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12. Brief  und letzter

Holbach-1768

 

 

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Erlauben Sie mir, daß ich Sie zu der erfreulichen Veränderung beglückwünsche, von der Sie mir Kunde geben. Durch einfache Überlegungen, auf die Sie nicht von sich aus gekommen sind, da Ihre Seele in Ängsten schwebte, sind Sie überzeugt worden.

Sie sehen also, daß die nichtssagenden Begriffe, die seit einiger Zeit Ihre Ruhe gefährdeten, keine Grundlage hatten; Sie erkennen, daß die angebliche Hilfe, die sich die Religion zu geben rühmt, unwirksam ist; Sie sehen, daß sich aus einem System, das bisher nur dazu gedient hat, die Menschen zu Feinden ihrer eigenen Ruhe und derjenigen anderer Personen zu machen, evidente und zahlreiche Gefahren ergeben. 

Ich bemerke mit Vergnügen, daß die Vernunft nicht auf ihre Rechte über Ihren Geist verzichtet hat und daß Sie sich die Wahrheit, wenn man sie Ihnen nur zeigt, alsbald zu eigen machen.

Seien Sie glücklich, daß Sie so gelehrig sind; das ist ein Beweis für die Stärke Ihres Urteilsvermögens. Es ist rühmlich, sich wieder auf die Vernunft zu besinnen und dem Glanz der Wahrheit nicht ausweichen zu müssen. Das Vorurteil verstrickt die Menschen derart, daß sich die meisten von ihnen trotz ihres Urteilsvermögens hartnäckig gegen die zwingendsten Beweise zur Wehr setzen. Augen, die lange Zeit vom Licht ferngehalten waren, ertragen die Helligkeit nur mit Schmerzen; wenn sie einen Augenblick die Lider öffnen, so werden sie diese sogleich wieder schließen. Die deutlichsten Wahrheiten sind für die meisten Menschen nur lästige Lichtstrahlen, die sie meiden, um alsbald wieder ins Dunkel zurückzusinken.

Ich bin nicht im geringsten darüber verwundert, daß Sie bisweilen noch befangen sind oder eine solche Neigung haben, der zufolge Sie wider Ihren Willen in Anschauungen zurückfallen, die, wie die Überlegung Ihnen zeigt, der Vernunft widersprechen. Es ist unmöglich, eingewurzelte Gewohnheiten schnell abzulegen; der Geist des Menschen scheint im leeren Raum zu schweben, wenn man ihm plötzlich Ideen nimmt, auf die er sich lange gestützt hat; er befindet sich in einer neuen Welt, deren Wege ihm unbekannt sind. Jedes System von Anschauungen ist nur eine Wirkung der Gewohnheit; dem Geist fällt es ebenso schwer, sich von seiner Denkweise zu trennen und neue Ideen anzunehmen, wie es dem Körper schwerfällt, die Handlungsweise aufzugeben, an die er gewöhnt ist. Wenn man jemandem rät, auf den Gebrauch des Tabaks zu verzichten, weil man glaubt, er sei für die Gesundheit schädlich, so wird der Betreffende entweder nicht darauf hören, oder er wird sich nur mit äußerster Mühe entschließen können, etwas nicht zu tun, was ihm durch die Gewohnheit zu einem wahrhaften Bedürfnis geworden ist; wenn er sich dennoch darein schickt, so wird er noch lange mechanisch nach seiner Tabakdose greifen und stets das Verlangen nach Tabak haben, wenn er sieht, daß andere ihn nehmen; er wird sich nur allmählich von einer Gewohnheit lösen, wenn er auch deren Gefahr erkannt hat.

Ebenso verhält es sich mit allen unseren Vorurteilen. Besonders die Vorurteile der Religion üben eine mächtige Herrschaft über uns aus. Von Kindheit an sind wir mit ihnen vertraut gemacht worden; durch die Gewohnheit sind sie uns zum Bedürfnis geworden; unsere Denkweise ist uns zur Notwendigkeit geworden; unser Geist hat sich nur noch mit ihnen beschäftigt und kann sie nicht mehr entbehren; und unsere Einbildungskraft glaubt verloren zu sein, wenn man ihr die Wunder und die Hirngespinste nimmt, an denen sie sich stets erbaut hat; die gräßlichsten Phantome sind ihr lieb geworden, sie waren ihr in gleicher Weise vertraut geworden, wie sich unsere Augen nach und nach daran gewöhnen, ohne Abscheu die widerlichsten und empörendsten Gegenstände zu betrachten.

Überdies erhält die Religion infolge der Widersprüchlichkeit ihrer wunderbaren und eigenartigen Systeme den Geist ständig in Bewegung; er glaubt, zu beschwerlicher Untätigkeit verdammt zu sein, wenn man ihn plötzlich der Gegenstände beraubt, mit denen er sich früher beschäftigt hat.

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Einer solchen Beschäftigung bedarf der Mensch mit um so größerer Notwendigkeit, je lebhafter seine Einbildungskraft ist. Das ist zweifellos der Grund, warum die Menschen an Stelle der alten gewöhnlich neue Torheiten setzen. Das ist auch der wahre Grund, warum die Frömmigkeit so häufig über große Mißgeschicke hinwegzutrösten, den Kummer zu vertreiben, starke Leidenschaften einzudämmen und sogar bisweilen für sehr große Vergnügungen und Zerstreuungen einen Ausgleich zu geben vermag. Die Wunder und die mannigfaltigen Hirngespinste, die die Religion dem Geist darbietet, versetzen diesen in Tätigkeit und nehmen ihn völlig in Anspruch; die Gewohnheit macht sie ihm vertraut und notwendig; selbst das Schreckliche bietet ihm schließlich gewisse Annehmlichkeiten. Es gibt tätige und unruhige Geister, die danach verlangen, ständig bewegt zu werden; manche Einbildungskraft will abwechselnd beunruhigt und getröstet sein; es gibt unendlich viele Leute, die sich nicht an den Zustand der Ruhe, den ihnen Vernunft und Wahrheit gewähren, gewöhnen können. Viele Menschen brauchen Phantasiegebilde; ihnen fehlt etwas, wenn sie in Ruhe gelassen werden.

Diese Überlegungen können Ihnen die ständigen Schwankungen erklären, denen besonders in Sachen der Religion viele Menschen unterworfen sind. Diese sind ebenso veränderlich wie ein Barometer; ihre suchende Einbildungskraft kann keinen Halt finden. Bald überlassen sie sich dem schwärzesten Aberglauben, bald scheinen sie völlig frei von Vorurteilen. Einmal zittern sie zu Füßen eines Priesters, zum anderen haben sie augenscheinlich ihr Joch völlig abgeschüttelt. Auch Menschen mit viel Geist sind von diesen Schwankungen nicht immer ausgenommen; ihr Urteilsvermögen wird häufig von ihrer ungestümen und unruhigen Einbildungskraft irregeführt, welche sie daran hindert, sich zu sammeln. Überdies findet man nicht selten eine schüchterne, furchtsame Seele und viel Geist in einer Person.

