§ 5
(Rüdiger, Vorländer, Pico, Machiavelli)
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Das Auseinanderfallen von theoretischem Anspruch und der eigenen gerade nicht vom Liebesgott beherrschten Praxis bildet sich in der Scholastik selbst — allerdings theologisch stark verschoben — im sogenannten Universalienstreit ab, in dem es um den ontologischen Status von Allgemeinbegriffen ging.
Der späte Nominalismus eines Duns Scotus und Wilhelm von Occam, die die Universalien nicht mehr als Wesenheiten und präexistente Ideen, sondern lediglich als konventionsgebundene Benennungen und Namen für eine Gruppe von Dingen gelten ließen, konnte auch Handeln nur noch voluntaristisch, d.h. als Ausdruck eines undeterminierten Willens, begreifen, der sich die Rechtfertigung für seine Taten nachträglich fabrizierte.
Was hier noch mit der Aura der Willensfreiheit verbrämt wird, ist in Wirklichkeit erste Einsicht in die prinzipielle Instrumentalität ideologisch-religiöser Systeme, die bei entsprechend geschickter Auslegung und Applikation noch übelste Schandtaten von ihrem Kainsmal befreien und sie in Äußerungen eines gottgefälligen und selbstvergessenen Heldentums ummünzen können.
Die Konsequenzen dieses skeptischen Ansatzes konnten innerhalb des scholastischen Wertsystems nicht mehr durchdacht werden, ohne seine Fundamente zu zerstören. Die Folge war die kopernikanische Wende zum neuzeitlichen Denken der Renaissance, das nicht mehr als ancilla theologiae, also als Magd der Theologie, unter dem geistlichen Banner des Glaubens, sondern unter dem säkularen des Humanismus und der studia humanitatis antrat.
Dieser Humanismus aber war von Anbeginn janusköpfig und trug nicht mehr nur die edlen und verklärten Züge des antiken Vorbildes, auf das er sich berief, sondern hinterrücks auch die Fratze des Untieres, das nicht nur der Vergangenheit, sondern auch der Zeitgeschichte so überdeutlich seine Signatur aufdrückte.
Im Humanismus der Renaissance liegt deshalb auch der Keim für ein ganz und gar anti-humanistisches Denken, für jene anthropofugale Perspektive, jenes philosophische Absehenkönnen vom Menschen, das sich die Philosophie in den folgenden Jahrhunderten so überaus mühsam und Schritt für Schritt aneignete. Und insofern ist diese Epoche in der Tat Schauplatz einer geistesgeschichtlichen Revolution, als das philosophische Denken, das als Totengräber der Menschendistanz des Mythos auf den Plan getreten war, sich jetzt endlich zumindest potentialiter als dessen legitimer Erbfolger zu begreifen begann.
Beschreiben wir diese Doppelgesichtigkeit etwas genauer.
Renaissance — das ist zunächst Auflehnung und Verteidigung gegen den manifesten Zynismus des theozentrischen Menschenbildes durch Restauration jenes antiken Humanitas-Ideals, dessen vorbildliche Formulierung man vor allem in den Schriften Ciceros ausmachte. Cicero nämlich erweiterte den ursprünglichen Begriffsinhalt von »Humanität«, der Vernunft, Redefähigkeit und römische Virtus umfaßte, um eben jene Dimensionen, die für das neuzeitliche Menschenbild so zentral werden sollten:
Zunächst »Milde, Menschenfreundlichkeit« — etwa das, was wir als einen wesentlichen Bestandteil der »Humanität« bezeichnen würden; dann aber auch »gediegene, allgemeine Bildung« und als Folge davon »feines Gefühl für Anstand und Sitte« — das letzte etwa unseren Worten »Herzensbildung« oder »Taktgefühl« entsprechend.
(Rüdiger 1966: 28).
Renaissance-Humanismus erscheint hier zugleich als Wiederbelebungsversuch eines klassischen Anthropozentrismus und als Bildungswissen, das Sozialprestige und in seiner literarischen Umsetzung Nachruhm — eine damals noch keineswegs suspekte Motivationsgröße — sicherte.
