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4. Brief 

 

 

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Sie wissen, daß unsere Gottesgelehrten behaupten, die geoffenbarten Bücher, die ich in meinem vorhergehenden Brief einer kurzen Prüfung unterzogen habe, enthielten nicht ein Wort, welches nicht vom Geiste Gottes eingegeben sei. Das, was ich Ihnen hierüber gesagt habe, muß Ihnen beweisen, daß die Gottheit — ausgehend von jener Voraussetzung — das unförmigste, widerspruchsvollste, unverständlichste Werk geschaffen hat, das jemals existiert hat; kurz, ein Werk, dessen Autor zu sein sich jeder vernünftige Mensch schämen würde. Wenn sich für die Christen überhaupt eine Prophezeiung bewahrheitet hat, so kann es nur diejenige von Jesajas sein, der sagt: »Mit den Ohren werdet ihr hören und werdet es nicht verstehen.« Aber in diesem Fall antworten wir, daß es recht nutzlos war zu sprechen, um nicht begriffen zu werden. Sich offenbaren, um nichts zu lehren, heißt: sich nicht offenbaren.

Wir wollen also nicht erstaunt sein, wenn die Christen trotz der Offenbarung, deren Gunst sie erfahren zu haben behaupten, keine zuverlässigen Ideen von der Gottheit, von ihrem Willen oder von der Art und Weise haben, wie sie ihre Orakel zu verstehen haben. Das Buch, aus dem sie schöpfen, ist nur geeignet, die einfachsten Begriffe zu verwirren, sie in die größte Ratlosigkeit zu stürzen und ewige Streitigkeiten hervorzurufen. Wenn das der Plan der Gottheit war, so hat sie ihn zweifellos erfüllt. Die christlichen Gottesgelehrten waren sich niemals über die Art einig, wie sie die Wahrheiten, die Gott selbst zu offenbaren sich bemüht hatte, zu verstehen hatten. Trotz all der Mühen, die sie aufgewandt haben, ist es bisher nicht gelungen, etwas aufzuklären, und die Dogmen, die sie sich nach und nach ausgedacht haben, werden in den Augen eines Menschen mit gesundem Verstand niemals das Verhalten des unendlich vollkommenen Wesens rechtfertigen können.


Daher haben mehrere von ihnen, da sie die Nachteile erkannten, die sich aus der Lektüre der heiligen Bücher ergeben könnten, diese dem Pöbel und den einfachen Menschen sorgsam aus der Hand genommen; sie haben begriffen, daß eine solche Lektüre nur geeignet ist, Anstoß zu erregen, und daß es nur eines gesunden Verstandes bedarf, um in ihnen eine Menge von Widersinnigkeiten zu entdecken.

So sind gerade die Orakel Gottes nicht für diejenigen geschaffen, an die Gott sie doch richten wollte; man muß in die Mysterien des Priesteramts eingeweiht sein, um das Recht zu haben, aus der Heiligen Schrift die Erkenntnisse zu schöpfen, die die Gottheit doch für alle ihre geliebten Kinder bestimmt hat. Aber gelingt es denn den Theologen, die Schwierigkeiten zu lösen, die die heiligen Bücher auf jeder Seite bieten? Geben sie uns, obgleich sie oft über die in jenen Büchern enthaltenen Geheimnisse nachgedacht haben, klarere Ideen von den Wegen der Gottheit? Zweifellos nicht. Sie erklären Geheimnisse durch andere Geheimnisse; sie fügen den ursprünglichen Dunkelheiten neue hinzu ; selten vermögen sie sich untereinander zu einigen, und selbst wenn ihre Meinungen zufällig übereinstimmen, so sind wir deshalb nicht aufgeklärter, und unsere Vernunft befindet sich immer in der gleichen Verwirrung.