Der Mensch kann nicht zu allen Zeiten der gleiche sein. Seine Maschine ist Umwälzungen und ständigen

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Veränderungen unterworfen; die Gedanken seiner Seele wandeln sich ebenso notwendig wie die verschiedenen Zustände, die sein Körper zu durchlaufen gezwungen ist. Wenn der Körper matt und abgespannt ist, so ist die Seele gewöhnlich weder kräftig noch fröhlich. Die Schwäche der Nerven zerstört im allgemeinen die gesamte Energie der Seele, die man ganz willkürlich vom Körper unterschieden hat; Menschen mit jähzornigem oder mit melancholischem Temperament können nicht freudig sein; jede Zerstreuung stört sie; die Fröhlichkeit anderer fällt ihnen lästig. Da sie sich nur mit sich selbst beschäftigen, nehmen sie gern die dunklen Ideen in sich auf, die die Religion ihnen einflößen will. Der Frömmigkeit könnte man auf die gleiche Weise abhelfen, wie man hysterischen Launen abhilft; der Aberglaube ist eine eingewurzelte Krankheit, die man durch physische Mittel heilen kann. Es ist zwar schwierig, solche Menschen vor Rückfällen zu schützen, die ein Temperament haben, welches so schlecht beschaffen ist, daß es sehr rasch die schädlichen Säfte wiederherstellt, die die Menschen zu ihren alten Vorurteilen zurückführen. Es ist nicht leicht, einem Feigling Mut zu machen; es ist fast unmöglich, einen Menschen vom Aberglauben zu heilen, der auf Grund seines Temperaments und seiner Gewohnheit ständig in Angst leben muß. Man hat sich so viel Mühe gegeben, die menschlichen Irrtümer ewig währen zu lassen, und man hat so viele Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, um uns zu hindern, uns von ihnen zu lösen, daß man sehr selten Menschen trifft, die nicht bisweilen ihre Vernunft verleugnen. Allein die Erziehung vermag den menschlichen Geist von Grund aus zu heilen.

Das soeben Gesagte, glaube ich, ist hinreichend, den Grund sowohl für die Veränderungen, die sich so häufig in den Ideen der Menschen vollziehen, wie auch für jene geheime Neigung sichtbar zu machen, die die Menschen bisweilen wider ihren Willen zu Vorurteilen zurückführt, von denen ihr Geist völlig befreit zu sein schien. Nunmehr wissen Sie, wie es um jene geheimen Neigungen bestellt ist, die unsere

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Priester als innere Inspirationen, als göttliche Empfehlungen, als Wirkungen der Gnade hinstellen wollen, während sie doch offensichtlich nur Schwankungen unserer Maschine sind, die bald gesund und bald kränklich, bald widerstandsfähig und bald schwächlich ist: Veranlagungen, von denen unsere Denk- und Betrachtungsweisen immer abhängig sind.

Sie können nun auch beurteilen, ob denn unsere Gottesgelehrten berechtigt sind, sich so sehr der Siege zu rühmen, die sie häufig kurz vor dem Tode über die Vernunft der Ungläubigen davontragen, wobei sie deren letzte Augenblicke noch durch ihre Anwesenheit verderben. Auf diese Augenblicke müsse man warten, sagen sie, weil der von seinen Irrtümern befreite Mensch die Dinge dann unter ihrem wahren Gesichtspunkt sähe und weil er vor dem Verlassen der Erde gezwungen sei, seine Fehler einzusehen. Zweifellos können sich nur Betrüger auf solche Argumente stützen, und nur Toren können sich damit zufriedengeben. Ist denn ein Mensch im Zustand der Niedergeschlagenheit, der Schwäche und des Deliriums imstande, richtig zu urteilen? Ist denn ein Todkranker, dessen Geist und Körper keine Energie mehr haben und der überdies noch durch einen Priester in Angst versetzt wird — ist ein solcher Mensch imstande, zu urteilen, zu argumentieren und die Trugschlüsse zu widerlegen, die man ihm vorträgt? Wenn Körper und Geist völlig niedergeschlagen sein müssen, um die Kraft der Religionswahrheiten zu erkennen, so sind dies zweifellos sonderbare Wahrheiten.

Richtig zu urteilen vermag man nur, wenn man gesund ist: dann, wenn die Seele weder durch Furcht verwirrt noch durch Krankheit beeinträchtigt oder durch Leidenschaften bedrängt wird. Die Urteile eines Sterbenden sind ohne Bedeutung; nur Betrüger vermögen aus seiner Zustimmung Kapital zu schlagen. Die Wahrheit gibt sich uns nur dann zu erkennen, wenn in unserm gesunden Körper ein gesunder Geist wohnt. Kein Mensch kann, wenn er nicht unvernünftig und lächerlich sein will, für Ideen einstehen, die

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ihm kommen, wenn seine Maschine geschwächt oder gestört ist; nur unmenschliche Priester können die Stirn haben, sich seinen Zustand zunutze zu machen, um ihn in Verwirrung zu stürzen; nur Schurken wagen sich des üblen Geredes, das sie ihm abgenötigt haben, oder der Erfolge zu rühmen, die sie durch ihre Trugschlüsse über sein schwaches Urteilsvermögen errungen haben. Die Ideen der Menschen verändern sich notwendig mit den verschiedenen Zuständen ihrer Maschine; der sterbende Mensch kann nur urteilen wie ein Mensch, dessen Geist und Körper im Absterben begriffen sind.

Seien Sie deshalb nicht verzweifelt oder verwundert, wenn Sie bemerken, daß die alten Vorurteile wieder zum Vorschein kommen, die lange Zeit von Ihrer Vernunft Besitz ergriffen hatten. Führen Sie diese Schwankungen auf eine Unregelmäßigkeit der Maschine und auf einige außergewöhnliche Bewegungen zurück, die eine Zeitlang Ihre Urteilsfähigkeit aufheben. Denken Sie daran, daß sehr wenige Menschen sich ständig gleichbleiben und die Dinge immer mit den gleichen Augen sehen. Da unser Körper ständigen Veränderungen unterliegt, müssen sich auch unsere Denkweisen notwendig verändern; wir denken verzagt und feige, wenn unsere Fibern ermattet sind und wenn unser Körper geschwächt ist. Wir denken richtig, wenn unser Körper gesund ist, das heißt, wenn alle seine Teile zuverlässig ihre Funktionen erfüllen. Wir müssen, wenn wir unsicher werden, das heißt, wenn sich unsere Maschine nicht in ihrer gewöhnlichen Lage befindet, uns wieder darauf besinnen, wie wir in gesundem Zustand denken. Wir urteilen nur dann richtig, wenn wir wohlauf sind.

