheldrahtes kommen wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als am Rand der Kuhle, unmittelbar an unserer Baracke entlangzugehen. Acht Gestalten verteilten sich schnell hinter den Baracken links von der Kuhle und versperrten so alle Wege. Die junge Frau lief ahnungslos in die Falle, und in der nächtlichen Stille des tief verschneiten Lagers begann nun die Jagd.

Die junge Frau war jetzt zur Hälfte von den Schneehaufen verdeckt, so daß ich nur sehen konnte, daß sie breite Schultern und ein rundes Gesicht hatte. Um den Kopf trug sie ein Tuch, dessen Enden nach hinten flatterten. Plötzlich stürzte eine der Gestalten hinter der Baracke hervor und vertrat ihr den Weg. Sie fuhr erschrocken zurück und stieß einen Schrei aus, der aber im selben Augenblick erstickte. Denn der Urka war auf sie zugesprungen und umspannte mit einer Hand von hinten ihren Hals, während er ihr mit der anderen den Mund zuhielt. Die Frau beugte sich weit nach hinten, hob das linke Bein, trat dem Angreifer in den Magen, packte ihn zu gleicher Zeit mit beiden Händen am Bart und stieß seinen mit einer Pelzmütze bedeckten Kopf mit aller Kraft von sich. Der Mann angelte mit seinem linken Fuß nach ihrem rechten Bein, und gerade als die anderen sieben herzugerannt kamen, fielen sie beide in einen Schneehaufen.

Sie griffen die Frau an Händen und Beinen, schleppten sie, wobei ihr Haar über den Boden schleifte, in die Kuhle hinunter und warfen sie dort auf eine verschneite Bank, etwa fünfundzwanzig Meter von unserer Baracke entfernt. Mit wütenden Tritten versuchte sie den ersten, als er sie einen Augenblick losließ, abzuwehren, aber schon hatte man ihr den Rock über den Kopf gezogen und Kowal drückte mit seiner mächtigen Pratze ihren Kopf auf die

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Bank nieder. Der erste klemmte mit dem Knie ihr rechtes Bein gegen die Banklehne, während er sein anderes an ihren linken Schenkel preßte. Zwei Urkas hielten ihre Handgelenke umklammert, und der über ihr liegende riß ihr die Unterwäsche herunter und knöpfte sich in aller Ruhe seine Hose auf. Dann kamen die beiden nächsten an die Reihe; sie fanden kaum noch einen Widerstand. Erst als der vierte die Frau gleichfalls zu vergewaltigen versuchte, gelang es ihr eine Sekunde ihren Kopf zu befreien, und ein kurzer, erstickter Schrei hallte durch die eisige Stille. Eine verschlafene Stimme rief vom nächsten Wachturm: "Aber, Männer, was macht ihr denn da? Schämt ihr euch nicht?"

Die acht zogen die Frau darauf von der Bank und zerrten sie wie eine Stoffpuppe um die Baracke herum zur Latrine. Nach etwa einer Stunde kehrten sieben von ihnen in die Baracke zurück, und ich sah, wie Kowal die Frau zur Frauenbaracke geleitete. Sie stolperte langsam vorwärts; der Kopf hing ihr müde auf die Schulter, sie hatte die Arme auf der Brust verschränkt, und ihr Begleiter hatte seinen starken Arm um ihre Taille gelegt und stützte sie so. Am nächsten Abend kam Marusja in unsere Baracke. Sie hatte blutunterlaufene Stellen im Gesicht, und ihre Augen waren geschwollen; trotzdem sah sie in ihrem bunten Rock und der gestickten weißen Leinenbluse, unter der die mächtigen Brüste sanft schaukelten, recht anziehend aus.