Wenn sie sich über etwas einig sind, so ist es darüber, daß sie uns sagen, die menschliche Vernunft, für deren Schöpfer man Gott hält, sei verdorben worden; aber heißt das nicht, Gott der Unfähigkeit, der Ungerechtigkeit, der Bösartigkeit beschuldigen? Warum hat dieser Gott, als er ein vernünftiges Wesen schuf, ihm nicht eine Vernunft gegeben, die durch nichts verdorben werden konnte? Man antwortet uns, die Vernunft des Menschen müsse notwendigerweise begrenzt sein; die Vollkommenheit könne keine Eigentümlichkeit einer Schöpfung sein; die Wege Gottes seien nicht die Wege des Menschen. Aber warum läßt sich in diesem Fall die Gottheit von den notwendigen Unvollkommenheiten beleidigen, die ihren Geschöpfen anhaften? Wie kann ein gerechter Gott fordern, unser Geist solle anerkennen, daß er nicht geschaffen sei, um zu begreifen?

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Kann das, was über unserer Vernunft steht, geschaffen sein für uns, deren Vernunft begrenzt ist? Wenn Gott unendlich ist: wie kann eine endliche Schöpfung über ihn vernünfteln? Wenn die Mysterien und die verborgenen Pläne der Gottheit nicht so beschaffen sind, daß sie vom Menschen begriffen werden können: warum beschäftigt man ihn dann unaufhörlich damit? Wenn Gott gewollt hätte, daß wir uns um seine Wege kümmerten, hätte er uns nicht eine Vernunft geben müssen, die den Dingen, die er uns wissen lassen wollte, entspräche?

Sie sehen also, daß unsere Priester, wenn sie unsere Vernunft herabsetzen und sie für verderbt halten, selber die Notwendigkeit der Religion aufheben, die für uns nur insofern nützlich oder wichtig sein kann, als wir sie begreifen können. Noch mehr, wenn sie unsere Vernunft für verderbt halten, so klagen sie Gott der Ungerechtigkeit an, weil er verlangt, daß diese Vernunft etwas begreifen soll, was sie nicht begreifen kann. Sie klagen ihn der Unfähigkeit an, weil er diese Vernunft nicht vollkommener gemacht hat; kurz, indem sie den Menschen herabsetzen, setzen sie Gott herab und entkleiden ihn der Attribute, die sein Wesen ausmachen. Würden Sie einen Vater gut und gerecht nennen, der seine Kinder einen dunklen und gefahrvollen Weg gehen lassen will und ihnen zu ihrer Orientierung nur ein zu schwaches Licht gibt, so daß sie ihren Weg verfehlen müssen und nicht die ständigen Gefahren meiden können, von denen sie umgeben sind? Würden Sie glauben, dieser Vater hätte dadurch gut für ihre Sicherheit gesorgt, daß er ihnen schriftlich unbegreifliche Weisungen erteilt hat, die sie bei dem schwachen Licht der Fackel, die er ihnen gegeben hat, nicht zu entziffern vermögen?

Man wird uns sicherlich sagen, die Verderbnis der Vernunft und die Schwäche des menschlichen Geistes seien Folgen der Sünde. Aber warum hat der Mensch gesündigt? Wie konnte ein guter Gott erlauben, daß jenes geliebte Kind, um dessentwillen er das Universum erschaffen hatte und das ihm huldigen sollte, ihn selbst beleidigte und da-

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durch die Fackel, die er ihm gegeben hatte, auslöschte oder eindämmte? Andrerseits hätte Adams Vernunft vor der Sünde zweifellos viel vollkommener sein müssen; wieso hat die Vernunft ihn dann nicht gehindert, zu erliegen und zu sündigen? War die Vernunft Adams verderbt, bevor er den Zorn seines Gottes auf sich gezogen hatte? War sie verderbt, bevor sie etwas getan hatte, was sie verderben konnte?