Wie dem aber auch sei, wenn Sie die Besorgnisse zerstreuen wollen, die Ihren Geist vielleicht beunruhigen, so brauchen Sie nur ein wenig nachzudenken; mühelos werden Sie erkennen, daß Ihre Denkweise niemals schädliche Folgen für Sie haben kann. Wie kann in der Tat ein Gott, den man für gut, gerecht und vernünftig hält, die Denkweise der Menschen tadeln, die doch stets ganz unwillkürlich sein

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muß und die ihm niemals schaden kann? Hat denn der Mensch einen Augenblick Gewalt über seine Ideen, die zu jeder Zeit von den Gegenständen und von den Ursachen ausgehen, die in keiner Weise von ihm abhängig sind? Der heilige Augustin selber hat diese Wahrheit erkannt. Er sagt: »Niemand hat aber Gewalt darüber, was ihm in den Sinn kommt.« Müßte man hieraus nicht schließen, daß Gott nichts gleichgültiger sein dürfte als die Gedanken, die sich im Geist seiner Geschöpfe bilden, von welchen er — folgerichtigerweise — nicht beleidigt werden kann?

Wenn unsere Gottesgelehrten in ihren Prinzipien konsequent sein wollen, so müssen sie diese Wahrheit anerkennen. Sie müßten zugeben, daß ein gerechter Gott nicht von Bewegungen im Gehirn eines Menschen beleidigt werden kann, den man für ein Werk Gottes hält. Sie müßten einsehen, daß dieser Gott, wenn er weise ist, keinen Grund hat, sich über die falschen Ideen zu beklagen, die im Geist von Geschöpfen entstehen können, denen er nur einen sehr begrenzten Verstand und geringe Einsichten gegeben hat. Sie würden sehen, daß dieser Gott, wenn er wahrhaft allmächtig ist, in seinem Ruhm und in seiner Kraft nicht durch Meinungen und Ideen schwacher Sterblicher geschwächt werden kann und daß die Begriffe, die man sich von ihm macht, weder seiner Größe noch seiner Macht etwas anhaben können. Würden es sich diese Gottesgelehrten nicht zur Pflicht machen, den gesunden Menschenverstand zu verleugnen und stets mit sich selbst in Widerspruch zu stehen, so müßten sie zugeben, daß Gott der ungerechteste, der unvernünftigste und der grausamste aller Tyrannen ist, wenn er die von ihm selbst unvollkommen erschaffenen Wesen bestraft, weil sie nicht richtig geurteilt haben.

Immer — wenn man nur ein wenig darüber nachdenkt — wird man finden, daß die Theologen sich bemüht haben, die Gottheit in einen widerwärtigen, unvernünftigen und bösartigen Herrscher zu verwandeln, der bei seinen Geschöpfen nach Eigenschaften sucht, die sie nicht haben können. Die Ideen, die sie sich von diesem unbekannten Wesen

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gebildet haben, gingen immer von der Vorstellung mächtiger Menschen aus, die eifersüchtig auf ihre Macht und auf die Ehrerbietungen ihrer Untertanen bedacht sind, die behaupten, diese empfänden ihnen gegenüber stets Gefühle der Unterwürfigkeit, und die diejenigen hart bestrafen, deren Verhalten und deren Reden auf wenig respektvolle Gefühle schließen lassen. So sehen Sie, daß Gott nach dem Vorbild eines unruhigen, argwöhnischen Despoten geschaffen wurde, der sehr auf die Meinung achtgibt, die man von ihm hat, und der, um seine Macht zu sichern, alle diejenigen grausam bestraft, die von ihm nicht die Vorstellungen haben, die geeignet sind, seine Macht zu stützen oder seiner Eitelkeit zu schmeicheln.

Es ist evident, daß sich das widersinnige System der Christen auf ganz lächerliche Ideen gründet, die den Ideen, die man uns von der Gottheit gibt, völlig entgegengesetzt sind. Diese Christen reden sich ein, die Gottheit sei gegenüber den Meinungen der Menschen sehr empfindlich, sie lasse sich ernstlich von ihren Gedanken beleidigen und sie bestrafe sie erbarmungslos, weil sie sich getäuscht oder auf eine Art und Weise geurteilt haben, die dem göttlichen Ruhm schadete. Nichts ist für das Menschengeschlecht gefährlicher als jene unheilvolle Sucht, die Ideen Lügen zu strafen, die man uns von einem gerechten, von einem guten, von einem weisen, von einem allmächtigen, kurz, von einem Gott gibt, dessen Geschöpfe niemals seinen Ruhm oder seine unendliche Macht zu mindern vermögen. Infolge dieser ungereimten Annahmen haben die Menschen immer Furcht, sich ungebührliche Begriffe von dem verborgenen Herrscher zu machen, von dem sie abhängig zu sein glauben; sie haben ihren Geist zermartert, um seine unbegreifliche Natur zu verstehen, und sie haben ihn aus Furcht, sein Mißfallen zu erregen, mit menschlichen Attributen versehen, ohne zu bemerken, daß sie ihn, obgleich sie ihn ehren wollten, vielmehr entehrten und daß sie ihn, indem sie ihm miteinander unvereinbare Eigenschaften beilegten, in Wirklichkeit zerstörten. Auf diese Weise haben fast alle Reli-

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gionen der Erde unter dem Vorwand, die Gottheit bekannt zu machen und ihre Wege zu erklären, diese erniedrigt und noch unbegreiflicher gemacht; sie sind letztlich nichts anderes als ein durchdachter Atheismus, der in Wirklichkeit das Wesen zerstört, das dem Begriffsvermögen der Sterblichen nahegebracht werden sollte.

