§ 4
(Dollinger, Pernoud)
18-22
Die Lähmung und anschließende Zerschlagung des römischen Weltreichs im Gefolge der Völkerwanderung mußte vom antiken Anthropozentrismus als im Wortsinne barbarische Falsifikation seiner humanistischen Prämissen erlebt werden und hat ihn entsprechend fast ein Jahrtausend lang zum Verstummen gebracht.
Das unsägliche Grauen, das die plündernden, brandschatzenden und mordenden Horden der Hunnen, Goten, Burgunder, Alemannen und Franken verbreiteten, die menschenverachtende Zerstörungswut, die die Vandalen sprichwörtlich werden ließ, hätte andererseits bei philosophisch gebildeten Zeitgenossen aber auch zur Reaktivierung der alten mythischen Einsicht in das Wesen des Menschen als des Untiers, für die wie erwähnt im Stoizismus Ansatzpunkte gegeben waren, führen müssen — wenn nicht mehrere Faktoren die Entstehung eines post-mythologischen anthropofugalen Denkens zu diesem Zeitpunkt hintertrieben hätten.
Die Einflußgrößen waren u.a. die Inoriginalität und mangelnde Innovationskraft der römischen Philosophie überhaupt, die über die Adaption und den Ausbau griechischer Systeme nie hinausgelangte, Zerstörung oder Behinderung des etablierten Kommunikationsflusses, der die Verbreitung unorthodoxer Ideen nicht zuließ, Einschüchterung oder physische Vernichtung der Intelligentsia und schließlich und endlich die Existenz eines überlegenen rivalisierenden Paradigmas, nämlich des Christentums.
Das christliche Dogma und die christliche Philosophie sind letztlich verantwortlich dafür, daß die Antike hinter der euphorischen Negation des Untiers, die sie von Anbeginn betrieben hatte, nicht endlich doch noch zu dem Negierten und Verdrängten als dem Ursprünglichen und Eigentlichen zurückfand, sondern ihren Anthropozentrismus hinüberretten und auflösen konnte in den strukturhomologen Theozentrismus der christlichen Lehre.
Dieser Theozentrismus leistete das Unerhörte, indem er die alltägliche Erfahrung der gegen die eigene Gattung sich richtenden Destruktivität des Untiers und die Kerngedanken des antiken Humanismus, der angesichts einer seinen Lehren hohnsprechenden Empirie vor der theoretischen Kapitulation stand, zusammenkoppelte und zu einem für Jahrhunderte plausiblen neuen Konzept synthetisierte.
Die ideologisch so überaus erfolgreiche Formel hieß Integration an Stelle von Polarisierung. Statt wie die griechische Philosophie das Untier in einen Tabubereich abzuschieben und auf dem vakanten Postament die philosophische Skulptur der Menschen zu plazieren, sprach das Christentum jetzt vom Untier im Menschen, vom Untier als einer Fehlform, einer Entartung, einer Deformation. Mit dieser neuen Perspektive war zweierlei gewonnen: die empirische Realität konnte als solche akzeptiert, mehr noch, sie konnte als Sündenfall und Abkehr von Gott »erklärt« werden, und der Primat des Humanen war trotz der ständigen grotesken sozialen Karikatur als Primat des gläubigen und gottergebenen Menschen gewahrt.
Der Preis, der für diese Rettung des Menschen entrichtet werden mußte, war der Verlust jener existentiellen und intellektuellen Autonomie, die das griechisch-römische Konzept in seinem in der Regel höchst frivolen Umgang mit den Göttern auszeichnete. Der Humanismus war jetzt theozentrisch verankert und leitete seine Existenzgarantien von einem im Grund wohlmeinenden Schöpfergott bzw. von seinem ausgesprochenen humanophilen Sohn ab, der sich zwecks Befriedigung seiner Fixierung zum Äußersten, nämlich zu einer Art entsühnendem Liebestod, bereit fand und den periodischen misanthropischen Anwandlungen seines Vaters damit ein für allemal die Spitze nahm.