Um das absonderliche Verhalten der Vorsehung zu rechtfertigen; um sie nicht als Urheber der Sünde gelten zu lassen; um sie vor der Lächerlichkeit zu retten, die Ursache oder der Mitschuldige der Beleidigungen zu sein, die man ihr selbst zufügt, haben sich die Theologen ein der göttlichen Macht untergeordnetes Wesen ausgedacht; dieses haben sie zum Urheber all des Bösen gemacht, das im Universum geschieht. Da sie die ständigen Unruhen, deren Schauplatz die Welt ist, unmöglich mit dem Willen eines gütigen Gottes, des Schöpfers und Erhalters der Dinge, der die Ordnung liebt, der seinen Geschöpfen nur Glück zu verschaffen sucht, in Übereinstimmung zu bringen vermochten, haben sie einen Geist der Zerstörung erfunden, der voller Bosheit und erpicht darauf ist, die Menschen unglücklich zu machen und die wohlwollenden Absichten des Ewigen zu vereiteln. Dieses bösartige und verderbte Wesen hat man Satan, Teufel, bösen Geist genannt; wir sehen, daß es in allen Religionen der Welt, deren Begründer außerstande waren, sowohl das Gute wie auch das Böse aus einer einzigen Quelle herzuleiten, eine große Rolle gespielt hat. Mit Hilfe dieses imaginären Wesens glaubte man alle Schwierigkeiten lösen zu können; man hat nicht gesehen, daß solch eine Erfindung offensichtlich die göttliche Allmacht zerstört, daß dieses System voller handgreiflicher Widersprüche ist und daß der Teufel, wenn er zur Sünde anleitet, billigerweise allein dafür die Strafe zu tragen hätte.

Wenn Gott der Urheber von allem ist, so hat er den Teufel geschaffen; wenn dieser Teufel böse ist, wenn er die Pläne der Gottheit zum Scheitern bringt, so erlaubt oder

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will die Gottheit, daß ihre Pläne scheitern, oder sie hat nicht genügend Kraft, den Teufel zu hindern, seine Macht auszuüben. Wenn Gott die Existenz des Teufels nicht wollte, so würde dieser nicht existieren; Gott könnte ihn durch ein einziges Wort vernichten oder wenigstens seine für uns so verdrießlichen und den Plänen einer wohltätigen Vorsehung so entgegengesetzten Veranlagungen ändern. Sobald der Teufel handelt und besteht, müssen wir daraus schließen, daß die Gottheit billigt, daß er so handelt, wie er es tut, und daß er fortwährend ihre Pläne durchkreuzt.

So schafft die Erfindung des Teufels keine Abhilfe, sie dient im Gegenteil nur dazu, die Dinge zu verwirren. Wenn man all das Böse, was in der Welt geschieht, auf seine Rechnung setzt, so entschuldigt man damit die Gottheit ganz und gar nicht: die ganze Macht, die man ihm zuschreibt, beruht auf der Macht des Ewigen, und Sie wissen sehr wohl, daß der Teufel den Begriffen der christlichen Religion zufolge sehr viel mehr Anhänger hat als Gott selber; fortwährend verführt er dessen Diener und wiegelt sie schließlich gegen ihn auf; unaufhörlich führt er sie Gott zum Trotz ins Verderben ; Sie wissen auch, daß auf einen Menschen, der Gott treu bleibt, Millionen kommen, die, weil sie den Fahnen Satans folgen, mit diesem ins ewige Unglück gestürzt werden.

Aber wie hat sich Satan selbst die Ungnade des Allmächtigen zugezogen? Durch welche Missetat konnte er zum ewigen Gegenstand des Zornes Gottes werden, der ihn erschaffen hat? Die christliche Religion erklärt uns das alles; sie lehrt uns, daß der Teufel ursprünglich ein Engel war, das heißt ein reiner Geist, voller Vollkommenheiten, erschaffen von der Gottheit, um einen hervorragenden Platz am himmlischen Hofe einzunehmen, und wie die übrigen Höflinge des Ewigen dazu bestimmt, seine Befehle zu empfangen und in seiner Nähe ein unveränderliches Glück zu genießen. Aber der Ehrgeiz verdarb ihn; da ihn sein Stolz verblendet hatte, wagte er, sich gegen seinen Herrn aufzulehnen ; er verleitete andere Geister, die ebenso rein waren

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wie er, zu seinem unsinnigen Unternehmen; infolge seiner Dreistigkeit wurde er aus dem Himmel gestürzt und mit ihm seine unglücklichen Anhänger; da ihre törichten Neigungen durch den göttlichen Willen verhärtet wurden, hatten sie im Universum keine andere Beschäftigung, als die Menschen zu versuchen und die Zahl der Feinde Gottes und die Opfer seines Zorns zu vergrößern.