Unter dem ersten Aspekt läßt sich eine direkte Verbindung herstellen zwischen dem »christlichen Cicero« Lactantius (ca. 250-317), der als Prinzenerzieher am Hofe Konstantins das antike Erbe im Rahmen christlicher Apologetik zu sichern suchte und den Menschen sich vor dem Tier noch nicht durch seine Gottesebenbildlichkeit, sondern durch seine Vernunft auszeichnen ließ:
Endlich ist der Mensch, obschon er einen unansehnlichen Körperbau besitzt, von schwachen Kräften, von hinfälliger Gesundheit ist, doch, weil er dieses größere [die Vernunft] erhalten hat, besser ausgestattet und herrlicher beschaffen als die übrigen Lebewesen.
Denn obschon er gebrechlich und hinfällig zur Welt kommt, so ist er doch vor den Tieren sicher, während die anderen stärkeren Lebewesen, auch wenn sie die Unbilden der Witterung, ohne Schaden zu nehmen, ertragen, doch nicht vor dem Menschen sicher sind. So ist es also der Fall, daß die Vernunft den Menschen mehr gewährt als die Natur den Tieren
(Vorländer 1967 II: 170),
und jenem wohl bekanntesten Manifest des neuzeitlichen Humanismus, Giovanni Pico della Mirandolas 1496 verfaßter Abhandlung De dignitate hominis.
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Auch bei Pico nämlich wird die mangelhafte Ausstattung des Untiers und das Instinkt-Surrogat der Vernünftigkeit verklärt zum höchsten Geschenk des Schöpfers, wenngleich das alte mythische Deplaciertheitsgefühl damit nur noch mühevoll zu überdecken ist.1)
Pico schreibt:
So beschloß der Werkmeister in seiner Güte, daß der, dem er nichts Eigenes mehr geben konnte, an allem zugleich teilhätte.... Die Tiere bekommen, wie Lucilius sagt, bei ihrer Geburt aus dem Mutterbeutel all ihren künftigen Besitz schon mit.... Im Menschen aber sind bei seiner Geburt von Gott Vater vielerlei Samen, und Keime jedweder Lebensform angelegt; und welche er hegt, die wachsen und tragen Frucht in ihm: sind es die Keime pflanzlichen Daseins, so wird er dahinvegetieren; des Sinnlichen, so wird er wie ein Tier werden; des Verstandes, so wird er ein himmlisches Lebewesen; des Geistes, so wird er ein Engel sein und Gottes Sohn.
Doch wenn er an keiner geschöpflichen Möglichkeit Genüge findet und sich zurückzieht auf das Zentrum seiner selbst und so mit Gott ein Geist wird und im einigen dunklen Grund Gottes des Vaters, der über alle Dinge gesetzt ist, so wird er über allen Dingen stehen. Wer sollte so ein Chamäleon nicht bewundern.
(Pico della Mirandola 1968: 30f.).
1) Nach Pico ist der Mensch in erstaunlicher Nähe zur Nachgeburtsvorstellung des Mythos ebenfalls göttlicher »Nachgedanke«, etwas Hinzugefügtes, das der Harmonie der Schöpfung eigentlich nicht mehr ein- und angepaßt ist, kein »Lückenbüßer«, sondern ein Luxus, den sich der Demiurg nach getaner Arbeit gestattet:
»Schon hatte Gott Vater, der Baumeister, das Haus der Welt, wie es uns vor Augen liegt, diesen erhabenen Tempel der Gottheit, nach den Gesetzen verborgener Weisheit errichtet; die überhimmlische Region hatte er mit Geistern geschmückt, die Bahnen des Äthers mit ewigen Wesen belebt, die Bereiche des schmutzigen Abfalls der unteren Welt hatte er mit allerlei Getier bevölkert.