Durch vieles Nachdenken und Nachsinnen über die Gottheit sind die Menschen nur immer weiter ins Dunkel geraten. Ihr Urteil verirrte sich immer, wenn sie dieses Wesen zum Gegenstand ihrer Überlegungen machten. Sie konnten nicht richtig darüber urteilen, weil sie nur dunkle und falsche Ideen davon hatten. Sie wurden sich niemals einig, weil sie immer von widersinnigen Prinzipien ausgingen. Sie waren stets unsicher und mit sich selbst in Widerstreit, weil sie sehr wohl einsahen, daß ihre Prinzipien zweifelhaft waren. Sie schwebten ständig in Angst, weil sie sich einbildeten, es sei sehr gefährlich, sich zu täuschen. Sie stritten sich unaufhörlich, weil es unmöglich ist, sich zu einigen, wenn man über Gegenstände vernünftelt, die völlig unbekannt sind und die sich die Einbildungskraft der Menschen ganz unterschiedlich vorstellt. Schließlich quälten sie einander grausam um ihrer unsinnigen Überzeugungen willen, denen sie höchste Bedeutung beilegen zu müssen glaubten, und die Eitelkeit erlaubte es keinem von ihnen, nachzugeben oder den Grillen der anderen zuzustimmen.

So ist die Gottheit für die Menschen zu einer Quelle von Unglück, Zwist und Streit geworden. Allein schon ihr Name flößte Schrecken ein. Die Religion gab das Zeichen zu zahlreichen Kämpfen und war für die unruhigen Sterblichen, die sich stets mit größtem Eifer über Gegenstände stritten, von denen sie niemals wirkliche Ideen hatten, immer ein wahrer Zankapfel. Sie machten es sich zur Pflicht, darüber nachzudenken und zu vernünfteln, aber sie konnten dies stets nur ungenügend tun, weil sich ihr Geist wahre Begriffe lediglich von Dingen zu bilden vermag, von denen ihre Sinne berührt werden können. Da sie von sich aus die Gottheit unmöglich erkennen konnten, beriefen sie sich auf das,

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was ihnen geschickte Menschen einreden wollten, die in engen Beziehungen mit ihr zu stehen, von ihr selbst inspiriert zu sein und ganz besondere und der übrigen Menschheit verborgen bleibende Kenntnisse zu haben glaubten. Diese bevorrechteten Menschen teilten den Völkern nur ihre eigenen systematisierten Phantasien mit, ohne ihnen aber bestimmtere Ideen von dem verborgenen Wesen zu geben, das sie ihnen bekannt machen wollten. Sie stellten Gott unter Formen dar, die ihren eigenen Interessen am meisten entsprachen; sie machten ihn zu einem Monarchen, der gut war für diejenigen, die ihnen blind unterworfen sein würden, und der für alle diejenigen schrecklich war, die sich weigern würden, ihnen blind zu gehorchen.

Sie sehen also, daß diese so eigenartige Gottheit, die man uns verkündet, von Menschen geschaffen wurde, die, um ihre Anschauungen geheiligter zu machen, behauptet haben, diese Gottheit sei sehr beleidigt, wenn man von ihr nicht die Ideen habe, die jene Menschen ihr beilegen wollen. In den Büchern des Moses definiert sich Gott selber als »derjenige, der ist«; aber in der Geschichte, die uns dieser Inspirierte von seinem Gott erzählt, zeigt er uns diesen als Tyrannen, der den Menschen in Versuchung führt, der ihn bestraft, wenn er sich in Versuchung führen läßt, der das gesamte Menschengeschlecht ausrottet, weil ein einzelner schwach geworden ist, kurz, der sich im ganzen wie ein Despot aufführt, welcher durch seine Macht allen Gesetzen der Gerechtigkeit, der Vernunft und der Güte hohnlacht.

Haben uns die Nachfolger des Moses deutlichere, vernünftigere, faßbarere Ideen von der Gottheit gegeben? Hat uns selbst der Sohn Gottes seinen Vater erklärt? Hat schließlich die Kirche, die ständig vom Licht des Heiligen Geistes erleuchtet wurde, unseren Ungewißheiten ein Ende gesetzt? Ach! Trotz jener übernatürlichen Hilfe haben wir die verborgene, bewegende Kraft der Natur nicht besser erkannt. Die Ideen, die uns die Erzählungen unserer unfehlbaren Gottesgelehrten hierüber geben, sind nur geeignet, unser Urteil zu verwirren und unsere Vernunft zum Schweigen zu

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bringen. Sie machen Gott zu einem reinen Geist, das heißt zu einem Wesen, das nichts mit der Materie gemein hat und das dennoch aus seiner eigenen Substanz die Materie erschaffen hat. Sie machen ihn zur bewegenden Kraft des Universums, ohne daß er die Seele des Universums ist. Sie machen ihn zu einem unendlichen Wesen, das den Raum mit seiner Unermeßlichkeit umfaßt, obgleich doch das materielle Universum den ganzen Raum ausfüllt. Sie machen ihn zu einem allmächtigen Wesen, dessen Pläne jedoch ständig scheitern, weil es weder die von ihm erwünschte rechte Ordnung aufrechterhalten noch die Freiheit des Menschen beschränken kann; es ist gezwungen, die Sünde zuzulassen, obgleich sie ihm mißfällt und obgleich es sie verhindern sollte. 

Sie machen Gott zu einem unendlich guten Vater, der jedoch in seiner Rache maßlos ist; sie machen ihn zu einem unendlich gerechten Monarchen, der jedoch Unschuldige als Schuldige behandelt und der die Ungerechtigkeit und die Grausamkeit so weit treibt, daß er den Tod seines eigenen Sohns fordert, um die Verbrechen des Menschengeschlechts zu sühnen, dessen Sittenverderbnis dadurch in keiner Weise beseitigt wird. Sie machen ihn zu einem weisen und vorausschauenden Wesen, dessen Verhalten ganz unsinnig ist. Sie machen ihn zu einem vernünftigen Wesen, das sich über die unwillkürlichen und notwendigen Gedanken erregt, die im Gehirn seiner Geschöpfe entstehen und das diese zu ewigen Strafen verurteilt, weil sie nicht an Hirngespinste geglaubt haben, die mit den göttlichen Attributen unvereinbar sind, oder weil sie daran zu zweifeln wagten, daß Gott Eigenschaften in sich vereinige, die unmöglich miteinander in Übereinstimmung zu bringen sind.