In dieser Fabel sehen die christlichen Gottesgelehrten die Vorbereitung des Sturzes Adams schon vor der Schöpfung der Welt. Die Gottheit mußte ein großes Verlangen haben, den Menschen sündig zu sehen, da sie so weit zurückgriff, um ihn sündigen zu lassen! In der Tat war es der Teufel, der in der Folgezeit in einer Schlangenhaut die Mutter des Menschengeschlechts aufforderte, Gott den Gehorsam zu verweigern und ihren Mann zum Mitschuldigen ihrer Rebellion zu machen. Aber die Schwierigkeit wird durch alle diese Erfindungen nicht behoben. Wenn Satan zu der Zeit, als er ein Engel war, in Unschuld lebte und die Güte seines Gottes verdiente: wie hat Gott zulassen können, daß er in seinem Geist die Ideen des Stolzes, des Ehrgeizes und der Auflehnung nährte? Wieso war der Engel des Lichts so blind, die Torheit seines Unternehmens nicht zu erkennen? Wußte er nicht, daß sein Herr allmächtig war? Wer hat Satan in Versuchung geführt? Welchen Grund konnte die Gottheit haben, ihn auszuwählen, damit er der Gegenstand ihres Zorns, der Zerstörer ihrer Pläne, der Feind ihrer Macht sei? Wenn der Stolz eine Sünde ist, wenn schon die Idee einer Auflehnung das größte Verbrechen ist, so ging also die Sünde der Sünde voraus, und Luzifer beleidigte seinen Gott schon im Zustand der Reinheit; denn schließlich dürfte ein reines, unschuldiges, seinem Gott angenehmes Wesen, das alle einem Geschöpf zukommenden Vollkommenheiten hatte, nicht ehrgeizig, stolz und töricht sein. Wir müssen das gleiche von unserem ersten Vater sagen, der trotz seiner ihm von Gott eingegebenen Weisheit, Unschuld und Einsichten dennoch sündigte, indem er der Versuchung des Teufels erlag.

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So wird letztlich immer Gott die Ursache der Sünde sein; Gott wird Luzifer vor der Erschaffung der Welt in Versuchung geführt haben, damit dieser der Versucher des Menschen und die Ursache des Untergangs des gesamten Menschengeschlechts werde. Es könnte scheinen, daß Gott die Engel und den Menschen nur geschaffen habe, um ihnen Gelegenheit zum Sündigen zu geben.

Das Lächerliche dieses Systems ist leicht zu erkennen; daher haben die Theologen, um es zu retten, ein anderes, nicht weniger widersinniges erfinden zu müssen geglaubt, das allen geoffenbarten Religionen zur Grundlage dient und mit dessen Hilfe man die göttliche Vorsehung völlig zu rechtfertigen glaubt. Dieses System nimmt den freien Willen des Menschen an, das heißt, daß es in der Gewalt des Menschen stehe, Gutes oder Böses zu tun und seinen Willen zu leiten. Ich sehe schon, daß Sie bei den Worten freier Wille erschrecken; Sie fürchten zweifellos, eine metaphysische Abhandlung lesen zu müssen. Doch beruhigen Sie sich, ich nehme mir vor, die Frage so zu vereinfachen, daß sie sehr klar wird — und nicht nur für Sie, sondern auch für Menschen, die nicht Ihre Einsichten haben.

Sagen, der Mensch sei frei, heißt ihn der Macht des höchsten Wesens entziehen, heißt behaupten, Gott sei nicht Herr seines Willens, heißt vorgeben, ein schwaches Geschöpf könne sich, wenn es ihm gefällt, gegen seinen Schöpfer erheben, dessen Pläne durchkreuzen, die Ordnung, die er liebt, stören, seine Arbeiten fruchtlos machen, ihn ärgern, ihn betrüben, seine Leidenschaften und seine Galle in Bewegung setzen. So sehen Sie auf den ersten Blick, daß sich aus diesem Grundsatz eine Menge von Widersinnigkeiten herleitet. Wenn Gott die Ordnung liebt, so muß alles, was seine Geschöpfe tun, notwendig zur Aufrechterhaltung dieser Ordnung beitragen; sonst würde der göttliche Wille seine Wirkung verfehlen. Wenn Gott Pläne hat, so müssen sie notwendig erfüllt werden; wenn der Mensch seinen Gott betrüben kann, so ist der Mensch Herr über das Glück dieses Gottes, und das Bündnis, das er mit dem Satan schließt,

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jst stark genug, um die Pläne der Gottheit zunichte zu machen. Kurz, wenn der Mensch die Freiheit hat zu sündigen, so ist Gott nicht mehr allmächtig.