Lebensziel des einzelnen wird im Mittelalter die Vertreibung des Untiers aus sich selbst, ein Läuterungsprozeß, den schon die um 400 entstandenen Confessiones Augustins modellhaft beschreiben. Wo Gattungsdestruktivität derart introjiziert wird, führt sie in einer ideologisch feindseligen Umwelt zum Märtyrertum, im seinerseits christlich geprägten sozialen Kontext zum Lebensideal der Versagung und Askese, die ja in der Tat zentrale Eigenheiten des intellektuellen Habitus jener Epoche darstellten.
Aber selbst in der Einsiedlerexistenz sind die urtümlichen anthropofugalen Impulse nicht mehr ungebrochen auszuleben, denn die Flucht vor dem Menschen erscheint immer schon abgewertet zur Begleiterscheinung einer essentielleren Vorwärtsbewegung: der Flucht in den Schoß oder die schützende Hand Gottes.
Die weniger mönchisch-meditativ veranlagten Untiere, die sich zur Sublimation ihres Vernichtungswillens und der Rückspiegelung des Menschenhasses auf sich selbst nicht in der Lage fanden, blieben darauf angewiesen, daß ihnen die Kirche aus wohlverstandenem Eigeninteresse — sie mußte Gattungsaggression ableiten, wollte sie die Destabilisierung ihrer eigenen Strukturen etwa durch das Ketzertum in Grenzen halten — Freiräume zur Verfügung stellte, in denen sie sich ausagieren konnten.
Die argumentative Rechtfertigung für eine derartige Freisetzung von Gewalt war bald gefunden und folgte dem traditionsreichen »Der Zweck heiligt die Mittel«-Schema. Zwar war in der Regel das Untier — das »böse Fleisch« — zu kasteien und abzutöten, im Kampf gegen die Feinde im eigenen oder fremden Lager, sprich gegen die Häretiker und Heiden, aber war siegreiche Brutalität ein Geschenk Gottes und entsprechend willkommen.
Während des ersten Kreuzzuges kannte der Eifer für die heilige Sache dann auch insbesondere bei der Erstürmung Jerusalems am 15.7.1099 keine Grenzen mehr. Das Gemetzel kostete über 10.000 Sarazenen das Leben; die meisten der Getöteten waren Angehörige der Zivilbevölkerung, also Halbwüchsige, Alte und Frauen, denen die Eroberer die Säuglinge von der Brust rissen, um deren Schädel vor den Augen ihrer Mütter an Wänden und Türpfosten zu zerschmettern (vgl. Lehmann 1976: 148).
Ein anonymer Chronist komplettiert seinen Bericht, die sprunghafte Mentalität der Marodeure getreulich abbildend, mit den Worten:
Nachdem die Unsrigen die Heiden endlich zu Boden geschlagen hatten, ergriffen sie im Tempel eine große Zahl Männer und Frauen und töteten oder ließen leben, wie es ihnen gut schien. Bald durcheilten die Kreuzfahrer die ganze Stadt und rafften Gold, Silber, Pferde und Maulesel an sich; sie plünderten die Häuser, die mit Reichtümern überfüllt waren.
Dann, glücklich und vor Freude weinend, gingen die Unsrigen hin, um das Grab unseres Erlösers zu verehren und entledigten sich ihm gegenüber ihrer Dankesschuld.... Man befahl auch, alle toten Sarazenen aus der Stadt zu werfen, wegen des unsäglichen Gestanks, denn die ganze Stadt war völlig mit ihren Leichnamen angefüllt.
Die lebenden Sarazenen schleppten die Toten aus der Stadt und machten daraus häuserhohe Haufen.
Niemand hat jemals von einem ähnlichen Blutbad unter dem heidnischen Volk gehört oder es gesehen. Scheiterhaufen gab es wie Ecksteine, und niemand außer Gott kennt ihre Zahl.