Es ist also nicht verwunderlich, daß so viele Leute, die sich so widerspruchsvolle und so anstößige Ideen nicht zu eigen machen können, unsicher werden und an der Existenz einer solchen Gottheit zweifeln oder diese sogar ausdrücklich leugnen. Es ist in der Tat unmöglich, sich zum Gott des Christentums zu bekennen, da bei ihm unendliche Vollkommenheiten stets den auffallendsten Unvollkommenheiten

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gegenüberstehen und da man ihn, wenn man nur ein wenig über ihn nachdenkt, als das ungestalte Produkt der verirrten Einbildungskraft einiger durch ihre Unwissenheit verzweifelter Träumer oder einiger Betrüger betrachten muß, welche die Menschen, um sie zu unterjochen, in Verwirrung stürzen, ihre Vernunft zerstören und ihnen Furcht einjagen. Das scheinen in der Tat die Beweggründe jener Menschen gewesen zu sein, die so anmaßend waren, die Völker mit einer Gottheit bekannt zu machen, die ihnen selbst unbekannt war. Sie stellten die Gottheit stets unter dem Bilde eines kalten Tyrannen dar, der sich nur seinen Dienern und Günstlingen zeigt, dem es gefällt, sich vor den Blicken der Menge zu verbergen, und der sich heftig erzürnt, wenn man ihn nicht erkennt oder wenn man sich weigert, an die völlig unbegreiflichen Beziehungen zu glauben, die seine Priester zu ihm haben.

Wenn es, wie ich bereits mehr als einmal gesagt habe, unmöglich ist, an etwas zu glauben, was man nicht zu begreifen vermag, oder fest von einer Sache überzeugt zu sein, von der man sich keine klaren und bestimmten Ideen bilden kann, so muß man daraus schließen, daß die Christen, wenn sie uns versichern, an den ihnen verkündeten Gott zu glauben, sich entweder offensichtlich täuschen oder daß sie uns täuschen wollen. Ihr Glaube an Gott ist nur ein unvernünftiges Festhalten an alledem, was ihre Priester ihnen über ein Wesen mitteilen, dessen Existenz für jeden Menschen, der darüber nachsinnt, ebenso unglaublich wie unmöglich ist. Wenn ein Gott existiert, so kann es gewiß nicht jener Gott sein, den die Christen anbeten oder an den sie auf das Wort ihrer Theologen hin zu glauben vorgeben. Gibt es wirklich einen einzigen Menschen auf der Welt, der eine deutliche Idee von dem haben kann, was unsere Priester als »Geist« bezeichnen? Fragen wir sie, was ein Geist ist, so werden sie uns sagen, er ist ein immaterielles Wesen, das keine der Eigentümlichkeiten oder Eigenschaften besitzt, die wir erkennen können. Aber was ist ein immaterielles Wesen usf. ? Es ist ein Wesen, das keine der Eigenschaften hat, die wir erkennen können, ein Wesen, das weder Gestalt noch Ausdehnung, noch Farbe oder ähnliches besitzt.

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Aber wie können Sie Gewißheit haben von der Existenz eines Wesens, das keine der uns bekannten Eigenschaften hat? Man sagt uns, diese Gewißheit könne man durch den Glauben erlangen. Aber was heißt glauben? Glauben heißt, sich bedingungslos allem fügen, was unsere Priester sagen. Aber was sagen unsere Priester von Gott? Sie sagen Dinge von ihm, die wir weder begreifen noch miteinander vereinbaren können. Die Existenz Gottes selbst ist unter ihren Händen zum undurchdringlichsten Mysterium der Religion geworden. Aber begreifen denn jene Priester den unerfaßbaren Gott, den sie anderen verkünden? Haben sie reale Ideen von ihm? Können sie selbst aufrichtig von der Existenz eines Wesens überzeugt sein, das Eigenschaften besitzt, die nicht miteinander in Übereinstimmung zu bringen sind und die sich wechselseitig ausschließen? Etwas Derartiges können wir nicht glauben und sind also zu der Annahme berechtigt, daß diese Priester, wenn sie behaupten, an den Gott, von dem sie sprechen, zu glauben, entweder nicht wissen, was sie sagen, oder daß sie uns offensichtlich täuschen wollen.

Wundern Sie sich also nicht, wenn es Menschen gibt, die die Existenz eines Wesens in Zweifel zu ziehen wagen, das die Theologen trotz vielen Grübelns nur noch unbegreiflicher machten oder ganz und gar zerstörten. Seien Sie nicht erstaunt, daß jene sich niemals untereinander verständigen, wenn sie über ihn vernünfteln, daß sie sich immer über ihn streiten und daß schließlich die Existenz der Gottheit, die doch jeder Religion als Grundlage dient, bisher noch nicht auf unwiderlegbare Weise bewiesen ist. Diese Existenz kann nicht durch Offenbarungen bewiesen werden, die offensichtlich den Stempel des Betrugs tragen und die die Gottheit und ihre Vollkommenheit eher zweifelhaft als gewiß machen. Diese Existenz kann sich nicht auf die moralischen Eigenschaften gründen, die unsere Priester der Gottheit beilegen, denn sie sind unmöglich in ein und derselben Person zu vereinigen, da diese nicht zugleich gut und böse, gerecht und ungerecht, milde und unbeugsam, weise und der menschlichen Vernunft feind sein kann.

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Worauf kann sich also die Existenz Gottes gründen? Unsere Priester selbst sagen: auf die Vernunft, auf das Schauspiel der Natur und auf die wunderbare Ordnung, die wir im Universum wahrnehmen. Wer sich auf Grund dieser Beweggründe nicht überzeugen läßt und nicht an die Existenz der Gottheit glaubt, dem werden alle Religionen der Welt keine zwingenderen Beweggründe darbieten; denn diese Religionen sind Systeme, die die Einbildungskraft weit eher zu verwirren als den Geist zu überzeugen vermögen und die den Beweisen, die uns die Natur von der Existenz Gottes geben kann, weder größere Gewißheit noch größere Evidenz verleihen. Im Gegenteil, sie erschüttern diese Existenz und machen sie durch die merklichen Widersprüche unglaubhaft, die sie mit allen Kräften einem Wesen andichten, dessen Natur den schwachen Augen der Sterblichen immer verborgen bleiben wird.

Was soll man also von Gott denken? Man soll, ohne darüber vernünfteln zu wollen, denken: »Er ist.« Wenn wir nicht weiter vordringen können, so hat er sich eben nicht besser zu erkennen geben wollen. Es ist unmöglich, daß das begrenzte Wesen das unendliche Wesen erkennt. Es ist wahnsinnig, über die Natur eines Wesens urteilen zu wollen, das kein Mensch je erkannt hat, noch erkennt oder erkennen wird. Wenn etwas in der Welt bewiesen ist, so ist es die Tatsache, daß die Gottheit nicht willens war, sich von den Sterblichen bekritteln zu lassen. Wenn es eine sichtbare Strafe gibt, die sie über die Bewohner der Erde verhängt hat, so müssen wir sie in dem Wahnwitz, in dem Unheil und in den Torheiten erblicken, die durch die theologischen Streitigkeiten in die Welt getragen worden sind.

