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Nachwort   von Christian Hart-Nibbrig 

 

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Wolfgang Hildesheimers Tod am 21. August 1991 - kaum hatte er das Postscriptum abgeschlossen und in Eile auf den Weg gebracht - gibt diesem Manifest eine jähe Endgültigkeit und die Emphase unerbittlicher Härte. So war's gemeint, und so müssen wir's stehen lassen.

Als seine letzte Warnung, aus verzweifelter Sorge um Natur und Kreatur, nicht aus bitterer Verhärtung, aus verletzter Sympathie, mit den Tieren zumal, nicht aus apokalyptischer Laune. Aus »Realismus«, wie er sagt, und deshalb pessimistisch. Aber unverzagt. 

In dieser Haltung arbeitete und lebte er schon immer. Vor allem aber: das letzte Wort hat er selber zu sagen sich geweigert und damit trotz allem die Möglichkeit offengelassen, am Ende nicht recht zu behalten.

Die Kraft des Hoffens, an die er bei seinen jugendlichen Zuhörern appelliert, richtet sich nicht auf eine Zukunft, die als Geschick von vorn und von außen einfach herein­bricht, sondern auf eine Zukunft, die längst begonnen hat, zu verantworten von uns, gestern und heute.

Hoffnung als die Fähigkeit der Phantasie vorauszudenken, umzudenken. Hoffnung also als Überlebens­chance. »Vielleicht hofft es in mir«, fragt Hildesheimer am Ende seiner Auseinander­setzung mit Mozarts Requiem — Herr, gib ihnen die ewige Ruhe nicht — in sich hinein, »ohne daß ich es weiß, und es ist das, was mich am Leben erhält?« Solches Hoffen wider den Lauf der Dinge — kein Prinzip, eher so etwas wie Pulsschlag, vielleicht — hat nichts zu schaffen mit der Entschuldigungs­maschine jener vagen Alibi-Zukunft, in der, wie die Verdränger unterstellen, sich alles von selbst wieder einrenkt, »irgendwie«. 

Nichts verabscheute Hildesheimer, auch in seiner Arbeit mit Sprache sowohl wie mit Farben und Formen, so sehr wie solches »irgendwie«. Nicht minder indessen auch alle festlegbare Eindeutigkeit, in der das lebendige Spiel der Kräfte, das zu inszenieren er nicht müde wurde, abbricht und abstirbt.

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Vor solchem haschenden Zugriff blieb er auf der Hut und ein Leben lang auf der Flucht, zu sehr »immer wieder ein anderer«, wie es am Ende von Mitteilungen an Max heißt, als daß er gezielt nicht immer wieder Spuren verwischte, immer wieder, in kreativer kontrapunktischer Existenz, den Ort verlassend, wo man ihn sicher zu finden vermutete. Mit Marbot — der ein Teil wurde von ihm und den er, war er einmal erfunden da, zuweilen sprechen ließ an seiner Statt — teilte er die Schwierigkeit, »in dieser Welt heimisch zu werden«.

In der Büchner-Preis-Rede hatte Hildesheimer 1966 schon gesagt: »Zwar wird, wer die Wahrheit sagt, nicht mehr gehenkt, aber er wird auch nicht gehört. Die Resignation vor dieser Tatsache, denke ich, wäre heute wie damals ein Grund zur Flucht in die Poesie.«

Das gilt, nachdem alle literarischen Fluchtwege erprobt waren, besonders auch für seine Arbeit an Collagen. Daß es sich dabei um Spiel- und Fluchträume handelt, hat er öfter betont. Nur, daß es Flucht ist aus Trotz und daß diese Gegenwelten visueller Phantasie — »eine metaphorische Parallele und gleichzeitig eine Paraphrase der Realität«, wie es die Einführung in den Collagen-Band <In Erwartung der Nacht> formuliert — Widerstand leisten und zusehends in sich aufnehmen und umsetzen, wovon sie sich abstoßen.

In zunehmendem Maße braut sich in ihnen, bedrohlich schön, <etwas> zusammen, was sprachlich nicht zu betiteln ist und, durch exakte Spielfreude, schneidend und klebend, bis zu jenem Punkt getrieben wird, wo es, nach Hildesheimers Maß des Gelingens, als »gesteuerter Effekt« scheitert und, der Kontrollierbarkeit mit Eigensinn sich entziehend, als beglückende Überraschung künstlerisch losgelassen werden muß und kann. 

In Landschaft mit Phoenix, dem dritten und letzten Collagen-Band, findet sich ein Bild mit dem Titel »Unheilvolles«. Der begleitende Text lautet: »Wieder Mona Lisa, wieder verfremdet, diesmal waagrecht. Was Haar war, ist an den Rändern mit Tusche getieft, nur an der gezerrten Silhouette des Kopfes kenntlich, halb Wolke, halb Waffe. Und doch zieht sie in träger Weile oben über das Bild, Begleiterscheinungen haften an ihr oder eilen ihr voraus. Das Unheil wirft seinen Schatten, zieht aber noch einmal vorbei.«

Ent-täuschung. Mit fasziniertem Staunen hatte Wolfgang Hildesheimer dieses Wort kurz vor seinem Tod für sich wieder­entdeckt, wörtlich.

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Im Hinblick auf das vorliegende kleine Buch, dem sie argumentativ, nicht ornamental beigefügt werden sollten, entstanden die beiden späten Collagen. Seit es ihm die Sprache verschlug, konnte er in Bildern besser argumentieren. Sie waren seine besten Argumente. »Flucht« nannte er das eine, »Desintegration« das andre. Im Assoziationsraum, den sie eröffnen, verdichtet sich jenseits der Sprache, was der Künstler mündlich sagen, schriftlich nachtragen wollte. Von links unten scheint die Fluchtbewegung der urzeitlichen Tierwesen — oder sind es nur ihre Schatten? — in einer Schleife nach links oben ihren Ausgang zu nehmen, getrieben von einem unsichtbaren Wind gemeinsamer Angst, mit fliegender, galoppierender Eile im Himmel und auf der Erde.