Man wird uns antworten, Gott könne dem Menschen, ohne seine Allmacht zu beeinträchtigen, die Freiheit geben; diese Freiheit sei eine Wohltat, durch die Gott ihm die Möglichkeit geben will, seine Güte zu verdienen; aber andrerseits gibt ihm diese Freiheit auch die Möglichkeit, Gottes Haß auf sich zu lenken, ihn zu beleidigen und sich dadurch unendlichen Leiden auszusetzen. Hieraus schließe ich, daß diese Freiheit keineswegs eine Wohltat ist und offensichtlich der göttlichen Güte schadet. Diese Güte wäre realer, wenn die Menschen gezwungen wären, immer das zu tun, was Gott gefallen muß, was der Ordnung gemäß ist, was sie glücklich machen kann. Wenn die Menschen kraft ihrer Freiheit Dinge tun, die den Absichten Gottes widersprechen, so hat dieser Gott, der alles voraussieht, auch voraussehen müssen, daß sie ihre Freiheit mißbrauchen würden; wenn er vorausgesehen hat, daß sie sündigen würden, so hätte er sie daran hindern müssen; wenn er nicht verhindert hat, daß sie Böses tun, so ist er mit dem Bösen einverstanden, das sie tun konnten; wenn er damit einverstanden war, so kann er es nicht übelnehmen; wenn er es übelnimmt oder wenn er sie für das Böse bestraft, das sie getan haben, so ist er ungerecht und bösartig; wenn er zuläßt, daß sie in ihr Verderben laufen, so hat er sich das selber zuzuschreiben und kann nicht das Recht haben, sie zu züchtigen, weil sie ihre Freiheit mißbraucht haben und durch Gegenstände getäuscht oder verführt worden sind, die er selbst ihnen in den Weg gelegt hatte, um sie zu verführen, zu versuchen und ihren Willen zu bösen Handlungen zu bestimmen.

Was würden Sie von einem Vater halten, der seinen unerwachsenen und unerfahrenen Kindern die Freiheit gibt, ihre Gelüste zügellos zu befriedigen, so daß sie sich selber Schaden zufügen? Hätte dieser Vater das Recht, sich über den Mißbrauch zu erzürnen, den sie mit der Freiheit treiben,

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die er ihnen zugebilligt hat? Wäre es von dem Vater, der vorausgesehen hätte, was kommen mußte, nicht boshaft, seinen Kindern die Möglichkeit zu geben, sich zu schaden? Wäre es nicht der Gipfel der Unvernunft, würde er sie für das Leid bestrafen, das sie sich zugefügt haben, und für den Kummer, den sie ihm bereiten? Müßte er nicht wegen der Torheit seiner Kinder sich selber schuldig sprechen?

Dennoch sind dies die Gesichtspunkte, unter denen uns die Gottheit im System von der Freiheit des Menschen gezeigt wird. Diese Freiheit wäre ihr gefährlichstes Geschenk; denn sie würde dem Menschen die Möglichkeit geben, sich die schrecklichsten Leiden zuzufügen. Hieraus müssen wir schließen, daß dieses System, weit entfernt, die Gottheit zu rechtfertigen, diese vielmehr der Bosheit, der Unvorsichtigkeit, der Ungerechtigkeit und der Torheit beschuldigt. Man würde alle unsere Ideen umstürzen, wollte man behaupten, ein unendlich weises und gutes Wesen ließe es zu, daß seine Geschöpfe für Neigungen, die er ihnen gegeben oder die ihnen der Teufel mit Erlaubnis dieses Wesens eingeflößt hätte, bestraft würden. Alle diese Spitzfindigkeiten der Theologie laufen in Wirklichkeit nur darauf hinaus, Begriffe zu zerstören, die sie selbst uns von der Gottheit gibt. Diese Theologie ist augenscheinlich das Faß der Danaiden.

