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Teil 6:   Erkrankungsprozesse, ihre Hintergründe und ihre Folgen

 

 

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Der konsequente Verzicht auf den gängigen Begriff «Krankheit» beruht auf der Einsicht, daß wir es in Medizin und Psychotherapie in erster Linie nicht mit abstrakt beschreibbaren «....heiten», sondern mit konkreten Menschen zu tun haben, deren Erkrankungsprozesse ihrer Ätiologie (dem Ursprung), dem Verlauf und dem Ausgang nach in jedem Fall ganz individuelle Komponenten aufweisen.

Das gilt sogar für einen «banalen Schnupfen». Selbstverständlich spielen Viren, manchmal auch Bakterien, dabei eine Rolle. Aber das ist nicht alles! Zwei Personen in derselben Familie sind damit infiziert, die eine Person «leidet» kaum unter dem Schnupfen und ist ihn binnen kürzester Zeit wieder los, die andere kämpft wochenlang damit herum, sitzt nachts aufrecht im Bett und kann vor Erstickungsgefühlen und Angst nicht schlafen. 

Und der individuelle Hintergrund? Für die zweite Person dient der Schnupfen als Auslöser für eine, nicht voll bewußt werdende, Erinnerung an eine Erstickungs-Situation während der Geburt, bei der sie sehr viel Schleim eingeatmet hat. Es ist schon so: auch unsere gegenwärtigen Erkrankungsprozesse haben oft ihre lebenslange Vorgeschichte und laufen, als Teil dieser unserer Lebensgeschichte, trotz aller typischen Pathologie, ganz und gar individuell ab.

Die folgenden Erkrankungsberichte sind nur zum Teil «typisch», zum Teil aber ganz und gar «untypisch». Letztere habe ich ausgewählt, um zu demonstrieren, daß man sich auf die «typischen Symptome» einer «....heit» absolut nicht immer verlassen kann. Ich möchte Ärzte, Heilpraktiker, Psychoanalytiker und Psychotherapeuten dazu aufrütteln, sich nicht mit der diagnostischen Oberfläche zu begnügen, sondern bei jeder Diagnosestellung, spätestens aber dann, wenn ein Erkrankungsprozeß nicht ganz typisch verläuft, um die persönlichen ätiologischen Momente ihrer Patienten bemüht zu sein.

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28.  Daniela und ihr Rheumatismus

 

 

Über Daniela habe ich in meinem Buch «Was verborgen ist im Menschen» ausführlich berichtet. Deshalb begnüge ich mich hier mit einer kurzen Zusammenfassung.

Der «Fall Daniela» gehört zu den ganz und gar untypischen, doch das wurde weder bei der Anamnese, bei der die Angaben der Eltern nicht ernstgenommen wurden, noch bei der röntgenologischen Untersuchung entdeckt.

Vorausgegangen war ein kleiner Unfall mit einem vierrädrigen Strandfahrrad in Italien. Der Rahmen des Fahrrads war Daniela auf den rechten Unterschenkel gefallen. Die Schmerzen ließen sehr schnell nach, kamen jedoch nach einiger Zeit zurück, diesmal jedoch auch in dem nicht verletzten linken Unterschenkel.

Daniela wurde wegen der im Röntgenbild entdeckten Verschattungen in beiden Unterschenkeln und der Diagnose «rheumatische Entwicklung, ohne Zusammenhang mit dem vorausgegangenen Unfall» ins Kinderkrankenhaus eingeliefert. Nachdem sie auf Wunsch der Eltern frühzeitig entlassen worden war, stellte sich in der Regressionstherapie heraus, daß die Symptome auf eine vorgeburtliche Drucksituation der Unterschenkel infolge einer zu Beginn des neunten Schwangerschaftsmonats entstandenen Beckenendlage (Steißlage) zurückgingen. Durch eine Notbremsung während eines bis kurz vor die Geburt durchgeführten Fahrkurses der Mutter war Daniela in diese unglückliche Geburtslage geraten. Bis zu ihrer Geburt lag sie mit angezogenen und gegen die Bauchdecke der Mutter gestemmten Unterschenkeln im Uterus. Der Druck war so stark, daß sie als kleines Kind ständig Schmerzen in den Unterschenkeln hatte, die sich nach dem unbedeutenden Unfall, der als bloßer Auslöser diente, bis zur Unerträglichkeit steigerten. Die Symptomatik konnte in der Regressionstherapie folgenlos aufgelöst werden.

Da unsere Medizin sehr viel mehr auf Apparate, auf Röntgenbilder und deren Interpretation als auf die Berichte der beteiligten Personen vertraut, weil das angeblich «objektiv» ist und weil nach wie vor der Unterschied zwischen «Ätiologie» und «Auslöser» nicht in die Vorstellungswelt unserer Medizin paßt, können solche schwerwiegenden Irrtümer passieren. Was aus Daniela wohl geworden wäre, wenn sie mit nebenwirkungsreichen antirheumatischen Medikamenten weiterhin im Krankenhaus behandelt worden wäre? Das ist nicht auszudenken!

In derselben Zeit erzählte mir ein Patient, der damals noch unter sehr schweren neurotischen Symptomen zu leiden hatte, einen Geburtstraum von der Qualität eines Alptraums. Ich habe ihn in Kapitel 7 mitgeteilt. Es ist für mich immer wieder faszinierend festzustellen, wie exakt Träume, vor allem Alpträume, Einzelheiten aus dem Geburtsgeschehen aufdecken, bei denen sofort therapeutisch mit Erfolg angesetzt werden kann.


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