Und doch ist es, sieht man länger hin, als ob die zeitliche und räumliche Dynamik gleichsam postkatastrophal auch schon wieder flach- und stillgelegt wird — Thematisierung des finalen Preßvorgangs beim Collagieren auch? —, eingelegt in abgekühlte, sandig bröckelnde Materie, Dokumentation sedimentierten Lebens — wie die Skelett- und Wirbelspuren links unten —, im Futur der Vergangenheit, versteinert und gerettet im Bild, aber eben nur im Bild.

Auch die schwarze Sprenkelung der zweiten Collage über dem flammenden Menetekel, das verschwindet, wenn man es als Lebewesen zu lesen beginnt, scheint einen anderen, späteren Zustand zu bezeichnen — einer menschlichen Gestalt? zugewandt? abgewandt? — verkohlte, schwarze Asche vielleicht, Stoff des Trauerrands auch, aus dem das Bild aufsteigt und den es aus eigner Kraft in freier Formauflösung sprengt. Es präfiguriert Hildesheimers letzte Arbeit, die er, bevor er starb, noch aus der Presse nahm und rahmte: »Totentanz«.

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Zwischen der Rede an die Jugend und dem Postscriptum für die Eltern schrieb Hildesheimer die Vorrede zu Landschaft mit Phoenix: ein letztes prägnantes Stück Prosa aus seiner Hand, in dem er von seiner Arbeit spricht und von sich selbst wie selten sonst, wieder als »ein andrer«, scheinbar, und gerade deshalb als er selbst. 

Im Zusammenhang damit sind die beiden anderen Texte zu lesen, die ebensowenig in die »Gesammelten Werke« hatten aufgenommen werden können. Der folgende Ausschnitt überholt jedes Nach-Wort und verstärkt die Gewißheit, daß die zurückgelassene Spur seines Schaffens, das er brauchte, »um in der Gegenwart zu überleben«, diese Gegenwart überlebt:

»Die Bilder sind also größer geworden. Sie sind gewichtiger und - subjektiv und selbstverständlich außerhalb der Kriterien des qualitativ Gelungenen gesehen - vielschichtiger, vielsagender und, trotz gelegentlicher Einkehr in nostalgische Idyllen und alte Sehnsüchte — radikaler in ihrem Engagement an den kreativen Prozeß. Manchmal erscheinen sie mir spröde bis zur Vehemenz, was wohl daran liegt, daß sie das einzige künstlerische Ausdrucksmittel sind, dessen ich mich in den letzten beiden Jahren bedient habe.

Die Collage ist mir eine Art Lebenszweck, ja zur Lebensform geworden, sie beansprucht mein kreatives Vorausdenken ausschließlich oder — genauer — nahezu ausschließlich: Irgendwo, noch tief unten, regt sich der Gedanke, einen kurzen Essay über den letzten Monolog des Macbeth zu schreiben (»Tomorrow and tomorrow and tomorrow ...«). Doch bevor er noch irgendeine Gestalt annimmt — wenn er es je tun sollte —, wird sich, obgleich alles andere als ein visuell darstellbares Thema, die Beschäftigung mit ihm, kenntlich oder unkennt­lich, in mancher Collage niederschlagen.

Dies ist eine jener autobiographischen Feststellungen, wie sie, ohne daß ich sie plane, ausschließlich den Einführungen zu meinen Collage-Bänden vorbehalten sind. Sie sollten aber nicht dazu verleiten, die Bilder dahin­gehend zu deuten, daß sie, über Gedankliches hinaus, Gestimmtheiten oder Gemüts­verfassungen wiedergeben. (Hier liegt ja der Kapitalfehler beinah aller Biographik, wie sie wachsend und mit beharrlicher Penetranz zu spüren ist.)

Alle meine Collagen entspringen dem Spieltrieb, wenn nicht gar dem Spielzwang, der ein Leben lang mein primäres Movens war und, hoffentlich, bleiben wird. Immer habe ich versucht, Kunstfiguren nicht nur vorstellbar zu machen, sondern auch ihre Existenz, wenn nicht in Wahrheit, so doch in Wahrhaftigkeit, zu etablieren. Ich habe mit ihnen gelebt und mich in sie hineingelebt, wahrscheinlich ist ein Teil von mir in ihnen geblieben. Ihre Hintergründe sind aus meinem Leben und aus dem Leben anderer gegriffen, mit größtmöglicher atmosphärischer, psychologischer und sogar topographischer Präzision. (Wie gesagt: ich spreche nicht vom Gelingen.)

So enthält auch dieses Buch, in phantastisch abgewandelter Form, meine Figuren, ihren Gestus und ihre Pose und, vor allem, ihre Hintergründe, mitunter auch nur Gestus, Pose und Hintergrund ohne die Gestalt selbst. Alle meine Figurationen sind <Mach-Werke>. Das Machen ist ein Akt höchster Intensität und Konzentration. Ihr Gelingen - wenn sie gelingen - ist ein Erlebnis, ein Höhepunkt aktiver Phantasie. Nicht daß ich mich, wie der douanier Rousseau, von den selbstgeschaffenen Räumen bedrängt fühlte, doch sie sind für mich Wirklichkeit und stellen immer wieder Felder von Fluchtpunkten dar, wie ich sie brauche, um in der Gegenwart zu überleben.«

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Ende  Hart-Nibbrig

 

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