Indessen haben unsere Gottesgelehrten nach Mitteln gesucht, um ihre schwankenden Vermutungen zu stützen. Sie haben mehr als einmal von der Prädestination* und von der Gnade sprechen hören; schreckliche Wörter, die auch noch unter uns Streitigkeiten erregen, deren sich die Vernunft schämen müßte, wenn es sich die Christen nicht zur Pflicht machten, auf die Vernunft zu verzichten; und nicht weniger unheilvolle Folgen haben diese Wörter für die Gesellschaft gehabt. Wir wollen hierüber nicht erstaunt sein; die falschen oder dunklen Grundsätze, von denen die Theologen ausgehen, müssen notwendig zu Zwistigkeiten unter ihnen

 

* Theologische Lehre, nach der der Mensch durch Gott zum Guten oder zum Bösen vorbestimmt ist.

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führen; ihre Streitigkeiten wären belanglos, wenn man ihnen nicht mehr Bedeutung beimäße, als sie verdienen.

Wie dem auch sei, das System der Prädestination nimmt an, Gott habe in seinen ewigen Ratschlüssen festgelegt, daß einige auserwählte und begünstigte Menschen besonderer Gnaden teilhaftig werden, auf Grund deren sie Gottes Gefallen erregen und zu ewigem Glück gelangen könnten, während unendlich viele andere dem Verderben ausgeliefert sind und vom Himmel keine der Gnaden empfangen werden, die notwendig sind, um selig zu werden. Ich denke, schon bei der Darstellung dieses Systems erkennt man seine Widersinnigkeit. Es macht Gott, das unendlich gute und vollkommene Wesen, zu einem parteiischen Tyrannen, der den größten Teil der Menschen nur als einen Spielball und als ein Opfer seiner Launen erschaffen hat; es nimmt an, Gott bestrafe seine Geschöpfe, weil sie nicht die Gnaden empfangen haben, die er ihnen nicht hat geben wollen; es zeigt uns Gott unter so empörenden Zügen, daß die Theologen zugeben müssen, daß das, was sie uns hierüber sagen, ein tiefes Geheimnis ist, in das einzudringen der Mensch nicht geschaffen sei. Aber wenn der Mensch nicht geschaffen ist, sein wißbegieriges Auge auf dieses schreckliche Geheimnis, das heißt auf den erstaunlichen Widersinn zu lenken, den unsere Gottesgelehrten vergeblich ausgebrütet haben, um Gottes Wege zu rechtfertigen oder um den Versuch zu machen, die grausame Ungerechtigkeit dieses Gottes mit seiner unendlichen Güte zu vereinbaren: mit welchem Recht wollen sie uns zwingen, dieses Geheimnis anzubeten, daran zu glauben und einer Anschauung zu huldigen, die die göttliche Güte restlos zerstört? Wieso vernünfteln sie über ein Dogma und streiten sich erbittert über ein System, von dem sie nach ihrem eigenen Geständnis selbst nichts begreifen?

Je gründlicher Sie die Religion prüfen, um so mehr Gelegenheiten werden Sie haben, sich zu überzeugen, daß die Dinge, die unsere Gottesgelehrten Mysterien nennen, immer nur die Schwierigkeiten sind, von denen sie selbst verwirrt werden, wenn sie nicht mehr aus den Widersinnig-

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keiten herausfinden können, zu denen ihre falschen Prinzipien sie notwendig führen. Doch uns kann dieses Wort nicht einschüchtern; jene gewichtigen Gottesgelehrten verstehen selbst nicht die Dinge, von denen sie unablässig schwatzen; sie erfinden Wörter, weil sie die Dinge nicht erklären können, und sie bezeichnen alles, was sie nicht besser begreifen als wir selber, als Mysterien.