Nun aber, noch Vollendung des Werkes, sehnte sich sein Erbauer nach einem, der den Sinn dieses Werkes erwägen, seine Schönheit lieben und seine Größe bewundern könnte. Deshalb dachte er, als schon alles (wie Moses und Timaeus bezeugen) vollbracht war, zuletzt erst an die Erschaffung des Menschen. Es war aber unter den Archetypen keiner mehr, woraus er ein neues Geschöpf hätte bilden, in seinen Kammern nichts mehr, was er dem neuen Sohn als Erbgut hätte schenken können, und es war in der Welt kein Ort mehr, den jener Betrachter des Universums hätte einnehmen können. Es war schon alles gefüllt; alles unter die oberen, mittleren und unteren Ordnungen verteilt.«
(Pico della Mirandola 1968: 28 f.)
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Das Bild des Chamäleons hat heute da diffamierende Züge, wo es zu Zeiten Picos Exotismus suggerierte; aber aufschlußreich ist es auch so. Denn die Einsicht in die nahezu universale Formbarkeit des Menschen, die seine Perfektibilität begründen sollte, konnte im Gegenzug natürlich auch dazu verwandt werden, hinter dem Antlitz einer antiken Humanität und Menschenfrömmigkeit das Gorgonenhaupt herauszukehren, das der Gattung in ihrem geschichtlichen und politischen Selbstausdruck eignet.
Der Skeptizismus der scholastischen Nominalisten gegenüber absoluten Sinnvorgaben radikalisiert sich so bei einigen Vertretern der Renaissance-Philosophie zu einem zunehmend illusionslosen Blick hinter die von ihren Zeitgenossen restaurierte hellenistisch-römische Menschenmaske und zu einem tiefen, nicht mehr wegzuphilosophierenden, fressenden Erschrecken.
Die drei profiliertesten Denker der frühen Neuzeit, die diese Distanz zum neoklassischen Anthropozentrismus — wenn auch in höchst unterschiedlichen Graden — ausbilden, sind der Erzhumanist und Kirchenkritiker Erasmus von Rotterdam, der in Ungnade gefallene Kanzleisekretär, Diplomat und Historiograph Niccolo Machiavelli sowie der Aristokrat und spätere Bürgermeister von Bordeaux, Michel Eyquem de Montaigne.
Am deutlichsten vorgeformt ist das, was sich dann in der französischen Aufklärung erstmals zur bewußt anthropofugalen Reflexion verdichtet, ohne Zweifel bei Machiavelli, dessen amoralische Staatsphilosophie nicht auf humanistischem Wunschdenken, sondern auf der kalten Rationalität von Machtkalkülen basiert.
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Seine 1513 im Manuskript abgeschlossene, aber erst knapp 20 Jahre später im Druck erschienene Abhandlung Il principe (Der Fürst) ist ein ernüchternder Katalog von Herrschaftsstrategien und Usurpationstechniken, in dem in moralisch-ethischer Indifferenz die Möglichkeiten des Erwerbs von Fürstentümern — Erwerbung durch Ererben, durch eigene Waffen und Verdienst, durch fremde Waffen und Glück, durch Verbrechen — gleichsam durchdekliniert werden, wobei Machiavelli nachdrücklich auch auf die zentrale Rolle von Gewalt eingeht:
Ein Fürst soll also kein anderes Ziel und keinen anderen Gedanken haben und sich in keiner anderen Kunst üben als im Krieg und seinen Regeln und Erfordernissen. Denn es ist die einzige Kunst, die sich für einen Herrscher ziemt. Sie vermag so viel, daß sie nicht nur einen als Fürst geborenen auf dem Thron erhält, sondern gar oft auch Leute aus dem Bürgerstande auf den Thron hebt. Umgekehrt aber kann man sehen, daß die Fürsten, die mehr an den Lebensgenuß als an die Kriegstüchtigkeit dachten, ihr Reich verloren haben.
(Machiavelli 1969: 91f.)