Aber was sollen wir von denen denken, die von diesem Gott nichts wissen, die seine Existenz leugnen und die ihn nicht in den Werken einer Natur zu erkennen vermögen, in der, wie sie sehen, beständig Gutes und Böses, Ordnung

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und Unordnung aufeinander folgen und von der nämlichen Hand bewirkt werden? Welche Ideen sollen wir von jenen Menschen haben, die der Ansicht sind, daß die Materie ewig ist und nach unveränderlichen Gesetzen wirkt; daß sie Kraft genug besitzt, um von sich aus alle uns sichtbaren Wirkungen hervorzubringen; daß sie fortwährend damit beschäftigt ist, aufzubauen und zu zerstören, zu verbinden und aufzulösen; daß sie weder Liebe noch Haß kennt; daß sie zwar nicht die Fähigkeiten hat, die wir bei den Wesen unserer Gattung als »Intelligenz« oder »Gefühl« bezeichnen ; daß sie aber imstande ist, Wesen hervorzubringen, die auf Grund ihrer Körperbildung intelligent sind und fühlen und denken können? Was sollen wir von jenen Denkern halten, die annehmen, daß es im Universum weder wirklich Gutes oder Böses noch wirkliche Ordnung oder Unordnung gibt, sondern daß diese Dinge immer nur abhängig sind von den verschiedenen Zuständen der Wesen und daß alles, was im Universum geschieht, notwendig und dem Schicksal unterworfen ist? Mit einem Wort, was halten wir von den Atheisten ?

Wir sagen, sie betrachten die Dinge von einer anderen Warte aus, oder sie bedienen sich vielmehr anderer Wörter, um die gleichen Gegenstände zu bezeichnen. Sie nennen »Natur«, was andere »Gottheit« nennen; sie nennen »Notwendigkeit«, was andere göttliche »Ratschlüsse« nennen;. sie nennen »Energie« der Natur, was andere »bewegende Kraft« oder »Schöpfer« der Natur nennen; sie nennen »Schicksal« oder »Fatalität«, was andere »Gott« nennen, dessen Gesetze immer befolgt werden.

Soll man die Atheisten also hassen und ausrotten? Zweifellos nicht. Es sei denn, man hielte sich für berechtigt, alle diejenigen zu töten, die sich nicht der gleichen Sprache bedienen, die zu gebrauchen man übereingekommen ist. Dennoch haben die unheilvollen Ideen der Religion den menschlichen Geist zu solchen Ausschreitungen geführt. Angespornt von ihren Priestern, hassen und morden die Menschen einander, weil sie sich in Sachen der Religionuntereinander nicht verständigen.

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Jeder bildet sich in seiner Eitelkeit ein, seine Sprache sei die bessere, die ausdrucksvollere, die verständlichere, während man doch sieht, daß die Sprache der Theologie weder von denen verstanden wird, die sie sprechen, noch von denen, die sie sich ausdenken. Allein schon der Name »Atheist« genügt, um den Zorn der Frommen zu erregen und diejenigen zur Raserei zu bringen, die unablässig den Namen Gottes im Munde führen, ohne jemals imstande zu sein, sich diesen vorzustellen. Wenn sie sich einmal einbilden, einige Begriffe von ihm zu haben, so handelt es sich doch nur um verworrene, widerspruchsvolle, nicht miteinander zu vereinbarende, unvernünftige Begriffe, die ihnen ihre Priester von Kindheit an eingeflößt haben. Und diese stellen ihren Gott, wie wir gesehen haben, nach den ihnen von der Einbildungskraft eingegebenen unzusammenhängenden Bildern oder auf eine Art und Weise dar, die den Interessen ihrer Leidenschaften am meisten zu entsprechen scheint, welche von den Völkern unterstützt werden, ohne daß diese wissen, warum sie das tun.

Schon die geringste Überlegung muß zu der Feststellung führen, daß Gott, wenn er gerecht oder gut ist, nicht verlangen kann, von denen erkannt zu werden, die ihn nicht erkennen können. Wenn die Atheisten unvernünftige Menschen sind, so ist Gott ungerecht, wenn er sie bestraft, weil sie blind und unklug gewesen sind oder weil sie nicht genügend Scharfsinn und Einsicht hatten, um die Kraft der natürlichen Beweise einzusehen, auf die sich die Existenz der Gottheit gründet. Ein rechtlicher Gott kann die Menschen nicht bestrafen, weil sie verblendet waren oder falsch geurteilt haben. Man mag die Atheisten für töricht halten, aber sie sind doch Wesen, die nicht so unvernünftig sind wie diejenigen, die an einen Gott zu glauben behaupten, der nur Eigenschaften hat, die sich gegenseitig aufheben; sie sind viel ungefährlicher als die Verehrer eines bösartigen Gottes, die diesem zu gefallen glauben, wenn sie einander um irgendwelcher Überzeugungen willen umbringen.

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Unsere Spekulationen sind für Gott, dessen Ruhm und Macht durch nichts geschmälert werden kann, ohne Bedeutung; diese Spekulationen, sind für uns von Vorteil, wenn sie uns innerlich glücklich machen. Es ist evident, daß die Anschauungen der Menschen der Gesellschaft völlig gleichgültig bleiben, wenn sie keinen Einfluß auf ihr Glück haben.

Lassen wir also die Menschen denken, wie sie wollen; sie müssen nur so handeln, wie es den Wesen zukommt, deren Schicksal es ist, in Gesellschaft zu leben. Jeder möge auf seine eigene Art nachgrübeln; seine Träumereien dürfen ihn nur nicht dazu führen, anderen zu schaden. Unsere Ideen, unsere Gedanken, unsere Systeme hängen nicht von uns ab; was dem einen überzeugend erscheint, vermag den anderen nicht zu überzeugen. Alle Menschen haben verschiedene Augen und verschiedene Hirne; alle haben verschiedene Ideen in sich aufgenommen, eine verschiedene Erziehung und verschiedene Anschauungen erhalten; sie werden niemals einer Meinung sein, wenn sie vermessen über unsichtbare und verborgene Gegenstände vernünfteln, die jeder von ihnen nur durch die Brille der Einbildungskraft sehen kann, so daß es unmöglich ist zu sagen, wer das Richtige getroffen hat.