Alle Religionen der Welt gründen sich auf die Prädestination; alle Offenbarungen setzen, wie Sie bereits bemerken konnten, dieses hassenswerte Dogma voraus, das aus der Vorsehung eine ungerechte Stiefmutter macht, die für einige ihrer Kinder, zum Nachteil aller übrigen, eine blinde Vorliebe hat. Sie machen Gott zu einem Tyrannen, der notwendige Vergehen bestraft, die er selbst heraufbeschworen hat oder zu denen man mit seinem Einverständnis verleitet worden ist. Dieses Dogma, das dem gesamten Heidentum als Grundlage gedient hat, ist noch heute der große Stützpfeiler der christlichen Religion, deren Gott nicht weniger Haß erregen muß als die bösartigsten Gottheiten der götzenanbetenden Völker. Bei solchen Begriffen ist es nicht erstaunlich, daß dieser Gott für diejenigen, die über ihn nachsinnen, ein schrecklicher und betrüblicher Gegenstand ist, dessen Idee hinreichend ist, die Einbildungskraft zu trüben und zu gefährlichen Torheiten zu führen.

Das Dogma vom künftigen Leben dient auch dazu, die Gottheit von den offensichtlichen oder vorübergehenden Ungerechtigkeiten freizusprechen, deren man sie natürlicherweise anklagen muß. Man behauptete, es gefiele ihr, hienieden selbst ihre Freunde zu prüfen, obwohl sie entschlossen wäre, jene später an einem anderen Orte, den man sich als Aufenthalt für die Seelen ausdachte, großzügig zu entschädigen. Aber entweder zeigen, wie ich schon angedeutet zu haben glaube, diese Prüfungen, denen Gott die Guten unterwirft, seine zumindest vorübergehende Ungerechtigkeit, oder sie widersprechen seiner Allwissenheit. Wenn Gott alles weiß und selbst in die verborgensten Winkel des Herzens seiner Geschöpfe blickt: hat er es dann nötig, sie zu prüfen? 

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Wenn er beschlossen hat, ihnen die notwendigen Gnaden zu gewähren, um sie zu erhalten: ist er dann nicht sicher, daß sie niemals scheitern? Wenn dieser Gott ungerecht und grausam ist, so ist er auch nicht unwandelbar; er verleugnet wenigstens für einige Zeit seinen Charakter; er verstößt gegen die Vollkommenheiten, die er immer haben müßte. Was würden wir von einem König halten, der seinen Günstlingen für einige Zeit die schrecklichste Behandlung zuteil werden läßt, ohne daß sie etwas getan hätten, um seine Ungnade zu verdienen, und der alles wiedergutgemacht zu haben glaubt, wenn er sie daraufhin mit seinen größten Gunstbeweisen überhäuft? Würde uns ein solcher Fürst nicht als bösartig, eigenwillig und grausam erscheinen? Indessen wäre diesem mißtrauischen Fürsten in gewissem Maße zu verzeihen, wenn er — in seinem eigenen Interesse und um der Ergebenheit seiner Freunde sicherer zu sein — diese einigen Prüfungen unterwürfe. Anders verhält es sich aber mit Gott, der alles weiß, der alles kann und der von den Launen seiner Geschöpfe niemals etwas zu befürchten hat. 

Hieraus ist ersichtlich, daß man die Gottheit eine sehr kindische, sehr lächerliche, sehr ungerechte Rolle spielen läßt, wenn man annimmt, daß sie ihre Diener auf die Probe stellt und daß sie diese in dieser Welt grundlos leiden läßt, um sie in einer künftigen zu entschädigen. Unsere Theologen werden dennoch Beweggründe für das Verhalten Gottes finden, die sie für geeignet halten, ihn zu rechtfertigen; aber diese angeblichen Beweggründe werden aus der Allmacht dieses Wesens, aus seiner unumschränkten Macht über seine Geschöpfe, denen er über seine Handlungen keine Rechenschaft schuldig ist, abgeleitet werden, und immer sehen wir, daß unsere Theologie, indem sie ihren Gott zu rechtfertigen glaubt, ihn zu einem Despoten, zu einem Tyrannen, das heißt zu dem hassenswertesten aller Herrscher, macht. 

 

Ich bin etc.

 

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