Sittsamkeit und Humanität sind nur da am Platze, wo sie sich herrschaftsstabilisierend auswirken, d.h. sie sind als situationsgebundene und instrumentelle Größen, nicht etwa als kategorisches Sittengesetz, dem jederzeit und überall Folge zu leisten wäre, zu begreifen. Nicht »Charakter« und moralische Integrität ist deshalb Überlebensgarant des Herrschers, sondern extreme Rollenflexibilität, das ständige konstellationsgerechte Oszillieren zwischen Mensch und Untier; nach Machiavelli lehrt die Erfahrung,
daß gerade in unseren Tagen die Fürsten Großes ausgerichtet haben, die es mit der Treue nicht genau nahmen und es verstanden, durch List die Menschen zu umgarnen; und schließlich haben sie die Oberhand gewonnen über die, welche es mit der Redlichkeit hielten. Man muß nämlich wissen, daß es zweierlei Waffen gibt: die des Rechtes und die der Gewalt. Jene sind dem Menschen eigentümlich, diese den Tieren. Aber da die ersteren oft nicht ausreichen, muß man gelegentlich zu den anderen greifen. Deshalb muß ein Fürst verstehen, gleicherweise die Rolle des Tieres und des Menschen durchzuführen.
(ebd.: 103 f.)
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Die Nachwelt hat Machiavellis in die Gestalt der Staatsräson und eines »realpolitischen« Pragmatismus gekleidete klarsichtige Anthropologie verketzert und diffamiert, weil sie mit der Schutzbehauptung des Gottesgnadentums und des Edelmuts der Herrschenden unmißverständlich und vernehmlich aufräumte, darüber hinaus eine subversive und anti-humanistische Gegenströmung zum Renaissance-Optimismus erzeugte und damit einen ideologischen Parasiten in die Welt setzte, der sich einnistete und sich auf Dauer als seinem Wirt an Robustheit und Langlebigkeit überlegen erweisen sollte.
Zwischen diesem »mißratenen« Sohn des Humanismus und einem um vier Jahre älteren Zeitgenossen, den Lexika regelmäßig als bedeutendsten der Humanisten ausweisen, die Geistesverwandtschaft der Unorthodoxen zu behaupten, mag auf den ersten Blick abstrus oder kurios wirken, hat aber zumindest für eine Schrift des Erasmus, sein dem Thomas Morus gewidmetes Laus stultitiae (Lob der Torheit) nämlich, ein fundamentum in re.
Was Machiavelli oft rücksichtslos und mit dem Ressentiment des aus dem aktiven politischen Leben Exilierten an Erkenntnissen über Machtstrukturen und ihre Opfer, über die Impotenz der Vernunft und ethischer Direktiven verbreitet, das formuliert Erasmus mit kaum je verletzendem Witz und der fein ziselierten Ironie einer hochgebildeten und geschichtsbewußten Resignation schon 1509 in seiner Satire, über deren Zweck er an Morus schreibt:
Wie ungerecht wäre es, wo man doch allen Ständen im Leben Scherz und Spaß gestattet, gerade den Männern der Wissenschaft kein einziges Plauderstündchen zu gönnen, zumal wenn ihre Possen einen gar ernsten Kern haben und ihre Tändeleien so sinnreich gehalten sind, daß Leser mit nur einigermaßen offenem Kopfe mehr daraus profitieren können als aus den ersten, prunkvollen Abhandlungen gewisser Stockgelehrten.
(Erasmus 1962: 9)
Ursprünglich ist es dieselbe Distanz, dasselbe Abstandgewinnen vom Menschen, das Machiavellis Principe und Erasmus' Torheitslob auszeichnet; nur die subjektive Verarbeitung des philosophischen Exzentrizitätserlebnisses, der überraschenden Einsicht, daß man so denken kann, als gehöre man der Gattung, über die man nachdenkt, gar nicht an, fällt je nach Temperament verschieden aus.