Als wäre nichts geschehen, setzte sie sich auf Kowals Pritsche, mit dem Rücken zu den anderen Urkas, schmiegte sich an ihn an, flüsterte ihm etwas ins Ohr und küßte ihn mit Tränen in den Augen auf seine pockennarbige Wange. Kowal ließ sich das etwas mürrisch gefallen, wobei er verlegen zu seinen Kameraden hinüberblickte. Doch schließlich gab er ihrem Drängen nach, und sie blieb die ganze Nacht bei ihm …. Noch vor Morgengrauen schlich sie sich wieder fort, und er schwankte erschöpft hinter ihr her. Von da an kam sie jeden Abend, und oft sang sie vor dem Dunkelwerden mit kräftiger Stimme in unserer Baracke ukrainische Liebeslieder. Sie wurde Wasserträgerin im Lager, und sie gefiel uns allen mit ihrem breiten, braunen Gesicht und ihrem hellen Haar, das im Winde wehte, wenn sie auf dem Schlitten saß und das Pferd mit lautem Peitschenknallen oder kleinen Püffen in die Flanke antrieb. In den Häusern außerhalb des Lagers, zu denen sie als Kriminelle ohne Bewachung gehen durfte, erbettelte sie sich manchmal lustige Bilder oder bunte Scherenschnitte, die sie dann abends an die schmutzige Wand neben der Pritsche ihres Geliebten klebte. Aber seit der denkwürdigen nächtlichen Jagd arbeitete die Brigade nicht mehr gut. Kowal war nicht mehr recht bei der Sache.

Seine Beine gaben unter der schweren Last der Säcke nach, er verpaßte wiederholt den Augenblick, wo er beim Entladen der Güterwagen an die Reihe kam, und ein paarmal fiel er sogar von der Laderampe auf die Schienen. Als wir einmal in einer Wachhütte eine kurze Pause machten, bemerkte Wang, der Chinese: "Eins der Pferde in unserer Gruppe sollte ausgewechselt werden." Doch sofort geboten ihm die anderen Urkas mit vorwurfsvollen Blicken Schweigen. Trotzdem flüsterten auch sie öfter untereinander und lachten verächtlich, wenn Kowal sie um eine Zigarette bat. Er hielt sich mehr und mehr für sich allein, aß aus einer besonderen Schüssel, zog nach dem Abendessen meine Offiziersstiefel und ein besticktes ukrainisches Hemd an, legte sich, eine Zigarette rauchend, auf seine Pritsche und lauschte auf das Platschen des letzten Wasserfasses, das am Abend zur Küche gebracht wurde.

Eines Abends, als Marusja und er wie immer eng umschlungen nebeneinander saßen, tippte sie einer der anderen Urkas leicht auf die Schulter und sagte etwas zu ihr. Sie machte sich behutsam aus Kowals Armen frei, wandte sich um und sah den Mann höhnisch an. Dann plötzlich erhob sie sich und spuckte ihm mitten ins Gesicht. Der Urka wich einen Schritt zurück, wischte sich den Speichel mit dem Ärmel ab und holte, zwei Finger der rechten Hand spreizend, zu dem gefürchteten Schlage aus. Aber im gleichen Augenblick sprang Kowal von der Pritsche auf und stürzte auf ihn. Sie rangen miteinander, bis man sie trennte, und sieben Augenpaare blickten Kowal voll drohenden Hasses an. Dann ging er zu der Frau, die zitternd in einer Ecke kauerte, zupfte an seinem zerrissenen Hemd, preßte die Zähne aufeinander und zischte mit einer Stimme, die mir das Blut erstarren ließ: "Leg dich sofort hin, Hexe, und zieh dich aus, oder ich schlage dich tot." Und dann zu seinen Freunden gewandt: "Sie gehört euch, Brüder." Als erster befriedigte der Urka, den sie angespuckt hatte, seine Lust an ihr, und Marusja ließ es willenlos geschehen. Der Kopf hing ihr dabei nach hinten herunter, und ihre großen Augen blickten unablässig auf Kowal, der am Tisch saß, und sie flüsterte leise: "Vergib mir, Timoscha, vergib mir." Aber Kowal nahm keinerlei Notiz davon. Und auch als sie schließlich die Baracke verließ und ihn noch einmal demütig bittend ansah, rührte er sich nicht.

Drei Tage später wurde Marusja auf ihren eigenen Wunsch von Jercewo nach Ostrownoje gebracht. Die acht Urkas schlossen wieder Brüderschaft, und so lange ich im Lager blieb, gab es keine Eifersüchtelei mehr zwischen ihnen.

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