(Pernoud 1977; 101 f.)
Dem gleichen Blutrausch verfiel das christliche Untier regelmäßig auch im eigenen Land, wenn es um die Bewahrung der reinen Lehre ging. Eine Episode der »Kampagne« gegen die Albigenser beschreibt Dollinger in seinem Schwarzbuch der Weltgeschichte so:
Als die Stadt Bézier die Auslieferung aller Ketzer ablehnte, stürmten die Katholischen im Juli 1109 mit dem Lied »Komm, Heiliger Geist« die Stadt und richteten unter den Einwohnern, egal, ob Ketzer oder Katholiken, ein fürchterliches Blutbad an. Der päpstliche Legat Arnaud soll auf die vorhergegangene Frage, ob man die Katholiken in der Stadt schonen soll, geantwortet haben: »Schlagt sie alle tot, der Herr wird die Seinigen (Katholiken) schon erkennen.«
(Dollinger 1973: 144)
Man bemerkt an diesem keineswegs von Zynismus, sondern im Gegenteil von tiefster Gläubigkeit getragenen Ausspruch Arnauds, daß der Theozentrismus dem Untier ein gutes und reines Gewissen verschaffte, solange es auf dem von der Orthodoxie zugewiesenen gegnerischen Territorium wütete.
Das inquisitorische Bewußtsein und Reinheitsbedürfnis des Katholizismus, dem unzählige Menschenleben geopfert wurden, versagte aber immer dann, wenn es nicht um das Seelenheil anderer, sondern um die eigene Selbsterkenntnis ging. Während der antike Humanismus den Einbruch einer bestialischen Wirklichkeit in den wohlgeordneten Kosmos seines Denkens nicht zu verarbeiten vermochte, konnte die durchaus vergleichbare, wenn nicht sogar potenzierte Grausamkeit des Mittelalters das Menschenbild der Scholastik zunächst nicht erschüttern.
Gemäß den beschriebenen Mechanismen war Gewalt immer nur auf Seiten der Dissidenten, also im Lager des Gegners als solche überhaupt wahrnehmbar und verwandelte sich hier flugs in teuflische Macht und die Truppen der Heiden oder Ketzer entsprechend in Kohorten des altbösen Feindes. Gegengewalt war deshalb überhaupt keine »Gewalt« mehr, sondern Gottesdienst.
Die ursprüngliche Formel vom Untier im Menschen, die von Sündenbewußtsein und Bußfertigkeit getragen war, verblaßte in der Institution Katholizismus und dem an der Ausweitung seiner Einflußsphären interessierten Machtzentrum Kirche im Verlauf der skizzierten Entwicklung als reflexive Größe und Interpretationsraster der Selbstbeobachtung immer mehr, radikalisierte sich demgegenüber aber im Umgang mit dem religiös-ideologischen Gegner, der schließlich nur noch als Unmensch erschien, in dem man Relikte des Humanen in der Folter erst mühsam freilegen mußte.
Die Ketzerverbrennungen und später die Hexenprozesse, die uns retrospektiv als Ausbruch des Kollektivsadismus erscheinen, erfolgten so zumindest in offizieller Leseart aus höchst honorigen, ja seelsorgerischen Motiven; denn nur durch den Scheiterhaufen — gleichsam ein vorweggenommenes Fegefeuer — entging die verteufelte Seele des Opfers der ewigen Verdammnis.
Der Theozentrismus, der angetreten war, der Barbarei zu steuern und das Untier in der Askese unter Verschluß zu nehmen, brachte somit mit fortschreitender historischer Entwicklung selbst immer mehr jener Schlächter und Vollstrecker hervor, die sich gegenseitig als Anhänger der Religion der Liebe hofierten, deren wirkliches Lebenselement allerdings das Autodafé und der Schindanger abgaben und die in ihren Predigten Langmut und Vergebung, in ihren Taten rasender Menschenekel beseelte.
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Das Untier von Ulrich Horstmann