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Während Machiavelli eine zynische Machttechnologie entwickelt, die den neu in den Blick getretenen Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen des Untiers Rechnung trägt, versucht Erasmus, sich dieser Konsequenz durch einen ironischen Hymnus auf eben die Un-Vernunft zu entziehen, die uns so erbarmungsvoll die Augen verschließt vor dem Unheil, das uns begleitet. Das gebannte Starren Machiavellis, das auch ein Erstarren vor dem Gorgonenhaupt von seinesgleichen ist, umgeht Erasmus durch ein System philosophischer Spiegel und Brechungen, so daß er — wie Perseus in seinem polierten Schild — der Medusa, des Untiers, ansichtig wird, ohne zu »versteinern«, d.h. seinen humanistischen Überzeugungen abschwören zu müssen:
Wohlan, wenn man gleichsam von der Höhe einer Warte herab das Menschengeschlecht betrachtet ... muß man da nicht gerührt werden von dem Unglück und Elend der Sterblichen? Schmerzvoll und schmutzig ist ihre Geburt, nur mit vieler Mühe werden sie großgezogen, Not und Plagen haben sie in der Kindheit zu überstehen, die Jugend bringt ihnen unzählige Mühen, das Alter ist eine stete Quelle von Gebrechlichkeiten — und zum Schluß folgt unabwendbar der Tod!
Und nun, während des ganzen Lebens, welche schreckliche Fülle von Krankheiten, welche Unzahl von Zufällen und Beschwerlichkeiten! Und endlich keine Freude, kein Genuß, der nicht durch Kummer und Sorgen getrübt wäre! Um der Leiden gar nicht zu gedenken, die ein Mensch dem anderen bereitet — Armut, Gefangenschaft, Schimpf, Schande, Not, Hinterlist, Verrat, Beleidigung, Anklage, Schurkerei! Doch ich schicke mich an, den Sand am Meer zu zählen! ...
Urteilet hiernach, was wohl geschehen würde, wenn der Durchschnittsmensch sich einfallen ließe, weise zu sein; man würde bald eine neue Schlammasse und zweiten Prometheus nötig haben. Ich [die Torheit] aber beuge diesem Unfall vor teils durch Unwissenheit, in der ich die Sterblichen erhalte, teils durch Unbesonnenheit, öfters durch Vergessenheit der Leiden... Auf diese Weise versüße ich das Los der Menschen, so daß sie selbst dann noch nicht das Leben verlassen wollen, wenn das Leben selbst sie schon fast verlassen hat.
(ebd.: 47 f.)
Diese höchst eigenartige Mischung aus klarster Einsicht in die »condition humaine« und einem willentlichen, in seiner Aufgeklärtheit doppelt paradoxen Selbstbetrug, mittels derer der Humanismus des Erasmus die Impulse philosophischer Menschenflucht unter Kontrolle hält, war instabil und brisant und wohl nur für einen kurzen historischen Augenblick möglich.
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Sein Versuch, die anthropofugale Gegenströmung der Renaissance mit dem wiedererweckten klassischen Menschheitsideal in prekärer Balance zu halten, mußte spätestens dann scheitern, als die Episode relativer Ruhe in Europa um 1520 zu Ende ging und die erneute Eruption von Gewalt und Grausamkeit in den Bauern- und Religionskriegen das Erasmianische Harmonisierungsmedium der Ironie korrodierte.
Statt des Glaubens an ein unverrückbar Gutes im Menschen machte sich vor diesem Hintergrund im Späthumanismus die Befürchtung breit, der Mensch habe »von der Natur selbst etwas wie einen Instinkt zur Unmenschlichkeit mitbekommen« (Montaigne 1969: 204), und es stehe ihm aufgrund seiner beständigen Anstrengungen, diesen Instinkt auszuleben, wohl an, »auf den königlichen Rang, den die menschliche Einbildung uns vor allen anderen Geschöpfen anweist« (ebd.: 205), zu verzichten. Der solches in der Stille seines Landsitzes und nach einer von den Wirren des Bürgerkrieges zwischen Katholiken und Hugenotten (Bartholomäusnacht 1572), zwischen partikularistischem Feudaladel und einer zentralistischen bürgerlichen Oberschicht bestimmten öffentlichen Existenz als Parlamentsrat und Emissär zu Papier brachte, war Michel de Montaigne, dessen ideengeschichtlich so folgenreiche Essais (1580) Produkte eines durch und durch skeptischen Denkens sind.