Die Menschen streiten sich nicht lange über Gegenstände, die sie mit ihren Sinnen nachprüfen oder der Erfahrung unterwerfen können. Es gibt eine kleine Anzahl von evidenten und bewiesenen Wahrheiten, über die sich alle Sterblichen einig sein müssen. Auch die Grundprinzipien der Moral gehören zu diesen Wahrheiten; es ist für jeden vernünftigen Menschen völlig klar und bewiesen, daß in Gesellschaft lebende Wesen das Verlangen nach Gerechtigkeit haben, daß sie die Wohltätigkeiten schätzen müssen, daß sie geschaffen sind, einander zu helfen, mit einem Wort, daß sie gezwungen sind, tugendhaft und der Gesellschaft nützlich zu sein, um in ihr glücklich und zufrieden zu leben. Es ist völlig klar und bewiesen, daß es im Interesse unserer Selbsterhaltung liegt, unsere Begierden zu mäßigen, unsere Leidenschaften zu zügeln, gefährliche Gewohnheiten abzu-

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legen und die Laster zu meiden, die uns selber schaden oder die Menschen, mit denen wir durch unsere Bedürfnisse verbunden sind, verstimmen könnten. Diese Wahrheiten sind für jedes denkende Wesen, dessen Vernunft nicht durch Leidenschaften getrübt ist, evident; sie sind völlig unabhängig von den theologischen Spekulationen, die weder evident noch bewiesen sind und die unser Geist niemals nachzuprüfen vermag; sie haben nichts gemein mit den religiösen Überzeugungen, die als Bürgschaft immer nur die Einbildungskraft, den Fanatismus und die Leichtgläubigkeit haben und die, wie ich bewiesen habe, ständig Wirkungen hervorbringen, die den evidentesten Prinzipien und dem Wohlergehen der Gesellschaft direkt entgegengesetzt sind.

Die Begriffe der Atheisten werden also nie so gefährlich sein wie diejenigen jener Priester, die sich die Religionssysteme nur ausgedacht zu haben scheinen, um die Völker zu beunruhigen, zu unterwerfen und auszuplündern. Die spekulativen Prinzipien eines Atheisten, die nur auf sehr wenige Menschen Einfluß ausüben, können nicht die gleichen Folgen haben wie die verderblichen Prinzipien des Fanatismus und der Schwärmerei, deren sich die Gottheit nur bedient, um auf der Erde Unordnung zu stiften. Gefährlich und unheilvoll sind nur die Begriffe und die Spekulationen jener Grübler, die die Religion mißbrauchen, um die Menschen zu entzweien und ihre Leidenschaften anzustacheln, und die die Interessen der Gesellschaft, der Herrscher und der Untertanen ihrer eigenen Ehrsucht, ihrem eigenen Geiz, ihrer eigenen Rachgier und ihrem eigenen Wahn aufopfern.

Man sagt uns, der Atheist habe keine Beweggründe, Gutes zu tun, und ihm bleibe, wenn er sich weigere, Gott anzuerkennen, kein Zügel mehr, der seine Leidenschaften zurückhält. Es ist wahr, der Atheist hat keine unsichtbaren Zügel oder Beweggründe, aber er hat sichtbare Beweg-' gründe und Zügel, von denen er sich, wenn er darüber nachdenkt, in seinen Handlungen leiten läßt. Leugnet er die Existenz Gottes, so kann er doch nicht die Existenz der Men-

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schen leugnen. Sinnt er nur ein wenig nach, so wird er finden, daß es in seinem eigenen Interesse liegt, seine Leidenschaften zu mäßigen, sich beliebt zu machen, Haß, Verachtung, Strafen zu meiden, keine Verbrechen zu begehen und sich solcher Laster und Gewohnheiten zu enthalten, die sich früher oder später gegen ihn selbst richten können. So haben die Atheisten in bezug auf die Moral festere Prinzipien als abergläubische, fanatische und fromme Menschen, welche von der Religion zum Eifer angespornt werden und sich oft ihrem Gewissen gegenüber für verpflichtet halten, Verbrechen zu begehen, um ihren Gott zu besänftigen. Wenn der Atheist durch nichts im Zaum gehalten wird, so vereinen sich häufig tausend Kräfte, um den Fanatiker anzutreiben.

Im übrigen glaube ich Ihnen bereits bewiesen zu haben, daß die Moral eines abergläubischen Menschen niemals auf festen Prinzipien beruht; sie verändert sich mit den Interessen seiner Priester, die die Absichten der Gottheit stets auf eine Art und Weise auslegen, die ihnen unter den gegebenen Umständen am besten dünkt, und allzuhäufig verlangen diese Umstände, daß die frommen Schüler grausam und böse sind. Der Atheist dagegen, der seine Moral aus seiner eigenen Natur und aus den ständigen Beziehungen schöpft, durch die die Mitglieder einer Gesellschaft untereinander verbunden sind, hat eine sichere Moral, die weder von Launen noch von Umständen abhängig ist. Wenn er Böses tut, so muß er erkennen, daß seine Tat zu verurteilen ist, und er kann sich dann ebensowenig wie der intolerante und verfolgungssüchtige Fanatiker des Bösen freuen, das er begangen hat.

Sie sehen also, daß der Atheist dem abergläubischen Frommen in bezug auf die Moral sichtlich überlegen ist; denn dieser kennt keine anderen Gebote als die Launen seiner Priester, keine andere Moral als diejenige, die deren Interessen dient, keine anderen als jene verächtlichen Tugenden, denen zufolge er sich zum Sklaven des priesterlichen Willens macht, der den Interessen des Menschengeschlechts fast immer zuwiderläuft.

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So erkennen Sie, daß die natürliche Moral eines Atheisten, alles in allem genommen, weit beständiger und sicherer ist als diejenige eines abergläubischen Menschen, der sich dadurch, daß er den Interessen seiner Priester dient, immer nur bei seinem Gott beliebt zu machen glaubt. Wenn der Atheist so verblendet oder verderbt ist, daß er die Pflichten verkennt, die ihm die Natur auferlegt, so steht er auf einer Stufe mit dem Abergläubischen, den seine nicht sichtbaren Beweggründe nicht daran hindern, böse zu sein, wozu ihn auch seine heiligen Führer häufig noch auffordern.

Diese Überlegungen bestätigen auch meine bisherigen Darlegungen, in denen ich Ihnen bewiesen habe, daß die Moral mit der Religion nichts gemein hat und daß die Religion sogar viel eher deren Feind als deren Stütze ist. Die wahre Moral muß sich auf die Natur des Menschen stützen; die religiöse Moral wird immer nur auf die Hirngespinste der Einbildungskraft und auf den Eigensinn derer bauen, die der Gottheit eine Sprache beilegen, die derjenigen der Natur und der wahren Vernunft häufig gänzlich widerspricht.