Montaignes Vertrauen in den individualisierten und humanisierten Renaissance-Menschen ist gebrochen, nicht nur weil er wie die Vertreter des griechischen und römischen Skeptizismus philosophisch mit dem Ein- oder Ausbruch der Barbarei fertig werden mußte, sondern weil er zugleich den Ethnozentrismus, die Abhängigkeit dieses Menschenbildes von den Traditionen des abendländischen Kulturraumes erkannte und damit dessen Absolutheitsanspruch aufzugeben gezwungen war.
Wo ist der Maßstab, so fragt Montaigne, der es uns erlaubte, unsere Verhaltensnormen und Gebräuche für edler, für zivilisierter zu erklären als die anderer Kulturkreise?
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Besteht nicht vielmehr gerade da ein moralisches Gefälle, wo wir uns in grotesker Selbstüberschätzung weit über die »Primitiven« und »Wilden« zu erheben wähnen? Die Antwort gibt er in seinem Essay »Über die Kannibalen«; nachdem Montaigne die Tötung und den Verzehr des gefangenen Feindes geschildert hat, fährt er fort:
Ich habe durchaus nichts dagegen einzuwenden, daß man in einem solchen Vorgehen eine furchtbare Barbarei sieht; wohl aber dagegen, daß wir zwar ihre [der Kannibalen] Fehler verdammen, aber so blind gegen unsere eigenen Fehler sind.
Es ist doch viel barbarischer, einen lebenden Menschen zu martern, als ihn nach dem Tode aufzuessen; einen Körper, der noch alles fühlt, zu foltern, ihn langsam zu verbrennen, ihn von Hunden und Schweinen totbeißen und totquetschen zu lassen (wie wir das nicht nur in alten Büchern lesen können, sondern wie wir es eben noch erlebt haben, und zwar nicht alten Feinden gegenüber, sondern unter Nachbarn und Bürgern derselben Gemeinde, und, was die Sache noch schlimmer macht, unter dem Vorwand von Glauben und Frömmigkeit), als ihn zu braten und zu verspeisen, nachdem er gestorben ist. ...
Wir können die Wilden also Barbaren nennen, wenn wir ihr Vorgehen von der Vernunft aus beurteilen, aber nicht, wenn wir sie mit uns vergleichen; denn wir sind in vieler Beziehung barbarischer.
(ebd.: 112 f.)
Zufluchtsort und letztes Residuum echter Humanität ist bei Montaigne nicht mehr ein bestimmtes Kulturideal, sondern eine solchen Idolen gerade mißtrauende abstrakte Vernunft, die aber eigentlich nur noch zu dem, was heute »Ideologiekritik« heißt, also zum Durchschaubarmachen einer unechten Aura, eines falschen Scheins, taugt und mangels substantieller Füllung selbst keine konkreten Leit- und Vorbilder mehr entwickeln kann.
Dieses neue problematisierende Denken, das starke Impulse auch über die naturwissenschaftliche Forschung empfängt, wird 1620 von dem wegen Bestechlichkeit abgesetzten englischen Lordkanzler Francis Bacon in seinem Novum Organon auf den methodologischen Begriff gebracht. Aufgabe einer empirischen und induktiven Rationalität ist nach Bacon die Beseitigung der zahllosen Vorurteile und Irrtümer, die den Erkenntnisfortschritt blockieren und die er in seiner Idolenlehre in die vier Gruppen der idola tribus, idola specus, idola fori und idola theatri einteilt.
Von besonderem Interesse sind dabei die erste und die letzte Kategorie, denn die idola tribus, d.h. die Vorurteile, die dem gesamten Menschengeschlecht gemeinsam sind, meinen ein anthropomorphes und anthropozentrisches Denken, das mit den antiken Sophisten »ex analogia hominis« argumentiert; und die idola theatri bezeichnen die Irrtümer der Philosophie selbst, womit sich Bacon gegen eine unkritische und ungeprüfte Übernahme von Denktraditionen und damit gegen die imitativ-epigonalen Seiten der Renaissance selbst wendet.
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Das Untier von Ulrich Horstmann (1983)