Erlauben Sie also, daß ich noch einmal wiederhole: Die Moral ist die einzig natürliche Religion des Menschen, der einzige Gegenstand, der würdig ist, ihn auf Erden zu beschäftigen, der einzige Kult, den er der Gottheit weihen soll. Nur wenn wir die evidenten Pflichten dieser Moral erfüllen, dürfen wir hoffen, den bekannten Absichten der Gottheit gemäß zu handeln. Wenn sie uns geschaffen hat, wie wir sind, so hat sie gewollt, daß wir auf die Erhaltung unseres Seins und unseres Glückes bedacht sind. Wenn sie uns zu vernünftigen Wesen gemacht hat, so hat sie gewollt, daß wir unsere Vernunft zu Rate ziehen, um das Gute vom Bösen, das Nützliche vom Schädlichen zu unterscheiden. Wenn sie uns zu geselligen Wesen gemacht hat, so hat sie gewollt, daß wir in Gesellschaft leben und daß wir alle Mittel anwenden, um die Gesellschaft zu erhalten. Wenn sie uns einen beschränkten Geist gegeben hat, so war sie offensicht-

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lich willens, uns fruchtlose Nachforschungen zu ersparen, da diese nur geeignet sind, uns nutzlose Qualen zu bereiten und die Ruhe der Gesellschaft zu zerstören. Wenn sie unsere Erhaltung und unser Wohlergehen von einem bestimmten Verhalten, wenn sie unser Verderben und unser Unglück von dem entgegengesetzten Verhalten abhängig sein läßt, so hat sie damit klare Gesetze gegeben und uns Verpflichtungen auferlegt, denen zufolge wir, wenn wir sie nicht einhalten, unverzüglich durch Scham, Furcht und Gewissensbisse bestraft werden. Andrerseits finden wir uns ebenso sichtbar durch die realen Vorteile belohnt, die uns die Tugend auf dieser Erde verschafft, auf der trotz der hier herrschenden Verderbnis das Laster immer bestraft und die Tugend niemals völlig ohne Genugtuung, Achtung und Belohnung bleibt; denn sie erlaubt uns, uns selbst zu achten, selbst wenn die Menschen ungerecht sind.

Hierauf reduzieren sich also die Dogmen der natürlichen Religion. Wenn wir über sie nachdenken, und vor allem, wenn wir sie anwenden, iso werden wir wahrhaft religiös sein; wir werden den Absichten der Gottheit gemäß handeln, wir werden von den Menschen geachtet werden, wir werden uns aufrichtig selbst lieben und schätzen dürfen, wir werden uns zu erhalten suchen, wir werden in dieser Welt wirklich glücklich sein und von einer künftigen nichts zu befürchten haben.

Das sind jene ganz klaren und völlig bewiesenen Gesetze, deren Verletzung so sichtbar bestraft wird, deren Beobachtung so sicher belohnt wird und die das Gesetzbuch der Natur sind, dessen Autorität von allen lebenden, fühlenden und denkenden Wesen anerkannt werden muß, ob sie nun an einen Gott als den Schöpfer dieser Natur glauben oder ob sie diese Natur selbst als den Ursprung aller Dinge betrachten. Nicht einmal der äußerste Skeptizismus kann an diesen Gesetzen zweifeln, deren Realität durch alles bewiesen wird. Der Atheist kann nicht umhin, Gesetze anzuerkennen, die sich auf eine Natur gründen, die er zu seinem Gott macht, und die sich auf die unwandelbaren und notwendigen Beziehungen stützen, die zwischen den Wesen bestehen. 

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Der Inder, der Chinese, der Wilde werden, sofern sie nicht durch Leidenschaften oder durch Vorurteile voreingenommen sind, diese evidenten Gesetze immer anerkennen. Schließlich erscheinen diese so wahren und evidenten Gesetze nur den Abergläubischen und Frommen als unsicher, als dunkel oder als falsch, da diese die Hirngespinste der Einbildungskraft den natürlichen Wahrheiten und den Realitäten des gesunden Menschenverstandes vorziehen und keine anderen Gesetze kennen als die Launen ihrer Priester, welche wünschen, daß die Menschen keine andere Moral annehmen als diejenige, welche den gefährlichen Absichten der Priester entgegenkommt.

So wollen wir, schöne Eugenie, den Menschen gestatten, so zu denken, wie es ihnen beliebt. Beurteilen wir sie immer nur nach ihren Handlungen. Stellen wir den Systemen, die schädliche Folgen für die Menschen haben, unsere Vernunft gegenüber; heilen wir die Menschen von ihren Vorurteilen, wenn wir sehen, daß sie selber und die Gesellschaft deren unglückliche Opfer sind. Zeigen wir ihnen die Wahrheit, den einzigen Schutz gegen den Irrtum; verbannen wir aus unserem Geist die düsteren Phantome, die nur geeignet sind, ihn zu verwirren; sinnen wir nicht über nichtige Mysterien nach, die uns von den Gegenständen abzulenken vermögen, welche unserer Aufmerksamkeit bedürfen. Wenden wir uns von einer Moral ab, die nur erdacht worden zu sein scheint, um uns irrezuführen und um uns zu hindern, die Moral zu erkennen, die imstande ist, uns eine sichere Stütze zu sein. Beschäftigen wir uns mit uns selber und mit unserem eigenen Glück; denken wir über die Natur des Menschen und über die Pflichten nach, die sie ihm auferlegt; fürchten wir die Strafen, die sie früher oder später notwendig über diejenigen verhängt, die ihre Gesetze verletzen; suchen wir die Belohnungen zu erhalten, die sie verspricht und die sie denen vorbehält, die diese Gesetze befolgen. Befleißigen wir uns einer einfachen Moral, die uns immer zum Glück hinleitet und die, solange die Menschheit existieren wird, der einzige Halt der Gesellschaft ist.

Wenn uns unser Denken über unser eigenes Ich hinausführt, so wollen wir uns wenigstens niemals von der Natur lösen. Lassen wir niemals das Licht der Vernunft außer acht; suchen wir aufrichtig die Wahrheit. Wenn wir unsicher sind, sollten wir uns besinnen und der Sache folgen, die uns am wahrscheinlichsten zu sein scheint. Wir sollten unsere Meinungen aufgeben, sobald wir erkennen, daß sie unbegründet sind. Leisten wir in unserem eigenen Interesse den Trieben unseres von der Vernunft geleiteten Herzens keinen Widerstand. Die Vernunft wird uns, wenn wir sie bei beruhigten Leidenschaften um Rat fragen, niemals zu verborgenen oder offenen Verbrechen oder Lastern ermuntern. Sie wird uns beweisen, daß wir nicht hoffen dürfen, einem weisen Gott zu gefallen, wenn wir an Widersinnigkeiten glauben, oder einem guten Gott Vergnügen zu bereiten, wenn wir so handeln, daß wir uns und unseresgleichen schaden.

Ich bin etc.

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